Flöter/Nofftz • Maskentanz
Laura Flöter
wurde 1983 in Düsseldorf geboren. Seither lebt sie zwischen Bildern und Worten. Ersteres, seit sie weiß, wie man einen Pinsel hält. Letzteres, seit sie das Alphabet beherrscht. Beides hat nur wenig Konkurrenz: Pferde und Rollenspiele.
Neben dem Schreiben studiert sie Deutsch, Kunst und Philosophie und pendelt zwischen Essen und Meerbusch.
Ihr Beitrag zu SunQuest ist ihre erste Romanveröffentlichung. Zur Zeit arbeitet Laura Flöter an einem umfangreichen Fantasy-Roman, der in ihrem selbst kreierten Universum spielt.
Alex Nofftz
Obwohl der Autor seit seiner Geburt 1978 in Leverkusen lebt, hat er es erfolgreich vermieden, mit Chemie oder Fußball zu tun zu haben.
Stattdessen studiert er Informatik an der Universität Bonn und arbeitet als freiberuflicher Programmierer. Er veröffentlicht Science Fiction-Romane im Fan-Fiction-Bereich und feiert mit seinem Beitrag zu SunQuest Premiere in einer professionellen Publikation.
Gabriele Scharf
schuf die Innenillustrationen zu diesem Band. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von München, illustriert Bücher und Magazine.
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Quinterna
Band 5
Umschlagbild und Buchgestaltung: Swen Papenbrock, Vellmar
Illustrationen: Gabriele Scharf, München
Lektorat: Uschi Zietsch
Redaktion, Gesamtkonzept: Uschi Zietsch
Idee: Gerald Jambor
Logos: Atelier Schwandt, Ahlen
Satzlayout: Stefan Friedrich, Garching
Herstellung: Balto Print, Litauen
© 2010 by Fabylon-Verlag
© Label »SunQuest« by Fabylon-Verlag
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Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-927071-58-2
Es war bedeutungslos, welche Wege den Wanderer nach Thel-Ryon führten – niemand konnte von sich sagen, dass er ihn kalt ließ, der Anblick dieser Stadt, beim ersten Mal und auch danach noch. Sie leuchtete schon im wässrigen Licht des frühen Tages weit in die Wüste hinaus, denn die silbernen Segel, die sich zwischen ihren vielen Türmen spannten, fingen die Sonnen ein und durchfluteten die ganze Stadt mit ihrem Licht. Der Wind ließ die Segel fließen, wogen und goss das eingefangene Licht hinunter in die Häuserschluchten.
Es gab eine Stelle in dem Land aus glitzernd weißem Quarzgestein, an der blieb ein Wanderer für gewöhnlich stehen und ließ sich von Thel-Ryon verzaubern. Viele Schritte vor ihm hatten einen Pfad in das Quarzgestein getreten, der blank und glänzend war und Mondfährte genannt wurde – weil er in hellen Vollmondnächten selbst so glänzte und weil der Quarz in der Farbe ein wenig den Monden glich; je nach Lichteinfall rötlich oder grünlich.
Die Spuren dieses Wanderers schliffen die Mondfährte nicht noch glatter – vielmehr rauten sie sie auf, machten sie blind und stumpf. Er kam auch, um Thel-Ryon zu betrachten – aber er dachte dabei nicht an ihre Schönheit. Und der Weg dieses bestimmten Wanderers, der die Stadt jetzt funkeln sah, führte nicht nur nach Thel-Ryon, sondern mitten in die Burg Hag hinein.
Ich komme, um mein Erbe einzufordern, dachte er, das ist, was mir zusteht, immer schon.
Ich werde die Sonnenfrau vernichten, denn sie hat mir alles gestohlen und kaltblütig mein zweites Ich ermordet.
Ich werde den Händlerkönig töten, der seinen Sohn nie verstanden hat, und dessen Erbe ich bin. Das kann den Verlust niemals aufwiegen, den ich empfinde, doch es verhilft mir zu meinem Recht.
Ich werde die Königin ohne Thron … ja, ich glaube, ich werde sie verschlingen. Sie erlösen. Ja! Sein Lächeln hatte viele spitze Zähne.
So dachte der Wanderer, und seine Flügel spalteten den Wind. Dann drehte er sich um und ging zurück; denn am anderen Ende der Mondfährte wartete ein Heer auf ihn.
Der Wirbel im Herz des Diamanten wurde fast lebendig, wenn Seiya das Licht durch ihn fallen ließ, als wehe darin ein gezähmter Wind, gezügelt nur von diesem fünfeckigen Zeichen, von dem sie wusste, dass es das Wappen des Hauses Hag war. Die Exilkönigin bewegte den Siegelring, ließ die Funken tanzen, die der Stein aus dem Tag brach, über die Wände des Gemachs, in dem sie schlief, und fragte sich, ob ihr Thel-Ryons Siegel nicht zu schwer war. Gewiss, sie hatte gelernt, zu herrschen. Aber als Fremde über eine fremde Stadt?
Seiya sah sich nach Pong um – der kleine Gefährte ruhte, vielleicht schlief er auch, die winzigen Schuppen in ein zartes Lavendelblau getaucht. Zumindest ihm machte ihr Versprechen keine Sorgen: Thel-Ryon zu halten; denn sehr bald schon würde die Stadt angegriffen werden.
Die Exilkönigin erhob sich, ging zum Fenster. Die hohe, schmale Stadt mit ihren vielen Türmen aus Eisen in dem glitzernd weißen Quarzsteinland – sie war nie zuvor hier gewesen, und nun trug sie Thel-Ryons Schicksal in der Hand, oder besser: daran.
Seiya zog die Schultern hoch, sah zurück – ungewohnt, Pong auf einem Kissen ruhen sehen und nicht auf Shanijas Haut, aber sie war froh, ihn bei sich zu haben.
Es war tröstlich, hier jemanden zu kennen.
