Ich geh den Weg der Wunder
SAN ESPRIT VERLAG
Ich geh den Weg der Wunder
SAN ESPRIT VERLAG
Bildnachweis
Alle in diesem Buch verwendeten Fotos stammen aus dem Privatbesitz von
Annette Müller mit allen Rechten außer: Titelfoto und Portrait von
Annette Müller mit Pfarrer Fliege: Orhidea Briegel, ,
Gruppenbild DO UT DES 2009 auf Seite 95
Christian Fohmann, Gruppenbild DO UT DES 2010 auf Seite 96
alphafoto Günter Schön.
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® 2011 SAN ESPRIT Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Anja Kathrin Klein
Umschlagfoto: Orhidea Briegel, Fotocoach,
Herstellung und Satz: Monsenstein und Vannerdat
ISBN(epub) 978-3-943099-02-7
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
Verzage nicht!
Das Ei kann Federn kriegen
und aus der engen Schale
empor zum Himmel fliegen.
Friedrich Rückert
Geistige Heilwesen sind aus dem heutigen Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Selbst die Heilpraktiker und andere Heilberufe haben durchaus ihre Berührungsängste gegenüber Energiearbeit, schamanischen Ritualen und anderen Arten geistigen Heilens verloren. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein boomendes Segment des Gesundheitsmarktes, sondern um gelebte Spiritualität, die in den Dienst einer guten Sache gestellt werden soll. Dahinter steht heute oftmals eine fundierte Ausbildung in Energiearbeit, noch häufiger und zusätzlich aber die einschneidende Lebenserfahrung, wieder aus dem Nichts von vorne anfangen zu müssen, welche die Lebensgeschichte und die Arbeit vieler Heilerinnen und Heiler besonders glaubwürdig macht. War die Rechtsprechung seit den 50er Jahren noch von dem Grundsatz ausgegangen, dass es sich bei geistigen Heilweisen stets um Scharlatanerie handeln müsse, es sei denn, der Heiler vermag auf den Einzelfall hin etwas anderes zu beweisen, so hat sich dieses Bild nun grundlegend gewandelt. Durch den berühmt gewordenen Geistheilerbeschluss des Bundesverfassungsgerichtes wurde das Anbieten geistiger Heilweisen als eigenständige Berufsgruppe etabliert. Das Bundesverfassungsgericht war in seinem Beschluss der Auffassung, dass der Klient, welcher geistige Heilweisen suche, eher an spirituellem Beistand und einer Änderung seines Weltbildes interessiert sei und schon von daher den Heiler nicht mit dem Heilpraktiker und anderen Heilberufen gleichsetze. Von daher habe der Klient schon von vornherein nicht die Erwartung, in einem medizinischen oder psychotherapeutischen Sinne behandelt zu werden. Aus diesem Grund müsse auch die Rechtsordnung den Heiler als völlig eigenständige Berufsgruppe innerhalb der Heilberufe betrachten. Diese berühmt gewordene Entscheidung hat in den nun mittlerweile sieben Jahren ihres Bestehens und in der Rezension durch andere Gerichte große Breitenwirkung erfahren und damit wesentlich dazu beigetragen, den Beruf des Heilers zu etablieren, mit allen Folgen wie zum Beispiel den Werbebeschränkungen durch das Heilmittelwerbegesetz (welche auch für den Heiler gelten) und den Fragestellungen einer verpflichtenden Klientenbelehrung für alle Heiler. Und natürlich sind die Vorgaben, wann auch ein Heiler einen Heilpraktikerschein vorweisen muss und die Grenze zum medizinischen oder psychotherapeutischen Behandlung überschritten hat, neu definiert worden.
Vor diesem Hintergrund ist es äußerst zu begrüßen, wenn Bücher – wie das hier vorliegende – großen Erfolg haben. Denn schließlich ist es vielen einzelnen Bausteinen zu verdanken, wenn geistige Heilweisen aus der »Esoterikecke« herausgeholt und zutreffend als das beschrieben werden, was sie wirklich sind – Möglichkeiten für den Klienten, mit seinem persönlichen Heilungsweg umzugehen, diesen zu finden und sich der eigenen Schöpferkraft bewusst zu werden.
Dr. iur. Anette Oberhauser
Rechtsanwältin
Die Dunkelheit ist eine Morgendämmerung,
die darauf wartet, geboren zu werden.
