Matthew Delaney
Golem
Thriller
Ins Deutsche übertragen von
Rainer Schumacher
Matthew Delaney
Golem
Thriller
Ins Deutsche übertragen von
Rainer Schumacher
Vollstängie eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Titel der Originalausgabe:
»Genome, Inc.«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2010 by Matthew Delaney
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG,
Köln
Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Jan F. Wielpütz
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Einband-/Umschlagmotiv: Anke Koopmann / Guter Punkt München
Datenkonvertierung eBook:
Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-0205-6
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New York City, ein paar Jahre in der Zukunft. Stadthaus der Familie Livingston
Die Sicherheitsleute hatten abgeraten. Zumindest hatte Greeley das getan. Andererseits riet Greeley von den meisten Dingen ab, sei es nun, draußen spazieren zu gehen, am offenen Fenster zu sitzen oder ein Restaurant zu besuchen. Er hätte sogar davon abgeraten, Leitungswasser zu trinken, Transkriptoren zu benutzen, ja, vielleicht sogar zu atmen, wenn er geglaubt hätte, jemand würde sich seine Ratschläge zu Herzen nehmen. Wollte man mit Greeley klarkommen, musste man ihm zuhören und nicken. Sobald er wegschaute, konnte man immer noch tun und lassen, was man wollte.
Und im Augenblick schaute Greeley weg, sodass Dr. Jack Smalls sich einen Augenblick Zeit nahm und den Arm um die Hüfte seiner Frau Linda legte.
»Nicht«, ermahnte sie ihn und legte ihre Hand auf seine. »Du machst meine Flügel kaputt.«
»Tut mir leid, mein Engel.«
Wahrscheinlich hätte er die Flügel tatsächlich ramponiert. Linda Smalls trug zwei Paar davon, kleine Dinger aus Spitze, die von der Taille ihres Kleides bis knapp unterhalb des silbernen Heiligenscheins reichten. Also ließ Smalls seine Hand stattdessen ihren Schenkel hinuntergleiten, wobei er den Ärmel seines OP-Kittels hochschob. Greeley stand in der Tür, eine Hand aufs Ohr gedrückt, und sprach in seinen Anzugkragen.
Die große Wanduhr schlug elf. Über den Lärm der Band hinweg war sie kaum zu hören.
Greeley hatte davon abgeraten, Seeks zu spielen. In Smalls’ Augen war Seeks ohnehin ein dummes Spiel, eine Art Erwachsenenversion des kindlichen Versteckspielens. Seit Jahren spielten es die Reichen auf den dekadenten Partys, die Bruce Livingston in seinem Stadthaus an der 5th Avenue gab. Beim Seeks verteilten die Gäste sich viel zu weiträumig auf dem Anwesen, als dass man sie alle im Auge hätte behalten können. Und Greeley wollte immer wissen, wo jeder sich aufhielt. Hätte er in Nazi-Deutschland gelebt, wäre er vermutlich bei der Gestapo gelandet, oder im kommunistischen Russland beim KGB. Aber er hatte das Pech, im Jahre 2049 zu leben, und da waren die einzigen Lebewesen, die überwacht werden mussten, keine Menschen. So musste Greeley sich damit zufrieden geben, Sicherheitschef bei Senator Bruce Livingston zu sein.
Smalls kannte Livingston seit Jahren – seit der Zeit in Harvard, um genau zu sein. Greeley kannte er demnach genauso lange. Während Livingston Senator geworden war – ein Amt, das er genutzt hatte, um den Wiederaufbau der Brooklyn Bridge zu finanzieren und jedes Jahr drei oder vier attraktive Praktikantinnen ins Bett zu bekommen –, hatte Smalls weiter Medizin studiert und war Molekulargenetiker geworden, dessen Spezialgebiet die rekombinante DNA-Nanotechnologie war – ein Thema, das sich hervorragend dazu eignete, auf Partys mit verständnislosen Blicken bedacht zu werden und kleine Kinder zu Tode zu langweilen.
Die Hand noch immer auf Lindas Schenkel, beugte Smalls sich vor und flüsterte: »Dein Engelskostüm macht mich ganz scharf.«
»Gefällt dir der Heiligenschein?«
»Ich liebe den Heiligenschein. Sehr sexy. Es ist doch nicht falsch, wenn ich das sage?«
Bei Gesprächen mit Männern hatte Smalls zu seinem Erstaunen herausgefunden, dass er zu den wenigen Herren mittleren Alters gehörte, die das Glück hatten, ihre Ehefrau noch immer sexuell anziehend zu finden.
Vielleicht lag es daran, dass er den ganzen Tag in einem Labor arbeitete, und die einzigen Frauen, die er dort zu sehen bekam, waren Mathefreaks, die mehr von der Chaostheorie verstanden als von Sex. Alles nette Mädchen, aber alle gehörten zu dem Typ, der bewirkte, dass einem Keuschheit plötzlich als erstrebenswert erschien. Dies erklärte vermutlich auch, warum es noch keine Playboy-Ausgabe mit dem Titel »Girls aus dem Genlabor« gab.
Livingston ging über die Tanzfläche nach vorne. Seine Musketieruniform bereitete ihm dabei gewisse Probleme. Immer wieder verfing sich das lange Cape an seinen Füßen, und er musste es ständig beiseiteziehen. Schritt und ziehen. Schritt und ziehen. Nur langsam kam er voran.
»Er hätte sich ein anderes Kostüm aussuchen sollen«, bemerkte Smalls. »In dem Ding kann er ja kaum laufen.«
»Das Cape macht ihn schlanker«, erklärte Linda, wie stets ganz diplomatisch.
