Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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E-Book-Ausgabe:

ISBN 978-3-89969-114-6

Copyright © 2011 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.

Print-Ausgabe:

2. Auflage 2011

ISBN 978-3-89969-060-6

Copyright © 2007 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Joana Brouwer

Schein und Sein

Heide von der Heide-Krimi

LOGO4.TIF PRINCIPAL VERLAG

Die Autorin

Joana Brouwer, Jahrgang 1951, wurde in der Grafschaft Bentheim geboren. Sie war einige Jahre im Schuldienst tätig und arbeitete danach in dem Architekturbüro ihres Mannes.

Sie ist die Mutter dreier erwachsener Kinder, hat drei Enkelkinder und lebt mit ihrem Mann in Nordhorn.

www.joana-brouwer.de

Ich weise darauf hin, dass Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen in dem Kriminalroman Schein und Sein rein zufällig wären und, falls bei der Lektüre entdeckt, der Fantasie des Lesers entspringen.



Ein herzliches Dankeschön an Dr. med. Ingo Barth, der Fragen beantwortete, die sich mir während der Recherche zu diesem Roman aus dem Fachbereich der Medizin stellten.

Mein Dank gilt ebenso meiner Lektorin Eddy Langer, den Pharmazeuten Andrea und Lars Steffgen und dem Polizeibeamten Eugen Swoboda.

Für Gerda,

Yannis, Adrian und Marie

Prolog

Mittwoch, den 19. Oktober 2005

Mallorca, Tramutana Gebirge

Beatrix und Georg Ostermann waren um sechs Uhr aufgestanden und hatten allein in dem großen Speisesaal des Hotels gefrühstückt. Er hatte eine verächtliche Bemerkung über die Urlauber gemacht, die in den Betten lagen und schliefen, statt ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Sie hatte ihm schweigend zugesehen, wie er mehrere Brotscheiben mit Butter bestrich, abwechselnd Schinken und Käse auflegte, zwischendurch bei der Bedienung nach Obst und Folie verlangte, das Brot in die Folie wickelte, ihr eine Hälfte des Proviants über den Tisch schob und seinen Anteil im eigenen Rucksack verstaute.

Seitdem sie verheiratet waren, gehörten der Skilanglauf in den ersten Wochen des Jahres, der Segeltörn im Sommer und der Wanderurlaub im Frühherbst zu einem festen Ritual.

Beatrix hatte diese Freizeitbeschäftigungen ebenso wenig infrage gestellt wie die fünfzehn Wanderregeln, die sich aus zehn Grundregeln und fünf persönlichen Statuten zusammensetzten.

Schon beim Aufstehen, als sie ihn unter der Dusche pfeifen hörte, war ihr der Gedanke gekommen, gegen eine seiner Grundregeln zu verstoßen, sich auf die andere Seite zu drehen, weiterzuschlafen, seine Anwesenheit zu ignorieren und den Tag ganz anders zu gestalten.

Hätte sie ihrem Wunsch nachgeben, würde sie jetzt nicht seit sechs Stunden hinter ihm herlaufen, auf allen vieren kriechen oder klettern, je nach der Beschaffenheit des Erdbodens unter ihren Füßen.

Sein aschblondes Haar war am Hinterkopf sehr licht geworden in den letzten fünfzehn Jahren, seine Schultern runder. Ab und zu blieb er unwillig stehen, drehte sich zu ihr um, schüttelte missbilligend den Kopf oder hob einen seiner langen Arme und trieb sie damit winkend zur Eile an.

Ihre rechte Ferse schmerzte seit mindestens einer halben Stunde, aber über die Blasen an ihrem Fuß wollte sie sich nicht beklagen. Schließlich hatte sie gegen eine der zehn Leitregeln verstoßen. Gegen die Regel Nummer eins meines Herrn, dachte sie spöttisch: ›Trage niemals auf einer längeren Wanderschaft neues Schuhwerk, Beatrix.‹

Vor vielen Jahren hatte er sie Bea genannt. Doch: ›Trage niemals auf einer längeren Wanderschaft neues Schuhwerk, Bea‹, war ganz und gar nicht eindrucksvoll. ›Bea‹ klang zu weich, zu zärtlich. Der Kosename stellte die Ernsthaftigkeit seiner Grundsätze infrage und ihm lag daran, dass seine Vorschriften nicht im Geringsten ins Wanken gerieten.

Obwohl der Verstoß gegen die Regel Nummer eins keine schmerzhaften Auswirkungen gezeigt hätte, wäre ER mit dem Statut zwölf gewissenhaft umgegangen, schoss es ihr durch den Kopf. Nummer zwölf besagte: ›Die Wanderroute bestimmen wir abwechselnd, Beatrix.‹ Heute war sein Routentag. ER hatte gewählt, ER hatte die Entfernung und die benötigte Zeit falsch eingeschätzt, ER hatte sich verirrt, ER war nicht in der Lage, die Karte und die Hinweise zu lesen. Wäre ER dazu imstande, säßen sie seit einer Stunde in ihrem Leihwagen und ihr Fuß würde sie nicht peinigen. Sie wollte augenblicklich gegen die Vorschrift dreizehn verstoßen, den Rucksack abstreifen, sich auf einen Felsvorsprung setzen und eine Pause einlegen.

