Depressionen
Möglichkeiten und Grenzen naturheilkundlicher Therapieverfahren
First Edition
URBAN & FISCHER
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1. Auflage 2007
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Planung: Ingrid Puchner, München
Lektorat: Christel Hämmerle, München
Redaktion: Andrea Hesse, München
Zeichnungen: Susanne Adler, Lübeck
Herstellung: Antje Arnold, München
Satz: abavo GmbH, Buchloe
Druck und Bindung: Krips b.v., Meppel
Umschlaggestaltung: SpießDesign, Büro für Gestaltung, Neu-Ulm
Titelfotografie: Anja Welsch, Merzig
Gedrucktauf 100 g, Primaset, 1,01-faches Volumen
ISBN 978-3-437-57710-9
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Geleitwort
Depressionen sind in den letzten Jahrzehnten anscheinend häufiger aufgetreten: Auf jeden Fall werden sie öfter diagnostiziert und auch erfolgreicher behandelt als noch Jahrzehnte zuvor. Nicht nur die Diagnostik und Therapie konnten weiterentwickelt werden, auch der Informationsstand der Bevölkerung über das Krankheitsbild der Depression, seine Häufigkeit und Behandlungsmöglichkeiten ist besser geworden. Ratgeberliteratur und Internet tragen wesentlich zur Aufklärung bei, und vor allem ist es die Presse, die - anders als früher - schon seit längerem sachgerechte Kenntnisse über die Depression, die inzwischen zu einer Volkskrankheit geworden ist, vermittelt.
Trotz aller Fortschritte in Diagnostik und Therapie und der Verbreitung hilfreicher Informationen ist die medizinische Versorgungslage noch keineswegs befriedigend. Allzu häufig werden Depressionen nicht erkannt oder nicht konsequent behandelt. Die Krankheit wird immer noch tabuisiert und den Kranken werden Vorurteile entgegengebracht. Oder die Depression wird verharmlost, weil sie oft mit den normalen Verstimmungen des Alltagslebens verwechselt wird. Nicht selten werden die Kranken in ihrer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nicht verstanden oder nicht ernst genommen. Gut gemeinte, meist jedoch auf zu wenigen Fachkenntnissen basierende Ratschläge, wie die Betroffenen sich verhalten sollen, erzeugen Druck und verschlechtern die Situation des Kranken. All diese Faktoren erschweren eine angemessene Behandlung. Angesichts einer Erkrankungszahl von 4 Millionen behandlungsbedürftigen depressiven Menschen in Deutschland und von 11000 Suiziden und ca. 100000 Suizidversuchen im Jahr, die meistens mit Depressionen in Zusammenhang stehen, müssen alle Kräfte in eine verbesserte Diagnostik und Behandlung dieser existenzbedrohenden, die Lebensqualität erheblich beeinträchtigenden Krankheit gesetzt werden.
Die Behandlungsmöglichkeiten der Schulmedizin für die verschiedenen Formen der Depressionen sind gut und vielfältig. Psychotherapeutische Verfahren, die die Krankheit früher oder später zum Abklingen bringen, stehen zur Verfügung und werden von Ärzten, Psychiatern und Psychologen angewandt. Die Möglichkeiten der medikamentösen Therapie mit hochwirksamen Antidepressiva sind ebenfalls sehr gut und unterstützen die Psychotherapie nachhaltig. In besonderen Fällen werden auch somatische Therapien wie Lichttherapie, Schlafentzugsbehandlung, transkranielle Magnetstimulation oder die Heilkrampfbehandlung mit Erfolg angewandt. Gleichwohl ist nicht selten die moderne psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung der Depressionen für manche Betroffene unbefriedigend. Immer wieder gibt es schwer behandelbare, sog. therapieresistente Depressionen, oder es kommt trotz Vorbeugung durch phasenprophylaktisch wirksame Medikamentezum Wiederauftreten der Depression.