Smalls musterte Livingston, der noch immer seinen seltsamen Tanz vollführte – Schritt und ziehen –, und fragte sich, ob das stimmte. Nein, sicher nicht. Nur wenn Livingston ein bisschen abnahm – um die zwanzig Kilo –, würde er schlanker aussehen. Smalls wartete darauf, dass der Mann einen Herzinfarkt erlitt – so wie ein Mechaniker darauf wartet, dass ein altes Auto schlappmacht.
Keuchend und schwankend erreichte Livingston das Mikrofon vor der Tanzfläche. Wenn er so weitermachte, würde er vielleicht noch in dieser Nacht den Löffel abgeben. Und das wäre eine Schande. So viele schöne Frauen und nur noch so wenige Tage im Amt. Smalls fragte sich, ob es eine Beerdigung mit offenem Sarg geben würde. Und falls ja – würden sie Livingston dann in seiner Musketieruniform zur Schau stellen, mit Federn am Hut und allem, was dazugehört?
»Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute Abend gekommen sind«, begann Livingston und hob die Hände, bis die Gespräche verstummten und seine Gäste ihm lauschten. »Ich hoffe, Sie amüsieren sich. Selbst die Republikaner unter Ihnen.«
Der billige Witz rief vereinzeltes Lachen bei der größtenteils schon angesäuselten Gesellschaft hervor. Der Schlagzeuger machte einen Trommelwirbel.
»In ein paar Augenblicken werden wir mit dem Seeks beginnen. Für diejenigen, die mit den Regeln nicht vertraut sind: Um Punkt halb zwölf wird die Hälfte von Ihnen zwanzig Minuten Zeit bekommen, um sich irgendwo auf dem Anwesen zu verstecken, im Haus als auch im Garten. Nur Folgendes gilt es dabei zu beachten: Sollten Sie bei Ihrer Suche nach einem Versteck irgendetwas finden, das meinem Wahlkampf schaden könnte, bitte ich Sie, es nicht an die Times zu verkaufen.« Erneut bemühtes Lachen unter des Gästen. Der Senator fuhr fort: »Nach Ablauf der zwanzig Minuten wird die andere Hälfte von Ihnen Gelegenheit bekommen, die Versteckten zu suchen. Jeder von Ihnen hat bei seiner Ankunft eine Karte in einem Umschlag bekommen. Bitte machen Sie die Umschläge jetzt auf.«
Linda öffnete die kleine Tasche, die sie bei sich trug, kramte darin und holte die in einem weißen Umschlag steckende Karte hervor. Auf die Vorderseite war ein großes rotes »H« gedruckt für »Hide«, »Verstecken«.
»Sieht so aus, als gehören wir zu denen, die sich verstecken müssen«, sagte Linda.
»Das ist gut«, entgegnete Smalls. »Vielleicht können wir uns draußen im Wagen verstecken, mit eingeschaltetem Radio und ohne Licht.«
»Sei kein Spielverderber«, tadelte Linda. »Das wird bestimmt lustig.«
Wahrscheinlich hat sie sogar recht, dachte Smalls. Seltsamerweise machte dieses Spiel tatsächlich Spaß, auch wenn es ziemlich bescheuert war; aber so etwas spielten reiche, gebildete Leute nun mal. In kauzige Kostüme gewandet liefen sie mitten in der Nacht durch ein riesiges Haus und suchten sich ein Versteck, während Leute wie Greeley an der Tür standen und die Nicht-Superreichen draußen hielten, also 99,9 Prozent der Bevölkerung. Das gemeine Volk sollte nicht sehen, wie die Oberschicht sich zum Affen machte.
Smalls war schon auf vielen von Livingstons Partys gewesen, bei denen die Zahl der Gäste meist zwischen zwanzig und hundert Personen schwankte, und jede dieser Partys hatte sich um irgendeinen bizarren Event gedreht. So hatte es einmal im Ballsaal eine Show mit weiblichen Bodybuildern gegeben. Ein andermal hatten hundert Kleinwüchsige die Schlacht von Hastings auf dem großen Rasen vor der Tür nachgespielt; dann wieder hatten geistig behinderte Kinder einen Buchstabierwettbewerb ausgetragen – Livingston wollte unbedingt den Eindruck vermeiden, seine Partys seien immer nur dekadent. Auf jeden Fall waren diese Feiern ausgesprochen skurril gewesen. Smalls nahm an, dass deswegen noch nie jemand eine Einladung abgelehnt hatte. Medienvertreter waren allerdings nie zugelassen.
An diesem Abend waren etwa vierzig Gäste geladen, alle in unterschiedlichen Kostümen. Sie schufen eine beinahe surreale Atmosphäre, wie sie nur bei opulenten Kostümbällen möglich war. Pocahontas stand an der Bar und sprach mit Al Capone und einem NASA-Astronauten, während Hermes und Mutter Theresa Walzer tanzten. Wer brauchte schon bewusstseinsverändernde Drogen, wenn man genauso gut auf eine Livingston-Party gehen konnte?
Aber alles war irgendwie albern. Deshalb nahm Smalls das Ganze auch nie so richtig ernst. Für den heutigen Kostümball hatte er seinen alten OP-Kittel hervorgekramt, den er seit der Zeit an der Uni nicht mehr getragen hatte.
Nachdem alle auf ihre Zettel geschaut hatten, hob Livingston wieder die Hände. »Ladies und Gentlemen! Inzwischen müsste jeder seine Aufgabe kennen. In wenigen Augenblicken werden Sie das Anwesen erwandern und sich ein Versteck suchen. Dem Gewinnerpaar winkt als Preis ein kostenloser Gencheck dank der freundlichen Unterstützung unseres Cheftechnikers bei Genico, Dr. Jack Smalls.«
Livingston deutete auf Smalls, und von der Decke wurde ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Plötzlich schauten dreißig, vierzig Augenpaare auf Smalls. Er lächelte, winkte, und der Scheinwerfer wanderte zu Livingston zurück.