Khalil Gibran
Es begann mit einem Unfall. Einem Autounfall, der meinen kleinen, gelben Twingo demolierte. Totalschaden. Ich selbst schien unverletzt. Dennoch rief die Polizei einen Krankenwagen, der mich in die nächste Klinik brachte.
An diesem unseligen Tag – dem 17. Mai 2004 – war ich besonders vergnügt. Eine Freundin war gerade aus Amerika zu Besuch, wir hatten uns bewusst ein indisches Lokal ausgesucht, um uns an die gemeinsame Zeit in einem indischen Ashram zu erinnern. Einige Jahre zuvor hatte mich meine Begeisterung für fernöstliche Lehren, für Yoga und Meditation dazu bewegt, in der Nähe von Bombay gleich mehrere Monate in einer Art Kloster zu verbringen. Dort waren meine Freundin und ich uns begegnet.
Nachdem wir in dem indischen Lokal sehr gut gegessen hatten, wollte ich ihr an diesem strahlenden Maitag die Schönheiten Münchens zeigen. Eine kurze, aber reizvolle Rundfahrt.
Ich stand als Erste an der Kreuzung Oskarvon-Miller-Ring Richtung Obelisk, die Ampel sprang auf Grün und ich gab Gas.
Dann geschah es.
Von links kommt ein silberner Mercedes angerast, der Fahrer übersieht die rote Ampel, ich trete noch blitzartig auf die Bremse, doch zu spät. Ich erwische die Limousine, die in voller Fahrt war. Ein kurzer, ohrenbetäubender Knall, mein Wagen wird in Fahrtrichtung des Mercedes mitgeschleift. Völlig benommen klettern meine Freundin und ich über die Beifahrertür aus dem verbeulten Auto.
Schnell treffen Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen ein. Obwohl ich mich unverletzt wähne, besteht der Fahrer des Krankenwagens darauf, mich in die Klinik zu bringen. Nach mehreren Röntgenaufnahmen darf ich das Krankenhaus verlassen. Wie sich erst später herausstellte, hatte der ärztliche Befund leider besonders fatale Folgen für mein weiteres Leben.
Ein Bekannter holte mich ab. Auf einem Bein hüpfend schaffte ich es bis zu seinem Wagen und ließ mich neben ihm auf den Sitz fallen. Man hatte meinen erheblich angeschwollenen Fuß bandagiert und den Daumen, der sich im Lenkrad verfangen hatte, ebenfalls verbunden. Günter, mein Mann, konnte sich meiner nicht annehmen, da er damals bereits schwer krank war. Meine 15-jährige Tochter befand sich im Internat. Ich fühlte mich allein und ich war es auch. Am nächsten Tag bekam ich starke Kopfschmerzen, die ich aber überhaupt nicht mit dem Unfall in Verbindung brachte.
Ich arbeitete damals als Verlagskauffrau und betrieb einen Versandhandel für Bücher und erlesene Geschenkartikel. Außerdem habe ich Miniatur-Malerei gelernt, widmete mich der Kunst und Fotografie; zuvor hatte ich sieben Jahre lang Yoga und Meditation unterrichtet. Schon immer habe ich ein unkonventionelles Leben geführt, wollte seit jeher eigenständig sein und nur unabhängig arbeiten. Günter fühlte und dachte ähnlich wie ich. Beide verreisten wir leidenschaftlich gern, liebten es, die Welt zu erkunden. Wir haben niemals standesamtlich geheiratet, unsere Ehe wurde bei einer zauberhaften Hochzeitszeremonie in Ganeshpuri in Indien geschlossen. 1989 kam unsere Tochter in New York zur Welt. Als sich mein Unfall ereignete, zog ich aber schon lange nicht mehr durch die Welt. Die Krebserkrankung von Günter – ein großer Kummer – setzte den schönen, langen Reisen ein Ende.
Nach meinem Unfall wachte ich immer öfter mit rasenden Kopfschmerzen auf. Ich versuchte, sie mit Homöopathie und Akupunktur in den Griff zu bekommen. Erfolglos. Bis auf wenige Ausnahmen. Jeden Morgen die gleichen unerträglichen Kopfschmerzen, die erst gegen Mittag nachließen. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Einige Monate nach dem Zusammenstoß wurde ich eines Nachts von so grausamen Kopfschmerzen geweckt, dass ich das Gefühl hatte, es explodiere jede Sekunde eine Granate in meinem Kopf. Ich richtete mich auf, schnappte nach Luft und übergab mich. Eisige Kälte erfasste sämtliche Glieder, sie begannen zu kribbeln, als würde ein ganzes Ameisenheer über meinen Körper laufen. Der Notarzt wurde gerufen. Er meinte, ich hätte Migräne, ich selbst glaubte an eine schwere Magen-Darminfektion. Nach einer intravenösen Spritze fühlte ich mich etwas besser und dachte, nun sei der Spuk endlich vorbei.
