Ferkau/Thurner • Am Rande der Hoffnung
Volker Ferkau
Der 1955 geborene gelernte Schriftsetzer arbeitete im mittleren und gehobenen Management im Zeitungsverlagswesen und ist seit 10 Jahren zusammen mit seiner Frau Inhaber des bundesweit vertretenen Lehrkonzeptes LINGOSTAR.
Mit dem Schreiben begann er bereits als Jugendlicher und veröffentlichte in Wochenendbeilagen von Tageszeitungen Storys, die er teilweise auch selbst illustrierte. Professionell publizierte Volker Ferkau unter verschiedenen Pseudonymen zahlreiche Phantastik-Heftromane für Bastei und Kelter sowie Storys für Frauenzeitschriften. Neben SunQuest arbeitet er derzeit auch an eigenen Romanprojekten. Malen und Musik gehört zu seinen Hobbys.
Michael Marcus Thurner
Geboren 1963 in Wien, verheiratet, zwei Töchter.
Seit 2002 arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller für Serien wie BAD EARTH, MADDRAX, ATLAN und PERRY RHODAN. Dazu kommen diverse Exposé-Arbeiten, die Mitarbeit an zwei Kabarett-Programmen von Leo Lukas, das Entwerfen von Szenarien für Comics und Planungen für ein eigenes Buchprojekt.
Kurt Neubauer
Der 1956 in Wien geborene Künstler studierte Malerei mit akademischem Abschluss und gründete erfolgreiche Grafik- und Design-Agenturen. Er ist Spezialist für 3D-Animation und Computergrafik und gibt gelegentlich an einer Wiener Privatschule hierüber Unterricht.
Trotzdem vernachlässigt er nicht das Arbeiten mit Pinsel, Kreiden und Stiften. Nur bei der Arbeit mit so grundlegenden Werkzeugen kann sich wahre Kreativität entfalten.
Dies Cygni
Band 5
Umschlagbild und Buchgestaltung: Swen Papenbrock, Vellmar
Illustrationen: Kurt Neubauer, Wien
Redaktion, Gesamtkonzept, Lektorat: Uschi Zietsch
Idee: Gerald Jambor
Logos: Atelier Schwandt, Ahlen
Satzlayout: Stefan Friedrich, Garching
Herstellung Koordination: A2 Die Agentur, Kemmern
© 2008 by Fabylon-Verlag
© Label »SunQuest« by Fabylon-Verlag
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Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-927071-83-4
Für Silvia
Sie starben. Die Frau klagte wie ein ageischer Jasminvogel im Regen. Über dem Mann lag der Geruch von verrottendem Aas.
Seiya bäumte sich auf, krallte die Finger in den Staub und stöhnte. In ihren aufgerissenen Augen spiegelte sich der grellfarbige Himmel. Ihre Lippen bewegten sich in lautlosen Worten, sie riss die Hände abwehrend hoch, als könne sie so den Alptraum verscheuchen, der sie hierher geschleudert hatte. Vage registrierte sie, ohne richtig zu begreifen, dass Darren neben ihr auf dem Bauch lag. Er versuchte vergeblich, sich hochzustemmen und winselte dabei wie ein waidwundes Tier. Langsam rutschte er zurück und atmete schwer in den heißen Sand.
Der Alptraum war noch nicht vorüber.
Yimak Groom schob das Fernrohr zusammen. Er hatte genug gesehen. »Mehr Höhe!«, befahl er durch das Sprechrohr. Alles Weitere würde sich ergeben. Bald, sehr bald schon. Wind spielte mit seinen feinen Haaren, Licht brach sich im Alulonium seines Handrükkens. Er war zufrieden. Der Kontakt ließ keinen Zweifel offen. Nun würde er Groom nie wieder entkommen, zumindest solange der Kontakt bestand.
Manchmal verriet ihn die Gabe, je nach Sonnenkonstellation und Mondstand. Nun, Verrat war ein Postulat seines Lebens. Warum sollte es sich mit der Psimagie anders verhalten?
Groom musterte den Horizont. Dort bildeten sich Wolkenformationen wie gerissenes Papier. Befremdend, selbst für Less, wo sich die Gegebenheiten täglich ändern konnten. Ein gezackter Lichtriss schob sich hinter den Wolken hervor und komponierte Farbtöne, deren Dramaturgie auf Groom fast anstößig wirkte. Etwas dort oben, weit weg im All schien seinen warnenden Finger auszustrecken.
Groom blinzelte das beklemmende Gefühl weg und konzentrierte sich wieder auf den Kontakt, der in seinem Geiste analog zur Vielfarbigkeit des Himmelsgewölbes flackerte wie eine Gaslaterne im Wind.
Die beiden Menschen dort unten versprachen in den nächsten Tagen Abwechslung und einen schönen Zeitvertreib. Die Frau war Groom fremd. Den Mann jedoch kannte er sehr gut. Der Zufall hatte es gewollt. Er hatte ihn endlich gefunden: Darren Hag.
Vor vielen Jahren hatte Groom seine Suche nach Darren Hag aufgegeben, das Schicksal verflucht und es im gleichen Atemzug angefleht, ihm ein Zeichen zu geben. Dann hatte er geträumt und entschieden, jener Starke zu sein, der das Schicksal bezwingt. Daraufhin hatte ihm das Schicksal ein besonderes Geschenk überlassen: den Zufall! Heute Morgen hatte die Pollux die Region Arakal erreicht, wo es sonst keine Menschen gab – und ausgerechnet hierher war Darren Hag gekommen. Yimak Groom war für seine langjährige Ausdauer und Unerschütterlichkeit belohnt worden, und das war nur gerecht, denn Gerechtigkeit war eine Tugend, die jedem gab, was ihm gehörte. Und Darren Hag gehörte ihm!
