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Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen ist nicht beabsichtigt und rein zufällig. Die in diesem Werk vorkommenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie die erwähnten Marken- und Firmennamen sowie die Namen von Organisationen wurden im Zuge der schriftstellerischen Freiheit verwendet.

Obwohl der Roman teilweise auf wahren Begebenheiten beruht, erhebt er insbesondere bezüglich der Wale keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit.

Die verwendeten Auszüge aus Liedtexten (Urheber: Roxette, Bob Dylan) sind Zitate im Sinne des § 51 UrhG, das Urheberrecht an diesen Texten liegt daher bei den jeweiligen Verfassern.

eBook-Ausgabe

ISBN 978-3-940240-20-0

Lektorat: Annika Ernst, München


Mit freundlicher Unterstützung von:

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

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VON

ANDREAS ABSTREITER

Von wahren Ereignissen inspiriert ...

P|R|O|L|O|G

Die Wehen kamen jetzt immer heftiger und in kürzeren Abständen. Noch einmal holte sie tief Luft und preßte. Wieder durchfuhr ein unsäglicher Schmerz ihren Unterleib. Wieso hatte ihr niemand gesagt, daß es so schlimm sein würde? Sie drehte sich zur Seite, in der Hoffnung, daß sie so etwas Linderung von den Schmerzen bekommen würde. Doch auch diese Haltung brachte kaum eine Verbesserung, es war egal wie sie sich drehte und wendete. Das Kind in ihrem Bauch wollte unbedingt noch heute nacht zur Welt kommen. Doch wollte sie das auch? Wollte sie jetzt ein Kind in diese dunkle, nachtschwarze Welt bringen? Der Mond bestimmte die Gezeiten und das Leben. Heute war Neumond, und das bedeutete, es war zu früh. Einen ganzen Mond zu früh. Doch für solche Gedanken war es jetzt zu spät. Wenn sie die Geburt wenigstens bis zum Sonnenaufgang würde hinauszögern können. Bei Tageslicht würde das Kind sicherer sein, so hoffte sie. Wieder holte sie tief Luft und ließ die Nachtluft in ihre Lungen strömen. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis die Sonne am Horizont emporstieg.

Wieder preßte sie. Diesmal hatte sie das Gefühl, etwas in ihr würde zerreißen. Sie hatte keine Ahnung wie lange die Wehen bereits andauerten. Sie wollte nur noch, daß es endlich vorbei wäre. Sie wollte ihren Körper zurück – ohne Schmerzen. Natürlich hatte sie gewußt, was auf sie zukommen würde, auch wenn dies ihr erstes Kind war. Schließlich hatte sie schon so oft erleben dürfen, wie das Wunder des Lebens immer und immer wieder neu begann. Doch es selbst am eigenen Leib zu erfahren, war eben etwas anderes, als es erzählt zu bekommen oder dabei zuzusehen.

Die Stunden vergingen. Endlich wurde es hell. Ganz langsam nur. Erst wurde Schwarz zu einem dunklen Blau, dann brach sich das Licht ins Violette. Noch einmal erschütterten ein heftiges Reißen und ein tiefer Schmerz ihren mächtigen Körper, dann war es geschafft. Mit der Fluke voraus begann ihr Kind herauszurutschen. Erst langsam, dann in einem Schwupp. Und ehe sie es noch richtig begriffen hatte, hatte sich das Kind vollständig aus ihrem Leib befreit. Gemeinsam, zum allerersten Mal gemeinsam, durchbrachen Mutter und Tochter die dunkle Oberfläche des Pazifik. Zwei Fontänen aus Blas stiegen gleichzeitig auf, eine große und eine deutlich kleinere, dann schließlich tat ihre kleine Tochter ihren wichtigsten aller Atemzüge: den ersten.

 

 

Das Wummern der Bässe war selbst auf der Toilette noch gut zu hören. Teilnahmslos starrte sie in das abfließende Wasser des schmutzigen Waschbeckens. Sie mied den Blick in den Spiegel über dem Becken, so wie sie es immer tat. Sie hatte zuviel getrunken. Wieder einmal. Ihr war etwas übel. Auch dieses Gefühl kannte sie bereits.

Die Türe ging auf und zwei Girlies traten ein. Sie kicherten und kreischten um die Wette. Die Musik war jetzt noch lauter und deutlicher zu hören, dann schlug die Waschraumtüre unvermittelt wieder zu.

Cora hielt ihre Unterarme unter den Wasserstrahl. Am liebsten hätte sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht geschöpft, doch das ging natürlich nicht, ohne das Make-up zu ruinieren. Sie drehte den Hahn zu und trocknete sich ihre Hände an den ausgelegten Papiertüchern ab. Warum trank sie auch immer mehr, als ihr gut tat? Dabei hatte ihr der letzte Cocktail noch nicht einmal geschmeckt.

Nun blickte sie doch noch in den Spiegel. Was sie dort sah, gefiel ihr nicht. So wie sie eigentlich gar nichts an sich mochte. Einzig ihre lockigen, schulterlangen braunen Haare erschienen ihr akzeptabel, zumindest heute. Und die Narbe an ihrer Stirn war nicht sichtbar, dem Make-up sei Dank. Sie fand ihr Gesicht zu dick. Und ihren ganzen Körper zu pummelig. Auch wenn man ihr immer wieder sagte, sie sei trotz allem nicht häßlich. Trotz allem. Wie sich das schon anhörte. Sie konnte das Mitleid, das in dieser Behauptung mitschwang, nicht ertragen, und sie konnte ihren Anblick im Spiegel nicht ertragen. So einfach war das.

Das war nicht immer so gewesen, aber von ihrer einst athletischen Figur war nicht mehr viel übrig. Wie sehr sie sich doch in den letzten vier Jahren verändert hatte. Wie sehr die Zeit einen Menschen verwandeln konnte. Wie Jahre und Monate vergingen und die Veränderung mitbrachten. Nein, es waren nicht die Jahre gewesen. Nicht die Fettpölsterchen, die sich aufgrund von Bewegungsmangel an ihren Hüften gebildet hatten. Nicht die schlaffen Muskeln, die doch einst so durchtrainiert gewesen waren. Nicht die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln, die der Schlafmangel nun mal mit sich brachte. Nichts von alledem war schuld daran. Es war nur ein einziger Augenblick gewesen, der sie verändert hatte. Der ihr Leben für immer verändert hatte. Augenblicke verändern.

Wenn es stimmte, daß das Leben einer stummen Melodie folgte, dann war Coras Melodie geprägt von Chaos und Disharmonie, von wilden Takten und schrillen Zwischentönen, die in einem immerwährenden Wettstreit miteinander alles Harmonische übertönten und zerstückelten, bis nur mehr völlige Konfusion übrigblieb. Ähnlich wie bei dem Song, der aus der Bar hereindröhnte.