»Ich hasse es, wenn er das macht«, flüsterte Smalls seiner Frau zu.
»Er meint es doch nur gut. Er findet, jeder soll mal im Scheinwerferlicht stehen.«
So konnte nur ein Politiker denken. Aber selbst Smalls musste zugeben, dass der Preis attraktiv war: Ein Gencheck war nicht gerade billig; schließlich wurden dabei die gesamte DNA eines Menschen auf Gendefekte untersucht und eventuelle Schäden behoben. Es war eine Art genetischer Schönheitschirurgie, eines der wenigen Felder, in denen der Biotechnologieriese Genico noch das Monopol erringen musste.
Hach, war das früher schön, als die Gewinner eines solches Spiels noch einen Apfelkuchen oder Tupperware bekommen hatten. Aber die Zeiten ändern sich nun mal. Nicht dass die Aussicht auf einen Gencheck ein Anreiz für Smalls gewesen wäre. Es war ungefähr so, als dürfte ein Kfz-Mechaniker als Siegespreis bei seinem eigenen Wagen das Öl wechseln.
Es ging auf 23.30 Uhr zu.
Livingston war mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, wie schon sein Vater vor ihm – und sein Großvater, sein Urgroßvater und so weiter. Traditionell sprach man in so einem Fall von »altem Geld«; bei den Livingstons handelte es sich sogar um altes politisches Geld, und das war noch besser. Und auch das Anwesen, auf dem sie nun Seeks spielten, hatte eine reiche Geschichte. Carnegie hatte hier schon gewohnt, und Astor. Im Zweiten Weltkrieg hatte Roosevelt in ebendiesem Ballsaal britische Diplomaten bewirtet, und Woodrow Wilson hatte genau hier beschlossen, die Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg zu leiten und als erster amtierender US-Präsident über den Atlantik zu reisen.
Und Jack Smalls hatte hier bei früheren Besuchen nicht nur ein-, sondern zweimal Sex mit seiner Frau gehabt. Was war im Vergleich dazu schon ein Präsident Wilson?
»Wir sollten zur Bibliothek gehen«, flüsterte Linda. »Ich kenne da ein Eckchen, wo wir uns verstecken können. Livingston geht manchmal mit seinen Praktikantinnen dorthin.«
»Wer hat dir das denn erzählt?«, fragte Smalls.
»Mrs. Livingston.«
Smalls schaute sich wieder um. Er hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Und er hatte recht: In der Ecke stand ein Mann in langer schwarzer Robe und schwarzer Hose; auf dem Kopf trug er ein italienisches Barett mit Goldkrempe. Sein Gesicht war hinter einer mattgoldenen Maske mit langer Nase, zwei schwarzen Löchern für die Augen und einem verzerrt grinsenden Mund verborgen.
Die Maske drehte sich in Richtung Smalls, doch ohne die Augen sehen zu können, ließ sich schwer sagen, wohin der Mann schaute. Jedenfalls machte er Smalls nervös, und rasch wandte er sich ab.
Die Uhr schlug halb zwölf. Gedämpfter Jubel erhob sich unter den Partygästen, und die Band spielte eine flotte Melodie. Greeley verließ den Saal. Er sprach noch immer in seinen Kragen. Galileo (oder Magellan? Smalls war noch nie gut in europäischer Geschichte gewesen) ging mit Aphrodite, seiner Frau, an Mr. und Mrs. Smalls vorbei. Letztere erkannte Smalls sofort, denn in Mythologie kannte er sich aus. Die beiden hielten auf den hinteren Teil des Hauses zu.
»Ich wünsche Ihnen allen viel Glück«, rief Livingston. »So lasset die Spiele nun beginnen!«
Linda nahm Smalls’ Hand und führte ihn rasch von der Tanzfläche. Sie blickte auf die Uhr. »Wir haben nur zwanzig Minuten, um uns ein Versteck zu suchen. Beeilen wir uns!«
Linda war immer schon ehrgeiziger gewesen als Smalls. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn soweit Smalls wusste, verbrachte sie ihre Tage damit, Tennis im Club zu spielen, zu segeln oder Reitstunden auf Tanaway zu nehmen, ihrem vierjährigen Araber. Aber es behauptete ja auch niemand, alle modernen Frauen müssten arbeiten, nicht wahr? Linda jedenfalls schien das Leben in vollen Zügen zu genießen, und dafür brauchte sie nur zwanzigtausend Dollar im Jahr an Clubbeiträgen und mickrige siebentausendfünfhundert für den Gaul. Ach, was wir nicht alles für die Liebe tun … oder bezahlen.
Alles in allem hätte es Smalls aber nichts ausgemacht, hätte seine Frau sich ein günstigeres Hobby ausgesucht. Gärtnerei zum Beispiel. Das war verhältnismäßig billig, und man bekam sogar was zu essen dafür, was man von Lindas derzeitiger Freizeitbeschäftigung nicht gerade sagen konnte, denn man konnte weder einen Tennisball noch ein Focksegel verkonsumieren. Das Pferd … okay, das konnte man essen; allerdings wäre es eine verdammt teure Mahlzeit gewesen.
Sie verließen den Ballsaal und eilten einen langen Gang hinunter.
»Weißt du, wo wir hinmüssen?«, fragte Smalls.
Seine Frau nickte. »Ich glaube schon. Die Bibliothek müsste oben sein.«
Sie eilten die Südseite des Hauses entlang. Durch die großen Buntglasfenster hatte man einen guten Blick auf die 5th Avenue. Dann und wann sahen sie auf dem Weg durch die verschiedenen Räume seltsame Dinge, darunter einen gepanzerten Ritter und eine Kammerzofe, die sich unter ein breites Bett zwängten. Überall in den mehr als fünfzig Zimmern des Anwesens suchten Paare nach Verstecken.