Acht Tage später, mitten in der Nacht, der nächste Anfall. Wieder explodierende Granaten im Kopf, Erbrechen, Schüttelfrost, die Ameisenheere, die sich krabbelnd und stechend über mich hermachten, diesmal gab auch noch der Schließmuskel nach.
Halb bewusstlos vor Schmerz kauerte ich in Embryostellung in meinem Bett. Ich hatte Angst. Da war nicht nur das Pochen und Brennen im Kopf – ich dachte, er müsse jede Sekunde platzen, da waren auch noch die spastisch zuckenden Krämpfe in der Nacken- und Schultermuskulatur, die gespenstische Taubheit in Händen und Füßen. Da war auch das unheimliche Gefühl, mein gesamter Körper sei von einem furchtbaren Gift befallen, das durch sämtliche Adern fließe. Ich konnte nicht einmal stöhnen, denn jeder Laut, den ich von mir gab, verschlimmerte den Schmerz. Hinzu kamen diese überfallartigen Kältewellen – es war, als habe jemand Eiswasser über meinen Rücken, über Arme, Beine und Po gegossen. Ich war wie eingefroren in einem Gletscher. Auf den Kälteschock folgte brennende Hitze. Eine Welle löste die andere ab. Es war die Hölle, die absolute Hölle.
Wieder der Notarzt. Er beugte sich über mich, sah mich prüfend an, als wolle er endlich begreifen, weshalb ich zusammengekauert und in Schweiß gebadet in meinem Bett lag. Mein Puls raste. Die gleiche Spritze, dann langsame Besserung. Als ich wieder denken konnte, wusste ich intuitiv, dass hier etwas Furchtbares passiert war. Aber was? Mir war, als sei ich gefoltert worden. Nicht von einem Feind, mein eigener Körper war zum Folterinstrument geworden. Ich hatte unsagbare Angst. Sterbensangst.
Eigentlich bin ich ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch. Der erste ernsthafte Schlag in meinem Leben war Günters Erkrankung. Er kämpfte dagegen an, ich unterstützte ihn, soweit ich konnte, setzte meine Kraft und meine Zuversicht ein, um ihm beizustehen. Erst meine eigenen Attacken ließen mich verzweifeln. Damals wusste ich noch nicht, dass sie mit meinem Unfall zu tun hatten.
Mein einstmals positives Lebensgefühl hatte sich ins Gegenteil gekehrt, es fehlte jede Farbe, jede Freude, nichts stimmte mehr. Und mehr noch: Was mit mir geschah, hatte mich zu einer alten Frau gemacht. Ich verlor immer mehr an Gewicht, und wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete, erschrak ich. Eine Greisin von mindestens 96 Jahren blickte mich an. »Du siehst aus wie einer der schrecklichen Orks aus ‚Herr der Ringe’«, meinte meine Tochter und sah mich sehr besorgt an. Doch dies war kein Fantasy-Film, dies war die Wirklichkeit.
Die Erholungsphasen zwischen den Anfällen wurden immer kürzer. Erholungsphasen? Auf mich bezogen, war der Begriff ein Märchen, ein Ammenmärchen. Gewiss, wenn ein Anfall vorbei war und sich mein Körper tagsüber entspannte, versuchte ich, meinen Alltag in den Griff zu bekommen. Was blieb mir anderes übrig als der Versuch, so zu leben, als hätte ich noch ein eigenes Leben als Frau, ein Leben mit meiner Familie, mit Freunden und den üblichen Alltagserledigungen vor mir? Ich bemühte mich jedenfalls, ein normales Leben zu führen, und musste feststellen: Es geht nicht! Die Liste der Störungen, die von mir Besitz ergriffen hatten, war so lang, dass ich sie kaum aufzuzählen vermag: Sprach-, Wortfindungs-, Gleichgewichts-, Konzentrations- und Schreibstörungen. Vielleicht waren es auch noch mehr. Wenn ich schrieb, verdrehte ich in fast jedem Wort die Buchstaben; und in jedem zweiten Wort fehlten oft mehrere Buchstaben. Ob ich mit der Hand schrieb oder am Computer, ich bekam kein einziges Wort fehlerfrei hin. Manchmal ließ ich sogar ganze Wörter aus. Wie sehr ich mich auch konzentrierte – nicht ein korrekter Satz. Ich kam mir vor wie eine Analphabetin.