»Pong!«, rief sie leise. »Komm, es ist Zeit.«
Sie hatte eine Besprechung einberufen mit allen, die in dieser Stadt einen Namen hatten: Dem Stadtrat und den Sprechern der Zünfte, den Karfunkelschneidern, den Gold- und Silberschmieden und den Juwelengärtnern, die den Tafelbergen rund um Thel-Ryon die Adern öffneten, um an ihr hartes, glitzerndes Blut zu kommen: Edelsteine. Davon war diese Stadt reich geworden.
So reich, dass ihr Siegelwappen in den prächtigsten Diamanten geschnitten war, den Seiya je gesehen hatte – sein Feuer verspritzte Funken, wenn ihn nur der dünnste Lichtschein streifte. So konnte kein normaler Stein gleißen, und sei er noch so edel.
Thel-Ryon ist aus Geheimnissen gebaut. So jedenfalls lautete das geflügelte Wort. Seiya war entschlossen, ihnen in der kommenden Zeit auf den Grund zu gehen. Sie konnte selbst noch kaum glauben, dass sie wirklich hier war. Die ersten Stunden in Thel-Ryon flogen an ihr vorüber wie ein Vogelschwarm.
Zunächst würde sie sich mit den Bewohnern dieser Stadt befassen müssen; und nicht jeder würde sie als Earl Hags Vertretung anerkennen. Sie stellte sich besser auf raue See ein, wie einst beim Monolithen, wenn die Wasserungeheuer Hochzeit feierten.
Pong streckte sich wie ein Katze, ließ das vom nahen Abend rot angelaufene Sonnenlicht über seine Schuppen fließen und schlug einige Male mit den Flügeln, eher er auf ihnen wie auf silbernen Fächern zu der Prinzessin segelte, um auf ihrer Schulter Platz zu nehmen. Dort machte er es sich bequem, während Seiya durch eine Seitentür aus den Wohngemächern auf eine Galerie der Ratshalle hinaustrat, auf der die Hags seit je her Besprechungen hielten, Empfänge gaben, Abkommen schlossen und Urkunden besiegelten. Hier wurden die wichtigsten Gespräche Thel-Ryons geführt. Und nun war Seiya an Earl Hags Stelle hier.
Nach der ganz eigenen thel-ryonischen Baukunst entworfen, schlug die Halle leicht in ihren Bann: Glas, Eisen und Quarzgestein. Ein hoher Raum mit gläserner Kuppel, die sich von zahlreichen Eisenrippen getragen auf eiserne Säulen stützte. Wie ein Wasserfall ergoss sich das Licht durch die Kuppel in den Saal und bildete einen leuchtenden See, der von den Säulen gesäumt wurde. Die Quarzsteinmosaiken auf dem Boden fingen das Dreisonnenlicht auf und spannen es in ein flüchtiges Gewebe von Halbschatten, das den ganzen Saal ausschlug.
Ein geheimnisvolles, altes, ein Märchenlicht, fand Seiya, das es wohl nur hier gab. Wenn auch jedes Wort, das sie sprechen würde, ihr schon jetzt schwer auf der Zunge lag – hier fühlte sie sich besser. Orte wie dieser waren ihr vertraut. Sie war an einem ähnlichen aufgewachsen. Für alle galt dasselbe Gebot: Sprich besonnen und mit Macht.
Sie stieg die Treppe hinunter. Das Geländer, ein fein geschmiedetes Gitterwerk, gab den Blick auf das Halbrund frei, zu dem der Boden unter der Kuppel in Rängen abstieg. Auf den geschnitzten Sitzen mit Pulten aus rotem Holz in den Rängen saßen bereits mehrere Personen. Mit einigen war Seiya bekannt gemacht worden, sie erkannte die Gildenrichterin, die Sprecherin der Gilde der Juwelengärtner und den Abgesandten der Silberschmiedezunft. Andere standen zu zweit und in kleinen Gruppen zusammen und sprachen leise miteinander. Seiya konnte sich denken, worüber. Sie straffte die Schultern. Zeit, über das zu reden, was wirklich wichtig war.
Der Stadtherold kündigte sie an, und die leisen Gespräche versiegten. Zwei Dutzend Gesichter wandten sich Seiya zu, und ihre Mienen drückten ihre Haltung aus: freundliche und feindliche, offene und verschlossene, manche neugierig, andere gleichgültig. Nur zwei waren darunter, die vollkommen blank waren und leer wie ein blindes Fenster.
Eines gehörte dem Hüter des Gedächtnisses, dem Stadtarchivar, der kein Mensch war. Seiya konnte eigenartige, dunkelviolette Schlieren tief unter seiner Elfenbeinhaut ausmachen, wie Wolkenschleier. Sein Gesicht war glatt. Seiyas Blick perlte daran ab, ohne die Kontur eines Ausdrucks zu berühren. Dabei war sie gut darin, Gesichter zu deuten. Die Augen des Stadtarchivars hatten den eigenartig fahlen Glanz von Muschelsilber. Sein Blick berührte nur einen Lidschlag lang den ihren, dann schlugen sich lange weiße Wimpern darüber. Die Exilkönigin gab vor, es nicht zu merken. Sie hatte selten in Augen gesehen, deren Blick sich derart kalt anfühlte auf der Haut.
Sie stieg die letzten Stufen hinab und begab sich unter schweigender Beobachtung zu jenem Sitz, den Earl Hag ihr als Bevollmächtigte überlassen hatte – eine höhere Lehne, eine reichere Verzierung kennzeichnete ihn als den Wichtigsten im Rund.
Für einen Moment bereute sie, sich darauf eingelassen zu haben. Doch nun musste sie dazu stehen. Sie setzte sich. Und gleich stellte sich das so vertraut fremde Gefühl ein – jetzt saß sie nicht als Seiya, sondern als Entscheidungsträgerin an diesem Platz. Dazu gehörten als Ausstattung der hohe Sitz und das schwere, perlenbestickte Kleid mit den überlappenden Ärmeln wie Seerosenblüten und dem tief ausgeschnittenen Rücken. Fast fühlte sie sich schon gar nicht mehr als Seiya. Der Thron der Mandiranei hatte ihr zugestanden, doch sie hatte ihn nie eingenommen. Nun war die Heimat an den Feind gefallen, und sie präsentierte sich auf einem fremden Thron, der ihr nur vorübergehend gehörte.