Sie wandte den Blick vom Spiegel ab und hinkte zurück in den Clubraum. Ihre beiden Begleiterinnen hatten sie nicht vermißt. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Typen an der Bar abzuchecken, die ihnen interessierte Blicke zuwarfen. Verträumt spielten Luise und Sarina mit den Strohhalmen ihrer Cocktails, die sie vor sich auf einem Bistrotisch stehen hatten. Cora hätte kotzen können bei dem Anblick. Eigentlich wußte sie nicht, warum sie sich das antat und regelmäßig mit ihren Kolleginnen aus dem Callcenter ihre Samstage hier verbrachte. Die Abende verliefen fast immer nach dem gleichen Schema. Luise und Sarina, die beiden Wasserstoffblondinen, ließen sich früher oder später von irgendwelchen Kerlen abschleppen, beide sammelten One-Night-Stands, wie andere Leute Briefmarken, wohingegen Cora, wenn sie mal zum Tanzen aufgefordert wurde, bestenfalls einen mitleidigen Blick von dem Typen bekam, sobald der ihr steifes Bein bemerkte. Spätestens nach drei Minuten entschuldigte sich dann der Kerl und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wer wollte sich auch schon mit einer Behinderten abgeben?

Cora bestellte sich noch einen Tequilla Sunrise und warf als erstes den schwarzen Strohhalm weg, als ihr das Getränk gebracht wurde.

„Du hast heute aber wieder einen Durst“, bemerkte Luise.

Cora zuckte mit den Schultern.

Sarina wandte den Blick nur zögerlich von dem Kerl an der Bar ab, der sie mit seinen Blicken in den letzten paar Minuten bereits mehr als einmal ausgezogen hatte, so vermutete Cora zumindest. Siegesgewiß strich sich Sarina durch ihr Haar. „Gleich kommt er rüber. Jede Wette.“

„Warum treibst du’s nicht gleich an der Bar mit ihm?“ ätzte Cora.

„Oh, da ist heute aber jemand wieder neidisch. Was kann ich denn dafür, wenn du nie einen abbekommst?“ konterte Sarina.

Sarina war die unausstehlichere ihrer beiden Begleiterinnen. Liebend gerne wäre Cora nur mit Luise losgezogen. Luise war o.k., sie konnte zumindest ansatzweise erahnen, wie es in Cora aussehen mochte. Eine Eigenschaft, die Sarina völlig abging. Doch Luise und Sarina kannten sich nun mal schon wesentlich länger, als Cora die beiden Frauen kannte.

Cora war und blieb die Neue. Seit sie es vor drei Jahren nicht mehr in ihrer kleinen Heimatstadt in Bayern ausgehalten hatte, war sie von einem Job zum nächsten gepilgert. Nie hatte sie lange irgendwo durchgehalten und viermal die Anstellung gewechselt, bevor sie vor eineinhalb Jahren in einem Berliner Callcenter angeheuert hatte. Die Arbeit in einem Callcenter entsprach eigentlich nicht ganz ihren Qualifikationen, denn schließlich hatte sie bereits mit achtzehn ein Fernstudium in Betriebswirtschaft begonnen und das Studium nun vor einem Jahr abgeschlossen, doch der Job brachte gutes Geld. Bisher war sie nie so lange an einem Ort geblieben, wie sie jetzt in Berlin lebte. Die Anonymität der Hauptstadt tat ihr gut. Die Hektik der Stadt lenkte sie ab und hielt die verbotenen Gedanken fern. Die Gedanken, die sie auf keinen Fall denken durfte. Die sie auf keinen Fall denken wollte.

„Hat mal eine von euch eine Kippe?“ überging Cora den Kommentar ihrer Kollegin.

Luise sah sie fragend an. „Du weißt doch ganz genau, daß hier drin nicht geraucht werden darf.“

„Ich habe gefragt, ob eine von euch Zigaretten dabeihat. Wenn ich eine Rechtsbelehrung brauche, spreche ich mit meinem Anwalt.“

Luise zuckte mit den Schultern und kramte in ihrer Handtasche nach der Zigarettenschachtel. Cora wurde wirklich immer unmöglicher. „Da, nimm und laß Dich rausschmeißen.“

Mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht zog Cora eine Kippe aus der Verpackung, schnappte sich ihren Cocktail mit der anderen Hand und humpelte auf die Bar zu. Vor dem Typen, der gerade eben noch mit Sarina geflirtet hatte, blieb sie stehen. Er sah wirklich ganz attraktiv aus. Sarina hatte einen guten Geschmack, das mußte sie ihr lassen. Die Haare etwas zu lang, Dreitagebart, weißes Hemd und eine schicke schwarze Weste.

„Hast du mal Feuer?“ sprach sie ihn an und blickte ihm unvermittelt in seine tiefgrünen Augen.

Er erwiderte ihren Blick regungslos und faßte nach kurzem Zögern lächelnd in seine Hosentasche, um ein Feuerzeug hervorzuzaubern. „Du weißt schon, hier drin ist Rauchverbot“, stellte er fest und knipste das Feuerzeug an.

Cora hielt seinem Blick stand und schob die Spitze der Zigarette in die Flamme. „Bin ein böses Mädchen.“

„Ist das so?“ bemerkte ihr Gegenüber mit einem schelmischen Grinsen.

Lächelnd blies sie den Rauch vor sich hin und wagte einen kurzen Blick zurück zu ihren Kolleginnen. Sarina starrte unverholen in ihre Richtung. Fast hätte Cora dadurch die Frage überhört, die der Kerl an sie stellte.

„Bitte?“ sie wandte sich wieder ihm zu.

„Ich habe gefragt, ob du einen Skiunfall hattest.“

„Ja, so ähnlich.“

Warum mußte die erste Frage immer ihrem Bein gelten? Gab es sonst nichts Interessantes an ihr? Aber egal. Dann hatte sie diesen anscheinend notwendigen Teil also hinter sich gebracht. Es war wirklich immer das gleiche mit den Kerlen. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas, dann fixierte sie ihn wieder mit einem teils fordernden, teils verlangenden Blick.

„Du stehst auf Tequilla“, sagte der Typ.

Cora war sich nicht sicher, ob das eine Frage oder eine Feststellung gewesen war.