Smalls und seine Frau erreichten den Fuß einer breiten Treppe und machten sich auf den Weg nach oben. Linda schien genau zu wissen, wohin sie wollte. Auch oben gab es wieder Räume und Gänge und Flure … und nach zehn Minuten, nachdem sie an mehr Zimmern vorbeigekommen waren, als zehn Familien hätten nutzen können, geschweige denn Livingston und dessen Frau, blieb Linda unvermittelt stehen.
»Ich glaube, wir sind da.«
»Wurde aber auch Zeit.« Smalls schnappte nach Luft. »Würde ich hier wohnen, wäre ich in verdammt guter Form. Allein um ein Buch zu lesen, müsste ich jedes Mal zwei Meilen latschen. Aber wenn ich mir Livingston so anschaue, liest er offensichtlich nicht viel.«
Linda ging durch eine offene Tür zu ihrer Linken. Smalls folgte ihr. Dann blieb er stehen und schaute sich um. Das hier war definitiv eine Bibliothek. Der kleine Saal war voller Bücherregale, die sich über zwei Stockwerke hinzogen; in zehn Fuß Höhe lief eine Galerie um den Saal herum. Links von ihnen befand sich ein Marmorkamin an der Wand; der Stein schimmerte im Licht zweier Lampen. Auf dem Boden lag ein Orientteppich von der gleichen rostroten Farbe wie die Bücherrücken; darauf standen vier dick gepolsterte Sessel. Im hinteren Teil hing ein großer Spiegel an der Wand; der Rahmen war mit Blattgold verziert.
Linda ging zu dem Spiegel. Erst schaute sie sich den Rahmen an; dann legte sie die Hände ans Glas und versuchte hindurchzuschauen.
»Was tust du da?«, fragte Smalls.
Linda antwortete nicht. War der Wettkampfgeist seiner Frau erst geweckt, war sie nicht mehr in der Stimmung für Konversation. Eine schwarze Fernbedienung, ähnlich der eines Fernsehers, lag auf einem der Sessel. Smalls nahm sie und drückte den Powerschalter oben rechts. Ein Klicken ertönte irgendwo an der Wand, und der Spiegel glitt einen Zoll heraus. Linda packte den Rahmen, und das ganze Ding schwang nach außen wie eine große Tür.
Hinter dem Spiegel befand sich ein kleiner, gemütlicher Raum mit Bett, Lampe und einem eyeScreen über dem Sekretär. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wein, was in Smalls den Verdacht weckte, dass Linda das alles geplant hatte. Manchmal war sie sehr einfallsreich.
Über dem Bett befand sich ein einzelnes Fenster, durch das man in den dunklen Garten hinter dem Haus blicken konnte. Greeley rauchte gerade eine Zigarette und ließ den Blick über den Garten schweifen, als zwei Gestalten an ihm vorbeihuschten: ein Gespenst, in eine weiße, zerlumpte Decke gehüllt, und eine Hexe mit grauem Haar und bleich geschminktem Gesicht. Draußen schlug die große Uhr Mitternacht, gefolgt von einer zweiten in der Bibliothek; beide schlugen fast im Einklang.
Mitternacht. Mitternacht. Mitternacht.
»Also los, mögen die Spiele beginnen …«, flüsterte Mrs. Smalls.
Die Spiegeltür stand noch auf und gab den Blick auf die restliche Bibliothek und den Gang dahinter frei.
»Sollten wir die Tür denn nicht zumachen?«, fragte Smalls.
»Ich bitte darum.«
Langsam ließ seine Frau den vergoldeten Spiegel wieder zugleiten. Ein Klicken ertönte, als er geschlossen und die Smalls in dem kleinen Raum eingesperrt waren. Von innen war das Spiegelglas durchsichtig. Ein netter Trick, der es Smalls und seiner Frau erlaubte, in die Bibliothek zu schauen. Und ohne die Fernbedienung, die Smalls noch immer in der Hand hielt, konnte niemand den Raum betreten und sie deshalb auch nicht finden … Es sei denn natürlich, jemand zerschlug das Glas.
Smalls ließ den Blick durch die nun leere Bibliothek schweifen. Der kleine Raum hinter dem Spiegel war dunkel; für die einzige Beleuchtung sorgte der Vollmond, dessen Licht durch das offene Fenster fiel. Lindas Engelsflügel funkelten, als sie sich umherbewegte. Die Uhr läutete ein letztes Mal und verhallte dann. Stille. Irgendwo unten würden die Sucher sich jetzt auf den Weg machen.
Smalls hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch – das Gefühl, das ein Kind bei einem spannenden Spiel verspürte. Allerdings war die Empfindung überhaupt nicht kindlich und machte sich gut eine Handbreit unter der Gürtellinie bemerkbar. Linda schien das Gleiche zu spüren, denn sie schaute ihren Mann verlangend an, die Hüfte kokett vorgeschoben, und strich sich mit den Fingern über den Halsansatz.
Linda war eine wirklich schöne Frau. Sie hatte grüne Augen und volle Lippen, bei deren Anblick ein Mann unwillkürlich daran dachte, wie diese Lippen im Sommer an einem Eishörnchen saugten, im Winter an einer Zigarre und andere freudsche Assoziationen.
Offenbar hatten der Reichtum und der Luxus dieser Umgebung Linda erregt. Mit langsamen, verführerischen Kreisbewegungen fuhr sie sich mit den Fingern über den Hals.
»Und welch’ Befriedigung kannst du noch verlangen?«, sagte Linda.