Schon der Versuch, mich zu konzentrieren, misslang. Ich war meistens fahrig und geistig abwesend, die Welt um mich herum war wie ein unergründliches, schwarzes Loch. Ich wusste von einer Sekunde auf die andere nicht mehr, was ich gerade tun wollte, wo ich meine Sachen hingelegt hatte. Wenn ich versuchte, mich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren, auf einen Handgriff, eine einzelne Aufgabe, lösten sich meine Gedanken einfach auf und verschwammen in einem endlosen Nebelschleier. Alles, was ich tun wollte, musste ich Punkt für Punkt aufschreiben. Auch die kleinste Anforderung war zu viel für mich: kochen, duschen oder anziehen, jedes Mal ein kaum zu bewältigender Kraftakt.
Wir lebten damals in einer hübschen Wohnung in Rosenheim. Ich hatte es nicht weit zum Einkaufen, ich kannte viele Leute in unserem Viertel, doch auf einmal war ich außerstande, Gesichter zu erkennen. Mit einer Art Tunnelblick schlich ich durch die Gegend, und erst wenn mich eine mir vertraute Person ansprach, erkannte ich sie. Aber nun fiel mir prompt der Name nicht ein, denn auch mein Namensgedächtnis hatte mich im Stich gelassen. Bei meinen gewohnten Gängen durch die Straßen kam ich mir vor wie eine Ortsfremde, die immer wieder die Orientierung verliert. Es war grauenhaft. Mein Kopf war wie ein großmaschiges Netz, durch das alles hindurchfiel.
Einmal vergaß ich sogar meine Tochter. Wir waren beim Optiker, auch unseren Hund hatten wir mitgebracht, suchten für Anya eine neue Brille aus. Während sie verschiedene Brillenmodelle begutachtete, lief ich kurz zum Augenarzt gegenüber, um ein Rezept abzuholen. Und dann ging ich schnurstracks nach Hause. Als meine Tochter sehr viel später mit dem Hund auftauchte, war sie fassungslos. »Wieso hast du uns nicht abgeholt? Ich habe gewartet und gewartet! Warum bist du nicht wiedergekommen?« Ich konnte es selbst nicht glauben. Wie konnte ich das Liebste, was ich habe, einfach aus dem Sinn streichen? Zu Hause ankommen und immer noch nichts bemerken? Unfassbar.
Weil die Anfälle nicht aufhören wollten, weil ich Angst hatte, mich abends zum Schlafen ins Bett zu legen aus Furcht, mitten in der Nacht von einer neuen Attacke geweckt zu werden, und dann morgens regelrecht erleichtert war, wenn ich »nur« mit rasenden Kopfschmerzen aufwachte, nahm ich meine Odyssee durch die Schulmedizin wieder auf. Ein weiterer Arzt. Diesmal ein Neurologe, ein Spezialist für Migräne. Nach mehreren Besuchen und gründlichen Untersuchungen klärte er mich darüber auf, dass es sich bei mir nicht um Migräne handle. Er schickte mich zu einem weiteren Spezialisten. Nach einer Untersuchung der Halswirbelsäule und einem Bewegungs-MRT bekam ich die Diagnose: Atlas ausgerenkt, Densfraktur, Rückenmark gequetscht, die Bänder, die den obersten Halswirbel halten, gerissen. Deshalb die Schmerzattacken in der Nacht – im Schlaf entspannten sich die Muskeln und dadurch, dass der Kopf nicht mehr durch die Bänder an seinem Platz gehalten wurde, drückte der Dens auf das Rückenmark. Und der Grund für all diese Schäden? Nach Aussage der Ärzte: der nunmehr ein knappes Jahr zurückliegende Autounfall. Wäre der Aufprall nur ein wenig stärker gewesen, hätte ich vermutlich mit einer Querschnittslähmung ab der Halswirbelsäule rechnen müssen. Und wäre er noch stärker ausgefallen, dann hätte ich auch einen Genickbruch erleiden können.