Nur allzu oft stößt der Psychiater an die Grenzen der Schulmedizin, unseres wissenschaftlichen Verständnisses der Depression wie auch des Verstehens des einzelnen Menschen in seiner depressiven Verfassung. Bei aller Ähnlichkeit der Symptomatik der verschiedenen Depressionsformen hat jeder Kranke seine eigene Depression mit ihrer individuellen Problematik und Entstehungsgeschichte, die sich in ihrer Komplexität nie dem völligen und restlosen Verstehen erschließen kann. Würden wir das Wesen der Depression verstehen, hätten wir das Rätsel des Menschen gelöst. Da wir noch weit davon entfernt sind, wenn dieses Ziel überhaupt jemals erreicht werden kann, müssen wir das Behandlungskonzept der Depression möglichst breit und umfassend anlegen. Gleichzeitig muss die Behandlung aber auch so individuell wie nur möglich sein. Angesichts der Komplexität des Krankheitsbildes und seiner Entstehung sind auch integrative Behandlungsansätze, die zugleich die individuelle Entwicklung und die Person des Menschen im Auge behalten, den eindimensionalen, reduktionistischen Entstehungsund Behandlungsmodellen an die Seite zu stellen. In der Geschichte der Medizin wurde von jeher die Depression, die lange Jahrhunderte in dem weiteren Krankheitsbegriff der Melancholie umfasst wurde, in ihrer Entstehung mehrdimensional gesehen und auf mehreren Ebenen medikamentos, psychotherapeutisch und diätetisch, d. h. durch Regelung der Lebensweise behandelt.
Die Behandlung der komplexen Krankheit Depression muss ganzheitlich sein, weil einseitig begrenzte Methoden nicht weit genug führen können. Das vorliegende Buch über die naturheilkundlichen Therapieverfahren der Depression ist aus einer solchen ganzheitlichen Sicht heraus geschrieben. Es werden die Verfahren einer komplementären Behandlung der Depressionen dargestellt, die naturheilkundlichen und homöopathischen Behandlungsgrundlagen detailliert erläutert und in den Rahmen der konventionellen Diagnostik und Behandlungsmaßnahmen hineingestellt. So ergibt sich ein Bild der komplementären Depressionsbehandlung, das sich den konventionellen Therapieverfahren begleitend an die Seite stellt und deren Möglichkeiten in wesentlichen Aspekten und Strategien ergänzt und erweitert. Dergestalt wird keine Sichtweise und keine Methode verabsolutiert, sondern in einen Gesamtzusammenhang integriert, der die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit einer ganzheitlichen Depressionsbehandlung verdeutlicht.
Vorwort
Die Depression ist heute neben den Angststörungen und Abhängigkeitserkrankungen die häufigste psychiatrische Erkrankung. Wie kommt es, dass dieses vielfältige Krankheitsbild im Zeitalter sozialer Absicherung und materiellen Wohlstandes ubiquitär ist - im Gegensatz zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts, der Zeit des (Nach-)Kriegs, der Verluste und Entbehrungen? Spiegelt sich hier eine Tragödie des Minderwerts und der Unzulänglichkeit wider, leiden wir unter einem globalen Insuffizienzgefühl gegenüber allen Erwartungen bezüglich Verantwortung und Selbstverwirklichung? Sind die Ursachen eher psychosozialer Natur, weil das Umfeld und die Medien uns mit Idealbildern von Erfolg, Schonheit und makelloser Funktionalität konfrontieren, denen wir nicht entsprechen können? Oder handelt es sich mehrheitlich um körperliche Ursachen und wir müssen an die medizinische Forschung und Wissenschaft appellieren, die kausalen Zusammenhänge durch noch mehr Untersuchungen und (apparative) diagnostische Möglichkeiten herauszufinden?
Ich wurde von Patienten bzw. Angehörigen in der Praxis und von Kollegen nach Vorträgen häufig darauf angesprochen, wo und wie eine umfassende Information möglich ist. So entstand die Idee zu diesem Buch, welches es ohne meine Patienten und Zuhörer nicht gäbe.
Ich möchte mich bei meiner Tochter Annabelle für ihre liebevolle und gelassene Selbstverständlichkeit bedanken, mit der sie mir so manche Stunde unserer gemeinsamen Zeit zum Schreiben geschenkt hat. Danke schön meiner Kollegin Ulrike, die mich mit ihrem Fachwissen und ihrem unvergleichlichen Temperament beruflich immer wieder inspiriert. Herzlichen Dank auch an meinen Lebenspartner Frank, der mich während des Schreibens ermutigt hat und mein berufliches Engagement immer unterstützt.
Ich wünsche mir für die Zukunft unserer Patienten und aller Betroffenen mehr Offenheit und Akzeptanz in der Gesellschaft für psychische Erkrankungen.