Sie spielte nun mal gerne Theater.
Linda hatte in Wellesley ihren Abschluss in Englisch gemacht und schien sich zumindest bruchstückhaft an fast alles zu erinnern, was sie je gelesen hatte. Manchmal kam Smalls sich deswegen klein und schäbig vor, denn er hatte Chemie studiert und nur eine Handvoll Bücher gelesen, deren Inhalt vergleichsweise trocken war. Da seine Frau das Liebesspiel oft mit literarischen Zitaten einleitete, hatte er oft das Gefühl, ihr hinterherzuhinken, während er zu ergründen versuchte, wen oder was sie gerade zitierte.
»Wer bist du, der hier, in Nacht gehüllt, mein einsam’ Selbstgespräch belauscht?«, sagte Linda und ließ ihre Finger über seinen Bauch gleiten.
Was ist das denn für ein Spruch?, fragte sich Smalls. Hörte sich an wie aus dem 19. Jahrhundert. Charles Dickens? Nein, zu blumig. Edith Wharton? Hatte die überhaupt im 19. Jahrhundert gelebt?
Er sollte lieber etwas sagen, um das Spiel in Gang zu halten, als sich über irgendwelche Sprüche den Kopf zu zerbrechen.
»Welch’ Befriedigung wollt Ihr mir denn … äh, verschaffen?«, fragte er. Das war natürlich frei erfunden, denn Smalls wusste noch immer nicht, wen oder was Linda zitierte oder aus welchem Jahrhundert es stammte.
»So neu sie mir ist, so kenn ich diese Stimme. Bist du nicht Romeo, ein Montague?«
Aaah! Das kam Smalls bekannt vor. Shakespeare, Romeo und Julia. Smalls hatte das Gefühl, als hätte Linda ihm mit diesem Zitat auf die Sprünge helfen wollen.
Linda trat einen Schritt auf ihn zu. Ihre Engelsflügel schimmerten im Mondlicht.
»Aye, es ist wahr, ich bin der gute alte Romeo aus Montague«, sagte Smalls mit ziemlich schlecht gespieltem Akzent. Er kannte das Stück nicht wirklich. Hamlet wäre eher was für ihn gewesen, oder die Elemente des Periodensystems.
»Wie kamest du hierher, und warum? Oh, sag es mir«, flüsterte Linda und kam näher, bis sie ganz nahe vor ihm stand.
Jetzt hatte sie ihn total abgehängt. Mangan, Iridium, Wismut … oh, süßes Periodensystem! Linda strich ihm mit den Fingern über den Schenkel. Smalls war froh, dass seine alte OP-Hose so weit war.
Linda drückte sich an ihn, legte die Hand an seinen Bund, und die Hose fiel. Sie schob ihn rückwärts zum Bett, und Smalls fiel mit dem Rücken darauf.
»Ich sag’s noch einmal, Liebster«, flüsterte sie und zog ihr Kleid hoch. »Welch’ Befriedigung kannst du denn noch verlangen?«
Dann ließ sie sich auf ihm nieder, schnappte nach Luft, als sie ihn in sich spürte, und begann zu stöhnen. Jetzt war es kein Theater mehr. Langsam bewegte sie sich vor und zurück, vor und zurück, wobei die kleinen Glöckchen an ihren Engelsflügeln rhythmisch klingelten.
Mein lieber Schwan, dachte Smalls, wer hätte sich je träumen lassen, dass Shakespeare so geil sein kann? Du verschaffst mir in der Tat Befriedigung, o mein Engel des unerlaubten Verkehrs an verbotenen Orten.
Linda bewegte sich weiter und stöhnte immer lauter. Smalls hoffte, dass die Wände schalldicht waren. Er spähte an Lindas rechtem Schenkel vorbei zum Spiegel, um sicherzugehen, dass wirklich niemand in der Bibliothek war.
O Gott!
Jemand starrte sie an.
Smalls musste unwillkürlich zusammengezuckt sein, denn Lindas Bewegungen endeten abrupt, ihr Stöhnen verstummte, und sie schaute ihn mit glasigen Augen an.
»Was ist?«, fragte sie schwer atmend.
»Da ist jemand«, flüsterte Smalls.
Linda drehte sich um. Ein kostümierter Mann stand vor dem Spiegel. Sein Gesicht war hinter einer grinsenden Maske verborgen, und er starrte die Liebenden direkt an … oder zumindest sah es so aus. Dann fiel Smalls ein, dass der Kerl sie durch den Spiegel ja gar nicht sehen konnte. Linda schien zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen zu sein.
»Er kann uns nicht sehen. Beachte ihn einfach nicht«, sagte sie. »Ich war schon fast so weit.«
Langsam ließ sie ihre Hüften wieder kreisen. Smalls schloss die Augen und lauschte auf das Knarren des Bettes, das Klingeln der Engelsglöckchen und Lindas Atmen, das immer schneller wurde. Er riss die Augen auf, schaute sie an. Ihr Gewicht fühlte sich wundervoll an; das weiße Kleid war an der Hüfte gebauscht, und durch das Fenster fiel Mondlicht auf sie.
Smalls’ Blick glitt zum Spiegel zurück. Der Mann war noch immer da. Er ging im Raum umher und betrachtete die Buchrücken. Lindas Stöhnen wurde immer lauter, ihre Bewegungen schneller.
»Oooh … ich … komme …«, stieß sie schwer atmend hervor.
Das Bett knarrte, und durch den Spiegel hindurch konnte Smalls den maskierten Mann in der Bibliothek stehen sehen, den Kopf zur Seite geneigt. Er lauschte.
»Pssst«, flüsterte Smalls und hielt seine Frau fest. »Ich kann das nicht. Das ist zu abgefahren.«
»Was ist denn?«, fragte Linda und blickte ein wenig verärgert drein.