Als sich der Arzt nach dem MRT-Bild von mir verabschiedete, begleitete er mich bis zur Treppe. »In Zukunft halten Sie sich bitte am Geländer fest und sehen Sie zu, dass Sie eine Wohnung im Erdgeschoss finden.« Dieser Satz traf mich wie ein Donnerschlag. Mein Zustand sollte sich also noch weiter verschlechtern. Ich wagte es nicht, mir vorzustellen, was das bedeutete. Wie sollte ich so weiterleben? Ich war doch jetzt schon nicht mehr in der Lage, mich mit Bekannten oder Freunden zu verabreden, konnte auch nicht mehr arbeiten, denn ich wusste ja nie, wann mich meine Beschwerden wieder einmal aus der Bahn werfen würden. Aber eines wusste ich: Ich war zutiefst traumatisiert. Doch aufgeben wollte ich trotzdem nicht. Ich unterzog mich nun einer intensiven Physiotherapie nach der anderen und nach einiger Zeit verbesserte sich mein körperlicher Zustand tatsächlich, die Schmerzen ließen nach.
Vorübergehend schöpfte ich Hoffnung, doch sie erwies sich leider als Illusion. Die Anfälle hörten nicht auf, die Ärzte schienen mich aufgegeben zu haben. Ich fühlte mich wie ein vom Glück verlassener Fremdling, der seinen Platz in dieser Welt verloren hatte.
Als sei ich vom Unglück verfolgt, kam noch ein weiterer Schlag hinzu: Der Arzt, der mich direkt nach dem Unfall in der Klinik untersucht hatte, befand, ich sei nur teilweise arbeitsunfähig. Ich bemühte mich, von der gegnerischen Unfallversicherung eine Entschädigung zu erhalten, doch jeder Versuch schlug fehl. Ich sah mich mit einem ausgeklügelten System konfrontiert, einer »Vetternwirtschaft« aus Anwälten, Medizinern, Versicherungen, Aktionären und noch anderen mehr. Diese waren einzig und allein auf Gewinnerzielung aus. An meinem Unfall und den daraus resultierenden Folgen haben unzählige Personen und Institutionen verdient. Allein meine private Krankenversicherung erhielt eine »pauschale Entschädigungssumme« für die durch »meine Verletzungen« entstandenen Kosten – ein enormer Gesamtbetrag. So verdiente meine Krankenversicherung an meinem Unfall, während ich nicht nur leer ausging, ich musste auch noch immense Summen für die lebensnotwendige Physiotherapie selbst bezahlen, denn meine Kasse, also genau jene Versicherung, die an mir verdient hatte, weigerte sich, die Kosten dafür zu übernehmen. Sie begründete dies damit, dass die Therapie medizinisch nicht notwendig sei. Aufgrund dieser Umstände hatte ich auch noch mit finanziellen Sorgen zu kämpfen.
Mich wundert nicht, dass sich mein Zustand zusehends verschlechterte. Die nächtlichen Kopfschmerzen hielten bis zwei, drei Uhr mittags an, ich schluckte Tabletten über Tabletten. Es nützte fast nichts. Ich fuhr nicht mehr Auto, ich bewegte mich nur selten aus dem Haus. In dieser Zeit konnte ich zum ersten Mal in meinem Leben Menschen verstehen, die wegen unerträglicher Schmerzen den Freitod wählten.
Dann kam die Wende. Sehr langsam, aber sie kam. Meine Mutter hatte mich schon mehrmals gedrängt, einen Geistheiler aufzusuchen. Ich glaubte nicht an etwas derartig Nebulöses wie Geistiges Heilen, für mich war das Ganze bloß eine nette Modeerscheinung. Alles nur Einbildung, Aberglaube, irgendwie Hokuspokus. Sollte ich womöglich in den Busch nach Brasilien reisen oder in den Himalaya? Außerdem konnte ich mir sowieso nicht vorstellen, dass mir noch irgendjemand helfen würde. Doch meine Mutter machte weiterhin Druck. Sie empfahl mir einen Heiler, den ich unbedingt aufsuchen sollte.
Amazing Grace – how sweet the sound, I was lost but now I’m found. Gospel
Meine Mutter kann nicht mehr mit ansehen, wie mich die Anfälle zusehends zermürben: Sie betritt morgens meine Wohnung, sieht mich an und weiß sofort – schon wieder ein nächtlicher Anfall. Erbrechen, Durchfall, Ohnmacht. Ich kann gerade mal atmen, die Schmerzen sind so übermächtig, dass es nichts anderes mehr gibt. In diesem Zustand kann ich nicht sprechen, nicht trinken, nicht essen, das Gehen ist fast unmöglich, sogar das Umdrehen im Bett wird zu einer entsetzlichen Anstrengung. Irgendwann lassen die Schmerzen nach, es dauert dann aber noch Tage, bis ich den ersten Bissen herunterbekomme, und nichts, aber auch gar nichts schmeckt mir. Es zählt auch nichts mehr. Ich will niemanden sehen, nicht einmal die engsten Freunde. Alles ist bedeutungslos.
