image

Das Lymphödem und verwandte Krankheiten

Vorbeugung und Behandlung Ein Leitfaden für Patienten

9. Auflage 2009

Michael Földi

Ethel Földi

URBAN & FISCHER

Copyright

Zuschriften und Kritik an:

Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Karlstraße 45, 80333 München

Anschriften der Verfasser

Prof. Dr. med. Michael Földi und Prof. Dr. med. Ethel Földi

Földi-Klinik, Fachklinik für Lymphologie, Rößlehofweg 2–6, 79856 Hinterzarten

Peter D. Asmussen, Bei den Birken 7, 25474 Ellerbek

Regina Forster. Leiterin der Abteilung für Krankengymnastik, Földiklinik für Lymphologie, Rößlehofweg 2–6, 79856 Hinterzarten

Wichtiger Hinweis für den Benutzer

Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Verpflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Buch abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

09 10 11 12 13 5 4 3 2 1

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint.

Projektmanagement: Heiko Krabbe, München

Lektorat: Ingrid Stöger, München

Redaktion: Astrid Wieland, Schlüchtern

Herstellung: Ulrike Schmidt, München

Satz: abavo GmbH, Buchloe/Deutschland: TNQ, Chennai/Indien

Druck und Bindung: L.E.G.O. S.p.A., Lavis/Italien

Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Büro für Gestaltung, Neu-Ulm

Bildnachweis

L 102 R. Darrol, Hamburg

C 155, C 157, M 150, O 155 und alle Abbildungen ohne Quellenangabe sind von den Autoren

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter und .

Vorwort

Dies ist die 9. Auflage unseres Ratgebers, die erste ist 1983, die achte ist 2003 erschienen. Die vorliegende Auflage wurde wieder weitgehend auf den neuesten Stand gebracht. Wir haben am Prinzip festgehalten, dass wir die medizinischen Grundlagen unserer Ratschläge ausführlich erklärt haben. Wir meinen, dass der mündige Patient das Wesen seiner Krankheit kennen und verstehen will und soll. Der Patient muss wissen, warum er überhaupt behandelt werden muss, welche Behandlungsformen es gibt, mit welchen Risiken und Nebenwirkungen diese behaftet sind und was er von den von uns empfohlenen Therapien erwarten kann. Aus diesem Grunde bleiben wir, trotz der Meinung einiger weniger unserer Leser, der Text sei für die Belange von Patienten zu anspruchsvoll, bei der Grundidee der ersten acht Auflagen, dass wir die Beschreibung, der normalen Funktionen des Körpers und das Wesen ihrer relevanten Störungen bei den erörterten Krankheitsbildern in den Vordergrund stellen. Dies ist gerade bei einem Ratgeber über das Lymphödem besonders wichtig, weil die Disziplin Lymphangiologie, d.h. die Fragen des Lymphgefäßsystems als Organ der Zirkulation, weltweit in einer schier unglaublichen Weise vernachlässigt wird. Sie wird Medizinstudenten entweder überhaupt nicht, oder höchstens in sehr oberflächlicher Weise vermittelt. Internisten beherrschen die Erkrankungen des Knochenmarks, der Milz, des Immunsystems, nicht aber die Lymphangiologie. Angiologen beschäftigen sich vorwiegend mit Erkrankungen der Schlagadern, Phlebologen mit denjenigen der Beinvenen und da die Kompressionstherapie auch hier, wie bei der Behandlung des Lymphödems eine wichtige Rolle spielt, einige unter ihnen auch mit Beinlymphödemen. Wir haben vor 40 Jahren unter dem Titel „Die Lymphologie, bisher ein Stiefkind der Medizin“ einen diesbezüglichen Artikel veröffentlicht. Leider hat sich an diesem Zustand nicht geändert.

Die Vernachlässigung der Lymphologie führt dazu, dass es auf diesem Gebiet keine weltweit akzeptierte, einheitliche Lehrmeinung gibt. Der an einer Bluthochdruckkrankheit Leidende z.B. kann sicher sein, dass das Wesen seiner Krankheit und die relevanten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen in den Lehrbüchern und Publikationen weltweit in derselben Weise erörtert werden. Das Gegenteil ist beim Lymphödem der Fall: In der Fachliteratur herrschen chaotische Zustände. Weder darüber, was das Lymphödem ist, wie es definiert werden soll, noch hinsichtlich dessen Diagnose und Therapie herrscht Einigkeit. In Anbetracht dieser Situation können Sozialpolitiker tun, was sie wollen. In Deutschland wurde die Behandlung des Lymphödems als Rehabilitationsmaßnahme eingestuft. Nun bedeutet das lateinische Wort „habilis“ tauglich, d.h., dass durch Rehabilitation eine früher vorhandene Tauglichkeit wiederhergestellt wird. Unsere Leser werden in diesem Ratgeber lesen können, dass es Neugeborene gibt, die mit einem Lymphödem zur Welt kommen; das Lymphödem ist Folge eines Fehlers im genetischen Apparat, welcher in der Sekunde der Eibefruchtung schon vorhanden war. Von einer Rehabilitation, von einer Wiederherstellung kann bei diesen Kindern keine Rede sein.