Mit meinem Buch möchte ich allen interessierten Lesern ausführliche Information anbieten, Therapeuten neue Impulse setzen und depressiven Menschen Mut machen, damit sie in den Tiefen ihrer Erkrankung das kleine Licht am Ende des Tunnels sehen können.
Table of Contents
I
Theoretische Grundlagen
Theoretische Grundlagen
„Im hintersten Winkel meines Bettes kauernd, von etwas Unsichtbarem niedergemacht, bat ich jenen Gott, an den ich niemals hatte ganz glauben können, um Erlösung. Ich wäre gerne den qualvollsten Tod gestorben, war aber viel zu lethargisch, um an Selbstmord auch nur zu denken. Jeder Moment des Daseins schmerzte mich (…). Das Innere wird derart ausgelaugt, dass man sich selbst nicht mehr erträgt. Du kannst dich selbst nicht riechen, verlierst jegliches Vertrauen, lässt dich weder berühren noch rühren. Schließlich kommst du dir einfach selbst abhanden.”
(Aus: Solomon, 2002)
Kapitel 1 Terminologie und Klassifikationssysteme
Depressionen sind neben den Angststörungen die häufigste psychische Erkrankung in Deutschland. Derzeit sind schätzungsweise 5% der Bevölkerung an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Beschwerden - mit Kernsymptomen wie z.B. Niedergeschlagenheit und Verlust an früheren Interessen - manifestieren sich auf der emotionalen, motivationalen sowie auf der kognitiven, Verhaltens- und vegetativ-physiologischen Ebene.
Mit dem Begriff Depression wird allgemein sowohl das symptomatologische Syndrom bezeichnet als auch die spezielle psychische Erkrankung, bei der definierte Symptome ( ) in einer bestimmten Ausprägung vorliegen. Nachdem die früher gebräuchliche Unterscheidung nach Ursachen (beispielsweise in endogene und exogene Depression) aufgegeben wurde, gelten inzwischen im europäischen Raum die Diagnosekriterien des Klassifikationssystems ICD-10 ( ), denen zufolge das Krankheitsbild der Depression und ihrer Subtypen ( , ) nach Schweregrad und Verlauf unterschieden wird.
Depression ist die allgemeine Bezeichnung für psychische Verstimmungszustände, die sich symptomatisch in Niedergeschlagenheit, pessimistischer Grundhaltung, Antriebsminderung, Freud- und Interesselosigkeit ausdrückt und verschiedene Ausprägungsgrade bis zur Suizidalität erreichen kann. Die Ursachen dieser Gemütskrankheit sind ebenso außerordentlich vielfältig wie die Symptome, die psychisch, psychomotorisch, vegetativ und körperlich sein können. Die Definitionen unterscheiden sich aufgrund der verschiedenen medizinischen, psychologischen, schulenspezifischen und auch philosophischen Hintergründe der Autoren. Umgangssprachlich wird eine Deprimiertheit als Depression beschrieben.
Depression ist nicht zu verwechseln mit Trauer, einer normalen Reaktion auf einen schweren Schicksalsschlag. Trauer erzeugt Niedergeschlagenheit, Interesselosigkeit, ein Gefühl von Sinnlosigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen und kann körperliche Symptome hervorrufen. Dem Trauernden sollte es während des Trauerprozesses gelingen, sich von dem Alten zu lösen, sollte sich die Zeit geben, die Wunden heilen zu lassen und sich dem Leben mit allmählich stärker werdender Energie zuwenden. Der Trauerprozess ist ein natürlicher Weg, der zur Aufarbeitung des Geschehenen notwendig ist.
Die Depression ist im Gegensatz zur Trauer unangemessen zeitintensiv; auch jahrelang nach dem Tod der geliebten Person findet der Zurückgebliebene nicht in das alltägliche Leben zurück. Die Depression ist nicht - wie die Trauer als natürliche Reaktion - allein oder mithilfe der Zuwendung nahe stehender Menschen zu bewältigen.
Depressive Erkrankungen wurden in der Antike bereits vor 2400 Jahren von Hippokrates als Melancholie beschrieben. Für Hippokrates war die Melancholia ein Überschuss an schwarzer verbrannter Galle, die sich ins Blut ergießt. Hippokrates hatte eine Typologie entwickelt, in der unterschiedliche Temperamente auf das Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zurückgehen. Dabei unterschied er den heiteren Sanguiniker, den aufbrausenden Choleriker, den gemächlichen Phlegmatiker und den schwermütigen (schwarzgalligen) Melancholiker.