Georg bemerkte erst nach einigen Minuten, dass sie ihm nicht länger folgte und machte seinem Unmut Luft: »Ich habe die Route ausgesucht und daher bestimme ich, wann wir eine Rast einlegen, Beatrix! Ich habe mir, genauso wenig wie du, vorstellen können, dass im Oktober auf Mallorca die Sonne in dieser unangenehmen mörderischen Weise brennt. Du hast in diesem Jahr das Urlaubsziel auserkoren. Ich wäre ohnehin lieber in die Schweizer Alpen gefahren.«

Die Bestimmung des Wandergebietes, Regel Nummer elf. »Abwechselnd, Beatrix. In dem einen Jahr du...«

Bla, Bla, Bla, du Wichtigtuer, spottete sie im Stillen, vernahm ihn sprechen und ignorierte das Gesagte.

Er hatte sich irgendwann angewöhnt, die letzten beiden Buchstaben ihres Rufnamens zu betonen und gab ihm damit einen harten Klang, der in ihren Ohren schmerzte. »Bea, die Beglückende, die mich Beglückende«, hatte er häufig geflüstert, nachdem sie sich geliebt hatten. Das war vor tausend Jahren gewesen.

Sie waren am Stausee Gorg Blau aufgebrochen. Er hatte eine Rundroute gewählt, die sie nach vier Stunden zu ihrem Ausgangspunkt zurückführen sollte. Wäre er nicht von ihr abgewichen, hätte er sich nicht verirrt, und sie meinte zu wissen, wo er den falschen Abzweig genommen hatte.

Sie war ihm vertrauensvoll gefolgt, obschon ihr aufgefallen war, dass die Himmelsrichtung auf keinen Fall stimmen konnte. Diesem Deppen mit seinen langen Beinen war sie heute das letzte Mal hinterhergetappt.

Die Ortschaft im Südwesten, auf der gegenüberliegenden Seite des Tals vor ihren Füßen, konnte nur Orient sein. In dem Dorf gab es ein Telefon, von dort aus würde sie sich ein Taxi bestellen und sich zu dem Hotel in Can Picafort fahren lassen.

Von ihrem Sitzplatz aus gewahrte sie die Serpentine, die sich wie ein schmales Band den Berg hinabschlängelte. Ein weißes Cabrio zeigte sich einen Moment lang auf der Fahrbahn, verschwand auf der kurvigen Bergstraße aus ihren Augen und tauchte eine kurze Weile später erneut auf.

Beneidenswert, sann sie, keine schmerzenden Füße in schweren Schuhen, kein verschwitztes T-Shirt, das an dem Oberkörper klebt, stattdessen ein sanfter Luftzug, der das Gesicht liebkost. Die nackten Füße in luftigen Sandalen, eine weiße Chiffonbluse, dazu einen kurz geschnittenen Rock.

Den nächsten Urlaub wollte sie allein verbringen. Nach Lust und Laune schlafen, schwimmen und wandern, wann es ihr beliebte. Bücher lesen, die sie mochte. In der Nacht an einer Bar sitzen, farbige Cocktails mit einem Schuss Alkohol trinken, sich ein schickes Cabrio mieten, ohne Ziel durch die Gegend fahren, geradeso wie die Frau in dem Fahrzeug auf der Serpentine. Es musste eine Fahrerin sein, die das Auto lenkte. Beatrix schloss es aus dem langen blonden Haar, das sich im Fahrtwind bewegte und aus dem bunten, großflächigen Schal, den sie wie eine Fahne flatternd hinter sich her zog.

Sie folgte dem Auto mit ihren Blicken, sah die Fahrerin die Kurven vorsichtig und langsam nehmen, ohne Eile hinter einem Hügel verschwinden und plötzlich, mit rasender Geschwindigkeit, abermals in ihrem Blickfeld auftauchen.

Beatrix hörte das Quietschen der Reifen und bemerkte gleichzeitig einen blauen Geländewagen dicht hinter der Stoßstange des Cabrios. Sie sprang mit klopfendem Herzen auf, starrte auf die Straße, beobachtete, wie der Geländewagen schneller fuhr und mit einem knirschenden Geräusch gegen das Heck des Cabrios stieß. Wiederholt, in fast gleichem Rhythmus, abbremsen, Gas geben, auffahren, rums.

Beatrix schrie den Namen ihres Mannes und zeigte auf die Straße. »Man bringt sie um! Man will sie in den Abgrund stoßen!«

Kaum dass sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, sah sie das Cabrio die Leitplanken durchbrechen. Es überschlug sich einmal und verschiedene bunte Gegenstände segelten durch die Luft. Sie nahm einen dumpfen Aufprall wahr, registrierte im selben Moment, dass der Geländewagen mit aufheulendem Motor davonfuhr.