»Der Kerl ist immer noch da. Ich glaube, er hört uns.«
Linda blieb noch einen Moment auf ihrem Mann sitzen, bevor sie langsam aufstand und ihr Kleid herunterzog.
»Wer ist das denn?«, fragte sie.
»Ich habe ihn vorhin schon bemerkt. Er hat uns auf der Party beobachtet.«
»Der Spiegel ist doch zu, oder?«
»Ja …«
»Wen kümmert das überhaupt? Soll er doch zuhören. Er kommt hier nicht rein.«
Linda war sexuell immer schon abenteuerlustiger gewesen als ihr Mann. Ihr mochte es ja nichts ausmachen, wenn ein Fremder ihnen beim Liebesspiel lauschte, aber Smalls machte es nervös. Was trieb der Kerl überhaupt hier? Was stand er da herum? Inzwischen war Smalls sicher, dass der Bursche sie auch vorhin schon angestarrt hatte. War er ihnen vielleicht hierher gefolgt? Die Vorstellung war zu unheimlich, um auch nur darüber nachzudenken.
Smalls zog seine Hose an, ging zum Fenster und schaute hinaus. Vor ihm breitete sich der vom Mond beschienene Garten aus. Am Hintereingang war niemand zu sehen; Greeley war offenbar zurück ins Haus gegangen.
Unvermittelt erklang ein lauter, durchdringender Schrei in der Dunkelheit.
Linda packte Smalls’ Arm. »Was war das?«
In der Bibliothek hatte der Mann mit der Maske das Kinn gehoben. Offenbar hatte auch er das Geräusch gehört. Er hielt kurz inne; dann wandte er sich wieder den Büchern zu. Smalls schaute immer noch hinaus in den Garten. Eine kühle abendliche Brise spielte in den Baumkronen. Alles schien ruhig zu sein.
Doch Smalls wusste, das Geräusch war ein Schrei gewesen.
Aber war dieser Schrei echt gewesen? Vielleicht hatte Livingston sich ja irgendeinen Scherz ausgedacht. Das Licht ausschalten und allen eine Heidenangst einjagen. Das war genau seine Art von Humor. Andererseits hatte der Schrei sich verdammt echt angehört. Also hatte Livingston entweder eine ausgesprochen motivierte und talentierte Schauspielerin engagiert, oder …
Oder was?
Oder der Schrei war echt, und in diesem Fall …
Hinter Smalls, auf der anderen Seite des Spiegels, ertönte ein dumpfer Schlag. Smalls wandte sich vom Fenster ab und schaute durch den Spiegel in die Bibliothek. Was war das? Irgendetwas war gerade an der offenen Tür der Bibliothek vorbeigehuscht.
Doch in diesem kurzen Augenblick hatte Smalls erkannt, was es gewesen war: zwei Füße, die schlaff herabhingen, während ihr Besitzer weggeschleppt wurde. Irgendeine schimmernde Flüssigkeit gerann auf dem Teppich draußen auf dem Gang.
Smalls trat ganz nahe an den Spiegel heran, drückte die Nase ans Glas und spähte in den Gang.
Die Flüssigkeit auf dem Teppich sah wie Blut aus.
»Was ist?«, flüsterte Linda.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Smalls und überraschte sich dann selbst mit den Worten: »Bleib hier. Ich sehe nach.«
Hatte er das gerade wirklich gesagt? Smalls hielt sich nicht für tapfer – obwohl er letzten Sommer einen tollwütigen Waschbären mit einem 7er-Eisen unter der Veranda ihres Hauses hervorgeholt hatte. Und vor fünf Jahren hatte er ein achtjähriges Mädchen in den Hamptons vor dem Ertrinken gerettet. Aber die eine oder andere kleine Heldentat hatte wahrscheinlich jeder Mensch vorzuweisen. Da es zu Smalls’ Lebzeiten keinen Krieg gegeben hatte, hatte er auch keine Gelegenheit gehabt, sich in einer Schlacht zu bewähren oder sich einen Orden zu verdienen, der seinen Mut hätte beweisen können. Stattdessen beschränkten seine »Abenteuer« sich darauf, mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaftsschicht Squash zu spielen oder nach zweiundzwanzig Uhr allein mit der U-Bahn zu fahren.
Das hier war jedoch meilenweit davon entfernt, und zu jeder anderen Zeit wäre Smalls hinter dem Spiegel versteckt geblieben. Doch vermutlich hatte seine Frau durch den Ritt auf ihm seinen Testosteronspiegel so sehr in die Höhe schnellen lassen, dass er nun das gefährlichste aller männlichen Gefühle empfand: das Verlangen, sich zu beweisen.
Der Spiegel hatte innen ein Schloss, eine Art Riegel. Als Smalls ihn zurückzog, glitt die Tür langsam auf, und Lampenlicht fiel zu ihm herein. Es war, als würde man ein Siegel brechen. Plötzlich konnte Smalls eine ganze Symphonie verschiedener Geräusche hören, die bis dahin nicht in den Raum vorgedrungen waren: das Ticken der Bibliotheksuhr, das Summen der Lampen, das Geräusch einer Tür, die in einiger Entfernung zugeschlagen wurde.
»Bleib hier«, sagte Smalls, »und verhalte dich ruhig. Ich bin in zehn Minuten wieder da.«
Vorsichtig schob er die Spiegeltür auf, trat hindurch und gelangte in die Bibliothek. Sie war leer. Smalls schloss den Spiegel hinter sich und hörte, wie er ins Schloss fiel. Nun konnte er nur noch sein eigenes Spiegelbild im Glas sehen. Linda befand sich irgendwo dahinter, auf der anderen Seite. Der Gedanke machte ihm Mut, und er ging auf die offene Tür der Bibliothek zu. Dabei lauschte er, aber kein Laut war zu hören. Smalls lugte hinaus. Der Gang war in beiden Richtungen leer.