Ein Kapitel aus der Feder von P. Asmussen beschäftigt sich mit der Hautpflege und ein weiteres aus derjenigen unserer Mitarbeiterin R. Forster mit der Selbstbehandlung und mit der Behandlung durch Familienmitglieder. Die Erörterung der Selbstbehandlung und diejenige der Behandlung durch Familienmitglieder verfolgt nicht das Ziel, unseren Lesern ihr Erlernen aus dem Text zu ermöglichen; sie müssen im Zuge der „Phase I“ der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie von den behandelnden Ärzten und Physiotherapeuten vermittelt werden. Der Text dient dem gelegentlichen Auffrischen des bereits vorhandenen Wissens.

Wir hoffen, dass unsere Leserinnen Verständnis dafür haben, dass wir im Sinne des klassischen deutschen Sprachgebrauchs unter „Leser“ beide Geschlechter verstehen und nicht stets „Leserinnen und Leser“ schreiben.

Hinterzarten, im Dezember des Jahres 2008

Prof. Dr. med. Ethel Földi

Prof. Dr. med. Michael Földi

Table of Contents

KAPITEL 1 Lymphgefäße, Lymphknoten und Lymphe im gesunden Körper

70-mal in der Minute schleudert die linke Herzkammer das Blut, diesen „besonderen Saft“, in die Hauptschlagader (Aorta), deren Äste wie ein verzweigtes Röhrensystem den ganzen Körper durchziehen (). Der Sinn des Blutkreislaufes erfüllt sich in den allerkleinsten, nur unter dem Mikroskop erkennbaren Bluthaargefäßen (Kapillaren). Diese sind in den meisten Organen in ein zwischen den Zellen befindliches Zwischenzellgewebe (Interstitium) eingebettet. Durch die Wand der Bluthaargefäße verlassen in Wasser gelöste, zur Versorgung der Gewebe unerlässliche Nährstoffe und Sauerstoff die Blutbahn. Gleichzeitig kehren zu ihrer Entsorgung die nicht verbrauchten Nährstoffe, Schlacken und Kohlendioxid in die Blutbahn zurück. Das Blut strömt anschließend über das System von Blutadern, den Venen, in den rechten Vorhof des Herzens und weiter in die rechte Herzkammer. Von hier wird es über die Lungenschlagader in die Lungen gepumpt. Auch im Lungenkreislauf kommt es zur Verzweigung bis zu Haargefäßen. Hier wird das Kohlendioxid abgegeben und das Blut erneut mit Sauerstoff gesättigt. Das sauerstoffreiche Blut fließt nun über die Lungenvenen in den linken Vorhof, anschließend in die linke Herzkammer. Damit schließt sich der Blutkreislauf.

image

Abb. 1.1 Blutkreislauf und Lymphgefäßsystem [C155].

In den Körperschlagadern, den Arterien, bewegt sich das mit Sauerstoff gesättigte, arterielle, hellrote Blut schlagartig. Hierdurch entsteht der tastbare Puls. In den Venen strömt das sauerstoffarme, dunkle Blut gleichmäßig. Die oberflächlichen Venen schimmern bläulich durch die Haut.

Es gibt aber noch ein weiteres Gefäßsystem in unseren Körper, in welchem Flüssigkeit von den Geweben abtransportiert wird, dasjenige der Lymphgefäße, der Saugadern. Die in den Lymphgefäßen strömende Flüssigkeit, die Lymphe, ist wasserklar (lat. lympha = klares Wasser). Nur die Lymphe des Dünndarmes – man nennt sie Chylus – ist nach einer fettreichen Mahlzeit gelblich weiß, da das Fett aus dem Darm über Lymphgefäße abtransportiert wird. Im Gegensatz zum Blutgefäßsystem, welches mit dem Herzen einen vollen, in sich geschlossenen Kreislauf bildet, ist das Lymphgefäßsystem lediglich ein Halbkreislauf. Es beginnt mit Lymphhaargefäßen. Diese befinden sich, wie die feinsten Wurzelverästelungen eines Baumes, in der Nachbarschaft der Bluthaargefäße. Aus den Lymphhaargefäßen gelangt die Lymphe in immer größere Lymphsammelgefäße und letztendlich in zwei Hauptlymphstämme, in den Milchbrustgang und in den rechtsseitigen Lymphstamm. Diese beiden Lymphstämme entleeren ihren Inhalt in das venöse System, in die so genannten Venenwinkel. Diese befinden sich hinter den Schlüsselbeinen und entstehen aus der Vereinigung der Unterschlüsselbeinvene und der inneren Drosselvene. Der Milchbrustgang drainiert etwa 75% des Körpers und mündet im linksseitigen Venenwinkel. Der rechtsseitige Lymphstamm drainiert die restlichen 25% aus dem rechten oberen Quadranten des Körpers und mündet im rechtsseitigen Venenwinkel.