„Nein. Überhaupt nicht. Schmeckt ziemlich scheiße. Ist ein Gesöff für Mädchen.“

Ihr Gegenüber mußte lachen. „Ich heiße Marco. Sind wir uns hier vielleicht schon mal begegnet? Ich bin ziemlich regelmäßig da.“

Cora zog an ihrer Zigarette und zählte stumm bis zehn, bevor sie antwortete. Dabei wandte sie ihren Blick wieder leicht ab. Sie hatte in einem Film gesehen, daß das unheimlich cool wirkte, und nahm an, daß es die Männer in einen Zustand leichter Verunsicherung versetzte.

„Kann schon sein“, sagte sie dann schlicht. Ihren Namen verschwieg sie absichtlich, schließlich wollte sie sich ihre eben so schön aufgebaute Fassade an Coolness nicht durch Auskunftsfreudigkeit ruinieren.

Einladend deutete Marco auf den leeren Barhocker neben sich. „Setz dich doch zu mir.“

Cora kippte den restlichen Cocktail in einem Zug hinunter und stellte das Glas auf die Theke. „Ich weiß etwas Besseres. Warum gehen wir nicht zu dir?“

Völlig überrascht zog Marco die rechte Augenbraue hoch. „Na, du legst ja ein ganz schönes Tempo vor. Komm, ich spendiere uns erst noch einen Drink.“

Zögerlich schob Cora sich auf den Hocker. „Für mich einen Wodka Lemon.“

Marco bestellte beim Barkeeper zwei Wodka Lemon, woraufhin der nickte und kurz darauf die Getränke brachte.

Er sah Cora abschätzend an. „Ich habe nunmal die schlechte Angewohnheit prinzipiell keine Frauen mit nach Hause zu nehmen, deren Namen ich nicht kenne.“

Dann laß es halt, dachte Cora sich. Einen Moment lang mußte sie dem Impuls widerstehen, einfach aufzustehen und zu gehen. Doch dann wäre alles umsonst gewesen und Sarina hätte triumphiert.

„Dann nenn mich eben Cora“, sagte sie schließlich, als würde der Name ihr nicht gehören, und zog ein letztes Mal an der Zigarette. Da es keine Aschenbecher gab, drückte sie den Glimstengel in die obligatorische Schale mit den Erdnüssen, die auf jeder Theke der Welt zu stehen schienen.

Marco verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

Cora bemerkte es und sah ihn frech an. „Du wolltest noch welche?“

„Nein, ist schon gut“, sagte er lachend.

Unbewußt begann Cora, mit dem Glas vor sich zu spielen. Seine Art und seine Ausstrahlung gefielen ihr. Sie wurde nervös, genau das hatte sie vermeiden wollen.

„Habt ihr eine Wette oder so was laufen?“

„Wie meinst du das?“ fragte sie.

„Na ja, deine beiden Begleiterinnen da drüben. Habt ihr gewettet, welche von euch mich aufreißt?“

Cora nahm einen großen Schluck Wodka. Der Alkohol lief ihr brennend den Hals hinunter und verbreitete eine stechende Hitze in ihrem Magen. Wieder wurde ihr leicht übel. „Wieso? Denkst du, ich hätte mich sonst nicht getraut?“

Marco versuchte rasch zu beschwichtigen. „Nein, so habe ich das nicht gemeint. Du bist mir schon den ganzen Abend über aufgefallen, weißt du? Ich habe zu eurem Tisch herübergesehen. Aber dann hat deine Freundin da drüben angefangen, mich zu becircen.“

Wieder trank Cora einen Schluck. Das war ihr neu. Ihr war Marco nicht aufgefallen, bis Sarina sie auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Ihr wurde leicht schwindelig. Wer baggerte eigentlich gerade wen an? Sie mußte schnell die Fronten klären. „Sehe ich aus wie elf, daß ich es nötig hätte, mit meinen Freundinnen zu wetten, wer sich traut, den coolsten Jungen auf dem Schulhof anzusprechen?“ Herausfordernd legte sie ihm eine Hand aufs Knie. Zum Glück war sie betrunken. Nüchtern wäre ihr diese direkte, plumpe Anmache deutlich schwerer gefallen.

Marco musterte sie abschätzend. „Du bist nicht gerade zögerlich, was deine Absichten angeht.“

„Ich bin vor allem sturzbetrunken. Heute ist dein Glückstag, Junge“, gab Cora zurück.

Mit einem letzten Schluck kippte sie den Rest ihres Wodka Lemon herunter.

Marco starrte sie gebannt an, dann griff er ebenfalls zu seinem Glas, von dem er bisher noch nichts getrunken hatte, und leerte es in einem Zug.

„O.k., dann komm“, sagte er schlicht und stand auf.

Cora schwankte leicht, als ihre Beine den Boden berührten. Der viele Alkohol zeigte nun vollends seine Wirkung. Hilfsbereit griff Marco nach ihrem Arm und stützte sie.

„Es geht schon. Danke“, murrte sie und sah dann mit verschwommenem Blick zu ihren beiden Kolleginnen hinüber. Sarina war blaß vor Neid. Luise lächelte leicht. Sie schien sich für Cora zu freuen.

Gemeinsam durchquerten sie die belebte Bar, vorbei an der Tanzfläche mit ihrem schrillen Sound und schließlich zur Garderobe. Als sie ihre Mäntel bekommen hatten, gingen sie hinüber zum Ausgang. Cora versuchte, so wenig wie möglich zu humpeln, und ihr steifes Knie einigermaßen normal zu bewegen, doch der viele Alkohol war nicht gerade hilfreich und sabotierte ihre Bemühungen. Schließlich öffnete Marco die schwere Türe und trat in die kalte Nachtluft, dicht gefolgt von Cora.

Vereinzelt fielen ein paar Schneeflocken, doch Straßen und Gehweg waren noch frei von Schnee. Es mußte eben erst angefangen haben zu schneien. Marco schlug den Kragen seines Mantels hoch. Schweigend, gingen sie auf der Suche nach einem Taxi den Gehweg entlang. Nachdem sie von der Seitenstraße in eine belebtere Straße abgebogen waren, sahen sie endlich ein Taxi auf sich zukommen. Marco trat an den Straßenrand und hob den Arm, um den Fahrer zum Anhalten aufzufordern. Doch der schien nicht daran zu denken und raste an den beiden vorbei.

Marco fluchte leise vor sich hin. Cora mußte lachen, dabei zog sie ihren Begleiter stürmisch auf den Gehweg zurück und drückte ihn dann mit dem Rücken an die Hauswand. Sie sah ihm tief in die Augen, preßte ihren Körper an den seinen, und gab ihm einen verlangenden Kuß. Marco schien nicht verwundert und erwiderte den Kuß, dabei fuhr er ihr mit den Händen durch die Haare.

„Hey, meine Frisur“, protestierte Cora gespielt.