»Gib mir das Fernglas, Georg! Gib mir auf der Stelle das Fernglas! Vielleicht gelingt es mir, das Nummernschild des blauen Fahrzeuges zu erkennen!«, schrie sie.

»Du bist verrückt«, hielt er ihr gleichmütig vor. »Das Glas liegt zuunterst in meinem Rucksack. Bis du es in den Händen hältst, ist der Wagen zu weit entfernt. Obendrein spinnst du! Ich habe keineswegs gesehen, dass sie von der Straße gedrängt wurde. Es war ein Unfall. Kein Wunder, wie die gerast ist. Komm endlich, Beatrix. Es ist ohnehin spät.«

»Du willst die Wanderung fortsetzen, als sei nichts Besonderes geschehen? Willst nicht bis zur Unfallstelle absteigen und dich vergewissern, ob Verletzte auf unsere Hilfe angewiesen sind?«, fragte sie entsetzt.

»Es ist nichts Besonderes geschehen. Auf den Straßen im Gebirge verunglücken täglich Menschen und kommen zu Tode.«

Sie hob ihren Rucksack auf, musterte ihren Mann ausgiebig, den schlaksigen Körper, das gerötete Gesicht, die spöttisch nach unten gezogenen Mundwinkel, das schüttere Haar, sein verschwitztes Oberhemd.

Er drehte ihr seinen Rücken entgegen und setzte sich rasch, mit weit ausholenden Schritten, in Bewegung.

»Beeile dich, Beatrix!«

Ich darf keine Zeit verlieren, beschloss sie. Jede Minute zählt, deswegen nehme ich nur das Wasser mit. Der Rucksack behindert mich, ohne Gepäck bewege ich mich schneller. Ich richte mich nach der Sonne und verlasse mich auf mein Gefühl. Die dicke hohe Steineiche dort hinten, nehme ich als Wegweiser. Das verunglückte Fahrzeug müsste dicht daneben liegen.

»Beatrix!«, brüllte er eine Weile später, als sie in entgegengesetzter Strecke den Abstieg in Angriff genommen hatte und sich rückwärts, die Hände am Boden, durch das dichte Unterholz nur mühsam abwärts bewegte.

»Wenn du nicht augenblicklich zurückkommst, will ich dich keinesfalls mehr wiedersehen, dann ist Schluss, Beatrix!«

Es ist seit Langem zu Ende, urteilte sie hoffnungslos, ich habe es nur nicht wahrhaben wollen.

Nach einiger Zeit, kurz bevor sie einen abschüssigen Trampelpfad entdeckte, erblickte sie ein Rettungsfahrzeug und einen Polizeiwagen auf der Serpentine. Das Wrack des Cabrios lag einige Meter unterhalb der Straße, mit der Fahrerseite an einen Baum gepresst.

Sie folgte dem Trampelpfad, kam jetzt schneller voran und wusste, als sie die, mit einem weißen Tuch verhüllte, angeschnallte Gestalt auf der Trage sah, die von zwei Männern bergauf transportiert wurde, dass die Frau, die sie vor kurzer Zeit um ihr Auto beneidet hatte, gestorben war.

Beatrix richtete ihren Blick fortan vor sich auf den Boden und vermied es hochzusehen. Sie entdeckte wenig später ein Päckchen vor ihren Füßen, eingewickelt in rosa Geschenkpapier und hob es auf. Mit einem schwarzfarbigen Filzstift hatte irgendjemand die Vorderseite, unterhalb der rosa Schleife mit ›Pia‹ beschriftet. Mit dem Päckchen in der Hand ging sie weiter, fand seitlich des Weges eine bunt gestreifte Basttasche, einen leeren Schuhkarton ohne Deckel, eine inhaltslose Einkaufstüte vom Kaufhaus El Corte Ingles und ein blaues Paket, wiederum mit einem Namen beschriftet. Sie bückte sich jedes Mal nach den Dingen der Toten vor oder neben sich und war bemüht, ihre Tränen zurückzuhalten, sobald sie einen Gegenstand anfasste.

Als sie die Serpentine endlich erreichte, waren der Polizei- und der Rettungswagen bereits fortgefahren. Beatrix legte die Basttasche neben der zerstörten Leitplanke auf den Boden, setzte sich auf die Straße, legte den Kopf auf ihre Knie und weinte.

Zur selben Zeit erhielt eine Patientin in einem privaten Hamburger Pflegeheim einen üppigen Strauß weißer Nelken.

1.

Freitag, den 28. April 2006

Lingen - Darme, im Emsland

»Pia hat uns heute einen neuen Reim beigebracht. Willst du ihn jetzt hören, Papa, oder erst wenn wir bei Mama sind?«, wollte Sophie wissen, als sie auf den Rücksitz seines Taxis krabbelte.