Eine interessante Besonderheit der Lymphgefäße, welche sie von Blutgefäßen unterscheidet, besteht in einer beträchtlichen Wanddurchlässigkeit, vor allem der Lymphhaargefäße, aber – in einem geringeren Maße – auch der Sammelgefäße. Diese äußert sich darin, dass Lymphwasser in die umgebenden Gewebe austritt, wodurch die Lymphe allmählich konzentrierter wird. Dies geschieht vor allem dann, wenn der Lymphdruck hoch ist.

1.1 Die „Lymphpumpe“

Die Strömung des Blutes wird in erster Linie durch die pumpende Tätigkeit des Herzens aufrechterhalten. Im venösen Bereich des Blutkreislaufes stehen auch Hilfsmechanismen wie die Atmung und die so genannte „venöse Beinpumpe“ zur Verfügung. Im Gegensatz hierzu wird die Lymphe vorwiegend durch eine aktive, pumpende Tätigkeit der Lymphgefäße selbst vorangetrieben. In der Wand der Lymphsammelgefäße und Lymphstämme befinden sich Muskelzellen und Klappen. Man nennt einen durch zwei Klappen begrenzten Abschnitt eines Lymphgefäßes Lymphangion. Gelangt in ein Lymphangion Lymphe, so übt die Dehnung der Wand einen Reiz aus und das Lymphangion zieht sich zusammen. Hierdurch erhöht sich der Lymphdruck und dies führt dazu, dass sich die peripherisch befindliche Klappe schließt und die zentral befindliche öffnet: Die Lymphpumpe spritzt die Lymphe in das nächste Lymphangion (). Jedes Lymphangion kann als ein winziges Lymphherzchen betrachtet werden. Seine Tätigkeit wird, wie auch diejenige des Herzens, von einem Schrittmacher gesteuert. Wie vom Herzen ein Elektrokardiogramm, so kann vom Lymphangion ein Elektrolymphangiogramm abgeleitet werden. Die Ähnlichkeit zwischen dem Herzen und dem Lymphangion geht aber noch weiter: Das Herz ist nicht nur eine Pumpe, sondern auch eine Drüse, welche ein die Kochsalzausscheidung mit dem Urin regulierendes Hormon sezerniert. Auch das Lymphangion produziert Stoffe, welche seine pumpende Tätigkeit und sogar die Lymphbildung regulieren! Es gibt übrigens Lebewesen – Frösche, Vögel –, welche echte Lymphherzen haben, deren Stillstand eine tödliche Lymphstauung verursacht.

image

Abb. 1.2 Das Lymphangion, ein von zwei Klappen begrenztes Segment eines Lymphgefäßes, spielt die Rolle einer „Lymphpumpe“ [C155].

Die Lymphpumpe passt sich den jeweiligen Anforderungen des Körpers in einer wahrhaft wunderbaren Weise an. In völliger Ruhe besteht beim Gesunden im Bereich der Gliedmaßen lediglich eine sehr spärliche Lymphströmung. Erhöht sich aber die aus den Geweben über die Lymphgefäße abzuleitende Flüssigkeitsmenge, die so genannte lymphpflichtige Wasserlast, so gelangt mehr Lymphe in das Lymphangion, infolgedessen wird dessen Wand stärker gedehnt. Hierdurch beschleunigt sich die Pulsation der Lymphangione: Die Lymphströmung steigt an.

Durch die „manuelle Lymphdrainage“ (ML) wird die Wand der Lymphangione von außen gedehnt. Auch dadurch erhöht sich die Lymphströmung.

Die Atmung spielt auch bei der Lymphströmung die Rolle eines Hilfsmechanismus. Anzumerken ist noch, dass die Lymphströmung aus dem Darm durch dessen Bewegungen, der Darmperistaltik, und aus dem Herzen durch die Kontraktion und die Erschlaffung der Herzmuskulatur aufrechterhalten wird.