Ihr Begleiter lachte sie an. „Du klingst wie deine Freundin. Was habt ihr Frauen immer für Probleme mit euren Haaren?“

Schlagartig hielt Cora inne. „Wie meinst du das? Du kennst Sarina schon?“

„Die doch nicht. Die andere.“

„Luise? Hattest du was mit ihr?“

Marco gefiel die Richtung, die das Gespräch nahm, überhaupt nicht.

Cora sah ihn frech und fordernd an. „Weißt du, die beiden waren schon mit dem halben Club in der Kiste. Mir ist es egal, ob Luise mit dir gepennt hat. Ich bin sowieso besser im Bett als sie.“ Cora fing laut zu lachen an, es war eine seltsame Mischung aus alkoholbedingter Überdrehtheit und Verzweiflung. „Weil ich so verdammt gelenkig bin!“ rief sie. Dabei schlug sie sich wild gestikulierend auf ihr steifes Knie und hüpfte, so gut es Alkohol und ihr Bein zuließen, im Kreis.

Marco verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Nein, ich hatte nichts mit ihr“, log er, „aber sie hat mir von dir erzählt.“

Cora hielt inne und sah ihren Gegenüber fragend an. Ganz langsam fiel bei ihr der Groschen, und ebenso verflogen die Freude und die Lust. Nein, das konnte nicht sein. Das durfte doch nicht sein. Das würde Luise nie tun, mehr konnte Cora nicht denken.

Marco bemerkte ihre veränderte Stimmung sofort und wollte retten, was noch zu retten war. „Hör zu. Es ist doch alles nicht so schlimm. Ich weiß Bescheid, das mit dem Skiunfall ist quatsch. Interessiert mich doch nicht, was mit deinem Bein ist.“

Also doch. Cora wollte nichts mehr hören. Sie wollte nur noch weg. Aber Marco hielt sie zurück. Sie stieß seine Hand von ihrer Schulter.

„Laß mich los, du Arsch!“ zischte sie ihn giftig an.

„Was ist denn? Sie hat doch nichts getan.“, Marco klang verzweifelt.

Rasch drehte Cora sich zu ihm um und funkelte ihn zornig an. „Nichts getan? Scheiße, ich brauche kein Kindermädchen, das die Typen für mich klarmacht!“

„Aber sie hat es doch nur gut gemeint ...“

„Nur gut gemeint? Was ist nur mit euch allen los? Was ist los mit dir? Hältst du dich für was Besseres? Oder hast du heute deinen sozialen Tag? So nach dem Motto: Dann bumse ich heute eben mal die Behinderte?“

Nun war Marco ehrlich verletzt. „Ich bitte dich, was soll das?“

Doch Cora drehte sich einfach um und ging davon. Kopfschüttelnd über ihre eigene Naivität stolperte sie lachend fort, als ihr der alte T-Shirtspruch wieder einfiel. Sie drehte sich um und schrie: „Hau bloß ab! Ich brauche keinen Sex, das Leben fickt mich jeden Tag!“

Mit ihrem gesunden Bein erwischte sie den Randstein zur Straße hin nur halb und kippte nach vorn. Mit den Armen rudernd gelang es ihr, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, doch dazu mußte sie mit ihrem steifen Beinen einen großen Schritt auf die Straße machen. Plötzlich tauchten Scheinwerfer vor ihr auf. Gebannt wie ein Reh starrte sie auf das Licht. Bremsen quietschten, dann erfolgte der Aufprall. Er war nicht stark, doch sie wurde auf die Motorhaube geschleudert und schlug mit dem Kopf auf der Windschutzscheibe auf. Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen, dann spürte sie, wie sie an der Wagenfront herunterrutschte und mit ihrem Hinterteil auf dem kalten, nassen Asphalt aufkam. Als sie ihre Augen wieder öffnete, starrte sie auf das VW-Emblem auf dem Kühlergrill, das sich nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase befand.

Was folgte, war einer dieser Augenblicke, von denen man glaubt, sie dauern ewig. Die Zeit schien keine Rolle mehr zu spielen und alles schien auf höchst sonderbare Weise zu einem plötzlichen Stillstand gekommen zu sein.

Doch letztendlich bestätigte ihr ein heftig pochender Schmerz im Kopf, daß sie noch lebte. Marco stand neben ihr und half ihr hoch. Mit ihrer rechten Hand stützte Cora sich auf die Motorhaube des alten Polo, der sie beinahe überrollt hätte. Hinter der Windschutzscheibe war ein Mann von Mitte oder Ende fünfzig zu sehen, der mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, das Lenkrad fest umklammert, auf die Straße starrte. So als stünde er unter einem schweren Schock.

„Mir geht es gut. Nichts passiert“, beschwichtigte Cora Marco, der sie ebenfalls erschrocken ansah.

„Du blutest an der Stirn“, stellte er fest.

Langsam befreite sie sich von seinem Griff und versuchte, auf eigenen Beinen zu stehen. Ein Fehler, wie sie sogleich bemerkte. Mit einem Mal wurde ihr speiübel. Sie konnte sich gerade noch vornüber beugen, dann erbrach Cora sich auf Marcos Lackschuhe. Anschließend wurde ihr wieder schwarz vor Augen.

N|E|U|M|O|N|D

Die Schneeflocken tanzten wild vor der Fensterscheibe. Schnee im Januar. Schnee in Berlin. Und Kälte, bittere, endlose Kälte. Cora wandte den Blick von dem Schneegestöber ab und sah den Mann an, der vor ihrem Krankenbett stand.

Der Arzt stellte sich ihr als Dr. Lerchen vor. Er war noch jung, ein Assistenzarzt vermutlich. Sie hatte die letzte Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus verbracht und wollte nun alles tun, um so schnell es nur ging nach Hause zu kommen. Gedankenverloren ertastete sie den Verband an ihrer Stirn. Noch eine Platzwunde mehr, die eine schöne Narbe hinterlassen würde. Who the fuck cares? Welcher normale Mensch verbrachte schon einen Sonntag im Krankenhaus? Sie sicher nicht. Ihr Kopf schmerzte. Von Krankenhäusern hatte Cora genug gesehen, das reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Schon der bloße Geruch der Desinfektionsmittel ließ sie würgen. Mit ihm verband sie die schlimmste Zeit ihres Lebens.

„Hören Sie“, sagte Cora, „mir fehlt doch überhaupt nichts.“

Der Assistenzarzt blickte sie ernst an. „Das sehe ich anders. Sie haben eine Gehirnerschütterung und brauchen dringend Bettruhe.“

„Daheim kann ich mich auch ins Bett legen“, schlug Cora vor.