»Nein, verrate ihn mir später.« Richard Schlosser räusperte sich einige Male und versuchte, seiner Stimme einen unauffälligen Klang zu geben. »Du solltest abwarten.«

»Gut, wenn du es willst, warte ich, bis wir bei ihr sind. Fahren wir zuerst zu Mamas Garten und pflücken Blumen?«

»Ja, gelbe Butterblumen.«

»Pia sagt, sie heißen Löwenzahn, und wenn sie ausgeblüht sind, nennt man sie Pusteblumen. Das ist der Samen, der Wind verteilt ihn überall und im nächsten Jahr wachsen an den Stellen, wo er hinfällt, auch Löwenzähne und blühen gelb und werden eine Pusteblume und der Wind verteilt wieder den Samen und jedes Jahr so weiter und so weiter und so weiter und deshalb gibt es so viele Löwenzähne.«

»Löwenzahn«, korrigierte Richard Schlosser seine Tochter schmunzelnd.

»Viele Löwenzahn sind Löwenzähne. Guck mal, Papa. Pia winkt und lacht, du musst zurückwinken. Schade, dass sie nicht länger zu uns in den Kindergarten kommt. Sie sagt, ihr Praktikum ist zu Ende, aber sie will uns oft besuchen.«

Pia schaute Richard direkt an. Er erwiderte ihren Blick und hob grüßend den Arm. Sie trug eine weiße Jeans zu einem schwarzen Shirt. Das blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sah sehr jung aus.

Als er den Wagen wendete, bemerkte er, dass Pia sich mit Henrike von der Heide unterhielt.

»Pia spricht mit Neles Mama. Nele ist krank, Papa. Sie muss kotzen.«

»Sophie, bitte. Dieses Wort möchte ich nicht von dir hören.«

»Okay, okay. Ich sage das Wort ›kotzen‹ nicht noch einmal«, kicherte Sophie.

Eine Weile später sang sie nach ihrer eigenen Komposition: »Hier ruht schon lange Hermine Stange. Und Dieter Schrot ist auch schon tot.«

»›Hermine Stange‹ ist nicht der neu erlernte Reim!«

»Nein, nein, nein, das ist er nicht. Fahre unter, unter, unter den Schienen her und bis zum Kanal, Kanal, Kanal«, wies sie ihn summend an, als er in die Schüttorfer Straße einbog, durch das Gewerbegebiet fuhr und vor der Tischlerei den Wagen anhielt.

Richard stieg aus, öffnete seiner Tochter die Tür und zeigte auf den Löwenzahn, der sich dort, wo vor zwei Jahren eine gepflegte Rasenfläche war, ausgebreitet hatte. Sophie rannte los, kniete sich auf den gelben Teppich und pflückte eine Blüte nach der anderen ab.

»Löwenzähne und Petersilie, Suppenkraut wachsen in unserem Garten. Unser Ännchen ist die Braut. Will nicht länger warten. Hier wird Platz gemacht für die jungen Damen...«

Er umrundete die Halle, bis er vor dem Bürogebäude stand, legte den Kopf in den Nacken und bemerkte, dass man die Jalousien an den Fenstern der Wohnung heruntergelassen hatte. Efeu bedeckte die Stufen der Spindeltreppe, die zur Dachterrasse führte, in den oberen umlaufenden Pflanzkästen entdeckte er Brennnessel.

Als er die Treppe hinaufgestiegen war, fiel ihm auf, dass an dem großen Wohnzimmerfenster die Scheibe gesprungen war. Ein Riss zog sich, ausgehend von einem kleinen Loch, quer über die gesamte Länge der Glasfront. Er bückte sich und sammelte mehrere leere Bierflaschen ein, die auf dem Holzbelag des Bodens lagen. Weitere zerstörte Scheiben würden der ersten defekten folgen, darüber durfte er sich nicht ärgern. Das alles betraf ihn seit Langem nicht mehr.

Von der Frühstücksterrasse aus konnte er den Dortmund-Ems-Kanal sehen. Wegen der Aussicht hatte er seinerzeit für Bettina die kleine Sitzgruppe...

»Papa, Mamas Strauß ist fertig.«

Mit den Bierflaschen in den Händen stieg er die Treppe hinunter, warf im Vorbeigehen einen Blick in die leeren Büroräume und in die Werkstatt.

Die Maschinen hatte man zuerst abtransportiert, einige Tage später die Rechner, die Möbel... Bettina hatte geweint...

Sophie war in Bettinas ehemaligem Staudengarten fündig geworden. Sie drückte vier weiße Narzissen, drei gelbe Osterglocken und eine rote Tulpe zusammen mit Efeu und dem Löwenzahn an ihr Sweatshirt. Bald würden die Margeriten blühen und die ersten Rosen. Die Clematis würde sich mit dem Efeu den Platz an der Treppe streitig machen. Bettina hatte Margeriten geliebt. Sie hatte den Kletterrosen und der Clematis im Frühling den Weg frei gemacht, das Efeu kurz gehalten.

Er warf die Bierflaschen zu anderem Unrat, der sich um einen übervollen Mülleimer ausgebreitet hatte.