Während er sich ausmalte, was in Kürze geschehen würde, fauchte Groom vor Glück, und Dampf strömte aus seinen Gelenken. Gut gelaunt befahl er den Reinigungsgehilfen von Deck 3, Brock, zu sich. Groom erinnerte sich daran, dass dieser Mann ihm vor ein oder zwei Jahren auf die blank geputzten Schuhe gerotzt hatte. Versehentlich, wie der Idiot sich heulend entschuldigt hatte. Groom hatte ihm das Leben geschenkt. Seitdem war dieser Narr ihm hündisch ergeben.
Brock erschien vor Groom. Er stand stramm, die Hände an die Seiten gedrückt. Der fette Bauch schwabbelte über dem Gürtel, das feiste Kinn legte sich in mehrfache Falten. Schweiß rann Brock in die Augen und brachte seine Stirn zum Glänzen.
»Hallo, Brock«, säuselte Groom. »Geht es dir gut?«
»Ja, Meister Groom! Ja, mir geht es gut, sehr gut«, antwortete der Mann unterwürfig und dienerte.
»Liebst du dein Leben?«
»Ja, Meister Groom. Mein Leben ist ein schönes Leben, Meister!« Die Verbeugungen nahmen kein Ende.
»Das weiß ich, mein Freund. Also …« Groom lächelte und wies über die Reling nach unten. »Spring!«
Brock riss die Augen auf. Sein Körper bebte vor Angst.
Feiger Wackelpudding!, dachte Groom verächtlich und wiederholte seinen Befehl. »Spring!«
Das Gesicht des Mannes wurde von Röte überzogen, zwischen seinen Beinen färbte sich die Uniform dunkel.
»Aller Tod ist Geburt«, schnurrte Groom. »Und Tod bedeutet Freiheit.«
Brocks Jacke war von Angst durchtränkt, als habe man einen Eimer Wasser über ihm ausgegossen. Ein Klagelaut quälte sich aus dem mächtigen Brustkorb. »Nein, Meister, bitte nicht!«
»Spring«, befahl Groom sanft, wie ein Kätzchen. Wie immer wehrten diese Narren sich vor dem Unausweichlichen. Wie immer hatten sie nicht den Hauch einer Chance. »Du hast dein Leben lang auf etwas gehofft, mein lieber Brock! Nun knüpfe neue Hoffnungen an den Tod.«
Brock stakste schlotternd zur Reling. Die Pollux flog mehrere hundert Meter hoch.
»Ha, wie er mundet. Der Geschmack des Todes auf meiner Zunge …«, flüsterte Groom. »Ich fühle etwas, das nicht von dieser Welt ist.«
Brock hob ein Bein über die Reling. Eine Bö erfasste seine Jacke und riss sie hinten hoch. »Nein … bitte, nein …«, winselte der massige Mann.
Warum nur kommt es ihnen nie in den Sinn, sich zu wehren? Warum lassen sie es zu?, fragte sich Groom nicht zum ersten Mal. Immer wieder ließ er Untergebene auf diese Weise in den Tod springen. Das war wichtig, um seine Position als Meister der Pollux zu festigen. Nur, solange er stark war, würden sie ihm gehorchen, vor allem die Söldner. Nie hatte jemand ernsthaft aufbegehrt oder eine Meuterei angezettelt. »Noch keinen sah ich fröhlich enden«, sinnierte Groom. »Könnte es bei dir nicht anders sein?«
»Meister, verlangt es nicht von mir! Nicht das!«
»Das Leben ist nur ein Moment, und ebenso der Tod«, lächelte Groom.
Brock weinte wie ein kleines Kind und bettelte um sein Leben.
»Es ist wie schlafen, mein Großer«, sagte Groom freundlich. »Wie schlafen, glaub mir!« Gerade wollte er sich großherzig geben und seinen Befehl widerrufen, um zu genießen, wie Brock dankbar vor ihm auf die Knie sank. Er wollte sich feiern lassen als gnädiger Meister, doch da gab Brock auf und ließ sich fallen. Ohne einen Laut verschwand er in die Tiefe.
Idiot, dachte Groom und wandte sich seinem neuen Ziel zu. Darren Hag würde ohne Zweifel länger durchhalten. Und seine Schuld bezahlen.
Wie hatte Epistol, jener Philosoph, der von sich behauptete, der geistige Vater aller Lumini zu sein, gesagt? Wehe dem, der durch die Schuld zur Wahrheit geht! Sie wird ihn nicht erfreuen.
Groom kicherte in steigender Vorfreude. Ich bin der Vater der Gewissheit! Ich bin die Hoffnung der Rechtschaffenheit! Ich zeige dir die Wahrheit, Darren Hag, bevor auch du stirbst.
Über der Ebene verdunkelten sich die Sonnen. Der in ferner Vergangenheit an manchen Stellen geschmolzene Sand reflektierte wie Glas, in dem sich die Baumreihen spiegelten. Rote Wolkenfinger zeigten vom Himmel auf den Boden, gigantische Formationen glühten wie Kaminfeuer, derbe Farbschichten, als habe ein wirrer Geist mit den Fingern in Farbpfützen gerührt. Der Himmel schien den Geruch von Fäulnis anzunehmen. Wasser rauschte irgendwo, und der Duft holziger Gewürze überlagerte optimistisch das Dunstbild des Unnatürlichen.