„Haben Sie denn dort jemanden, der sich um Sie kümmern kann?“

„Ja, natürlich, alles kein Problem. Geben Sie mir einfach die Entlassungspapiere“, log sie.

Der Arzt runzelte abwägend die Stirn. „Das kann ich nicht allein entscheiden. Ich werde unseren Chefarzt hinzuziehen müssen.“

In diesem Moment, als hätten sie den Teufel gerufen, von dem sie eben noch sprachen, öffnete sich die Türe zum Krankenzimmer, und ein älterer Mediziner im obligatorischen weißen Kittel trat ein. Kurze weiße Haare, ein ebenso kurz geschnittener, schneeweißer Vollbart. Der Mann sah wie ein Kapitän aus. Zumindest vom Gesicht her. Wie Cora die Ärzte nur immer und immer wieder haßte, wenn sie einen sah.

Der ältere Arzt lächelte Cora freundlich an. „Guten Tag, Frau Reichen. Mein Name ist Dr. Meir, ich bin hier der Chefarzt.“

Was für ein origineller Name, dachte Cora sich. Aber für seinen Namen konnte er schließlich nichts. Sie bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln. „Hervorragend. Sie kommen wie gerufen. Ich möchte die Klinik noch heute vormittag verlassen.“

Der Chefarzt griff nach einer kleinen Lampe und leuchtete Cora damit in die Augen, um ihren Pupillenreflex zu überprüfen.

„Ist Ihnen schwindelig oder übel?“ fragte er, während er die Untersuchung fortsetzte. Alleine der Gedanke an all den Alkohol, den sie letzte Nacht getrunken hatte, reichte aus, um ihr Übelkeit zu bereiten. Von dem pochenden Schmerz in ihrem Kopf einmal ganz abgesehen.

„Nein, ich habe überhaupt keines dieser Symptome. Mir geht es wirklich gut“, log Cora erneut.

„Nun ja. Es wäre schon vernünftiger, wenn Sie wenigstens heute noch bei uns blieben“, befand Dr. Meir.

„Muß das wirklich unbedingt sein?“ fragte Cora und legte dabei eine Art Dackelblick auf.

Der Chefarzt setzte sich auf die Bettkante und lächelte. „Wissen Sie was? Wir machen das folgendermaßen: Sie versprechen mir, sich die nächsten drei Tage daheim ins Bett zu legen, und ich unterschreibe Ihnen die Entlassungspapiere. Allerdings nur, wenn ...“

Cora sah den Arzt ebenso fragend an wie dessen jüngerer Kollege, der sich über das Vorgehen seines Chefs zu wundern schien.

„Allerdings nur, wenn ich ein Autogramm von Ihnen bekomme“, vollendete der Mediziner den Satz.

Cora sah ihn staunend an. Um ein Autogramm war sie schon seit Jahren nicht mehr gebeten worden. Sie konnte noch nicht einmal sagen, wann das letzte Mal gewesen sein mochte. Vermutlich kurz vor dem ... Stop! Verbotene Gedanken. Oder doch während der Reha?

Sie mühte sich ein weiteres Lächeln ab. „Aber natürlich. Kein Problem.“

Dr. Meir strahlte über das ganze Gesicht, reichte Cora ein leeres Blatt Papier und wandte sich an den Assistenzarzt. „Dr. Lerchen. Jetzt sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, wen wir hier als Patientin haben? Ach, richtig, Sie machen sich ja nichts aus Sport. Frau Reichen hier war unser Gold-Mädel. Eine der besten Schwimmerinnen, die unsere Republik je hervorgebracht hat. Unsere Medaillenhoffnung für die Olympischen Spiele in London. Wirklich eine Tragödie, daß es damals zuvor zu ...“

Cora reichte dem Chefarzt den mit einem hektischen Gruß und ihrer Unterschrift versehenen Zettel zurück und unterbrach ihn, bevor er noch weiter in ihrer schmerzlichen Vergangenheit wühlen konnte. „Hier, bitte sehr, und vergessen Sie meine Entlassung nicht.“

Der Chefarzt nahm das Blatt Papier und faltete es in der Mitte. „Haben Sie vielen Dank, Frau Reichen. Das wird meine Tochter sicherlich freuen. Sie ist auch Schwimmerin, müssen Sie wissen. Allerdings ist es bei ihr nur ein Hobby. Kein Leistungssport. Sollten wir uns nicht mehr sehen, wünsche ich Ihnen gute Besserung. Und versprechen Sie mir, sich zu schonen.“

„Mache ich, Doktor. Keine Sorge“, sagte Cora, so bezaubernd lächelnd, wie die Umstände es nur zuließen.

Nachdem die beiden Ärzte endlich wieder gegangen waren, spannte sie ihre Oberschenkel unter der Bettdecke an. Ihre Muskeln schmerzten. Vorsichtig schlug sie die Decke zurück und zog das Krankenhausnachthemd nach oben. Die blauen Flecke, die die Ärzte schon bei ihrer Einlieferung kritisch untersucht hatten, schimmerten lilablau bis schwarz und schienen noch größer und dunkler geworden zu sein. Ihr Bauch, ihre Hüfte und Teile ihrer Oberschenkel waren wie eine Landkarte gemustert. Vorsichtig drückte sie mit ihren Fingern auf ihren Bauch und fuhr langsam zu ihren Oberschenkeln herunter, bis es zu schmerzhaft wurde. Nun ja, sie war schon in einem eindeutig schlimmeren Zustand gewesen. Die Blutergüsse würden verblassen. Sie hatte unheimliches Glück gehabt. Wieder einmal schien ihr Schutzengel ein wachsames Auge gehabt zu haben. Oder war es doch ein böser Dämon, der auf diese Art verhindern wollte, daß ihre Leiden endlich zu Ende wären?

Sie zog das Nachthemd wieder herunter und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Trotzig sah sie aus dem Fenster in den dunklen Vormittag.

Drei Tage später läutete Coras Türklingel. Zuerst wollte sie gar nicht öffnen, doch schließlich unterdrückte sie den Impuls, sich wieder in ihr Bett zu verkriechen. Draußen schneite es noch immer, wenn auch nicht mehr so stark wie in den Tagen zuvor. Sie sah aus dem Fenster im zweiten Stock ihrer Berliner Altbauwohnung. Unter ihr, im Hinterhof, bauten Kinder einen Schneemann. Gedankenverloren zog Cora an ihrer Zigarette. Wieder ertönte die Türklingel. Ja, doch. Ich komme schon. Vorsichtig erhob sie sich von ihrem knarrenden Küchenstuhl und verschloß den Bademantel, der sich mal wieder von alleine geöffnet hatte, da sie den Gürtel nicht fest genug zusammengezogen hatte. Langsam humpelte sie aus der Küche in den Flur. Vor der hölzernen, mit tausend Rissen übersäten Haustüre blieb sie stehen und sah durch den Spion.