Auf ihren Wink hin eröffnete der Herold die Zusammenkunft und rief nacheinander die Teilnehmenden beim Namen auf. Sie sollten ihren guten Willen und ihre Bereitschaft erklären, Seiya zu unterstützen.
Die Schreiber machten sich bereit, alles aufzuzeichnen, was gesprochen wurde. Wenn die Zusammenkunft zu einer Einigung gelangte, würde jeder der Anwesenden sein Namenszeichen und, wenn er eines besaß, Siegel unter die Mitschrift setzen. Seiya hoffte, dass sie bald zustimmen würden, denn viel Zeit blieb ihnen nicht.
Aufmerksam betrachtete die junge Frau die Gesichter, die zu den Namen gehörten, und prägte sich die Züge ein.
Pong, dem einige der Blicke galten, die sie streiften, hatte sich auf ihrer Schulter aufgerichtet und verfolgte das Geschehen gleichermaßen.
Zunächst folgte jedem Namensruf die Willensbekundung – wie Seiya erwartet hatte, nahmen die Zunftmeister und Gildesprecherinnen die Entscheidung Hags gelassen hin.
Das erste »Nein!« fiel aus dem Mund der Gildenrichterin. Der Herold schaute auf, rückte das Monokel zurecht. Seiya lehnte sich ein wenig vor – die Gildenrichterin, eine große Frau mit eigenwilligen Augen und harten Lippen, hatte sich erhoben und blickte ihr offen ins Gesicht.
»Viele wissen, wer Ihr seid, so auch ich«, fuhr sie mit leicht rauer Stimme fort, die Seiya an As’mala denken ließ, »und dass Ihr der Passage näher wart als die meisten anderen auf Less. Euer Name wird stets mit allen anderen Helden der Passage genannt.«
Sie ging die Stufen hinab, an den Rängen vorbei, in die runde, freie Mitte hinunter, wo sich alle Treppen trafen. Dort blieb sie stehen, sah sich um. Sie war eine erfahrene Rednerin, sprach laut und deutlich, ihre Gesten folgten ihren Worten, dass man fast meinte, sehen zu können, was sie sagte. »Doch Ihr seid fremd in dieser Stadt, fremd sind Euch unsere Gebräuche, unser Recht und die Ordnung, und auch unser Volk, das Euren Namen auf den Straßen nicht nur begeistert ausspricht. Earl Hags Entscheidung hat uns alle, nun: überrascht. Und wir werden sie nicht so ohne weiteres hinnehmen, ohne zu wissen, ob sie gut getroffen ist.«
»Ich verstehe Eure Zweifel, Gildenrichterin.« Eine weitere Frau erhob sich; langes Haar, herbsteisfarben, umrahmte ihre Züge, weich und lieblich: Don’na Elphira, eine Leibberaterin Earl Hags. »Aber Lord Hag hat mich ins Vertrauen gezogen, ehe er nach ELIUM aufbrach, und mir erklärt, warum er die Verantwortung einer von vielen verehrten Heldin, gleichwohl Fremden, übertragen will, in seinem Namen zu sprechen.«
Sie machte eine kurze Pause, um die Spannung in die Höhe zu treiben. »Königin Seiya hat den Krieg bereits gesehen. Wir alle«, sie vollzog eine weit gefasste Geste, »wissen um die Ereignisse der Passage, ja, und auch von der Gefahr ELIUM. Aber wir waren nicht dabei, niemand von uns. Lord Hag hat Königin Seiya von der Mandiranei ausgewählt, und ich bin sicher, wie er selbst es sein muss, dass sie weitaus besser wissen wird als wir, was uns bevorsteht. Denn sie hat um die Freiheit ihres Reiches gekämpft, und sie hat Gefangenschaft und Folter durchgestanden, ehe sie hierher kam. Wir haben von alldem nur gehört. Deshalb«, jetzt ließ sie ihren Blick im Versammlungsrund umhergehen, zu jedem einzelnen, »trage ich die Entscheidung Earl Hags mit. Ich versichere Euch meines guten Willens und voller Unterstützung, Königin Seiya, so wie ich loyal zu Earl Hag stehe.«
Von einigen Rängen kam Beifall. Das Gesicht der Gildenrichterin blieb unbewegt wie eine Marmormaske. »Ich bin entzückt zu hören«, sagte sie mit einer Stimme, die keineswegs so klang, »dass die verehrte Gründerfamilie Hag sich so ergebener Gefolgschaft erfreut. Vergebt mir dennoch, Don’na, dass ich Euer Vertrauen in diese Entscheidung nicht teile. Mag die Exilkönigin den Krieg kennen und Zeugin der Passage gewesen sein: Ich bezweifle, dass Seiya von Mandiranei zur Kriegsmeisterin so taugt, wie Ihr und Lord Hag wohl meinen.« Sie richtete sich auf. »Ich habe mich kundig gemacht, Dame Seiya, sobald Euer Name als Bevollmächtigte und Stellvertreterin fiel. Ich wollte wissen, welche Person hinter der erkorenen Heldin steht. Und mir ist bekannt geworden, dass Ihr die Ereignisse der Vergangenheit bei weitem nicht so gut bewältigen konntet, als dass man Lord Hags Wahl leicht verstehen könnte.«
Pongs Schuppen erglühten in rotem Zorn. »Was soll das heißen?«, fauchte er mit hervorschnellenden, zitternden Stacheln. »Niemand hat Grund, an Seiya zu zweifeln! Sie hat jetzt bedeutend mehr durchgemacht als zur Zeit der Passage, und seht sie Euch an!«
Die Gildenrichterin streifte Pongs Ausbruch mit einem Seitenblick, mehr nicht. Sie richtete nicht einmal das Wort an ihn. Ihre Augen fanden gleich zu Seiya zurück, ein wenig schmal jetzt, wie Halbmond-Klingen.