Etwas war anders – lag es an den bizarren Farben, die sich am Himmel bildeten, an dem scharfen Leuchten, das über den Himmel irrlichterte wie ein unhörbares Gewitter?
Das nahm Seiya wahr. Ihre Muskeln schmerzten, der Schädel pochte, und sie fror.
Der Traum war unheimlich gewesen. Folter, Schmerz, Tod! Etwas Glitschiges, das sie umfasst hielt. Es war ihr gewesen, als müsse sie Schleim würgen. Das Gesicht eines Insektoiden. Tausend Tentakel, die sich in ihre Haut bohrten. Und dann das Ende. Es war dunkel um sie herum geworden. Nur noch Leere.
Sagte man nicht, dass der Tod im Traum gleichzeitig den realen Tod nach sich zog? War dies schon die nächste Welt? Hatte sie das letzte Tor durchschritten?
Die Prinzessin setzte sich stöhnend auf und fuhr sich durch das strähnige schwarze Haar. Nein, tot war sie nicht, stellte sie nüchtern fest. Sie war schlichtweg aufgewacht.
Sie erkannte die drei Sonnen, und den dunkel glühenden Fathom über sich, auch wenn der Himmel selbst seltsam … verrückt wirkte. Aber warum sollte sie nach ihrem Tod ausgerechnet nach Less zurückkehren, wenn es so viele andere Möglichkeiten gab? Das wäre unsinnig. Also war es tatsächlich nur ein intensiver, sehr erschrekkender Traum gewesen, verbunden mit Schmerzen, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatten wie hungrige Tiere; Schmerzen, die ihr seltsam vertraut waren.
Ich bin Prinzessin Seiya! Ich lebe in einem Schloss. Es geht mir gut.
Nein. Ich lebte in einem Schloss. Sie schüttelte den letzten Rest Schlaf ab. Das war Vergangenheit. Die Gegenwart bedrängte sie nun erbarmungslos und sie zerbrach sich den Kopf, suchte nach Erinnerungsfetzen, wie sie hierher gekommen waren – Darren und sie.
Es hatte einen Streit gegeben, kroch es düster aus der Tiefe nach oben. As’mala war verschwunden, Shanija aber wollte sofort weiter zum Meer, zur Urmutter, um Less zu verlassen.
Man lässt einen Freund nicht im Stich!, hatte Darren gesagt. Darren, der sich in Shanija verliebt hatte.
Es geht um Milliarden Menschen, hatte Shanija entgegnet.
Wütend und ohne Abschied waren Darren und Seiya aufgebrochen, um nach der Freundin zu suchen. Mun war an Shanijas Seite geblieben. Das hatte Seiya mehr als alles andere verletzt, weil sie dachte, dem Adepten näher gekommen zu sein.
Dummes, romantisches Prinzesschen! Durst und Erschöpfung mischten sich mit Trauer. Seiya ermahnte sich zur Ruhe. Darren! Wo ist Darren? Er hatte eben noch neben ihr gelegen, und nun …
»Mpf«, hörte sie ein Grunzen hinter sich. Sie fuhr herum. Darren hatte sich auf die Beine gekämpft. Die blonden Haare fielen ihm ins markante Gesicht. Die grauen Augen waren verhangen, der Rücken gebeugt. Als trage er den Boten des nahenden Todes auf seinen Schultern. Ein Schatten lag über seiner Aura. Seiya hatte schon Männer mit dieser Ausstrahlung gesehen. Männer, die in der Mandiranei zu langen Strafen verurteilt worden waren. Männer, die bei Vaters Archno-Spielen sterben würden. Sie fröstelte und rieb sich die Unterarme. »Ich bin ein freier Mann«, hatte er kürzlich gesagt. »Für mich gibt es nur eine Philosophie: Die des freien Willens. Ich habe die Macht der Entscheidung. Ich nutze sie und stehe verantwortlich dazu.« Seine Augen blitzten dabei, ein Mundwinkel war spöttisch hochgezogen. »Konventionen sind etwas für Kleingeister.«
»Verdammt!«, knurrte Darren jetzt. »Wo sind wir?«
Seiya seufzte. »Keine Ahnung.«
»Und wie sind wir hierher gekommen? Ich kann mich kaum erinnern …« Seine Stirn legte sich grübelnd in Falten. »Wir waren in irgendeiner Stadt, dann gab es eine Explosion … und etwas zerriss mich, schleuderte mich weg …«
»Ich bin im Traum gestorben«, sagte Seiya.
Darren fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Ja …«
»Was meinst du mit: ›ja‹?«
»Mir ging es ebenso. Was ist nur passiert? Auf einmal bin ich hier, kotze in den Sand wie ein Besoffener, meine Knochen schmerzen und der Himmel über uns ist durchgedreht. So ein Farbgewitter habe ich noch nie gesehen.«
»Ich glaube, wir sind in eine Teleport-Explosion geraten, Darren. Ich erinnere mich jetzt, wir wollten einen psibiomechanischen Transport wagen, aber irgendetwas ging schief … und die Schmerzen waren unerträglich.«
»Das kannst du laut sagen. Immerhin sind wir nicht nackt, wie es bei einem reinen Bioteleport passiert wäre …«
Ein heller Schrei unterbrach sie. Zwischen den gigantischen Bäumen huschten Schatten.
»Wir müssen das Rätselraten auf später verschieben«, sagte Darren.
Der Schrei wurde so laut, dass im rötlichen Licht ein erschreckter Schwarm Vögel über die Baumwipfel aufstieg.