Für meine Mutter, die sich intensiv um mich kümmerte, wurde mein Zustand zur Qual. Da sie sich schon seit geraumer Zeit mit unterschiedlichen Möglichkeiten des Geistigen Heilens beschäftigte, drang sie immer häufiger und mit zunehmendem Nachdruck darauf, dass ich den ihr bekannten Heiler aufsuchte. »Die Schulmedizin kann nichts mehr für dich tun, Annette. Bitte hör doch endlich auf mich!«
Schließlich gab ich mir einen Ruck und begab mich zu dem von meiner Mutter empfohlenen Heiler. Vielleicht handelte es sich doch nur um Wunderglaube und ein bisschen Hokuspokus, wahrscheinlich brachte es gar nichts, bestenfalls half es ein wenig.
An der Wohnungstür begrüßt mich mit einem Lächeln ein schmaler, ganz in Weiß gekleideter Mann. Er erfüllt all die klassischen Vorstellungen eines durchgeistigten, leicht wirklichkeitsfernen Esoterikers.
»Nicht ganz von dieser Welt«, denke ich, »wie soll er mir schon helfen?«
Ich strecke mich auf einer Liege aus, der sanfte Mann wirkt beruhigend, ich schließe die Augen und entspanne mich. Ich weiß noch, dass er beide Hände auflegte, an mehr kann ich mich nicht erinnern. Als ich mich verabschiedete und zur Tür hinausging, fühlte ich mich bereits besser. Mir war, als habe jemand in einem finsteren Raum die Vorhänge einen Spalt geöffnet und durch diesen Schlitz drang ein winziges Licht in mein Leben.
Ich war nicht geheilt, und dennoch hatte ich das Gefühl, ein Bann sei gebrochen – vielleicht nicht ganz, aber doch ein wenig. Er besaß keine allgewaltige Macht mehr über mich. Ich wagte es kaum zu glauben. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte ich einen Anflug von Hoffnung. Ich fühlte mich leichter und ein klein wenig befreit von einer schweren, unheimlichen Last.
Doch die Anfälle kommen wieder. Es ist Nacht, auf dem Tisch neben meinem Bett die üblichen Medikamente und die Telefonnummern der Ärzte, die ich rufen soll, wenn ich eine Spritze brauche. Ich werde von den bekannten Schmerzen geweckt, greife zur Medizin, bin kurz davor, die Telefonnummer des Notdienstes zu wählen, warte aber noch einige Augenblicke und stelle fest: Ich brauche keinen Arzt. Der Anfall ist milder, keineswegs so unerträglich wie die bisherigen Schmerzattacken. Irgendwann schließe ich die Augen und schlafe ein. Die Anfälle blieben zwar nicht aus, aber ihre Heftigkeit ließ nach und das war ein Segen, es war Balsam für meine Seele, Labsal für meinen Körper.
Ich begab mich noch ein zweites Mal zu dem Heiler, ein drittes und viertes Mal.
Ich begann mich auch für weitere Richtungen der geistigen Heilkunst zu interessieren und dachte mir, warum nicht mehrere Heiler aufsuchen? Warum nicht unterschiedliche Methoden kennenlernen und ausprobieren?
Irgendwann war ich fit genug, um zu reisen, fuhr kreuz und quer durch Deutschland, besuchte zahlreiche Heiler, belegte auch Kurse, denn mein Interesse, mein Enthusiasmus nahmen immer mehr zu. Ich machte mich mit zahlreichen Heilmethoden vertraut, manch eine Ausbildung brachte mir viel, andere wenig. Als eher unwirksam erwiesen sich die besonders abgehobenen oder überwiegend auf Theorie basierenden Lehrgänge – es wurde zu viel geredet und theoretisiert.
In mehreren Ländern Europas, insbesondere in Österreich und in der Schweiz, kam ich sowohl mit berühmten als auch mit weitgehend unbekannten Heilern zusammen. Am Ende zählten weder der Bekanntheitsgrad noch die Anzahl der Fernsehauftritte eines Heilers, sondern seine Kraft und seine Menschlichkeit. Gerade sehr engagierte, uneitle und in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Heiler haben mir besonders viel beigebracht.