Smalls schaute auf den Boden und entdeckte einen roten Streifen auf dem Teppich. Er bückte sich und berührte den nassen Fleck. Als er die Finger hochnahm, waren sie rot. Blut. Ohne Zweifel. Smalls erinnerte sich an den maskierten Mann … und an die Füße, die aus der Bibliothek geschleift worden waren …
Er hätte die Polizei rufen sollen.
Anderseits war Livingston ein äußerst seltsamer Vogel. Vielleicht war das alles ja geplant, bloß Theater. Wenn Livingston gewusst hatte – woher auch immer –, wo Smalls und seine Frau sich versteckt hielten, war es durchaus denkbar, dass er irgendeinen Blödsinn inszeniert hatte, um seinem alten Kommilitonen Angst einzujagen.
Und bis jetzt funktionierte es.
Die Blutspur führte weiter den Gang hinunter, bis sie rechts hinter einer Ecke verschwand. Smalls musste zugeben, dass Livingston sich große Mühe gegeben hatte, sollte diese Sache tatsächlich auf seinem Mist gewachsen sein. Doch Smalls wollte ihm nicht die Genugtuung geben, bei diesem dämlichen Spiel den Sieg davonzutragen.
»Ich werde dich schon aufspüren, Freundchen«, flüsterte er und machte sich auf den Weg den Gang hinunter, immer den roten Flecken hinterher. »Wir werden ja sehen, wie das ausgeht.«
Die Blutflecke wanden sich über den Teppich wie die Spuren einer Schlange in der Wüste. Im Haus war es größtenteils dunkel, doch Smalls folgte der Blutspur im Mondlicht bis zum Ende des Gangs und dann in einen weiteren Flur hinein. Von den anderen Spielern war nichts zu sehen. Offenbar hatten alle sich irgendwo versteckt.
Die roten Streifen wanden sich immer weiter, eine Treppe hinauf, durch Zimmer und über Flure. Dabei änderte sich immer wieder der Bodenbelag. Mal saugte Teppichstoff das Blut auf wie Brot die Soße, dann wieder sammelte es sich auf Marmor oder Holz und bildete Pfützen, die im Mondlicht schwarz und unergründlich schimmerten. Einmal blieb Smalls sogar stehen, um diesen Effekt zu bewundern. In jedem Fall ruinierte Livingston sich mit diesem kleinen Scherz den ganzen Fußboden.
Dann verschwanden die Blutflecke.
Sie führten zu einer großen Doppeltür und darunter hindurch. Sackgasse. Die Tür war verschlossen, doch durch das Schlüsselloch fiel Licht. Leise schlich Smalls zu der Tür und drückte ein Ohr ans Holz. Drinnen waren Schritte zu hören. Da war jemand.
Jetzt habe ich dich, Livingston!
Langsam hockte Smalls sich hin und spähte durchs Schlüsselloch.
Das war nicht Livingston.
Hinter der Tür war eine Art Arbeitszimmer. Sofa, Stühle, Kaffeetisch und an der hinteren Wand Bücherregale. Ein Schatten fiel über die Bücher. Es war der Schatten eines stehenden Mannes, der die Arme hoch erhoben hatte. Smalls suchte die Lichtquelle. Es war eine Lampe auf einem Tisch. Der maskierte Mann stand im Licht. In der Hand hielt er eine lange Sichel. Auch Greeley, der Sicherheitschef, war in dem Zimmer, halb an die Wand gelehnt. Die roten Spuren endeten bei ihm. Blut sammelte sich unter seinem Körper. Auch die Sichel war voller Blut. Tropfen fielen von der Klinge auf den Boden. Der Maskierte schaute auf Greeleys Leiche hinunter und klopfte sich mit der Sichel ans Bein, bis seine schwarze Robe verschmiert war.
Smalls wurde schwindelig vor Entsetzen. Er wankte, fiel nach vorne und schlug mit der Stirn an den Türknauf. Der Maskierte drehte sich um, starrte in Richtung des Geräuschs. Dann legte er den Kopf zur Seite, trommelte mit der Sichel gegen sein Bein und bewegte sich auf Smalls zu.
Smalls zog sich hastig vom Schlüsselloch zurück, doch kaum war das Bild verschwunden, das sich ihm geboten hatte, verspürte er das eigenartige Verlangen, zu bleiben und darauf zu warten, dass die Tür sich öffnete. Er wollte sehen, was sich dahinter verbarg. Zumindest wollte er noch einmal durchs Schlüsselloch spähen, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich gesehen hatte, was er beobachtet zu haben glaubte, und dass es nicht irgendein Trugbild gewesen war.
Aber es gab eine einfachere, bessere Lösung.
Umdrehen und rennen.
Smalls eilte denselben Weg zurück, den er gekommen war. Hinter sich hörte er, wie die Doppeltür geöffnet wurde, gefolgt von Schritten auf dem Marmorboden. Achte nicht darauf!, ermahnte er sich. Er musste ignorieren, dass jemand ihn verfolgte, musste weiterlaufen.
Dann hatte Smalls wieder den Gang zur Bibliothek erreicht. Im Mondlicht rannte er weiter. Hinter ihm pochten die Schritte, bewegten sich die Treppe hinauf.