Sie schlichen über den flachen Sand, weg von den kristallisierten Formationen auf die monotone Baumreihe zu. Eine Wand aus Holz. Bäume, groß wie Türme, und völlig gerade gewachsen. Nur ganz oben gab es Blätter. Ein grünes, dichtes Dach ruhte auf hohen aufrechten Stelzen.
Die beiden Menschen gingen hinter einem Baumstamm in Dekkung und schauten sich vorsichtig um. Seiya stockte der Atem. Zwischen den Bäumen bewegte sich ein Crocker. Er sah genauso aus wie im Lehrbuch. Schneller als ein Legispanther, die Zähne bissen durch jedes Material, die lange Zunge fasste Beute, ohne dass der Räuber seine Deckung verlassen musste. Aus faustgroßen Poren quoll ununterbrochen süßlich stinkender Schleim. Das dreiäugige Tier war doppelt so hoch wie ein Pferd und trug etwas zwischen den blitzenden Zähnen – ein Bein. An dem Bein hing kopfunter ein dickliches Kind, das zappelte und jämmerlich schrie. Schleim tropfte über die breite kantige Nase hinunter auf die Latzhose des Kindes, in die Hosenbeine.
Der Crocker hockte sich auf das schwanzlose Hinterteil und ließ seine Beute fallen. Zuerst rollte das Kind sich zusammen, dann sprang es auf und wollte weglaufen. Das Raubtier hielt es mit einer Pranke fest und stupste es mit der Schnauze an. Die herausragenden Zähne waren halb so lang wie das heulende Kind, das versuchte, sich zu befreien.
Darren rannte an Seiya vorbei, in der Hand eine kurze Klinge aus Kreischerstahl.
Der massige Schädel des Crocker drehte sich zu dem Mann um. Grunzend erhob sich das Tier, wackelte mit dem Hinterteil und offenbarte plötzlich eine erschreckende Kraft und Geschwindigkeit. Blätter und Waldboden spritzten hoch, als es herumwirbelte; Seiya konnte den Bewegungen des Raubtiers kaum folgen. Auf der Brust des Crocker schwoll der Kampfkamm, ein grüner Fächer, der gleichsam als Schild wirkte, auch gegen Pistolenkugeln.
Darren duckte sich. »Lauf!«, schrie er dem Kind zu. Das dachte jetzt allerdings nicht mehr daran, und hob, augenscheinlich durch die unerwartete Verstärkung tollkühn geworden, einen dicken Ast auf und schleuderte ihn auf den Crocker. Der Wurf war präzise und hart ausgeführt. Das Tier schnellte herum und seine Zunge rollte sich aus. Sie zischte wie eine Peitsche nach vorn, schnalzte wieder zurück zwischen die Zähne und schoss erneut hervor. Das Kind rannte im Zickzack vor ihm her, was Seiya ihm wegen seiner Leibesfülle gar nicht zugetraut hätte, und trat dann mit aller Kraft auf die Zunge. Der Crocker spie klebrige Fäden und zog die Zunge zurück. Das Kind verlor das Gleichgewicht, fing sich jedoch schnell.
Inzwischen war Darren heran und stieß dem Tier das Messer in die Ferse. Der Crocker brüllte vor Schmerz auf und griff Darren an, der hakenschlagend vor ihm herlief.
Seiya entschloss sich, einzugreifen. Wir müssen es verunsichern, damit das Mistvieh sich auf keinen von uns konzentrieren kann! Sie sprang lärmend zwischen den Bäumen hervor, um den Crocker abzulenken.
Der Waldboden bebte unter den dreikralligen Füßen, als das Raubtier sich tatsächlich der Prinzessin zuwandte, und sie ging hastig in Deckung. Nur eine Handbreit über ihr klatschte die Zunge gegen die Rinde und wickelte sich um den Stamm. Ein widerlicher Gestank ging von dem mit Widerhaken übersäten Greiforgan aus.
Darren hechtete hinterher und rammte erneut das Messer in die Fußsehne des Raubtiers. Die Zunge fräste Baumrinde vom Stamm, die in alle Richtungen splitterte, als der Crocker schmerzgepeinigt einknickte. Zornig brummend nahm er gegen Darren Angriffsposition ein. Darren machte sich bereit, das Messer in der rechten Hand. Sein Gesicht war konzentriert. Eine falsche Bewegung, eine unachtsame Reaktion, und die Zunge spießte ihn auf.
Aus ihrer Deckung sah Seiya, wie sich das Kind von rechts anschlich. Entsetzt wollte sie es aufhalten, zu sich rufen, aber das hätte den Crocker nur auf sie beide gelenkt.
Der Crocker atmete schwer. Aus seiner Ferse strömte Blut, das verletzte Bein zitterte.
Seiya wagte es, sich hinter dem Baum vorzuschieben, und winkte warnend. Das Kind schlich weiter auf das Raubtier zu, hielt mühelos einen Stein in der Hand, größer als sein eigener Kopf. Die Prinzessin stockte verwundert.
Der Crocker beobachtete Darren lauernd. Seine Muskeln spannten sich unter der grünen Haut.
Für einen kurzen Moment schien alles erstarrt und lautlos. Dann explodierte die Stille.
Die Zunge des Crockers schoss knallend vor. Im selben Moment wich Darren zur Seite und hieb die Klinge in das rote Fleisch, riss eine tiefe Wunde. Das Kind holte weit aus und schleuderte den Stein in das mittlere Auge des Raubtiers. Der Crocker bäumte sich brüllend auf, Blut spritzte an die Bäume. Der klobige Schädel pendelte hin und her. Keuchend durchtrennte Darren mit dem dritten Hieb die Sehne. Das riesige Tier knickte ein, zog sich jedoch mit den Vorderbeinen vorwärts, das Maul schnappte auf und zu, die zerfetzte Zunge baumelte nutzlos. Während das Kind den schweren Stein ein weiteres Mal auf den Crocker schleuderte, sprang ihm Darren in den Nacken und trieb ihm das Messer hinein.