»Papa, komm endlich!«

Sophie hüpfte ungeduldig von einem Bein auf das andere. Ihre Haarspange hatte sich gelockert, mit jeder wippenden Bewegung ihres Kopfes rutschte sie weiter und fiel auf den Boden, als er vor ihr stand. Er hob sie auf, strich Sophies Haar glatt und hielt es mit der Spange im Nacken zusammen.

Oft war er erleichtert, dass sie keineswegs ihrer Mutter ähnelte, sondern seine blauen Augen und sein blondes Haar geerbt hatte. In ihrem Wesen glich sie Bettina ebenso wenig. Die Schwermut, die Bettina umgab, die er in ihrer Gegenwart allezeit gefühlt hatte, fehlte seiner Tochter und dafür war er dankbar.

»Geflochtenes Haar ist für dich geeigneter. Du bist zu zappelig, Sophie. Steig ein und schnall dich an.«

»Und nun zu Mama, vorher fährst du einen Kreis über den Platz.«

Als er die Runde drehte, wie sie es wünschte, erfassten seine Augen zweimal das großflächige Verkaufsschild, das auf Anweisung seiner Hausbank im vorletzten Sommer aufgestellt worden war, obwohl er nicht hinsehen wollte.

Der Parkplatz vor dem Waldfriedhof in Darme war ungenutzt, wie häufig um die Mittagszeit. Die freie Fläche vor dem Findling an der Eingangspforte hatte man mit Stiefmütterchen bepflanzt.

Beim Anblick der Blumen begann Sophie erneut zu singen: »Ringel, Ringel, Rose, schöne Aprikose, Veilchen und Vergissmeinnicht - alle Kinder setzen sich...«

Dieses beständige rhythmische Herunterbeten altmodischer Verse ging ihm an manchen Tagen auf die Nerven, an anderen wiederum amüsierte es ihn. Eines bewirkte es stets: Es ließ Bettina präsent sein. Sie hatte ihrer Tochter frühzeitig Abzählverse aufgesagt, ehe Sophie sprechen konnte, und seine Mutter unterstützte Sophies Interesse am reimen.

Die wöchentlichen Besuche an dem Grab seiner Frau waren für ihn zu einem festen Ritual geworden. Er holte Sophie am Freitagmittag vom Kindergarten ab, fuhr mit ihr zur Werkstatt und ließ sie in Bettinas ehemaligem Garten die Blumen abrupfen, die sie wünschte. Im Winter drückte er seiner Tochter eine Gartenschere in die Hand, damit sie von den immergrünen Gewächsen abschneiden konnte, die Bettina und er gesetzt hatten, ehe die Wohnung über dem Bürogebäude bezugsfertig war.

Sophie kannte den Weg zum Grab ihrer Mutter und rannte, so schnell sie konnte. Er ließ sich Zeit, schritt langsam über den breiten Hauptweg, wählte den Umweg an der Kapelle entlang und ging anschließend über mehrere schmale Graswege, die von Betonplatten eingesäumt wurden. Links und rechts der Wege, unterhalb der Baumkronen, waren die Gräber angeordnet. Das Familiengrab der Familie Schlosser befand sich auf dem hinteren Teil des Friedhofes.

Vor den beiden Gräbern setzte er sich auf die Holzbank, die seine Mutter gleich nach dem Tod seines Vaters hatte fertigen lassen und bemerkte, dass sie frische Blumen aufgestellt, den Kinderstrauß der vergangenen Woche bereits entsorgt und die leere Vase vorsorglich mit Wasser gefüllt hatte. Sophie stopfte ihren Strauß in das Gefäß und hockte sich vor die Grabstätte.

»Liebe Mama, ich singe den Reim, den Pia uns heute beigebracht hat, weil wir bald in die Schule kommen. Wir haben ihn lange geübt, damit ich ihn kann, wenn ich dich heute besuche, aber ich mach’s alleine, weil Nele nicht bei mir ist. Mit ihr zusammen ist es schöner.«

Sie erhob sich, stützte ihre Hände in der Taille ab, drehte sich und begann zu singen:

»Rote Kirschen ess ich gern,

schwarze noch viel lieber.

In die Schule geh ich gern,

alle Tage wieder.

Hier wird Platz gemacht,

für die jungen Damen.

Saß ein Kuckuck auf dem Dach,

kam der Regen, macht ihn nass,

kam der liebe Sonnenschein...«

Sie brach ab und blickte ihren Vater an. »Und wenn du singst: Dieser, dieser soll es sein, dann zeigst du mit dem Finger auf ein Kind, und das Kind, das du ausgesucht hast, fängt dann von vorne an mit: Rote Kirschen... Ich such mir oft Nele aus. Das ist schön, oder, Papa?«

»Ja, sehr schön, Sophie.«

»Mama hat es sicher nie vorher gehört und du auch nicht, meint Pia.«

Er stand auf und blickte auf den Naturstein mit dem Namen seines Vaters und seiner Frau. Sein Vater war mit 74 Jahren gestorben. Zwei Jahre vor Bettina. Der Tod und das Leben waren nicht zu trennen, und sein Vater war mehrere Jahre sehr krank gewesen. Bettina war nur dreißig Jahre alt geworden und sie war freiwillig aus dem Leben geschieden.