Der Charakter des Melancholikers korrespondierte nach Galen, der das medizinische Wissen seiner Zeit zusammenfasste und den Vorstellungen der Hippokratiker folgte, mit dem Element Erde, dem Herbst, dem Erwachsenenalter und dem Nachmittag.
Die Melancholie wird in der damaligen Literatur durchweg negativ gesehen. Nur ein Fragment mit dem Titel, vermutlich von Theophrast verfasst, äußerte sich als einziges antikes Zeugnis auch positiv über die Melancholie, in dem diese zur Voraussetzung für den „göttlichen Wahnsinn” (mania) wird.
In der Renaissance wurde v.a. durch die Schriften von Marsilio Ficino und Heinrich Agrippa von Nettescheim die Auffassung populär, die Melancholiker stünden unter dem Einfluss des Planeten Saturn.
In seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie” von 1917 grenzte Sigmund Freud die Melancholie von der Trauer ab. Wichtigstes Merkmal der Melancholie ist die Tatsache, dass die Herabsetzung des Selbstgefühls nicht durch die positive Trauerarbeit behoben wird. Kennzeichen der Melancholie sind eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, der Verlust der Liebesfähigkeit, die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls. Dieser Aspekt steigert sich von Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe und ist nach ursächlich für die Suizidgefährdung der Melancholiker.
Im Jahr 1833 tauchte das Wort Depression erstmals in unerwarteter Weise in einem deutschen Wörterbuch auf: „Depression, bei der Artillerie: die Richtung des Geschützes aus der Höhe in die Tiefe”. Kluges „Etymologisches Wörterbuch” erklärt den Begriff als Ableitung der latelinischen Bezeichnung für nieder (de) drücken (premere/pressum), So konnte Depression vieles bezeichnen: die Senkung von Flüssigkeiten in Haarröhrchen (Physik), den niedrigen Barometerstand (Meteorologie), die „negative” Höhe in der Astronomie oder eine wirtschaftliche Flaute.
250 Jahre zuvor erwähnte der schottische Arzt William Cullen (1710-1790) den Begriff Depression zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem menschlichen Körper. Er entwarf eine Nervenmechanik: Durch den Körperziehen sich die Nerven, die den so genannten „Nervensaft” enthalten. Seine unterschiedliche Beweglichkeit wird durch den Druck in den Hirngefäßen bewirkt. „Excaltation” bedeutet Druckerhöhung, „Depression” heißt erniedrigter Druck. Ein so verminderter Tonus der Hirngefäße, der eine Verlangsamung der Fließgeschwindigkeit des Nervensaftes bewirke, könne zur Melancholie führen. Die vom Nervensaft verursachten Krankheiten nannte Cullen „Neurosen”. So hat Cullen vom Standpunkt der Physiologie aus gleich zwei Schlüsselbegriffe der späteren Psychiatrie geprägt. Der Begriff Depression wurzelt in den Anfängen der Nervenphysiologie und ihrem Versuch, die mechanische oder chemische Kraft „dingfest” zu machen, die den Menschen „antreibt”.
Die Grundlagen des heutigen Verständnisses der Depression hat in erheblichem Maße der Psychiater Emil Kraepelin Ende des 19. Jh. gelegt. Er fasste alle depressiven und manischen Zustände als „manisch-depressives Irrsein” in einer Gruppe zusammen. Mit diesem Überbegriff bezeichnete er melancholische oder depressive Zustände mit trauriger oder ängstlicher Verstimmung sowie Erschwerung des Denkens und des Handelns. Die Bezeichnung Depression spielt seitdem die Rolle eines symptomorientierten Oberbegriffs mit einer früheren wesentlich engeren inhaltlichen Ausrichtung.
Erst im zweiten Teil des 20. Jh. konnte das Einheitskonzept widerlegt werden, und die Depression wie auch die Manie galten als zwei unterschiedliche Krankheiten. Der Begriff der mono- und bipolaren Verlaufsform wurde geprägt. Innerhalb der monopolaren Depression verwendete man Begriffe wie neurotische statt psychotische Depression und reaktive statt endogene Depression. Beide Dichotomien sind veraltet und werden in den heute geltenden Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV nicht mehr verwendet, tauchen aber in der Literatur immer noch auf.