Der Crocker schüttelte sich stöhnend, sein Kampfkamm faltete sich zusammen. Er knickte vorne ein, Blätter und Staub wirbelten auf. Blut ergoss sich wie ein Sturzbach aus dem Maul, dann brach er tot zusammen.
Seiya lief auf Darren zu, der leicht gebückt dastand, erschöpft die Hände auf die Oberschenkel gestützt. »Alles in Ordnung?«
Er nickte schwer atmend und wandte den Kopf, als das Kind auf sie zukam. Die Prinzessin riss die Augen auf, als sie sah, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
Ein runder Kopf, ein stämmiger Hals, breite Schultern, muskulöse Arme, ausgeprägte Brüste. Es war eine zwergenwüchsige Frau! Sie war fast so breit wie hoch, die Haut rosarot. Sie fuhr sich durch die schwarzen Haare, wobei ihre abstehenden Ohren leicht wackelten. Ihre Nase war kurz und stumpf, mit ausgeprägten Öffnungen. Die Mundwinkel der Zwergenwüchsigen zogen sich nach oben. »Danke! Das war knapp!«
»Kann man wohl sagen«, sagte Seiya verdutzt.
»Du bist ziemlich stark, Kleine«, stellte Darren fest, der sich sichtlich erholte und sich aufrichtete.
Die kleine Frau musterte den großen Mann eindringlich und stemmte die Arme in die Seiten. »Und ihr seid ziemlich schnell. Wo kommt ihr auf einmal her? Wer seid ihr?«
»Ich bin Darren, und ich habe keine Ahnung, wie wir hierher gekommen sind«, antwortete er und wies auf seine Begleiterin. »Das ist Prinzessin Seiya aus der Mandiranei. Wir sind gerade hier eingetroffen und auf der Suche nach einer Freundin von uns – blond, mit seltsamer Zopffrisur, eine gute Kämpferin. Sie heißt As’mala.«
»Tut mir leid, es ist kein weiterer Mensch hier durchgekommen«, antwortete die stämmige Kleinwüchsige.
Seiya machte ein enttäuschtes Gesicht. »Das wäre auch zu einfach gewesen.«
»Wo befinden wir uns?«, wollte Darren wissen.
»Das hier ist die Ebene von Arakal. Ich heiße übrigens B-ama.« Sie sprach ihren Namen mit einem seltsamen Schnalz- und Klicklaut aus, der für die beiden Menschen unaussprechlich war. B-ama amüsierte sich über ihre vergeblichen Versuche, bevor sie fortfuhr: »Zum Glück verirren sich Crocker sehr selten hierher, es gibt nicht viele von ihnen. Wenn unsere Männer die Wareiken pflücken, haben sie trotzdem immer Waffen dabei.«
»Und warum bist du allein hier unterwegs?«, fragte Darren.
»Ich wollte meinen ungezogenen Sohn treffen.«
Im selben Moment surrte es über ihren Köpfen. Die Luft vibrierte, öliger Dampf senkte sich herab. Ein riesiger Schatten verdunkelte den Wald.
Und er verdunkelte die Seelen von Seiya und Darren.
Sie fielen schlafend zu Boden und träumten den Tod.
Seitdem Yimak Groom die Gabe des Kontaktes beherrschte, war es ihm ein Leichtes, in die innersten Gedanken anderer Wesen einzudringen. Er erinnerte sich an das erste Mal, an den Schrecken, den er empfunden hatte, als er durch die Augen eines Wolfes geträumt hatte. Er hatte den süßen Geschmack des Todes auf seiner Zunge gespürt, seine Zähne in den Rücken einer Riddelschlange geschlagen, hatte das süße, für ihn ungefährliche Gift der Kreatur geschluckt, genossen, gerissen und gefressen. Später, als er sich mit seiner Zunge die blutige Schnauze sauber leckte, konnte er, Groom, den Traum bereits kontrollieren. Er fühlte sich satt und euphorisch. Trabte auf weichen Pfoten über die Felsen. Es war ein guter Körper. Voller Kraft und Energie. Besser als sein eigener, geschundener Maschinenleib. Der Groomwolf war zu seiner Höhle gelaufen, ein guter Platz für viele Welpen. Dort bestieg er die Wölfin und wollte nicht mehr aufhören zu stoßen, und ihr geiles Heulen bereitete den Monden von Less soviel Furcht, dass sie sich hinter schwarzen Wolken versteckten.
Groom machte es sich in seinem Sessel bequem. Im Kamin züngelten kleine Flammen, obwohl draußen Temperaturen um die 20 Grad herrschten. Die Flammen warfen zitternde Schatten auf die Rücken der vielen Bücher, die die ganze rechte Wand bedeckten wie ein Mosaik des Wissens.
Auf dem Schreibpult lag Papier, eine Feder steckte im Tintenfass. Der weiche Teppich dämmte die Geräusche des Dampfkessels, der die Pollux fortwährend in der Luft hielt, abgesehen von jenen wenigen Tagen, an denen sie Nachschub an Brennholz aufnahm. Früher, als Groom noch Kohle benutzte, hatte er einmal in der Woche Nachschub gebraucht. Seitdem in den Kesseln der Pollux das harte Holz der Wareiken verbrannt wurde, mussten sie nur noch alle vier bis sechs Wochen landen.