1.2 Gewebsflüssigkeit und Lymphe

Was ist nun die Lymphe eigentlich? Die Lymphe entsteht aus der Gewebsflüssigkeit, ist aber mit dieser keineswegs identisch. Wir wollen zuerst davon sprechen, wie die Gewebsflüssigkeit zustande kommt und anschließend kurz die Frage erörtern, wie aus der Gewebsflüssigkeit Lymphe wird.

Die Gewebsflüssigkeit stammt aus dem Blut. Ihre Entstehung hängt mit der Notwendigkeit zusammen, die Gewebe und die Zellen mit den vielen Stoffen, welche sie benötigen, zu versorgen und sie dann von den entstandenen Schlacken zu befreien. Bei der Bildung der Gewebsflüssigkeit, bei der Versorgung und Entsorgung der Gewebe spielen zwei Vorgänge und zwar die Diffusion mit ihrer Spezialform Osmose und die Ultrafiltration + Resorption eine Rolle. Wir wollen uns zuerst mit der Diffusion und der Osmose beschäftigen.

1.2.1 Diffusion und Osmose

Überschichtet man behutsam eine wässrige Zuckerlösung mit Wasser, so wandern Zuckermoleküle in das Wasser und Wassermoleküle in die Zuckerlösung (). Dieser Vorgang beruht auf der Ureigenschaft der Moleküle, der kleinsten Bestandteile eines chemischen Stoffes, sich ununterbrochen hin und herzubewegen. Er wird als Diffusion bezeichnet. Die Diffusion führt dazu, dass sich die beiden Flüssigkeiten, die Zuckerlösung und das Wasser, nach einer gewissen Zeit vermischen, d. h., dass letzten Endes eine verdünnte Zuckerlösung entsteht. Wärme beschleunigt, Kälte verlangsamt diesen Vorgang, der auf einer „thermischen“ Bewegung der Moleküle beruht.

image

Abb. 1.3 Diffusion. Schichtet man auf eine 10 %ige Zuckerlösung destilliertes Wasser, so kommt es durch Diffusion zu einer Vermischung der beiden Flüssigkeiten; es entsteht eine 5 %ige Zuckerlösung. Linkes Bild oben: Wassermoleküle, unten: Zuckermoleküle, rechts beides gemischt [M 150].

Die Wassermoleküle sind kleiner als die Zuckermoleküle. Man kann nun leicht eine Scheidewand (Membrane) herstellen, welche durchlöchert ist, und den Durchmesser der Löcher so gestalten, dass sie sowohl die kleinen Wassermoleküle als auch die größeren Zuckermoleküle frei passieren lassen. Legt man eine solche volldurchlässige Membrane auf die Oberfläche der Zuckerlösung und schichtet anschließend vorsichtig auf diese Membrane Wasser, so wird der Ausgleich langsamer erfolgen. Diejenigen Moleküle, welche bei ihren Bewegungen zufällig gegen die Membrane prallen, können diese erst bei einem der nächsten Versuche passieren, dann nämlich, wenn sie zufällig auf ein Loch stoßen. Eine derartige, etwas behinderte Diffusion spielt bei der Versorgung und Entsorgung der Gewebe eine ganz entscheidende Rolle. () Durch die Bluthaargefäße eines erwachsenen Menschen diffundieren in Wasser gelöst alle lebenswichtigen Stoffe in die Gewebe. Die nicht benötigten sowie die im Laufe der Lebensvorgänge entstandenen Schlacken diffundieren in derselben Wassermenge gelöst in die Blutbahn zurück. Auch der Sauerstoff und das Kohlendioxid diffundieren durch die Bluthaargefäßwand.

image

Abb. 1.4 Behinderte Diffusion. Trennt man eine Zuckerlösung von destilliertem Wasser mit einer für beide Moleküle vollpermeablen Membrane, vermischen sich diese beiden Flüssigkeiten miteinander langsamer als ohne Membrane [M150].