»Ich sehe Wundmale, Blässe und Unterernährung«, sagte sie kühl. »Und was mag erst unter dem äußeren Augenschein liegen.«
Seiyas Rechte wurde zur Faust. Wenn sie anfing, sich mit dieser Frau auseinanderzusetzen, würde ein Ende wahrscheinlich erst gefunden, wenn Aliandur vor den Toren stand, und dann wäre es zu spät. »Ich denke nicht, dass ich verstehe, was Ihr meint«, entgegnete sie frostig.
Die Gildenrichterin lachte nur, kurz und hart, wie Marmor über den Anblick eines Holzmessers lacht: »Das glaube ich Euch nicht. Ihr habt es damals nicht überwunden: das Töten. Meint Ihr, diesmal ginge es Euch leichter von der Hand? Womöglich, weil Ihr nur befehlen müsst, nicht selber handeln? Glaubt mir, das macht keinen Unterschied, nicht für jemand Euresgleichen, mit einer Blütenblätter-Seele. Blut schmeckt immer gleich, ob man es durch eigene oder fremde Hand vergießt.«
»Das ist wahr.« Ein Mann ergriff nun das Wort, untersetzt und sehnig, mit einem Gesicht wie Wüstenwind, so rau und spröde. Er stand gleichfalls auf, stieg einige Stufen herab. »Erlaubt mir, Euch zur Seite zu treten, Richterin«, meinte er und fuhr dann, an Seiya gewandt, fort: »Ich bin als Hauptmann der Stadtwehr hier, und ich weiß, was es bedeutet, Krieg zu führen, nicht nur, ihn zu befehlen. Wenn Ihr meint, das Töten …«
»Vielen Dank, Hauptmann«, unterbrach ihn Seiya gefährlich sanft. »Vom Töten müsst Ihr mir nichts erzählen. Ich kenne mich nur zu genau aus damit.« Sie erhob sich von ihrem Thronstuhl, trat offen vor die Zusammenkunft, aber nicht auf die Treppen hinaus. Sie breitete die Hände aus. »Es ist wahr, was die Gildenrichterin sagt: Die Ereignisse der Passage haben mich an meine Grenzen geführt – und ich bin darüber hinaus gegangen. Ich habe mehr Leben ausgelöscht, als ich mir je verzeihen kann, aber ich habe gelernt, in diesem Schatten zu leben. Werft mir vor, was Ihr wollt, nur nicht, dass ich zu wenig getötet hätte. Und darüber hinaus«, sie kreuzte den Blick mit der Gildenrichterin wie einen Degen, »möchte ich Euch alle bitten, Eure Entscheidung rasch zu treffen: Wir haben nicht mehr viel Zeit. Eines kann ich Euch versichern – wenn wir den Krieg nun unter uns entfachen, brauchen wir nicht erst auf Aliandur zu warten. Dann fällt diese Stadt, und wir alle, ich und Ihr, mit ihr.«
Pongs Schuppen sprühten erregte bunte Funken auf Seiyas Schulter. Er wollte etwas sagen, aber eine kaum merkliche Geste Seiyas ließ ihn verstummen. Sie setzte sich wieder, hatte gesagt, was es zu sagen gab.
Und wirklich: Darauf folgte Schweigen. Nur die Silberstifte zerkratzten die Stille, während sie übers Pergament eilten, um mit den Ereignissen Schritt zu halten.
Die Gildenrichterin stand nach wie vor inmitten der Runde, ihre Gestalt schmal und scharf wie die eines Falken. Sie blickte zu der Königin im Exil auf. Etwas hatte sich verändert – Seiya erkannte, dass sie nicht mehr am Blick der Thel-Ryonerin zerschellen sollte.
»Wird er denn wirklich kommen?«
»Aliandur? Ohne jeden Zweifel. Ich erfuhr es von ihm selbst. Ob er eine Bastion für sich oder ELIUM schaffen will, weiß ich nicht – doch er will diese Stadt in Besitz nehmen, wenn nicht vollständig schleifen. Und er hat viele, sehr viele Anhänger, die kampferprobt und zu allem entschlossen sind. Ich habe sie während meiner Gefangenschaft erlebt – und beobachtet.«
Ein Zwischenrufer stellte eine wichtige Frage: »Und weshalb verteidigt Earl Hag seine Stadt dann nicht selbst? Er stammt in direkter Linie von den Gründern ab!«
Seiya war darauf vorbereitet. »Earl Hag wird bei ELIUM gebraucht, denn von dort geht die unmittelbare Gefahr und Bedrohung aus. Die Stummen sind weitaus gefährlicher als Aliandur, und zahlreicher, und sie beherrschen eine Technik, mit der nur wenige von Less etwas anfangen können. Earl Hag gehört dazu. Der Lord musste eine Entscheidung fällen. Wir haben lange darüber diskutiert und erkannten meine Ernennung zur Stellvertreterin als die beste Lösung, denn ich kenne Aliandur besser als jeder andere und habe Kenntnis über den Aufbau seines Heeres.«
Ihre Worte standen, wie sie sie gesprochen hatte, noch ein halbes Dutzend Atemzüge lang.