In den 60er Jahren des 20. Jh. wurde der Begriff Depression wieder mit Vorstellungen zur Verursachung der Erkrankung zusammengebracht. Mit den Begriffen neurotische (exogene) und endogene Depression wollte man die nicht-organisch verursachte von der organisch verursachten Depression unterscheiden. In dem Klassifikationssystem ICD-10 fasst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) alle Depressionen und Manien unter dem Begriff der affektiven Störungen zusammen.
Bis in die 80er Jahre des 20. Jh. unterteilte man Depressionen nach ihren Ursachen und unterschied z.B. folgende Formen:
Umfangreiche Studien haben ergeben, dass z. B. die so genannten neurotischen und reaktiven Depressionen - bei detaillierter wissenschaftlicher Analyse in Symptomatologie, Epidemiologie und Genetik und im Ansprechen auf verschiedene Therapieverfahren - keine entscheidenden Unterschiede zu den so genannten endogenen oder früher auch als autonom bezeichneten Depressionen ausweisen. Deshalb werden die verschiedenen Krankheitsbilder nun ausschließlich nach den Kategorien Symptomatik, Schweregrad, Dauer und Rückfallrisiko unterschieden.
Die inzwischen gebräuchlichsten Diagnosesysteme in der Psychiatrie sind das ICD-10 (International Classification of Diseases, 10. Überarbeitung ) und das DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 4. Überarbeitung). Die heutige nach diesen beiden Klassifikationen gebräuchliche Einteilung ordnet die Depression den affektiven Störungen ( auch ) zu. Die kategoriale phänomenologische Klassifikation nach ICD-10 ist für den deutschsprachigen Raum (Deutschland, Schweiz, Österreich) verbindlich.
F3 | Affektive Störungen |
F30.0 | Manische Episode |
F30.1 | Hypomanie |
F30.2 | Manie ohne psychotische Symptome |
F30.3 | Manie mit psychotischen Symptomen |
F30.4 | Sonstige manische Episoden |
F30.5 | Nicht näher bezeichnete manische Episode |
F31 | Bipolare affektive Störung |
F31.0 | … gegenwärtig hypomanische Episode |
F31.1 | … gegenwärtig manische Episode ohne psychotische Symptome |
F31.2 | … gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen |
F31.3 | … gegenwärtig mittelgradige oder leichte depressive Episode |
F31.4 | … gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome |
F31.5 | … gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen |
F31.6 | … gegenwärtig gemischte Episode |
F31.7 | … gegenwärtig remittiert |
F31.8 | Sonstige bipolare affektive Störungen |
F31.9 | Nicht näher bezeichnete bipolare affektive Störung |
F32 | Depressive Episode |
F32.0 | Leichte depressive Episode |
F32.1 | Mittelgradige depressive Episode |
F32.2 | Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome |
F32.3 | Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen |
F33 | Rezidivierende depressive Störung |
F33.0 | … gegenwärtig leichte Episode |
F33.1 | … gegenwärtig mittelgradige Episode |
F33.2 | … gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome |
F33.3 | … gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen |
F33.4 | … gegenwärtig remittiert |
F34 | Anhaltende affektive Störungen |
F34.0 | Zyklothymia |
F34.1 | Dysthymia |
F38 | Sonstige affektive Störungen |
Abb. 1-1 Einteilungaffektiver Störungen
Die ICD-10 orientiert sich v.a. an rein beschreibenden Merkmalen des Querschnittsbefunds und des Verlaufs und unterscheidet folgende Typen und Subtypen:
Kombinierte Krankheitsbilder aus Depression, manischer Hochstimmung und Schizophrenie (früher: schizoaffektive Psychose) werden heute als schizodepressive Erkrankung bezeichnet. In wird die frühere, traditionelle klinische Einteilung der heutigen ICD-10-Klassifizierung gegenübergestellt.