Ein Sonderfall der Diffusion ist die so genannte Osmose. Sie entsteht, wenn man die beiden Flüssigkeiten, die Zuckerlösung und das Wasser, voneinander mittels einer solchen halbdurchlässigen Membrane trennt, in welche kleinere Löcher als bei der volldurchlässigen eingebaut sind und zwar solche, die die winzigen Wassermoleküle passieren lassen, die etwas größeren Zuckermoleküle jedoch nicht. In einem solchen Fall verhalten sich die Zuckermoleküle den Wassermolekülen gegenüber so, wie ein Magnet sich Metallsplittern gegenüber verhält: Sie halten die Wassermoleküle fest. Verwendet man ein U-förmiges Rohr, steigt in dem die Zuckerlösung enthaltenden Ast der Flüssigkeitsspiegel an, dementsprechend baut sich hier am Boden des Gefäßes ein Druck auf, er wird als der osmotische Druck bezeichnet. Anstelle des Wortes „Druck“ kann man auch „Sog“ sagen. ()

image

Abb. 1.5 Wird eine Zuckerlösung von destilliertem Wasser durch eine halbdurchlässige, für Zucker undurchlässige Membrane getrennt, entsteht ein osmotischer Druck [M 150].

Von ganz besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit der Thematik dieses Büchleins ist ein Bestandteil des Blutes, der uns immer wieder beschäftigen wird, der der Eiweißmoleküle. Die Eiweißmoleküle sind viel größer als Wassermoleküle und alle anderen im Blutwasser befindlichen, wie Zucker, Salze, Vitamine usw. Bei diesen Größenordnungen spielt der Unterschied zwischen der Größe der kleinen Moleküle wie Wasser-, Zucker-, Salzmoleküle usw. keine Rolle. Wir können alle diese Zwergmoleküle mit einem Mohnkorn vergleichen, Eiweißmoleküle mit einem Fußball. Die Eiweißmoleküle werden in der Wissenschaft als Makromoleküle oder Kolloide bezeichnet. Entnimmt man Blut und trennt die Blutzellen und das eiweißhaltige Blutwasser, das so genannte Blutplasma voneinander, indem man die Gerinnung des Blutes verhindert, so lässt sich dieselbe Anordnung aufbauen, wie wir im Falle der Zuckerlösung und dem Wasser geschildert haben. Diesmal benutzen wir eine solche halbdurchlässige Scheidewand, welche die winzigen Wasser- und andere Zwergmoleküle frei passieren lässt, die riesigen Eiweißmoleküle jedoch nicht. Gießt man in einen Ast eines U-förmigen Rohrs Blutplasma, in den anderen Ast Wasser, und trennt die beiden Flüssigkeiten voneinander, so verhalten sich die Eiweißmoleküle Wassermolekülen gegenüber so, wie sich ein Magnet Metallsplittern gegenüber verhält, sie ziehen die Wassermoleküle an. Es kommt auch jetzt zu einer Osmose: Wasser wandert durch die Scheidewand in das Blutplasma und in dem das Blutplasma enthaltenden Ast des U-förmigen Rohrs steigt der Flüssigkeitsspiegel an. Da das Eiweiß ein Kolloid ist, nennen wir diese Osmose eine Kolloidosmose. Es baut sich freilich auch in diesem Fall ein Druck – ein kolloid-osmotischer Druck (kolloid-osmotischer Sog) – auf. Der kolloid-osmotische Druck des Blutplasmas eines gesunden erwachsenen Menschen beträgt etwa 25 mmHg (Millimeter Quecksilbersäule); dies entspricht derjenigen Kraft, mit welcher die Eiweißmoleküle die Wassermoleküle festhalten.

Mit welcher Wucht Eiweißmoleküle Wasser an sich reißen und es festhalten, können unsere Leser in der Küche beobachten. Will man eine Bohnensuppe kochen und legt die getrockneten Bohnen in Wasser ein, so sieht man, dass diese aufquellen: Die pflanzlichen Eiweißmoleküle haben Wassermoleküle an sich gezogen und festgehalten; das Häutchen der Bohne platzt ( und ).

image

Abb. 1.6 Wird eine Eiweißlösung von destilliertem Wasser durch eine halbdurchlässige, für Eiweiß undurchlässige Membrane getrennt, entsteht ein kolloidosmotischer Druck [M 150].

image

Abb. 1.7 Bohnen im getrockneten Zustand und nach dem Einweichen in Wasser [O155].