Der Konkurs seiner Firma war hart und Bettinas Suizid hatte ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Dem ungeachtet, er war ein Kämpfer und hatte sich nach ihrem Tod geschworen, die Verursacher seiner privaten und beruflichen Tragödie zur Rechenschaft zu ziehen.

»Die Oma wartet mit dem Essen auf uns, Sophie.«

»Fischfreitag... Fischers Fritz fischt frische Fische...«, rezitierte Sophie hinter seinem Rücken, als er zurück zu seinem Taxi ging.

Die Familie Ahlen soll es mir büßen, schwor er sich zum wiederholten Male. Dieses skrupellose Gesindel!

Als er in das ältere Wohngebiet abbog, sah er Kochs roten Peugeot vor dem Haus seiner Mutter stehen. Franz Koch hatte bereits als Buchhalter in der Firma gearbeitet, als Richard noch ein Kind war.

»Il-se Bil-se, kei-ner will-se. Kam Franz Koch, nahm se doch«, kommentierte Sophie, als sie das Fahrzeug erkannte.

»Heute möchte ich keinen weiteren Reim hören, Sophie!«

»Echt nich?«

»Nein!«

»Schade, vielleicht Onkel Franz oder Oma?«

»Geh ins Haus, danach ins Badezimmer, wasch dir die Hände und versuche keinen Spruch zu sagen.«

»Gut, heute keinen einzigen Reim mehr sagen und nach keinem fragen«, verulkte sie ihn. »Ich will erst schaukeln.«

Sie öffnete ihren Gurt und lief in den Garten.

Seine Mutter und Franz Koch saßen am Küchentisch, vor ihnen lag eine aufgeschlagene Tageszeitung.

»Die verlogene Ahlen-Sippschaft versammelt auf einem Foto«, begann Franz Koch das Gespräch, ohne Richards Begrüßung zu erwidern. Er wies auf eine zweiseitige Werbeanzeige. »Hier - das 45-jährige Firmenjubiläum der Nordhorner Bauunternehmerfamilie Ahlen und der siebzigste Geburtstag von Bernhard Ahlen werden Samstag gefeiert. Das gibt ‘ne große Sause. Scheißhaufen!«

Richard nahm die Zeitung in die Hände und blickte gespannt auf das Foto. Pia war nicht abgebildet.

»Bernhard Ahlens Sohn Jonathan und seine Schwiegertochter Annemarie fehlen auf der Aufnahme in der Anzeige und ebenso Carolines Tochter Pia. Das wird den alten Ahlen mit Sicherheit geärgert haben. Er legt den allergrößten Wert auf Familienharmonie, sei sie noch so verlogen«, lästerte Franz.

Richard warf seiner Mutter warnend einen kurzen Blick zu. Sie nickte beruhigend, steckte ihre Hände in die Taschen ihres Kittels und wandte sich an den Besucher.

»Vor dem Konkurs war ich Mitglied in einem Nordhorner Damenkegelklub, Franz. Gemeinsam mit Bernhard Ahlens zweiter Frau Luise habe ich mehr als zwanzig Jahre den jährlichen Wochenendausflug des Klubs geplant. Ich war zwar nicht eng mit ihr befreundet, immerhin haben wir uns mindestens einmal im Monat getroffen.«

Mit der Insolvenz der Tischlerei hatte sie ebenfalls ihren ehemaligen Bekanntenkreis verloren, hielt sie Rückschau. Aus dem Damenkegelklub, deren Mitglieder sich ausschließlich aus den Ehefrauen selbstständiger Unternehmer zusammensetzte, war sie ausgetreten, weil sie fortgesetzt das Gefühl hatte, nicht mehr dazuzugehören. Luise Ahlen war die Einzige ihrer Kegelfreundinnen gewesen, die nicht versucht hatte, sie an diesem Schritt zu hindern.

Erika und Richard wollen nicht über die Vergangenheit sprechen, registrierte Franz, als er Erikas verschlossenes Gesicht bemerkte. Vielleicht hatten sie recht und es war besser, einen Schlussstrich zu ziehen, nur gelang es ihm nicht. Er konnte nicht vergessen und Bernhard Ahlens hämische Worte klangen in seinen Ohren, als seien sie erst gestern gesprochen worden. »Die Zeiten sind härter geworden«, »Ein Konkurs ist kein Beinbruch« und: »Ihr habt falsch kalkuliert, nicht wir.«

Der Konkurs der Tischlerei war eine Katastrophe, der Gedanke, dass die kleine Sophie deswegen ohne Mutter aufwachsen würde, am schrecklichsten.