Dann sprach die Gildenrichterin. »Nun gut, Königin der Mandiranei«, sagte sie laut. »Ich denke, ich begreife jetzt, warum Earl Hag so handelte: Ihr seid nicht als neue Herrscherin gekommen, sondern um Thel-Ryon durch einen Krieg zu führen, der Euch vertraut ist.«
»Nichts liegt mir ferner als eine Herrschaft über Eure Stadt, oder einem von Euch den Rang streitig zu machen«, versicherte Seiya. »Mein Leben ist öffentlich genug, dass Ihr wisst, wovon ich spreche. Meine wahre Heimat wird immer die Mandiranei sein, wohingegen mein Zuhause in Burundun liegt, wo mein Ehemann Mun, der Vorsteher des Zentralarchivs, und meine drei kleinen Kinder sehnsüchtig meine Rückkehr erwarten. Es fiel mir nicht leicht, sie vertrösten zu müssen. Doch die Sicherung dieser Stadt ist wichtiger als meine persönlichen Gefühle, und ich werde die Verantwortung mit allen Konsequenzen tragen.«
Die Worte hatten eine knisternde Spannung in der Zusammenkunft entzündet. Nur die Schreiber standen mit unbewegten Gesichtern und hörten zu, wie auch der Herold.
Schließlich hob die Gildenrichterin den Kopf. »Schreiber«, sagte sie mit Katzenzungenstimme, »notiert: Paxedis, die Richterin der Gilden ist, versichert Königin Seiya ihres guten Willens und bezeugt das mit ihrer Unterschrift.«
Seiya lächelte kaum merklich und hoffte, dass man ihr die Erleichterung nicht ansah. Natürlich war es in erster Linie Strategie, und Paxedis würde jede Stunde auf einen Fehler von Seiya lauern, um ihre Krallen in sie zu schlagen. Dennoch war viel gewonnen: sie konnte handeln. »Ich danke Euch, Paxedis. Dann sollten wir auch unverzüglich an die Arbeit gehen.«
Gildenrichterin Paxedis, die sich bereits abgewandt hatte, um zu ihrem Sitz zurückzukehren, drehte ihr den Kopf halb zu. »Ich hoffe, dass bald entsprechende Taten Eurem Versprechen folgen.«
Die Unterschrift der Gildenrichterin gab den entscheidenden Ausschlag, danach stellte niemand mehr Seiyas Führungsanspruch in Frage. Nur bei dem Mann mit den Gewitterwolkenschatten unter der Haut vermeinte Seiya ein Zögern zu hören. Wie es so kommt, wenn man etwas, das man denkt, nicht auf die Lippen lassen will. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, Carlim ak Min war immerhin kein Mensch. Womöglich war es nicht leicht für ihn, wie einer zu reden.
Schon bei Sonnenuntergang desselben Tages stand Seiya vor dem versammelten Volk von Thel-Ryon, die Zusammenkunft in ihrem Rücken, und zugleich vor ihrer schwersten Aufgabe – sie wusste, dass ihre Worte wie Funken in die trockenen Ängste stieben würden, die Sorgen und die Unruhe auf den Gesichtern der Thel-Ryoner, und sie entzünden. Vor dem Rat hatten ihr die Worte nicht so schwer im Mund gelegen wie jetzt.
Sie hatten sich auf den Diamantenmarkt begeben, den größten Platz von Thel-Ryon, auf dem sonst der Handel mit Edelsteinen prächtige Blüten trieb. Aus dem gleichen, glitzernden weißen Stein gebaut wie Turmburg und Altstadt, umstanden von den schönsten, ältesten und wichtigsten Gebäuden der Stadt, den Gilde- und Zünftehäusern, dem Rathaus, Gericht und der Stadthalle, galt der Platz als Wahrzeichen Thel-Ryons. Was ihm in diesen Stunden aber seine besondere Bedeutung verlieh, waren seine Größe – die Stadthalle würde den Andrang der Thel-Ryoner nicht einmal zu einem Bruchteil fassen –, und der Pavillon in der Mitte, von dem aus Proklamationen ans Volk ergingen. Er stand auf zwölf Stufen, überdacht mit einer weißen Kuppeldach; wer immer sich dort oben aufhielt, war weithin sichtbar. Im Geleitschutz der Stadtwehr und zehn Mitgliedern der Leibgarde Earl Hags betraten die wichtigsten städtischen Vertreter den Pavillon und präsentierten sich dem Volk, das bereits seit Stunden ausharrte.
Während Seiya sich umschaute, wurde ihr bewusst, dass wohl ganz Thel-Ryon zusammengelaufen war, um zu sehen, wer nun die Geschicke der Stadt lenken sollte.
Viele der Wartenden hatten auf Kissen und Decken gesessen und erhoben sich jetzt, als die Gardisten und Stadtwächter ihre Positionen einnahmen und Seiya nach vorn trat.
Die Exilkönigin sah Leute in den Fenstern der Häuser ringsum stehen, auf Mauern sitzen und Brüstungen, Simsen und Balkonen, auf offenen Arkadenbögen und den Brücken, die sich zwischen vielen Häusern spannten, auf Ecksteinen und überhaupt überall, wo wenigstens ein Stehplatz zu finden war.
Aberhunderte Gesichter waren ihr zugewandt, in den meisten von ihnen stand Angst.
Sie wussten, dass der Krieg auf sie zukam.
Und dass Earl Hag seiner Stadt nur diese Fremde geschickt hatte.
Es würde nicht ganz leicht, die Stille aus diesen vielen hundert Mündern zu übertönen, die den Platz schier zerdrücken wollte. Seiya wog ihre Worte deshalb umso gründlicher. »Ich bin froh, dass ihr alle gekommen seid«, fing sie behutsam an, »ich bin fremd hier, und so bekommt Thel-Ryon zum ersten Mal für mich ein Gesicht.« Sie wartete ab, und als sich nichts tat, fuhr sie lauter fort: »Einige von euch werden von mir gehört haben. Für alle anderen: Ich bin Seiya, Königin der Mandiranei. Mein Land wurde vom Feind, den Stummen, besetzt, mein Volk befindet sich auf der Flucht, so wie auch ich.«
Flüsterworte huschten auf raschelnden Flügeln in der Menge umher. Seiya wartete ab, bis sie sich wieder beruhigten.