Vor ihrer Türe stand ein kleines Männchen. Grauer Hut, grauer Mantel, graues Gesicht, graue Haut und um den Hals eine schwarze Fliege. Scheiß Zeugen Jehovas. Nie können sie einen in Ruhe lassen, ging es ihr durch den Kopf. Doch etwas paßte nicht ins Bild. Das Männchen hielt einen Blumenstrauß in den Händen. Durch den Spion betrachtet war das Gesicht grotesk verzerrt, die Nase wirkte riesengroß.

Cora wurde neugierig. Rasch legte sie die Kette vor die Türe, dann öffnete sie sie einen Spalt. Man konnte nie wissen, auf den Straßen trieben sich allerlei sonderbare Gestalten herum. Nicht, daß sie ein vorsichtiger Mensch gewesen wäre, eher das genaue Gegenteil, aber beim Anblick dieses Männchens war sie zunächst einmal skeptisch. Vermutlich gerade wegen der vermeintlichen Harmlosigkeit seines Erscheinungsbildes. Unliebsame Verkäufer ließen sich leichter mit eingehängter Kette wieder loswerden.

Der Mann war vielleicht einen halben Kopf kleiner als sie. Er senkte den Blumenstrauß etwas, als er sah, daß die Türe sich öffnete.

Einige Augenblicke lang zögerte er, doch dann sagte er. „Sie sind Frau Reichen, nicht wahr?“

Mißtrauisch runzelte Cora die Stirn und zog an ihrer Zigarette. „Wer will das wissen?“

„Mein Name ist Reif. Friedrich Reif. Ich habe sie angefahren.“

„Aha“, entfuhr es ihr. Sie versuchte sich an die Augenblicke nach der Kollision mit dem Polo zu erinnern. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr Gedächtnis war leer.

Der Mann räusperte sich. „Es tut mir wahnsinnig leid, daß mir das passiert ist ... Ich bin kein sehr guter Fahrer, wissen Sie. Ich hätte schneller reagieren müssen.“

Etwas an der Art und Weise, wie der fremde Mann sprach, gefiel Cora. Sie wußte nicht genau warum, aber mit seinem schüchternen, peinlich berührten Auftreten tat er ihr fast schon leid. Der Mann sah nach unten, dann ihr wieder ins Gesicht. Seine unsichere Haltung und seine Statur hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der ihres Onkels. Ja, der Mann erinnerte sie eindeutig an ihren Onkel Helmut. Den einzigen Bruder ihres Vaters, den sie wirklich gemocht hatte.

„Woher haben Sie meine Adresse?“ fragte sie.

„Von der Polizei. Wir müssen ja auch noch das mit der Versicherung regeln.“

Cora entfernte die Kette an der Türe und öffnete sie weit. „Dann kommen Sie doch herein.“

Vorsichtig und zögerlich trat der Mann ein. Sie konnte spüren, wie peinlich ihm diese ganze Situation war. Er nahm den Hut ab und hielt ihr den Blumenstrauß unsicher entgegen. „Bitte, für Sie.“

Cora mußte lächeln. Es war schon eine Weile her, seit ihr jemand Blumen geschenkt hatte. Eine ganze Weile sogar. „Dankeschön“, sagte sie schlicht.

Nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte, folgte der Mann ihr in die Küche. Dabei entfuhr ihm ein bestürzter Aufschrei. „Oh, mein Gott! Ich wußte nicht, daß ich sie derart schlimm erwischt habe.“

Cora drehte sich um, und sah ihn fragend an. Dann begriff sie. „Nein. Das waren nicht Sie. Ich laufe immer so.“

Betreten sah der Mittfünfziger sie an. „Bitte, entschuldigen Sie. Ich wußte nicht ...“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen“, unterbrach sie ihn.

Als sie sich an den Küchentisch gesetzt hatten und auf den durch die Maschine laufenden Kaffee warteten, entstand eine peinliche Stille. Cora wußte nicht, was sie sagen sollte, und der Mann offenbar auch nicht. Doch schließlich faßte er sich ein Herz und begann, sich vorzustellen. „Wie ich schon sagte: mein Name ist Reif. Ich bin Stadtarchivar. Ich war auf dem Weg zum Flughafen, meinen Neffen abholen ... Es ist alles so schrecklich. Ich wollte Sie doch nicht verletzen ...“

Stadtarchivar. Das paßte perfekt. So angestaubt, wie er aussah und auftrat, mochten auch die Akten sein, mit denen er täglich zu tun hatte. Die dicke Brille mit dem dunklen Rahmen verlieh ihm das Äußere eines Buchhalterklischees. Und so etwas Ähnliches war er ja wohl auch. Eigentlich fehlten ihm nur noch die Ärmelschoner.

„Hören Sie“, unterbrach Cora ihn, „ich bin Ihnen vors Auto gelaufen, soweit ich weiß. Bitte, machen Sie sich also deswegen keine Vorwürfe. Ich war betrunken und habe nicht auf die Straße geachtet.“

Der Mann hielt inne. „Ach so? Das hat man mir auf der Polizeiwache gar nicht gesagt. Dennoch, als Autofahrer muß man immer damit rechnen, daß einem jemand vor den Wagen läuft. Ich hätte bremsbereit fahren sollen. Aber ich war in Eile. Es ist also zumindest genauso meine Schuld wie die Ihre.“

Ach du meine Güte, der macht sich ja richtige Vorwürfe. Wenn alle Menschen bremsbereit fahren würden, gäbe es vermutlich nur noch Stau, dachte Cora. Nachdenklich stand sie auf und holte die frische Kanne Kaffee, die ihr Geysir, wie sie ihre Kaffeemaschine nannte, weil sie schon längst einmal entkalkt gehört hätte und einen Höllenlärm machte, wenn sie fertig war und nur noch Dampf spuckte, nun endlich zubereitet hatte. Ihre Hüfte schmerzte protestierend, als sie sich aus Versehen an die Arbeitsplatte lehnte und so gegen die Blutergüsse drückte. Sie schnappte sich die Kaffeekanne, humpelte zu ihrem Gast zurück und goß das dampfende Getränk in die Tassen.

„Milch? Zucker?“

„Ja, gerne.“

Cora reichte dem Mann Milch und Zucker, dann nahm sie einen vorsichtigen Schluck von ihrem brühend heißen schwarzen Kaffee. Er schmeckte widerlich. Es war eine Art Haßliebe die sie mit diesem Getränk verband, daher trank sie ihn nur schwarz. Wenn schon, denn schon. Der Archivar warf vier Stück Zucker in seine Tasse und goß reichlich Milch dazu. Wieder schwiegen sie eine Weile.