»Ihr wollt essen. Ich fahre nach Hause. Ich hoffe sie verschlucken sich an dem Champagner, den sie morgen saufen, und die belegten Brötchen bleiben ihnen im Halse stecken. Grüß die Kleine von mir, Erika, und gib ihr gleich die Bonbons, die ich ihr mitgebracht habe.«

Auf der rückwärtigen Terrasse blieb er stehen und beobachtete Sophie. Sie nutzte das Gestell ihrer Schaukel als Turnstange, machte einige schnelle Überschläge und blieb, die Kniekehlen auf der Stange, kopfüber in einer Affenschaukel hängen.

»Hei, Franz Koch. Liebst du mich noch?«, amüsierte sie sich kichernd.

»Sophie, du fällst gleich runter. Sei vorsichtig!«

»Das ist puppig, ich fall nicht. Mädchen turnen besser als Jungen. Dein Simon ist gut im Klettern.«

Sie fasste dabei die Stange, schwang sich hoch und setzte sich obenauf.

»Klettern kann der Simon«, bestätigte er. Simon war sein Enkelsohn und besuchte mit Sophie denselben Kindergarten.

»Ich bin ziemlich gut im Turnen, besser als Nele von der Heide. Eigentlich bin ich die Beste in meiner Gruppe. Nele kennt dafür viele Reime.«

»Nele ist deine Freundin?«

»Meine beste Freundin. Ihre Tante ist eine Detektivin und heißt Heide. Heide von der Heide. Ist das nicht witzig? Fast wie gereimt. Willst du einen Reim hören?«

»Klar.«

»Ich muss flüstern. Papa sagt, ich darf heute keinen Spruch mehr sprechen.«

»Und flüstern darfst du?«

»Flüstern ist nicht sprechen.«

»Eigentlich wohl, meinetwegen, sage ihn mir.«

»Krokodil schwamm im Nil. Kam ein Mann, hielt es an. Macht es kreck, war er weg.«

»Ich habe bei deiner Oma Gummibärchen für dich abgegeben«, eröffnete er ihr lachend.

»Der Spruch ist echt witzig.«

»Das mit dem Kreck und weg gefällt mir. Ich werde es mir merken!«, rief er, als er zu seinem Auto ging.

Auf der Heimfahrt hing er seinen Gedanken nach. Sophie war keine drei Jahre alt, als ihre Mutter sich in der ausgeräumten Wohnung über den Büroräumen umgebracht hatte.

Bettina hatte ihn merkwürdig angesehen, als sie mit dem Putzeimer in der Hand und der Leiter unter dem Arm in die Wohnung gegangen war. Ihr Gesicht war kreideweiß und ihre Augen teilnahmslos und leer, als sie ihm erklärt hatte, sie wolle ein letztes Mal gründlich sauber machen, bevor alles unter den Hammer käme. Er hatte im Erdgeschoss seelenruhig die letzten Akten zusammengeräumt und sie war währenddessen auf eine Leiter gestiegen, hatte ein Seil an einen Deckenbalken gebunden, sich die Schlinge um den Hals gelegt und war gesprungen.

Ihr Körper war warm, als er sie aufgefunden hatte. Dass er zu spät gekommen war, würde er sich niemals verzeihen und dieses jämmerliche, erbärmliche Bild stets vor Augen haben. Er hatte sie sehr gemocht, die Juniorchefin, fast so sehr wie seine eigene Tochter.

Der Steuerberater hatte darauf gedrängt, das Privatvermögen von dem Firmenvermögen zu trennen. Richard und sein Vater waren damit nicht einverstanden.

Es ist eine Frage der Ehre, war Albert Schlossers Ansicht. Unsere Tischlerei und wir sind eins. Geht es der Firma gut, geht es meinen Mitarbeitern und uns gut. Geht die Firma den Bach runter, reißt es nicht nur die Arbeiter, sondern obendrein die Familie mit.

Das einzig Tröstende: Erika Schlossers Elternhaus war nicht mit in den Konkurs eingeflossen.

Früher war er der Ansicht, dass beim Tod durch den Strang ein Genickbruch auftreten würde. Heute, nach Bettinas Freitod, wusste er, dass der Strick durch die Last des Körpers die zum Kopf führenden Arterien und gleichzeitig die Venen, die das Blut vom Kopf zum Herzen führen, abklemmt. Das Gehirn wird nicht mehr durchblutet. Nach wenigen Sekunden musste Bettina das Bewusstsein verloren haben und einige Minuten später war ihr junges Leben zu Ende.

Erika Schlosser räumte die Einzelseiten der Zeitung vom Küchentisch, stellte drei Gedecke auf, mischte die Marinade unter den Salat, goss das Wasser von den Kartoffeln und nahm die Auflaufform mit dem Fisch aus dem Ofen.