Groom hasste Landungen. Er verabscheute den Erdboden. Dort unten lauerte das Böse, da gab es nur Drangsal und Schmutz. Warum sollte er also hinunter? Um mit irgendjemandem Worthülsen zu tauschen? Seitdem er in Träumen hauste, kam ihm das gesprochene Wort sinnlos vor. Wer redete, dachte zu wenig und machte Fehler! Mich dünkt, ich seh einen Chor von hunderttausend Narren sprechen!, zitierte er im Geiste Asogal, den Weisen aus der Höhle. Groom liebte die innere Sprache.
Er wusste, wie dunkel die Seelen nicht nur der Menschen, sondern aller Wesen waren, und empfand ein Lächeln als zähnefletschenden Angriff. Er hatte diesen finsteren Kosmos betreten und wähnte sich als Entdecker der Wahrheit, als jemand, der erkannt hatte, wie die Innenwelt beschaffen war. Im Grunde waren sie doch alle dort unten auf dem Boden eine verlogene Masse Fleisch, nur darauf aus, dem anderen zu schaden und daraus Vorteile für sich zu ziehen. Groom wusste, dass es Menschen gab, die nur deshalb logen, um zu lügen.
Besonders genoss Yimak Groom es, wenn sie von ihm träumten. Sie stellten sich ihn in allen möglichen Variationen und Formen vor und fürchteten sich vor ihm. Einmal hatte ein Träumender ihm die Gestalt eines Feuer speienden Drachen erträumt. Es hatte Groom eine morbide Form sexueller Lust bereitet, diesen Traum zu beeinflussen, zu verlängern, und bis zu dessen schmerzendem Ende zu führen.
Im Äther wehte immerfort eine frische Brise, die Luft war sauber, und alle Gedanken waren klar. Der Geruch anderer Wesen, ihr Schweiß, ihre Ausscheidungen, die intensiven Dünste der Lust – all das existierte in der Höhe nicht. Lediglich der Geruch von Blut lag manchmal wie ein süßer Odem über der Pollux – aber der störte Groom nicht, im Gegenteil. Manchmal genoss er ihn geradezu.
Auf seinem Flugschiff fühlte Groom sich sicher. Hier war er Herr seiner selbst. Nur hin und wieder sank er soweit ab, dass seine Schergen, die Groomer mit den knatternden Dampern, den Boden erreichten. Groom hatte selbst die Damper konstruiert, und zusammen mit den Groomern verbreiteten sie Angst und Schrecken, im Auftrag des Meisters. Sie brachten ihm die neuen Hymnen des Dichters Asogal, der unten in der Höhle lebte, und andere Dinge, die der Despot neben dem Holz von den kleinwüchsigen Dorfbewohnern mit der unaussprechlichen Eigenbezeichnung B-arbs forderte.
Groom liebte vor allem die Literatur und großen Texte des Einsiedlers, dessen Ziel es war, den Grund dafür zu suchen, was die Welt im Innersten zusammenhielt.
War es der Schmerz? Die Liebe?
Schmerz kannte Groom, die Liebe nicht. Nicht mehr …
Was also hielt die Welt zusammen?
Bisweilen wäre Groom gern selbst in die Höhle gegangen und hätte sich mit Asogal zusammengesetzt. Mit ihm diskutiert. Ihn ausgefragt. Mehr erfahren über jenen anderen Besucher, über den Asogal in seinen Texten sprach, eine mysteriöse Gestalt mit Hörnern, mittels deren Hilfe der Dichter absonderliche Gedankenreisen unternahm. Der Gehörnte sei, so beschrieb ihn Asogal, ein Geist, der stets verneinte!
Eine wunderbare Charakterisierung, fand Groom. Vielleicht würde er in diesem Gehörnten einen Seelenverwandten finden?
Stets verneinte auch er. Er sollte sich endlich überwinden und Asogal in den nächsten Tagen zwingen, in der Höhle ein Treffen mit dem Gehörnten zu arrangieren.
Er schloss seine Augen, um sich an den Alpträumen derer da unten zu ergötzen, allen voran von Darren und der jungen, edel aussehenden Frau, die sich im Traum selbst als Seiya bezeichnete. Er schickte ihnen puren Horror in die Träume und verwandelte sie in zuckende, winselnde, schwitzende Wesen. Armselige Kreaturen im Taumel der Verständnislosigkeit mit einem unumstößlichen Finale – dem Tod! Immer wieder starben sie. Starben und starben und fürchteten sich und starben.
Leider gab es in letzter Zeit häufiger als sonst Schwankungen im Kontakt. Grooms Gabe wurde unberechenbar, ebenso wie der Himmel über ihm. Als habe ein unkontrollierter Wahnsinn sich des Kontaktes bedient. War es etwa seine eigene Umnachtung, die sich in den Störungen spiegelte? Welch grotesker Gedanke!
Der Sinn des Denkens ist die Frage hinter der Antwort, manchmal auch die Frage hinter der Frage.
Genug gefragt für heute! Schluss mit diesem Selbstgespräch der Seele!
Groom bändigte seinen Zorn, indem er sich Darren Hags Tod vorstellte. Wenn es soweit ist, wenn du weißt, dass du nicht mehr träumst, wird dich die Furcht wahnsinnig machen, Darren Hag! Und du hast es verdient!
Asogal schrieb: Ach neige, du Schmerzensreicher, dein Antlitz gnädig meiner Not. Groom schloss die Augen und sog die Worte des Dichters ein wie ein gutes Getränk, wie einen herben Duft, eine streichelnde Hand. Dampf stieg aus seiner Nackenhydraulik.