Traditionelle klinische Einteilung | ICD-10-Klassifizierung |
---|---|
Endogene Depression, unipolar | Depressive Episode, rezidivierende depressive Episode |
Endogene Depression, bipolar | Bipolare affektive Störung, gegenwärtig depressive Episode |
Depressive Neurose | Dysthymia |
Reaktive Depression | Anpassungsstörung |
Depression bei schizoaffektiver Psychose | Schizodepressive Erkrankung |
Organisch bedingte Depression | Organisch depressive Erkrankung |
Depressive Symptome bei Demenz | Demenz und vorwiegend depressive Symptome |
Zudem wird nach Schweregrad ( ) und unter Berücksichtigung bestimmter Einzelmerkmale zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer depressiver Episode unterschieden. Diese Differenzierung beruht auf Anamnese (Vorgeschichte) und Befund ( ). Dabei ist ein wichtiger Aspekt, ob der Patient seine Berufstätigkeit und sonstige soziale Aktivitäten ausüben kann. Bei leichten depressiven Episoden kann der Alltag in der Regel noch aufrechterhalten werden, bei mittelgradigen Episoden nur mit erheblichem geistigem, seelischem, körperlichem und psychosozialem Aufwand, bei schweren depressiven Zuständen ist es den Betroffenen nahezu unmöglich, den Alltag zu bewältigen.
Epidemiologische Daten zum Themenbereich Depressionen weisen in der Forschungsliteratur oft erhebliche Schwankungen und Unterschiede auf. Das ist zurückzuführen auf die unterschiedlichen Ein- und Ausschlusskriterien im Hinblick auf Definition und Berücksichtigung verschiedener Krankheitsverläufe: Werden Einzelphasen oder Gesamtverlauf, sämtliche Manifestationen oder nur bestimmte Schweregrade berücksichtigt? Dies gilt auch für die Untersuchungen über Häufigkeit und Verteilung der Depression und der depressiven Zustände. Deshalb sind die nachfolgend genannten und aus der Fachliteratur zusammengestellten Zahlen nur als grobe Anhaltspunkte zu werten.
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden im Jahr 2020 Depressionen die Volkskrankheit Nummer 1 [] sein. Depressionen werden auf der Rangliste der ökonomisch belastenden Erkrankungen auf die zweite Stelle vorrücken, denn die Inzidenzrate steigt weiter an.
Prävalenzzahlen hängen von unterschiedlichen Faktoren ab. Sie werden z.B. dadurch beeinflusst, wo die Bestimmung erfolgte (Klinik, Praxis, Region) oder welche Population untersucht wurde (Alter, Geschlecht, sonstige Erkrankungen der Patienten). Einige Fragen sind nicht eindeutig geklärt: Gehört der Patient mit dysphorischer Stimmung (Mikrodepression) bereits zu dem Personenkreis, der zur Bestimmung der Lebenszeitprävalenz für Depression herangezogen wird? Wo befindet sich der Rahmen zur Abgrenzung bei kombinierten Krankheitsbildern, wenn sich beispielsweise ein Erkrankter im Grenzbereich zwischen depressiver Episode und Burn-out-Syndrom bewegt? Wie viele betroffene Personen suchen überhaupt therapeutische Hilfe und wie hoch ist die Dunkelziffer?
Für die in Deutschland lebende Bevölkerung kommt eine Studie über psychische Störungen zu folgenden Ergebnissen []: Psychische Störungen betreffen mit einer Lebenszeitprävalenz von 25,7% einen sehr großen Anteil der Allgemeinbevölkerung. Die depressive Episode stellt mit 14,5% die häufigste Diagnosegruppe dar, gefolgt von Angststörungen (10,1%) und Abhängigkeitserkrankungen (3,8%). In der Personengruppe (447 Personen) mittleren Lebensalters bzw. der höheren Lebensalters (448 Personen) betrug die Lebenszeitprävalenz 9,2%, bzw. 24,7%.
Die WHO beziffert den durchschnittlichen Prävalenzwert für depressive Erkrankungen mit 10,4% []. Andere Experten gehen von einer Lebenszeitprävalenz von bis 17% aus []. Nach diesen Studien erkranken Frauen mit bis zu 25% häufiger als Männer (12%), wofür es keine fundierte wissenschaftliche Erklärung gibt. Möglicherweise ist die eine Depression disponierende Vulnerabilität (Verletzlichkeit) bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern.
Aus den bisher genannten Studien ergibt sich eine durchschnittliche Lebenszeitprävalenz in Höhe von 16%, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Situation, Bildung und Region ( ). Dies stimmt mit einer Studie aus den USA überein, die eine Lebenszeitprävalenz von 16,2% ermittelte [].