1.2.2 Filtration und Ultrafiltration

Unsere Leser nutzen den Vorgang der Filtration, des Filtrierens zuhause, wenn sie einen Filterkaffee zubereiten. Das hierfür benutzte Filterpapier lässt den Kaffeesatz nicht passieren, wohl aber das schöne Getränk: Es tropft ins Gefäß und zwar ohne dass man hierfür Energie benötigt. In diesem Falle reicht die Schwerkraft aus, um den Kaffeesatz und den Kaffee voneinander zu trennen. Ganz anders ist die Situation, wenn man aus einer wässrigen Eiweißlösung wie dem Blutplasma das Eiweiß entfernen will, um eiweißfreies Blutwasser – mit den in Wasser gelösten Zwergmolekülen – zu gewinnen. Die Eiweißmoleküle halten die Wassermoleküle mit einer solchen Wucht fest – fachmännisch formuliert: der kolloid-osmotische Sog ist so hoch – dass die Schwerkraft nicht in der Lage ist, die Eiweißmoleküle und die Wassermoleküle voneinander zu trennen (). Diese Aufgabe kann mittels einer Ultrafiltration gelöst werden. Hierzu benötigt man eine Spezialflasche, deren Hals durch einen Gummistöpsel luftdicht verschlossen ist. In der Mitte der Flasche befindet sich ein Loch, durch welches luftdicht ein Trichter eingesetzt wird. Im Trichter befindet sich eine sog. halbdurchlässige Membrane, welche das Wasser und die im Wasser gelösten Zwergmoleküle passieren lässt, die riesigen Eiweißmoleküle jedoch nicht. Auf diese Membrane wird das Blutplasma geschüttet (). Anschließend nimmt man einen luftdicht in den Trichter passenden Kolben und platziert diesen auf das Blutplasma. Auf diesem Kolben muss ein Druck ausgeübt werden, der höher als 25 mmHg ist. Mittels dieser so genannten Druckultrafiltration lassen die Eiweißmoleküle die von ihnen festgehaltenen Wassermoleküle los: In der Flasche erscheint tropfenweise eiweißfreies Blutwasser.

image

Abb. 1.8 Ultrafiltration. Wird bei (a) ein Druck oder bei (b) ein Sog auf die Eiweißlösung ausgeübt, so kann die Kraft, mit der die Eiweißmoleküle Wasser binden, überwunden werden [C157].

Man kann auch so vorgehen, dass man aus der Flasche mit Hilfe einer Saugpumpe Luft absaugt. Die Energie, welche zu diesem Absaugen erforderlich ist, ist selbstverständlich die gleiche wie diejenige, welche bei der Druckultrafiltration erforderlich war, d. h., man saugt mittels höher als 25 mmHg. Man spricht in diesem Fall von einer Vakuumultrafiltration. Wenn man will, kann man die Druckultrafiltration und die Vakuumultrafiltration miteinander kombinieren, indem man z. B. die Hälfte der Energie zum Drücken, die andere Hälfte zum Saugen verwendet.

Anzumerken ist noch folgendes: Es kann passieren, dass es bei der Herstellung der halbdurchlässigen Membrane zu einem Fabrikationsfehler gekommen ist, indem sie einige solche Poren enthält, welche Eiweißmoleküle passieren lassen. In diesem Fall wird die in der Flasche erscheinende Flüssigkeit Spuren von Eiweiß enthalten. Freilich wird man in diesem Falle bei der Herstellerfirma reklamieren.

1.2.3 Ultrafiltration und Resorption in der Blutkapillare

Die Wand der Bluthaargefäße entspricht einer solchen Membrane, welche Wassermoleküle und die im Wasser gelösten Zwergmoleküle, wie im Kapitel über Diffusion und Osmose beschrieben, frei passieren lässt, für die Eiweißmoleküle jedoch fast vollständig undurchlässig ist. Aber nur fast: In einem geringen Ausmaß treten auch Eiweißmoleküle durch die Wand der Bluthaargefäße aus. Freilich ist dies kein Fabrikationsfehler: Dieser Austritt ist von der Natur gewollt – das Eiweiß hat in den Geweben verschiedene Funktionen zu erfüllen – und mengenmäßig genau geregelt.

Der sog. „systolische“ Blutdruck beträgt beim gesunden Menschen etwa 120 mmHg. Er sinkt in den kleinsten Schlagadern des Körpers – man nennt sie präkapilläre Arteriolen – bis auf etwa 30 mmHg herab. Mit diesem Druck gelangt nun das Blut in die Bluthaargefäße, in deren Bereich der Blutdruck kontinuierlich weiter herabsinkt und anschließend in die kleinsten Venen – man nennt sie postkapilläre Venolen –, in welchen der Blutdruck weiter herabsinkt: hier beträgt der Druck nur noch etwa 8 mmHg. Dieses Herabsinken des Drucks in den Bluthaargefäßen hat nun zur Folge, dass in der ersten Hälfte der Blutkapillaren, in derjenigen, welche sich unmittelbar nach den kleinsten Arterien, den präkapillären Arteriolen befindet – man nennt diese Hälfte den „arteriellen Schenkel“ –, der durchschnittliche Blutdruck wesentlich höher ist als in der zweiten, im so genannten „venösen Schenkel“.