Er beugte seinen Kopf nach unten und legte den Überrest seiner Nase zwischen die Seiten in den Bund eines Buches. Keines, in dem er las, sondern eines, das er inhalierte. Farbe und Papier, Alter und Staub, Leder und Geschichte. Die richtige Stelle im Bund, wenn das Buch noch halb geschlossen war, ein warmer Hauch über die Unterlippe, die Strömung in die Sinneshaare der Nasenwand gesogen, wieder eingefangen – das war der Duft von kluger Literatur. Dummes Geschwätz stank.
Im Kamin knackte ein Scheit.
Hatte nicht Epistol vorausgesetzt, es seien jene die Mutigsten, die bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien erlebten?
O ja – eine schmerzhafte Tragödie hatte Groom erlebt. In dieser Hinsicht hatte Epistol recht gehabt. Der Dichter hatte außerdem gesagt, dass genau jene Menschen deshalb das Leben ehrten, weil es ihnen seine größte Gegnerschaft entgegenstellte.
Das gefiel Groom.
Aber ehrte er denn das Leben? Oder gehörte er der Spezies der Lebenden nur noch marginal an, als bizarre Karikatur?
Nein. Solange seine Suche einen Sinn hatte, ehrte er seinen Gegner, das Leben. Solange er die letzten Antworten noch nicht hatte, hatte alles seine Richtigkeit.
Er musste Darren Hag jene Frage stellen, die ihn seit langer Zeit umtrieb. Nur der Sohn von Earl Hag kannte die Antwort. Dann würde er sich entscheiden. Den Schuldigen zu schonen war Grausamkeit gegenüber dem Unschuldigen.
Yimak Groom würde dieses eine Mal nicht grausam sein.
Als Seiya erwachte, schmerzte ihr ganzer Körper. Ihre verkrampften Muskeln hatten sich verhärtet. Die Augen brannten.
Das federweiche Oberbett duftete nach frischem Heu und spendete Trost. Das Fenster der Kammer war geöffnet. Vögel zwitscherten.
Die Prinzessin hob den Kopf und ihr Blick wanderte über die blitzsaubere Inneneinrichtung. Einfache Möbel aus dunklem Holz. Handgewebte Teppiche, auf der Kommode eine Wasserschüssel und ein Krug. Vor dem Fernster bewegten sich bunte Vorhänge in der Brise, die einen milden Tag verhieß. Auf dem Fensterbrett stand ein Strauß mit gelben Blumen.
Ein schöner Tag!
Seiya seufzte und ließ den Kopf zurück ins weiche Kissen sinken. Hier drin war es himmlisch. Nichts deutete auf den grausigen Traum hin, der sie im Griff gehabt hatte. Der zweite innerhalb kurzer Zeit. Wieso geschah das mit ihr? Was hatte dazu geführt, dass sie aus heiterem Himmel bewusstlos geworden war, in einen Alptraum geschleudert wurde wie ein abgenagter Hühnerschenkel in ein Kaminfeuer?
Sie erinnerte sich an das Surren über sich, an den Schatten, der sich über den Wald gelegt hatte, an den Geruch von verbranntem Holz. Dann hatten die Beine unter ihr nachgegeben und weiches Moos ihren Fall gedämpft. Das Aroma faulender Blätter drang in ihre Nase. Danach war alles wie ausgelöscht. Nur das unvorstellbar grauenhafte Erleben ihres eigenen Todes war noch präsent. In ihrem Hinterkopf meinte sie, eine höhnische Stimme zu hören. Seiya träumte, zu töten. Badete in Blut. Irgendetwas in ihr wisperte, dies sei mehr Erinnerung als Traum. Manchmal hatte sie das Gefühl, jemand habe sie durch den Traum geleitet, ihre Hand genommen und sie gegen ihren Willen an die düstersten Stellen geführt. Wie ein Kind war sie sich vorgekommen, das sich im Wald verlaufen hatte. Dann war alles schwarz geworden und hämisches Lachen hallte aus der Dunkelheit. Kein Trost, keine Wärme, keine Hoffnung.
Ein Todestraum.
Tentakel, die sich in ihre Haut bohren. Große Insektenaugen, die sie anstarren und zu verschlingen scheinen, aushöhlen und leeren, bis sie greint wie eine Irre. Und in der Nähe der Schlund, dem Seiya nicht entgehen kann. Krallen, die sich in ihr Fleisch schlagen, Schmerzen, und dann … das Gesicht von Mun. Sein haarloser Kopf, die gütigen Augen. Er will sie festhalten, streckt die Finger nach ihr aus; und dann, sein nackter Körper, sein Geschlecht, groß und fordernd. Erneut wird Seiya vorwärtsgetrieben, weg von Mun, und Hautfetzen reißen von ihrem Rücken, hastig gefressen von Kreaturen, die dankbar schmatzend über ihr Fleisch herfallen, und dann auf knochigen Beinen, taumelnd wie Tote,
es sind Tote!,
hinter ihr herjagen,
mehr Fleisch! Mehr!,
und ihr Atem geht schwer, ihre Brust ist wie eingeschnürt. Brennende, kreischende Schmerzen, überall in ihrem Körper, besonders dort, wo die Wirbelsäule weißknochig und schutzlos den fransigen Klauen der Verfolger ausgeliefert ist, Tränen fließen ihr in den Mund wie ein salziger Bach, und ihre Stimme ist nur noch ein trokkenes Röcheln
helft mir! Helft mir!
Dabei dringt kein Wort über ihre rissigen Lippen.