»Unterwegs geriet ich in die Gefangenschaft eines weiteren Feindes, eines Less-Geborenen, der gemeinsame Sache mit den Stummen machen will«, fuhr sie dann fort. »Ich kenne ihn aus einem früheren Kampf, vor zehn Jahren während der Passage, als er damals bereits versuchte, die Macht über Less an sich zu reißen. Nun will er einen zweiten Versuch wagen, und dazu begeht er erneut Verrat an uns allen, indem er sich einem grausamen Feind von außerhalb anbiedert. Einen Teil des Preises seines Verrats stellt diese Stadt dar.«
Das Murmeln griff weiter um sich, rollte weit über die Menge hinweg wie eine Welle an einen Strand. Hier und dort brach sie sich an lauteren Reden, aber Seiya war zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen. Sie hob die Stimme, um das Volk beisammen zu halten: »Nur kann ich diese Stadt nicht allein halten, ich brauche jeden einzelnen Mann, jede Frau dieser Stadt. Ohne euren Einsatz ist Thel-Ryon verloren. Es ist eure Stadt, und es hängt von euch ab, sie zu halten und zu bewahren. Meine Heimat liegt fern von hier, und ich kann Thel-Ryon verlassen, ihr hingegen lebt hier. Ich biete euch meine Erfahrung, meinen Rat und meinen Schutz, und im Gegenzug bitte ich euch um Unterstützung.«
»Earl Hag muss den Kampf an anderer Stelle führen«, fügte Don’na Elphira hinzu und trat neben Seiya. »Deshalb hat er Königin Seiya um Hilfe gebeten, die Stadt an seiner Stelle zu verteidigen, bis er zurückkehrt. Zur Verstärkung hat er uns zwei Hundertschaften Krieger zurück gelassen, und weitere dreihundert sind in den vergangenen Tagen eingetroffen. Wir sind also nicht allein und hilflos.«
»Ist es wirklich sicher, dass der Krieg hierher kommt?« rief jemand aus der Menge. Diesem Ausruf folgten weitere, als flögen hundert Vögel aufgeschreckt aus einem Baum auf.
»Es ist sicher«, antwortete Seiya. »Der neue Feind, von dem ich sprach, ist Aliandur. In wenigen Tagen – drei vielleicht – wird sein Heer heranrücken.«
»Dem Erlöser?«
»So nennt er sich selbst.«
»Stimmt es, dass er ein Kinderfresser ist?«
»Das ist leider nur zu wahr. Er verschmäht auch zarte Jungfrauen nicht, und seine Männer nehmen sich, was sie wollen – Hab und Gut oder Leben, das ist ihnen gleich. Am liebsten nehmen sie beides. Und jetzt werden sie darauf aus sein, Kinder zu rauben, um sie an die Stummen in ELIUM zu verkaufen. So, wie uns die Kinder der Mandiranei gestohlen wurden.«
Angstvolles Raunen. Seiya sah Väter und Mütter, die ihre Kinder zu sich zerrten.
»Und ist es wahr, dass Aliandur ein Drache ist und fliegen kann und Feuer speien?«
Die Exilkönigin schüttelte den Kopf: »Er sieht wie ein Drache aus, ja. Aber Fliegen und Feuer speien, das kann er nicht.«
»Was wird er uns antun?«
»Er trachtet nach dem größten Diamanten, den es auf Less zu finden gibt: Den Thron dieser Stadt. Und er will nicht nur über die Händler König sein, darauf gebe ich Euch mein Wort.«
»Aber was könnt Ihr gegen ihn ausrichten?«
Seiya lächelte dünn. »Ich kenne ihn fast so gut wie seine Leute. Ich war seine Gefangene, doch ich habe überlebt und bin frei. Earl Hag hat mich gerettet, und aus Dank werde ich ihn nun unterstützen.«
Da trat Paxedis an ihre Seite. Seiya verbarg beunruhigt ihr Erstaunen. Was mochte das zu bedeuten haben?
»Die Königin hat den Stadtrat für Earl Hags Entscheidung gewonnen«, schnarrte die Gildenrichterin, »und in Übereinkunft mit uns Pläne zur Verteidigung der Stadt gefasst, die uns so gut wie möglich auf einen Angriff vorbereiten – viel Zeit bleibt nicht, wie ihr gehört habt, deshalb: Es gibt eine Menge zu tun, und jedes Paar Hände wird gebraucht. Hört auf das, was Königin Seiya euch zu sagen hat. Noch in dieser Stunde werden in allen Vierteln Aufrufe angeschlagen, auf denen Ihr geschrieben findet, was hier gesprochen wird – Vorbereitungen, die zu treffen sind, und wo sich die Freiwilligen melden sollen.« Sie nickte Seiya zu und trat einen halben Schritt zurück.
Die Exilkönigin ließ sich die Schriftrolle reichen, die Don’na Elphira bereit hielt, entrollte sie und verlas die ersten Anweisungen.
Die silbernen Segel, die das Sonnenlicht für die Stadt einfingen, sollten so ausgerichtet werden, dass sie das gleißende Licht in das weiße Tafelland hinaus warfen – und jeden blendeten, der sich Thel-Ryon näherte. Ebenso sollten die hohen Eisenmauern, welche die Stadt einfassten, spiegelblank gebrannt werden mit der Säure, die sonst Edelgestein sauber fraß, um zusätzliche Reflexionen zu schaffen. Das würde zwar nur über die Tagstunden hinweghelfen, aber dadurch erzwangen sie sich ebenfalls mehr Zeit.
Die Mauern selbst waren in Stockwerken angelegt, ihre Gänge zum Teil schon als Wehranlage zu gebrauchen. An strategisch wichtigen Punkten sollten Steine, Lappen und Brandöl gesammelt werden, um sie brennend auf den Feind zu werfen. Bogenschützen und Speerwerfer, sowie jeder, der mit einer Schusswaffe umzugehen wusste, sollten an allen Wehrgängen entlang postiert werden.
Sie hatten drei Tage Zeit, um die Vorratsspeicher und Wasserzisternen unter der Stadt zu füllen, damit sie einer Belagerung standhalten konnten.