Im „arteriellen Schenkel“ der Blutkapillaren ist der Blutdruck höher als der kolloid-osmotische Druck im Blut. Dies hat zur Folge, dass in diesem Bereich genau das gleiche geschieht wie im Labor in der Druckflasche, wenn man auf den Kolben einen höheren Druck als 25 mmHg appliziert. Dank der Eigenschaft der Wand der Blutkapillaren als Ultrafilter-Membrane wird aus der Blutbahn in das Gewebe hinaus Blutwasser ultrafiltriert. Mit dem Wasser gelangen auch die im Wasser gelösten Zwergmoleküle aus der Blutbahn in die Gewebe. Dieser Vorgang dient der Versorgung der Zellen. Im zweiten Abschnitt der Bluthaargefäße, im „venösen Schenkel“, ist der Blutdruck niedriger als der kolloid-osmotische Druck im Blut. Dieser Druckunterschied zugunsten des kolloid-osmotischen Sogs führt dazu, dass in diesem Bereich die im Blut befindlichen Eiweißmoleküle aus dem Gewebe – genauso wie Bohnen, die im Wasser liegen – Wasser aufnehmen, Gewebsflüssigkeit in die Blutbahn zurücksaugen. Diesen, der Entsorgung dienenden Vorgang, bezeichnet man als Resorption (lat. resorbere = zurücksaugen).

Zusammenfassend

Als Folge des Eiweißaustrittes durch die Bluthaargefäße in die Gewebe enthält die Gewebsflüssigkeit ohne Ausnahme immer etwas Eiweiß. Selbstverständlich behält das Eiweißmolekül seine Wasser bindende Eigenschaft auch in der Gewebsflüssigkeit, d. h. dass jedes einzelne Eiweißmolekül, welches die Blutbahn verlässt, für den Aufbau eines kolloidosmotischen Drucks in der Gewebsflüssigkeit verantwortlich ist. Man kann sich die Situation wie einen Kampf um Wasser vorstellen, einen Kampf zwischen den Eiweißmolekülen, welche sich im Blut, im Bluthaargefäß, befinden und denjenigen, welche in die Gewebsflüssigkeit gelangt sind. Sieger sind die Eiweißmoleküle in der Blutbahn, da sie wesentlich zahlreicher sind als die in der Gewebsflüssigkeit befindlichen, allerdings sind sie etwas geschwächt: Die Kraft, mit welcher sie Gewebsflüssigkeit in die Blutbahn zurückholen oder resorbieren können (der resorbierende Druck), ist vermindert. Bildlich vorgestellt befinden sich in der Blutkapillare zwanzig kräftige Ringer, die um Wassermoleküle kämpfen, im Gewebe sind es nur drei gleich starke, die dasselbe tun. Das Resultat sieht dann so aus, als würde es in der Blutkapillare nur 17 Ringer geben.

Diesen eingeschränkten resorbierenden Druck bezeichnen wir als den effektiven resorbierenden Druck. Letzten Endes ist dieser für die Resorption vorhanden:

Effektiver resorbierender Druck = kolloid-osmotischer Druck im Blut – kolloid-osmotischer Druck im Gewebe

Ein weiterer, komplizierender Faktor ist der in der Gewebsflüssigkeit herrschende Druck. Es ist leicht einzusehen, dass dieser Druck den ultrafiltrierenden Druck beeinflusst, so dass der Begriff eines effektiven ultrafiltrierenden Drucks eingeführt werden musste. Stellen wir uns vor, dass wir bei einer Druckultrafiltration () auf den Kolben einen Druck von sagen wir 50 mmHg ausüben; dies ist mehr als genug, um den Sog von 25 mmHg, mit welchem das Eiweiß im Blutplasma das Wasser festhält, zu überwinden. Benutzen wir nun aber den Seitenast, um anstelle des Erzeugens eines Vakuums in der Flasche einen Überdruck von sagen wir 10 mmHg zu erzeugen, indem wir Luft in die Flasche blasen, so bleiben für die Ultrafiltration nur noch 50 – 10 = 40 mmHg übrig. Dies ist jetzt der effektive ultrafiltrierende Druck.

Effektiver ultrafiltrierender Druck = Blutdruck in den Bluthaargefäßen – Druck im Gewebe

Wir können nun festhalten, dass im ersten, arteriellen Schenkel der Blutkapillaren der effektive ultrafiltrierende Druck höher ist als der effektive resorbierende Druck. Infolgedessen erfolgt hier eine im Dienste der Versorgung der Gewebe stehende Ultrafiltration. Im venösen Schenkel ist hingegen der effektive resorbierende Druck höher als der effektive ultrafiltrierende Druck, so dass hier ein im Dienste der Entsorgung stehender Vorgang stattfindet.