„Einen außergewöhnlichen Geschmack bei der Küchendekoration haben Sie, wenn ich das so sagen darf“, stellte Reif fest und deutete auf das breite Panoramabild eines Weißhais, das auf der anderen Seite der Küche an der Wand hing.

Cora sah kurz zu dem Poster hinüber. „Oh, das hing schon dort, als ich hier eingezogen bin. Ich habe es hängenlassen, weil ich Haie eigentlich ganz gerne mag. Sie sind vermutlich das Eleganteste, was die Natur je hervorgebracht hat.“

Cora wurde nachdenklich. Warum erzählte sie das? Ihr war nicht nach Konversation. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr nur zum Spaß mit jemandem über etwas unterhalten.

„Für gewöhnlich haben Frauen doch eher Angst vor Haien, oder nicht?“

„Und Männer etwa nicht?“ fragte Cora.

„Doch, die auch.“

Sie sah kurz in ihre Kaffeetasse und dachte nach. „Nun, jeder Mensch schleppt doch eine Menge Ängste mit sich herum. Was Haie betrifft, sind diese absolut unbegründet. Es werden jedes Jahr mehr Menschen von Getränkeautomaten erschlagen als von Haien getötet.“

Der Stadtarchivar mußte schmunzeln. „Woher wissen Sie das? Sind Sie schon einmal einem Hai begegnet?“

„Nein, aber einem Getränkeautomaten“, witzelte Cora, lachte kurz über ihren eigenen Scherz und wurde gleich wieder ernst. „Ich bin sogar mit Haien aufgewachsen.“

Reif runzelte die Stirn. „Mit ihnen aufgewachsen? Bitte, das müssen Sie mir erklären.“

„Nun ja. Es ist so. Ich war schon immer eine Wasserratte. Erst Babyschwimmen, dann ein Schwimmkurs mit drei Jahren. Seepferdchen mit vier. Die restlichen Schwimmabzeichen, sobald es vom Alter her machbar war. Meine Eltern sind begeisterte Taucher und waren sehr ehrgeizig, was meine Ambitionen anging. Wir waren gut zwei- oder dreimal im Jahr in allen möglichen Tauchrevieren unterwegs. Hauptsächlich auf den Malediven. Dort gibt es Inseln mit Babyhaien, ganz putzige Dinger, aber auch große meterlange Riffhaie, die elegant ihre Reviere abschwimmen. Also fing ich mit zehn Jahren an, meine Tauchscheine zu machen. Erst Kindertauchen, dann Open Water Diver, Advanced Open Water Diver, schließlich Dive Master. Schon früh, ich war gerade mal acht Jahre alt, schickten mich meine Eltern in ein Sportinternat. Leistungsschwimmen den ganzen Tag, siebenmal in der Woche. Ich war gut, richtig gut sogar.“

Verstohlen blickte sie zu der Blechdose auf dem Kühlschrank. „Vielleicht die Beste.“

Der Mann war erstaunt. „Leistungsschwimmen. Dann sagen Sie bloß, Sie haben auch an internationalen Wettkämpfen teilgenommen?“

Cora sah ihn belustigt an. „Sie scheinen nicht zu den regelmäßigen Zusehern der Sportschau zu gehören.“

Reif lächelte. „Nein, das kann ich wirklich nicht von mir behaupten. Ich habe noch nicht einmal ein Fernsehgerät. Und wie ich zu meiner Schande gestehen muß, habe ich mich noch nie wirklich für Sport interessiert. Von etwas Eishockey vielleicht mal abgesehen, weil ich das in meiner Jugend selbst gespielt habe.“

„Nun ja, dann sind Sie entschuldigt. Ich war einmal so etwas wie die neue Franziska van Almsick. Auf mir ruhten fast die gesamten Medaillenhoffnungen dieses Landes. Ich sollte als Schwimmerin bei den Olympischen Spielen vor drei Jahren in London so richtig abräumen.“ Coras Blick wurde nervös, und ihre Augen suchten die Zigarettenschachtel. „Nun, es ist eben alles anders gekommen. Was soll’s. Scheiß drauf.“

Wieder wunderte Cora sich, daß sie diesem Mann alles frei von der Leber weg erzählte. Sie hatte seltsamerweise das Gefühl, endlich, nach all der langen Zeit wieder mit einem anderen Menschen ein ganz normales Gespräch führen zu können und das noch dazu mit einem völlig Fremden. Einem Mann der gut dreißig Jahre älter war als sie. Und der so völlig anders zu sein schien als alle Männer, die sie kannte. Cora verstand sich selbst nicht mehr. Warum nur hatte sie die Türe geöffnet. Konnte nicht einmal alles so bleiben, wie es war? Sie in ihrem Schneckenhaus, und die Welt draußen ließ sie einfach in Ruhe.

Mit einem Mal fühlte sie sich sehr müde. Ihr Gast schien dies zu bemerken. „Sie sehen erschöpft aus. Ich kann ja ein anderes Mal wiederkommen. Dann regeln wir den Papierkram später.“

Die junge Frau nickte. „Ja, das wäre mir sehr recht.“

Reif stand auf und ging zu Türe. Rasch zog er seinen Mantel an, drückte ihr seine Karte mit Anschrift und Telefonnummern in die Hand, wünschte ihr gute Besserung und verabschiedete sich genauso plötzlich, wie er in ihr Leben getreten war. Wären nicht zwei leere Tassen auf dem Küchentisch gestanden, hätte Cora nicht geglaubt, daß die letzte halbe Stunde jemals stattgefunden hatte.

Sie trat an das Küchenfenster und zündete sich eine Zigarette an. Unten im Hof spielten noch immer die Kinder im Schnee. Die Jungs versuchten, die Mädchen einzuseifen. Ja, das taten Jungs immer gerne. Nicht so mit ihr. Sie war immer die schnellere, flinkere gewesen. Und sie hatte sich ordentlich gewehrt und den Spieß umgedreht. Vor ihr hatten die Jungs Respekt gehabt. Cora mußte lächeln. Kindertage. Kostbar und so fern.

Coras Chef war ein Arschloch. Nicht mehr und nicht weniger. Doch seit sie ihm klargemacht hatte, daß er bei ihr nicht landen konnte, war er noch unausstehlicher. Er hatte ihr ganz offen gesagt, daß sie ihm dankbar dafür sein müßte, daß er mit ihr ins Bett gehen wollte. Denn schließlich würde eine Frau wie sie sowieso keinen Mann abbekommen. Und damit meinte er nicht nur ihre Behinderung, sondern auch ihre kalte und abweisende Art, die sie ihn täglich fühlen ließ.