Jeder Einwohner von Thel-Ryon, der dazu in der Lage war, eine Waffe zu halten, sollte ausgerüstet und der Stadtwache zugeteilt werden. Spürer waren bereits unterwegs, um besonders psimagisch Begabte ausfindig zu machen.
Immerhin sollte es keinen Luftangriff geben, denn Aliandurs einziges Schiff, die Durs Faust, war abgestürzt und verbrannt, und Ersatz war in diesen Tagen nicht leicht zu beschaffen – und nicht so schnell. Leider aber waren auch Earl Hags Schiffe und Orgavögel derzeit anderswo im Einsatz. Es lief also auf einen reinen Bodenkampf hinaus.
Während Seiya las, legte sich allmählich die Unruhe in der Stadt. Zwar flammten ab und noch hitzig geführte Diskussionen auf, doch je länger Seiya sprach, desto mehr fassten die Einwohner Vertrauen und schöpften Hoffnung. Und der eine oder andere zog eine entschlossene Miene.
Schon am nächsten Morgen wurde der Kriegszustand offenbar, auch wenn noch kein Feind vor den Toren stand, denn es blieb dämmrig-dunkel. Die Segel waren bereits in das Umland hinaus ausgerichtet. Dichtes, kühles Zwielicht füllte die Häuserschluchten von Thel-Ryon, an deren Grund zahllose Lampions mit blauer Flamme brannten, verirrte Sonnenfunken umherstoben, Gaslichter versuchten, die fehlende Helligkeit zu ersetzen.
Hand in Hand mit der steigenden Düsternis kam die Beklemmung in die Stadt.
Die Dunkelheit in ihrem Kopf wurde lichter und ließ sie plötzlich nackt zurück und schutzlos. Nur-Eins tränkte ihren Gedankenfluss mit ihrem Willen und ließ ihn fließen, wie er fließen durfte, wenn sie nicht allein war. Legte all die Gedanken schlafen, die nicht ihre waren – die menschlichen. Ließ nur das andere nach vorn: Nichtmenschengedanken. Gab ihren Geist einer Welt ohne Horizonte preis.
Der Junge (DARREN) versickerte am kalten weißen Ende ihrer Gedankenwelt, gesellte sich im Vergessen zu den Neu-Zwei (ANDEREN: KINDERN). Auch für sie, Nur-Eins-Wir, gab es dies weiße Feld, und dort ließ sie DARREN fallen, fallen mit den ANDEREN, nach Nirgendwo in Nie-Gewesen.
Vom Rand ihrer Gedanken dämmerte ihr schwarze Leere entgegen – nicht Leere, nein, sie war voller Sterne.
Und dann stand sie im Nabel des finsterweiten Weltenraums, am Ursprung von Alles-was-war, die Sterne kreisten in stillem Rauschen um sie, drei Sonnen tanzten unter ihnen – und ein Herz schlug außerhalb des Sternenreigens, nicht eines, nein: Es waren viele. Es waren Eins-Wir, sie alle.
Ihr Herz schlug mitten unter ihnen, mit diesen allen mit.
In der Finsternis blühte einer der Sterne auf, wurde größer als die Sonnen, heller, verschlang die Sterne und den Herzschlag – kein Stern eigentlich, nein, er war viel größer, heller: ELIUM. Wurde Herz von Alles-was-war, Herzader schlag, wurde: sie.
Ihr Herzschlag ging in den vielen anderen/Sternen, Sonnen/ELIUM auf.
Sie wurde ganz ruhig.
Sie wurde Nur-Eins-Wir.
Sie wurde ELIUM.
ELIUM kannte keine Ängste, Sorgen (FRAGEN). In ELIUMS Herz hatte Fürchten keinen Platz.
Stille.
Die Sterne drehten sich um:
ELIUM
As’malas Blicke irrten in den scharf geschnittenen Gezeiten von Licht und Schatten umher, durch die sie sich bewegte; das Licht, das in Strahlenbündeln die Dunkelheit durchstach, war kristallklar und schmerzhaft vollkommen von der tiefen Schwärze getrennt, in die es fiel.
Das kann nicht sein, dachte As’mala, weshalb vermischt es sich nicht zu Zwielicht? Weshalb bleiben beide so für sich? Was ist das für ein Ort, an dem sich Licht von Schatten scheidet wie Feind von Freund?
Sie kannte die Antwort auf ihre Fragen, selbstverständlich: Dies war ELIUM. Wie konnte etwas richtig sein an einem Ort, der ein Schandfleck war selbst im Verkehrten Land? Was sollte sie von hier erwarten?
Was immer es ist, ich bin vorbereitet, dachte die Früher-einmal-Diebin und zog ihre schönen vollen Lippen zu einem Lächeln auseinander, das ihr ins Gesicht schnitt wie ein Messer: Ich werde damit fertig.
Sie wusste nicht, wo sie war, aber das machte ihr keine Angst. Für jemanden wie sie gab es kein Verirrt. ELIUM war zu groß, um einen Weg zu kennen, ehe man ihn gegangen war, das wusste As’mala. Ungegangene Wege erweckten keine Furcht in ihr. Sie hatte sich mit Hunderten davon vertraut gemacht, und sie merkte, wie ihre Füße fast von allein gingen, Diebinnenfüße. Sie hatte nichts verlernt. Es war alles, als sei es erst gestern gewesen.
Sie schlich durch das löchrige Dunkel, hatte es sich angelegt wie eine Maske. Besser, von Finsternis ins Licht schauen als umgekehrt, denn das hieß blind sein.
Da, plötzlich, war sie nicht mehr allein Maskenträgerin. Es gesellte sich ein zweites Paar Schritte zu den ihren. As’mala erstarrte in der Bewegung, als sei die Zeit selbst fest geworden. Sie lauschte angestrengt. Stille, Leere. Niemand.