Der Schlund ist vor ihr, während ihre Füße in schleimigen Gedärmen versinken, die sich wie lüsterne Schlangen um ihre Fesseln schlingen, an ihren Beinen emporzüngeln wollen, immer höher, um einzutauschen und sich zu laben …
Beim Monolithen – wann nimmt dieser Traum ein Ende?
Dies ist kein Traum …
… sondern Wirklichkeit!,
und sie stürzt und fällt
… stirbt …
und erwacht.
Genug erinnert! Der Traum war vorüber. Die Sonne schien und das Bett war gemütlich. Dennoch klopfte Seiyas Herz wie ein Schmiedehammer.
Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Ein schwarzer Haarschopf schob sich zaghaft herein, eine knackige Nase, über der helle Äuglein blitzten wie Edelsteine. Der breite Mund öffnete sich zu einem herzlichen Lächeln. »Oh, wie schön!« B-ama klatschte in die Hände und stieß die Tür vollends auf. Ihre blaue Latzhose bildete einen fröhlichen Kontrast zu Sonnenschein, Blumen und poliertem Holz. »Du bist wach!«
»Grmmpf!«, war alles, was Seiya von sich geben konnte. Ihre Zunge klebte am Gaumen.
B-ama ging durch die Kammer zur Kommode. »Zum Waschen und Trinken! Kristallklar. Das beste Wasser.«
Sie schüttete einen Becher voll und reichte ihn Seiya. Endlich – sie war am verdursten! Seufzend richtete sie sich auf und leerte den Becher in einem Zug.
»Noch einen?«
»Ja, bitte, B-ama!« Seiya musste selbst lachen, als sie versuchte, den Namen richtig auszusprechen.
Die Zwergenwüchsige schenkte nach. »Willkommen bei den Barbs, meine Liebe. Das Morgenmahl ist fertig. Du und dein Gefährte, ihr habt lange geschlafen.«
»Er ist nicht mein Gefährte«, sagte Seiya irritiert.
B-ama legte den Kopf schief und grinste. »Doch, sicher. Sonst würdet ihr schließlich nicht vereint reisen und euch gemeinsam verlaufen, oder?«
»Nein, bei uns Menschen ist das anders. Dass Mann und Frau zusammen reisen, muss nicht bedeuten, dass sie auch zusammengehören. Wir sind nur Freunde. Darren hat eine andere Gefährtin.«
»Nur eine?« B-ama verdrehte die Äuglein und wackelte mit den Ohren. »Er sieht interessant aus, so groß und die breiten Schultern … ah, aber ich verstehe: Die Frau, die ihr sucht, das ist seine Gefährtin?«
»Nein. Das ist eine andere Freundin.«
»Das verstehe ich nicht.«
Seiya schwieg. Sie verstand auch nicht, was geschehen war. Der Streit und alles Weitere. Sie vermisste Shanija und Mun und empfand Schuld. So hätten sie niemals auseinandergehen dürfen.
»Ich habe deine Sachen repariert. Ich hoffe, du bist nicht böse, dass man die Nähte sieht, aber der Stoff ist sehr fein und meine Nadeln grob.« B-ama schlug schuldbewusst die Augen nieder.
»Aber nein!« Seiya sprang aus dem Bett. Sie musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf an die Zimmerdecke zu stoßen. »Wo kann ich mich waschen?«
»Es ist alles bereit. Deine Kleidung liegt dort auf dem Stuhl.« Bama musterte die nackte Prinzessin unverhohlen neugierig. Ihr Gesichtsausdruck war leicht zweifelnd; anscheinend war sie nicht sicher, ob ihr das Aussehen eines Menschen gefiel. »Ich warte unten auf dich.« Sie grinste und verließ die Kammer. Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.
Seiya reinigte sich ausgiebig und schlüpfte dann in die eng sitzende, dreiviertel lange Hose und die weichen Halbschuhe, schloss das tief ausgeschnittene Oberteil, das ihren zierlichen Bauchnabel frei ließ, und zog die Jacke aus Lederseide an. Staunend betrachtete sie sich im Spiegel. B-ama hatte schamlos übertrieben. Selbst Zwirnt, der Hofschneider der Mandiranei, hätte die Reparatur nicht besser hinbekommen.
Der Duft von gebratenen Eiern lockte die Prinzessin die Treppe hinunter.
Darren nuschelte ihr mit vollem Mund einen Gruß zu und lächelte. Obwohl sie ein gutes Stück kleiner als der Freund war, kam Seiya sich in diesem Haus und den kleinen Möbeln vor wie eine Riesin. B-ama trug die Eier auf. Milch wartete in einem Krug. Honig und frisch gebackenes Brot verbreiteten einen betörenden Geruch.
Erst essen, dann reden, entschied Seiya. Sollte Darren die Unterhaltung beginnen, er war ihr schließlich schon mindestens einen Teller voraus und nicht mehr so hungrig.
Gesättigt lehnte er sich kurz darauf zurück und wäre um Haaresbreite auf seinem Stühlchen umgekippt. B-ama lachte breit und hielt sich dabei den Bauch. Ihre Wangen glühten vor Begeisterung.
Darren fing sich und zwinkerte. »Also gut«, begann er. »Was ist hier los? Was ist mit uns geschehen, und was war das für ein riesiges Luftschiff?«
»Ich werde euch unsere Geschichte erzählen«, antwortete B-ama und setzte sich zu ihnen.
»Einst lebten wir als glückliches Volk von der Zucht der Wardonks«, begann die zwergenwüchsige Frau.
»Wardonks?«, warf Darren ein.