Cora hatte keine Probleme damit gehabt, sich in das Verkaufsteam des Callcenters zu integrieren, solange es dienstliche Belange betraf. Was ihren Job anging, war sie in ihrem Element. Eigentlich hatte sie Sport studieren wollen, doch das war in einem anderen Leben gewesen. Nachdem sie ihre heimatliche Kleinstadt fast schon fluchtartig verlassen hatte, mit nichts als einem Abitur in der Tasche, einem halbfertigen BWL-Sudium und einem steifen Knie, das ihr eine Vielzahl an Arbeiten unmöglich machte, hatte sie schnell Geld gebraucht. Nach ein paar anderweitigen Versuchen war sie durch Zufall an ihr erstes Callcenter geraten. Dort hatte man ihr Verkaufstalent entdeckt und gefördert. Das heißt, man hatte ihr all die skrupellosen Tricks beigebracht, mit denen sie den Leuten Verträge unterjubeln konnte, die sie eine Menge Geld kosteten. Anfangs hatte Cora Gewissensbisse gehabt, doch die hatte sie schnell abgelegt. Mit ihr hatte auch niemand Mitleid gehabt, sagte sie sich.

Die Arbeit brachte gutes Geld. Geld, das sie für teure Kleidung ausgab, die nicht selten ungetragen in die Mülltonne wanderte, sobald sie keinen Platz mehr dafür hatte.

Irgendwann hatte sie dann ihren Job dort gekündigt, weil ihr auch diese Stadt zu klein erschien, und bei einem anderen Callcenter in Dortmund angeheuert. Doch Dortmund gefiel ihr auch nicht, ebenso lief es in Hannover. Erst in Berlin fühlte sie sich wohl. Nur deshalb ertrug sie ihren Chef. Weil sie in Berlin abtauchen wollte. Hier konnte sie Sonderschichten schieben, so oft sie wollte. Wenn Cora arbeitete, mußte sie sich nicht mit sich selbst beschäftigen. Sie mied Kontakte zu anderen Menschen, so gut es ging. Auch in ihrer jetzigen Firma hatte es Monate gedauert bis sie sich mit Luise und später mit Sarina angefreundet hatte. Wobei angefreundet deutlich übertrieben war. Die beiden nahmen sie auf ihre nächtlichen Streifzüge durch die Berliner Single-Szene mit, das war auch schon alles. Cora reichte das völlig, mehr sozialen Kontakt wollte sie nicht. Schlimmeres als ein samstäglicher Vollrausch konnte ihr so nicht passieren.

Luise war gerade dabei, sie darüber auszufragen, was sie in der Woche angestellt hatte, in der sie krankgeschrieben gewesen war, als Cora zu ihrem Chef ins Büro gerufen wurde.

„Guten Morgen, Frau Reichen. Schön, Sie wieder bei uns zu haben. Ich hoffe, das waren jetzt alle ihre Krankentage für dieses Jahr“, empfing ihr Chef sie kalt, sobald sie in sein Büro trat. Kein: Wie geht es Ihnen Frau Reichen? Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Was ist denn eigentlich geschehen? Können wir irgend etwas für Sie tun? Wir hoffen, es geht Ihnen wieder besser. So etwas hätten normale Menschen gesagt, nicht jedoch ihr Chef. Der lebte auf einem anderen Planeten.

„Lassen Sie uns einmal über Ihre Zahlen aus dem letzten Quartal sprechen“, sagte er mit wie immer leicht näselnder Stimme und bedeutete Cora, sich zu setzen. Zögernd tat sie es. Gelassen faltete sie die Hände in ihrem Schoß. Sie war eine der besten Verkäuferinnen, ihr Chef konnte ihr gar nichts. Im Gegenteil, er war auf sie angewiesen, wenn sein Departement nicht die gewünschten Zahlen brachte, hatte er ein Problem. Ein großes Problem sogar. Cora alleine generierte gut fünfundzwanzig Prozent des Umsatzes einer Abteilung, die insgesamt nur aus zwölf Vertriebsmitarbeitern bestand, so ein Talent ließ man nicht über die Klinge springen. So jemanden fürchtete man höchstens als Konkurrenz. Und das tat er auch, mit Sicherheit sogar. Seine Augen verrieten es. Nur so ließ es sich auch erklären, daß er sie immer weiter unter Druck setzte, ihr immer höhere, unrealistischere Ziele vorgab, die sie meistens auch erreichte. Cora war im Geiste eine Sportlerin geblieben, und so sah sie ihren Job als eine Art Wettkampf, in dem es sich zu bewähren galt.

Kühl musterte sie ihr Gegenüber. Du kannst mich echt mal am Arsch lecken, dachte sie. Doch sie lächelte und sagte. „Hallo, Herr Berger. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme. Es geht mir schon viel besser.“

Etwas verwundert musterte Berger die junge Frau, überging ihren Kommentar und fuhr dann fort: „Sie haben sich weiter verbessert. Das ist auch der Zentrale nicht verborgen geblieben. Wir beide haben übermorgen ein Abendessen mit einem unserer Vorstände.“

Bei dem Wort Abendessen schrillten bei Cora die Alarmglocken. War dies nicht nur wieder eine neue Anmache? Essen mit einem Vorstand. Ja, klar. Der dann zufällig nicht erscheinen würde. Für wie blöd hielt der Mann sie eigentlich? Coras Blick schien Bände zu sprechen.

„Sie glauben mir nicht, Frau Reichen?“

Er überreichte ihr ein auf elegantes Büttenpapier gedrucktes Einladungskuvert.

Sie öffnete es und las den Text. „Im Bocca di Bacco? Da muß eine alte Frau aber bereits für die Vorspeise lange stricken.“

„Da sehen Sie mal, was Sie unserer Firma wert sind“, konterte Berger.

Sie runzelte die Stirn. „Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, um was es bei diesem Essen konkret geht?“

Ihr Chef lehnte sich gespielt entspannt ich seinem Sessel zurück und drückte nervös auf den Kugelschreiber in seiner linken Hand. „Doch, die habe ich.“

Muß ich dir denn wirklich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, dachte Cora sich, nachdem Berger Sekunde um Sekunde verstreichen ließ, ohne etwas zu sagen, sie dabei aber nur abschätzig und abwartend ansah.

Schließlich schien ihr Chef in die Gänge zu kommen. Dynamisch schwang er nach vorn und stützte sich an der Schreibtischkante ab. „Die wollen Ihnen meinen Job geben.“