Häufig werde ich gefragt, wie ich zum Geistigen Heilen gefunden habe. Gewiss, der Unfall, die unerträglichen Folgen, das oft hilflose Herumdoktern der Ärzte, das Unvermögen der Schulmedizin, mir wirklich zu helfen, und am Ende die segensreichen Erfolge Geistiger Heiler – alle diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich mich selbst den Geistigen Heilweisen zugewandt habe. Doch das ist nur die eine Seite, die folgerichtige und rational nachvollziehbare Entscheidung nach all meinen negativen Erfahrungen mit der klassischen Schulmedizin. Die andere Seite hat mit einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel zu tun. Denn das Geistige Heilen befreite mich nicht nur von meinen körperlichen Leiden, es öffnete mir die Tür in die Welt der spirituellen Energie, in eine ganz andere Dimension.
Hätte mir jemand vor dem Unfall die Frage gestellt, ob ich an die Wirkung geistiger Heilmethoden glaube, ich hätte vermutlich mit den Schultern gezuckt und geantwortet: »Ich habe mich nicht ernsthaft damit befasst, aber ich denke, das ist alles bloß Wunschdenken. Hier bei uns ist so etwas wie Geistiges Heilen sicher nicht möglich.« Ich war zwar überzeugt, dass Auserwählte dazu fähig sind, aber doch nicht »Hinz und Kunz!«
Ich selbst hatte in Indien monatelang unter der Leitung des Meisters Swami Muktananda meditiert und dann in Deutschland selber Yoga und Meditation unterrichtet. Das hatte zwar nichts mit Geistigem Heilen zu tun, aber zugleich kann ich mich gut an ein kleines, scheinbar nebensächliches Erlebnis erinnern: In dem besagten Ashram bekam ich eines Tages einen typisch indischen Infekt – hohes Fieber, Schnupfen, Durchfall, Übelkeit. Wer schon einmal in Indien war, weiß, wovon ich spreche. Entkräftet schleppte ich mich in die Praxis, in der die private Ärztin von Swami Muktananda bisweilen auch Ashrambewohner untersuchte. Sie sah mich an, erfasste sofort meinen misslichen Zustand und sagte, sie wolle sehen, was sie für mich tun könne. Dann nahm sie meine linke Hand in ihre rechte und fühlte meinen Puls. Sie war ganz still und blickte konzentriert auf ihre Uhr. Auf einmal spürte ich, wie mein gesamtes Unwohlsein an genau die Stelle, wo sie meinen Puls berührte, wellenförmig hinströmte, um dann meinen Körper zu verlassen. Es war, als sei an diesem Punkt meines Arms ein Leck aus dem die Krankheit herausfliessen konnte. Nach 30 Sekunden war ich vollkommen gesund – kein Fieber mehr, die Gliederschmerzen verschwunden, die Übelkeit weggeblasen, der Darm beruhigte sich und hörte ganz auf zu rumoren. Sprachlos starrte ich die Ärztin an, worauf sie mich nur anlächelte und mich mit einem wissenden und doch bescheidenen Augenzwinkern verabschiedete.
Eine solche Heilwirkung sollte auch irgendein Heiler bei uns in Deutschland erlangen können? Eher nicht. Insofern habe ich nach meinem Unfall den von meiner Mutter empfohlenen Heiler nur widerwillig aufgesucht. Weil sie so starken Druck auf mich ausübte, aber auch, weil meine Schmerzen unerträglich waren und sich keinerlei Besserung abzeichnete, begab ich mich schließlich doch zu ihm. Und als ich einen ersten Erfolg verspürte, griff ich dann de facto nach einem allerletzten Strohhalm: Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an einen dünnen Faden, an ein Körnchen Hoffnung. Ich glaubte zwar nicht wirklich an eine Besserung, doch zu meiner Verwunderung knickte der Strohhalm nicht um. Im Gegenteil – er entpuppte sich als rettender Baumstamm. An diesem Stützbalken konnte ich mich endlich aus den stürmischen Gewässern meines zusammenbrechenden Lebens ziehen. Dieser Baumstamm rettete mich buchstäblich vor dem Untergang. Bald verwandelte er sich sogar in ein stabiles, Halt gebendes Floß, das mir, gegen alle Erwartungen, ein neues, verlässliches Gefühl der Sicherheit schenkte. Aus dem Floß wurde mit der Zeit ein massiver Steg, von dem ich voller Zuversicht an Land gehen konnte. Als ich dann endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erkannte ich, dass der kleine, dünne Strohhalm zu meiner persönlichen Erde geworden war. Seither berühre ich mit jedem meiner Schritte die Offenbarung der Gnade Gottes. Wenn ich sehe, was das Geistige Heilen bewirkt – es kann nur Gottes Gnade sein, die sich hier manifestiert.