Abb. 1-2 Lebenszeitpravalenz
Die Erstmanifestation der Erkrankungen aus dem depressiven Bereich verlagert sich im Zeitpunkt des Auftretens der ersten Symptome nach vorn. Dabei hat die Depression zwei Häufigkeitsgipfel: der erste im Lebenszeitalter zwischen 20 und 29 Jahren, der zweite im Alter von 50 bis 59 Jahren. Frauen erkranken im Verhältnis 2:1 häufiger als Männer []. Generell gilt: Die Depression kann in jedem Alter zum ersten Mal auftreten.
Depressive Patienten leiden häufig unter zusätzlichen psychischen oder körperlichen Erkrankungen. Bei bis zu 18% der Betroffenen kommt es zusätzlich zu einer Persönlichkeitsstörung, 60-75% leiden unter einer Suchterkrankung []. Auch bestimmte körperliche Beschwerden können zu einer Depression führen, depressive Verstimmungen können aber auch körperliche Symptome nach sich ziehen. Diagnostisch problematisch sind die larvierten Depressionen, wenn beispielsweise die depressive Stimmung in Form von körperlichen Leiden wie chronischen Kopfschmerzen, Tachykardie oder Obstipation auftritt und nicht als psychische Störung wahrgenommen wird.
Deutschland ist mit Psychotherapeuten unterversorgt. Monatelange Wartezeiten bei jährlich über acht Millionen Betroffenen verschlechtern die Gesamtsituation. In den neuen Bundesländern findet sich manchmal in ländlichen Regionen auf mehr als 100.000 Einwohner kein Psychotherapeut [].
Ungefähr jeder zehnte Patient, der einen Arzt aufsucht, leidet unter einer behandlungsbedürftigen Depression. Allerdings wird sie bei etwa der Hälfte der Patienten oft falsch oder gar nicht diagnostiziert. So wurde bei 42,9% der Betroffenen die Krankheit vom Allgemeinmediziner oder Internisten nicht erkannt []. Trotzdem gaben 65% der Hausärzte an, Depressionen selbst zu behandeln, nur 21,7% der depressiven Patienten wurden zu Neurologen oder Psychotherapeuten überwiesen. Antidepressiva wurden in 58,2% der Fälle verordnet, 36,4% der Betroffenen bekamen Phytotherapeutika, 23,8% Hypnotika bzw. Sedativa und 4% der Verordnungen bestanden aus Neuroleptika ( ).
Abb. 1-3 Medikation durch den Allgemeimediziner (Mehrfachmedikation war möglich)
Neben dem unermesslichen seelischen Leiden der Betroffenen dÜrfen die volkswirtschaftlichen Schäden nicht unterschätzt werden. Die WHO geht davon aus, dass Depressionen auf der Rangliste der ökonomisch belastenden Erkrankungen bis zum Jahr 2020 auf die zweite Stelle vorrÜcken werden, denn die Inzidenzrate steigt weiter an.
Nach Angabe des statistischen Bundesamtes verursachten Depressionen im Jahr 2002 Kosten in Höhe von 4 Milliarden Euro. Die Gesamtkosten, die durch depressive Erkrankungen allein in Deutschland entstehen, werden auf 17 Milliarden Euro per anno beziffert! Dazu gehören neben den therapeutischen Kosten wie Medikamente, ambulanter und klinischer Behandlung wirtschaftliche Faktoren wie Leistungsminderung am Arbeitsplatz, Krankschreibungen und FrÜhberentung ( ).
Abb. 1-4 Durch Depressionen verursachte ökonomische Schäden
Die Deutsche Gesellschaft fÜr Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde legte 2003 folgende Zahlen vor: Depressionen verursachen jährlich 11 Millionen Tage Arbeitsunfähigkeit und 15.000 FrÜhberentungen, wobei der durchschnittliche Renteneintritt bei 52 Jahren lag. Eine depressionsbedingte Arbeitsunfähigkeit dauert im Schnitt zweieinhalb Mal so lang wie eine aufgrund einer anderen Erkrankung bedingte Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitsleistung eines depressiven Mitarbeiters ist stark herabgesetzt, wobei der wirtschaftliche Schaden aufgrund nicht erbrachter Leistung durch dysphorische, eventuell nicht erkannte und/oder therapierte Zustände nicht abschätzbar und vermutlich sehr hoch ist.