Sie atmete flach, hörte sich nicht einmal selbst. Unmöglich, dass sie sich verraten hatte. Sie schloss die Augen in die Dunkelheit im Innern, dann öffnete sie die Lider wieder, meinte, sie sähe jetzt klarer als vorher.
Noch immer umgab sie nur stille Dunkelheit.
Also doch nicht.
As’mala ließ die Zeit wieder anlaufen, setzte einen Fuß vor den anderen – aber nur für einige wenige Schritte. Dann: Kein Zweifel.
Jemand begleitete sie im Dunkeln.
Sie brauchte nicht einmal eine Gedankenlänge Zeit dafür, dann hielt sie zwei lange Messer (töten lautlos: niemand merkt es) in Händen – zuvor Besitz eines Wachtpostens, der seinen Dienst schlecht versehen hatte. As’mala hatte die Klingen aus ihren Scheiden gezogen und seinen Hals damit zerschnitten, bevor der Krigget fragen konnte: »Wer ist da?«
Jetzt waren sie ihre. Und sie wusste sie zu gebrauchen.
As’mala kauerte sich nieder wie eine Katze, wartete, den Atem zwischen den Zähnen. Hörte nichts.
Wie konnte das sein?
War es ein Echo ihrer selbst? As’mala glaubte nicht daran. Sie bewegte sich so, dass ihr kein Echo folgen konnte; leiser als ihr eigener Schatten.
Schatten.
As’mala schauderte. Alle Meeresteufel, dachte sie, gibt es hier unten Gespenster? An jedem anderen Ort und zu jeder anderen Stunde hätte sie wohl gelacht. Gespenster in ELIUM? Als Exponat in einer quinternischen Präparatensammlung, ja. Aber sonst? Unfug.
Seltsam nur: Gerade, hier und jetzt, klang Unfug ein wenig dünn; etwas stimmte nicht daran.
As’mala erstickte einen Fluch zwischen ihren Lippen. Was es auch sein mochte, es gab sich nicht aus freien Stücken preis. Sie ließ Augenblick um Augenblick ganz still in der Dunkelheit versickern, und es tat sich nichts.
Weiß jemand, dass ich hier bin?
Die Anspannung wollte ihr schier die Haut vom Fleisch kratzen. Sie hielt das nicht aus. Sitzen und warten, diese Begabung hatte sie nie erworben, auf ihrem ganzen langen, verschlungenen und sicherlich nicht immer weiß gepflasterten Lebensweg.
Sie hatte keine Zeit, das jetzt noch zu lernen.
As’mala erhob sich so lautlos, wie sie sich niedergekauert hatte. Wie du willst, dachte sie grimmig, dann komme ich eben zu dir. Glaub mir, du wirst dir wünschen, du hättest den ersten Schritt gemacht!
Sie schlich auf dem Weg zurück, bot all ihre stille Kunst auf, schnitt mit den Messern in die Schwärze, eh sie sie betrat – bisher ließen sie kein rotes Loch darin zurück.
Sie zählte ihre Schritte ab: Sieben, acht, neun. Niemand. Zehn, elf, zwölf. Nichts. Dreizehn.
As’mala verharrte erneut.
Es ist niemand hier außer mir.
Doch, As’mala.
Nur ihre Geistesgegenwart hielt ihren Aufschrei zurück. Sie biss die Zähne aufeinander, ehe er entkommen konnte, und schluckte ihn hinunter.
Diese Stimme – kannte sie besser als ihre eigene, besser als alles, was es sonst auf der Welt zu hören gab. Kannte sie so gut, dass der entfernte Klang ihr die Tränen in die Augen jagte.
Ragedun.
»Ragedun«, wisperte sie mit einer Stimme, die dünn war und rau wie Herbstlaub. Ihr Herz lag plötzlich in einer Eisenfaust, die das zarte, rote Fleisch zerdrückte. As’mala gerann der Atem in der Brust.
»Ragedun, bist du das?«
Und dann meinte sie, ihr sei der Verstand stehengeblieben.
Bloß eine Handbreit von ihrem eigenen trat ein Gesicht, verwaschen auch der Umriss eines Körpers aus der Dunkelheit hervor wie aus schwarzem Wasser, nur um sich augenblicklich wieder darin aufzulösen.
Ihr blieb nur ein Gedankenbruchteil, aber der reichte aus: Das war das Gesicht ihres Mannes. Und für sie fühlte es sich an, als zerrissen nasse Spinnennetze in ihrem Kopf.
Ich kannte einmal eine blinde Frau, die sagte mir, mit blinden Augen sehen sei wie Töne spüren können auf der Haut …
Kälte flog über ihre Haut, ob es der Schreck war oder die Erkenntnis – sie wusste jetzt, wo sie war. Das waren keine Lichtspeere, die weißen Nadeln: Es waren Nymphen. Felder von psimagischen Phänomenen, die in der Lage waren, fremde, ungedachte Gedanken zu gestalten: Echos. Sie hatte davon gehört, aber nie geglaubt, ihnen einmal selbst zu begegnen. Anamas Kehrseite, nein, dachte sie und versuchte, ihre Gedanken festzuhalten, nicht jetzt, nicht hier, ich kann das nicht, nicht …
Ragedun.
Da war es. Unmöglich, an etwas nicht zu denken.
Und dann, als habe sich irgendwo eine verborgene Pforte aufgetan, stürzten von überall her aus der Schwärze Bilder in ihren Kopf, wirbelnde Trümmerstücke. Sie findet sich inmitten der ungesprochenen Ruinen von allem, was sie nicht denken will. Das ist:
Ragedun.
Viele schöne Tage – zu zweit: Ihre Sonnen gehen nie wieder auf, für sie ist das Ewigdunkel angebrochen. Nichts ist As’mala von dort geblieben.
Das Fürstenschloss, das jetzt woandershin gehört, das einstmals geworden ist: Es steht am Rand der Ewigkeit, und die Zeit trägt es ab. Es hat schon begonnen – wie viele Türme hatte es?
As’mala weiß es nicht.
Vorbei.
Ragedun ist tot.