Ich erstarkte immer mehr und freute mich sehr über meine fortschreitende Genesung. Doch in dem Jahr, in dem ich mit der Ausbildung zur Heilerin begann, starb Günter. Tiefe, unbeschreibliche Traurigkeit. Die intensive Beschäftigung mit dem geistigen Heilwesen half mir, die Trauer anzunehmen, doch den stärksten, den umfassendsten Trost bekamen Anya und ich durch ein Ereignis, das für uns einem Wunder gleichkam. Um dieses Ereignis und seine intensive Wirkung auf uns zu beschreiben, muss ich zunächst in das Jahr 1996 zurückgehen. Anya war damals gerade sieben Jahre alt und wir besuchten gemeinsam eine bemerkenswerte Auktion in New York. Dort hatte ich bereits Jahre zuvor Seminare von Swami Chidvilasananda, der Nachfolgerin von Swami Muktananda, besucht und tiefgreifende bewusstseinserweiternde Erfahrungen durchlebt.
Hier fand nun die Auktion statt, in der kleine, aber auch größere, sehr teure Geschenke versteigert wurden. Die Erlöse sollten einer Bibliothek zukommen, die alte indische Schriften aufspürt, sie bewahrt und konserviert.
Eigentlich wollte ich mich gar nicht an der Versteigerung beteiligen, doch meine Tochter hatte sich in eine aus Marzipan modellierte Statue des Elefantengottes Ganesha verliebt und bekniete mich, doch bitte, bitte mitzusteigern. Gemäß der hinduistischen Legende steht Ganesha – eine Figur mit menschlichem Körper und einem Elefantenkopf – für höchste Weisheit und gewährt den Menschen Segen und Schutz.
Diese ca. 50 cm hohe, handgefertigte Statue war ein preisgekröntes Kunstwerk, ein Glanzstück der Auktion und einer der Hauptattraktionen.
»Ich soll mitsteigern? Das ist doch vollkommen aussichtslos«, sagte ich zu Anya, »wie stellst du dir das vor? Wir können uns das überhaupt nicht leisten. Hier sind so viele reiche, berühmte Leute, Angelina Jolie, Meg Ryan, die Talkshow Moderatorin Oprah Winfrey, Betty Buckley – diese Leute können es sich erlauben mal einfach so 100tausend Dollar für Marzipan auszugeben; nicht mal im Traum können wir daran denken, diesen Ganesha zu bekommen!«
Doch Anya blieb hartnäckig. »Probier’s doch wenigstens!«
»Also gut«, gab ich schließlich nach, »weil du es bist. Aber ich wiederhole noch mal – wir haben überhaupt keine Chance!«
Anya ließ sich trotzdem nicht beirren: »Setz doch endlich was! Irgendwas. Was könntest du denn maximal für Ganesha bezahlen?«
Ich dachte ernsthaft darüber nach. Und um nicht bloß eine fiktive Zahl dahinzusagen, antwortete ich: »Das allerallerallerhöchste der Gefühle wären 350 Dollar«. Und noch mal betonte ich: »Mach dir keine Hoffnungen, nicht dass du am Ende schrecklich enttäuscht bist!«
Zwei Tage vor der Auktion konnte Anya kaum noch schlafen vor lauter Aufregung. Dieser Ganesha hatte es meiner kleinen Tochter wirklich angetan, sie betete zum Himmel, dass das Mirakel geschehen möge und wir ihn vielleicht doch bekommen würden.
Bevor es losging, setzten wir uns nebeneinander in den voll besetzten Auktionsraum. Der Auktionator begann mit der Versteigerung, brachte wunderschöne Rudraksha Perlenketten, jede Menge wertvolle Statuen und sündhaft teure Kaschmirschals unter den Hammer. Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten – go! Dann kam endlich der Gegenstand Nummer 84 dran, unser Ganesha. Ich hielt die Luft an, meine Tochter starrte angespannt nach vorne, krallte sich mit beiden Händchen an der Stuhlkante fest. Der Auktionator machte eine Pause, musterte seine Unterlagen, blickte kurz auf und verkündete: »Item number 84 is deleted, next item ...«. Die Nummer 84 war entfernt worden, sie nahm an der Auktion nicht mehr teil. Dann wurde weiter versteigert.