Smalls stürmte in die Bibliothek und riss sein Handy hervor. Er sah den Spiegel am anderen Ende und rannte darauf zu. Als er das Glas erreichte, riss er an dem vergoldeten Rahmen. Nichts geschah. Panisch zog Smalls noch einmal. Dabei fiel ihm das Handy aus der Hand. Die Schritte im Gang wurden lauter. Der Maskierte kam näher. Plötzlich erinnerte Smalls sich an die Fernbedienung. Die Fernbedienung. Die Fernbedienung. Wo war die verdammte Fernbedienung? Die Schritte waren fast da.
Dann glitt der Spiegel auf. Die Hände seiner Frau erschienen und zogen ihn hinein. Hinter ihm schloss sich der Spiegel wieder. In der Dunkelheit des Geheimraums versuchte Smalls, wieder zu Atem zu kommen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er drehte sich um und schaute durch das Glas in die Bibliothek.
Leer.
»Was ist passiert?«, zischte Linda. »Was ist los?«
Smalls schüttelte den Kopf. »Pssst! Er kommt.«
Er hielt den Blick auf die Tür am anderen Ende gerichtet. Er wartete … wartete … und wartete … und dann erschien eine Gestalt. Der Maskierte. Er ging an der Bibliothek vorbei und weiter den Gang hinunter. Smalls atmete tief durch. In seiner Brust wühlte ein Schmerz wie bei einem Herzinfarkt; dann wanderte der Schmerz nach unten und drehte ihm den Magen um.
»Wer war das?«, fragte Linda, die ängstlich die Augen aufgerissen hatte.
»Ruf die Polizei an.« Smalls’ Stimme zitterte. Linda rührte sich nicht, stand da wie erstarrt. »Ruf die Polizei an, verdammt!«
Linda schaute sich um. Smalls’ Tonfall machte ihr Angst, aber sie reagierte endlich und wählte die 911. »Wo ist dein Handy?«
Smalls schaute hinaus. Sein Mobiltelefon lag auf dem Boden der Bibliothek am Rand des Teppichs. Verzweifelt starrte er auf das Gerät und versuchte, es durch schiere Gedankenkraft wieder in die Finger zu bekommen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Linda.
»Etwas Schlimmes.«
Nach dem zweiten Klingeln nahm ein Mitarbeiter der Notrufzentrale ab. »911. Bitte, schildern Sie Ihren Notfall.«
Linda gab ihrem Mann das Telefon. Smalls atmete abermals tief durch und versuchte, sich zu sammeln. »Wir brauchen Hilfe … Da ist jemand, ein Mann. Er versucht, uns zu töten. Ich bin in Haus Nummer 578, 5th Avenue, vierter Stock.«
»Brauchen Sie die Polizei?«
»Ja, bitte. Sofort!«
»Bleiben Sie am Apparat, Sir«, sagte der Mann.
Linda drückte sich an Smalls. Sie hatte die Lippen zusammengekniffen und starrte auf irgendetwas.
»Was ist?«, fragte Smalls im Flüsterton.
»Er weiß es.«
Smalls schaute in die leere Bibliothek hinaus. Da war niemand. Dann blickte er zur offenen Tür und in den Gang dahinter. Leer … nein … Moment mal … nicht leer. Ein Gesicht. Am Rand der Tür … die goldene Maske. Irgendjemand im Gang spähte um die Ecke und beobachtete die Bibliothek …
»Ja«, flüsterte Smalls, als der Mann langsam den Raum betrat. »Er ist jetzt hier. Ich sehe ihn.«
»Wo verstecken Sie sich mit Ihrer Frau?«
Smalls öffnete den Mund, um zu antworten; dann schrillten plötzlich die Alarmglocken in seinem Inneren. Da stimmte etwas nicht. »Was haben Sie gesagt?«
»Wo im Haus verstecken Sie sich mit Ihrer Frau?«
Meine Frau? Ich habe dem Telefonisten nie gesagt, dass ich meine Frau dabeihabe …
Smalls’ Verstand arbeitete langsam, träge. Die Stimme am Telefon gehörte jemandem, der ihn mit Linda auf der Party gesehen hatte. Jemand, der wusste, wer er war. Jemand, der unmöglich ein Mitarbeiter der Notrufzentrale sein konnte.
»Warum wollen Sie wissen, wo wir uns verstecken?«, fragte Smalls.
Pause.
Klick.
In der Bibliothek blieb der maskierte Mann stehen und schaute auf Smalls Handy hinunter. Langsam bückte er sich, hob es auf und blickte auf das Display. Er drückte mit dem Daumen auf das Gerät und schien zu warten.
Plötzlich wusste Smalls, worauf der Mann wartete, doch es war zu spät, um noch zu reagieren. Lindas Handy erwachte zum Leben, und ein schrilles Klingeln erfüllte den kleinen Raum. Der Maskierte riss den Kopf in Richtung des Geräusches herum, und Smalls glitt das Handy aus den Fingern.
Rasch näherte der Unbekannte sich Smalls und Linda, blieb vor dem vergoldeten Rahmen stehen und musterte den Spiegel. Aus der Nähe konnte Smalls die Blutflecke auf der goldenen Maske und dem schwarzen Mantel sehen. Der Mann nahm seine Sichel und fuhr mit der Spitze über das Glas. Linda krallte die Finger in Smalls’ Arm. Die kleinen Glöckchen an ihren Flügeln klingelten, während die Sichelklinge kreischend über den Spiegel fuhr. Smalls konzentrierte sich auf einen kleinen Fleck auf dem ansonsten makellosen Glas. Ein Fingerabdruck. Er gehörte ihm selbst.
Der Maskierte entdeckte den Fingerabdruck fast im selben Augenblick. Die Klinge verharrte. Dann riss der Mann den Kopf zurück, hob die Sichel und ließ sie mit fürchterlicher Wucht niederfahren. Das Glas zerbarst, und der Mann stieg durch den Rahmen, die Sichel in der Hand …
Erster Teil