Auch die Familie Ahlen hatte im letzten Jahr ein Familienmitglied verloren, überlegte sie. Diese Tatsache änderte nichts an ihrem Verlust. Caroline Ahlen war bei einem Verkehrsunfall auf Mallorca gestorben. Man erzählte sich, sie sei in einem Cabrio zu schnell über eine Bergstraße gefahren und über die Klippen gestürzt. Sicher würde Clemens Ahlen seine Frau vermissen, Pia ihre Mutter - Pia war erwachsen und Sophie keine sechs Jahre alt. Vielleicht war der Tod seiner Frau die gerechte Strafe für das Unrecht, das Clemens ihnen angetan hatte, nur nützte sein Leid weder Sophie noch Richard. Sie gab sich große Mühe, trotzdem würde es ihr niemals gelingen, Sophie die Mutter zu ersetzen.

Ihr Mann Albert hatte den Untergang seiner Firma, Gott sei Dank, nicht erlebt, aber sie lebte und trug die Verantwortung für ihre Enkelin. Dieser Aufgabe würde sie sich stellen, nicht kneifen, wie Bettina es getan hatte, sondern alles, was in ihrer Macht stand, unternehmen, damit das Kind nicht zu schwer an dem Unglück trug.

»Holst du bitte Sophie, Richard. Ich habe das Essen aufgetragen.«

Es war an der Zeit, Frieden mit ihrer verstorbenen Schwiegertochter zu schließen, obgleich es ihr schwerfiel, Verständnis für eine dreißigjährige gesunde Frau aufzubringen, die sich wegen des Konkurses ihres Betriebes davonschlich und ihr knapp dreijähriges Kind zurückließ. Bettina war krank, wies Erika sich selbst zurecht, ein an Leib und Seele gesunder Mensch hätte nicht in dieser Weise gehandelt. Dass sie Bettinas labilen Seelenzustand nicht erkannt hatte, würde sie sich ihr Leben lang zum Vorwurf machen.

»Guten Tag, guten Tag, Frau Omama, was macht denn die Frau Tralala? Ich dank, ich dank, ich danke schön, ich werd mich gleich erkund’gen geh’n.«

»Wasch dir bitte vor dem Essen die Hände, Sophie«, hielt sie ihre Enkelin an. »Einen Begrüßungskuss darfst du mir mit deinen ungewaschenen Händen geben.«

»Sehr gern, sehr gern, du Omastern.«

»Sophie, bitte, wir wollen heute keine Reime mehr hören«, tadelte Richard.

»Pia ist nicht auf dem Foto abgebildet. Richard, ich denke...«

»Sprecht ihr über meine Pia? Meine Pia ist nett, sehr, sehr nett, Oma«, begeisterte sich Sophie, die aus dem Bad kam. Sie hielt ihre Hände vor Erikas Gesicht. »Sauber?«

»Ja, sie sind blitzblank, und nein, wir unterhalten uns nicht über deine Pia«, log Erika.

Sie musste Obacht geben mit dem, was sie sprach, sobald Sophie sich in ihrer Nähe aufhielt.

»Ich habe am Abend einen Termin bei Mathias von der Heide, Mutter, und anschließend fahre ich die Nachtschicht zusätzlich. Ich werde erst morgen früh zu Hause sein.«

»Neles Papa hilft dir, damit du den Poozess gewinnst und wir endlich zu unserem Recht kommen und Ahlen dir das viele Geld endlich bezahlen muss«, äußerte sich Sophie altklug, »und das wird verdammt Zeit! Eine Million ist ganz viel und Ahlens sind Betrüger, hat Neles Papa gesagt. Ihre Mama sagt das auch, hat Nele gesagt und was Nele sagt, das stimmt.«

»Sophie, bitte!«

»Stimmt, Oma! Nele sagt, ihr Papa hat zu ihrer Mama gesagt, dass der Poozess Scheiße ist und Neles Bruder Paul sagt, Anna-Maria Wellenhaus ist so doof wie ihr Papa und ihre Mama. Und ihre Mama heißt Ahlen-Wellenhaus. Das finde ich so blöd. Aaaahlen-Weeeellenhaus. Das ist Kacke. Paul geht mit Anna-Maria in dieselbe Klasse. Sie ist ‘ne ganz dämliche Heulsuse, sagt Paul und doof wie Schifferscheiße. Genauso dämlich wie ihre Schwester Brigitta.«

Richard legte sein Besteck auf den Teller und blickte seine Tochter stirnrunzelnd an.

»Einige Wörter, die du eben ausgesprochen hast, möchte ich nicht von dir hören, Sophie! Außerdem bist du zu jung, um über einen ›Poozess‹ urteilen zu können. Kennst du die Bedeutung des Wortes?«

»Ein ›Poozess› ist Schei..., oh entschuldige, Papa. Weil ein Poozess Schei... ist, heißt es Poooo. Außerdem bin ich nicht jung, im Sommer gehe ich in die Schule und ich sage nicht noch einmal ›Scheiße‹ und ›verdammt noch mal‹ und ›dämlich‹ und ›doof wie Schifferscheiße‹, auch wenn’s stimmt.«

Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit würde sie mit Henrike von der Heide sprechen, beschloss Erika Schlosser. Man musste achtsam mit den Wörtern umgehen, sobald Sophie und Nele in der Nähe waren.