Wir haben darauf verzichtet, für diese verschiedenen Drücke zahlenmäßige Werte anzugeben. Denn die Drücke für die arteriellen und venösen Blutkapillarschenkel können nicht mit jeweils nur einer Zahl angegeben werden: Der Druck nimmt vom arteriellen Anfang des Bluthaargefäßes bis zu dessen venösem Ende ab und wird durch Änderungen der sich stets den momentanen Bedürfnissen anpassenden Durchblutungsverhältnisse beeinflusst. Gibt man also einen Wert für den Blutkapillardruck an, so ist dies ein statistischer Mittelwert. Auch der zahlenmäßige Wert des Gewebeflüssigkeitsdrucks ist nicht bekannt. Der kolloid-osmotische Druck in der Gewebsflüssigkeit ist auch nicht einwandfrei messbar.

An dieser Stelle erinnern wir unsere Leser daran, dass Versorgung und Entsorgung der Gewebe auch durch die besprochene „behinderte Diffusion“ stattfindet. Die Diffusion erfolgt durch die gesamte Blutkapillarfläche, sowohl über den arteriellen als auch über den venösen Schenkel.

Dieser Vorgang ist mengenmäßig viel wichtiger als die Ultrafiltration – Resorption: pro Minute diffundieren in beide Richtungen über das gesamte Blutkapillarnetz eines erwachsenen Menschen 240 Liter Wasser. Hingegen werden pro Minute nur etwa 20 ml Wasser ultrafiltriert, zur Resorption gelangen davon aber nur etwa 90%, d. h. 18 ml. Die 2 ml des nicht zur Resorption gelangenden Wassers nennen wir „Nettoultrafiltrat“, die etwa 20 ml sind das „Bruttoultrafiltrat“. Das Nettoultrafiltrat dient der Lymphbildung; wir nennen es „lymphpflichtige Wasserlast“. Mit dem „Diffusionswasser“ haben die Lymphgefäße nichts zu tun.

1.3 Die Entstehung der Lymphe

Die lymphpflichtige Wasserlast enthält unter anderem diejenigen Eiweißmoleküle, welche die Bluthaargefäße verlassen haben. Dieses Eiweiß kann nicht in die Bluthaargefäße zurückgelangen, aus diesem Grunde ist es auch „lymphpflichtig“, es muss mit der Lymphe abgeleitet werden. Wenn man die berechtigte Frage stellt, warum man für den Stofftransport vom Herzen zu den Geweben nur ein Röhrensystem benötigt – dasjenige der Schlagadern – und warum es für den Rücktransport zum Herzen neben der Venen auch der Lymphgefäße bedarf, so lautet die Antwort: Die allerwichtigste Aufgabe des Lymphgefäßsystems besteht in der Bewältigung der lymphpflichtigen Eiweißlast, in der Rückbeförderung des Eiweißes in die Blutbahn. Es ist nämlich so, dass für die Eiweißmoleküle die in der Wand des Blutgefäßes befindlichen engen Poren „Drehtüren“ sind: sie ermöglichen ihren Austritt in Richtung Gewebe, nicht aber ihr Zurückgelangen aus dem Gewebe in das Bluthaargefäß. (Diese Erklärung sollen unsere Leser als ein Bild auffassen; in Wirklichkeit verbietet die Rückkehr der Eiweißmoleküle ein Naturgesetz, das sog. „Zweite Hauptgesetz der Wärmelehre“). Würde das Lymphgefäßsystem eines Menschen plötzlich aufhören zu funktionieren, so verlöre das Blut binnen eines Tages fast seinen gesamten Eiweißgehalt, und dieses Eiweiß häufte sich im Gewebe an. Dieses Eiweiß würde das ganze Blutwasser aus der Blutbahn zu sich hinaussaugen und in der Blutbahn blieben nur die Blutzellen zurück. Dies wäre der sichere Tod; die Todesursache bestünde in einem so genannten hypovolämischen Schock (Volumenmangelschock); es käme zu einem Kreislaufzusammenbruch infolge des Leerschlagens des Herzens.

Nicht nur Eiweißmoleküle verlassen die Blutbahn, sondern auch verschiedene weiße Blutzellen (Lymphozyten, Granulozyten) um das Gewebe zu überwachen und gegebenenfalls gegen ungebetene Gäste wie Bakterien den Kampf aufzunehmen (s.a. ). Auch einige rote Blutkörperchen werden immer wieder ausgeschwemmt. All diese Zellen verlassen das Gewebe durch die Lymphgefäße.

Die unter anderem Eiweißmoleküle und Zellen enthaltende Gewebsflüssigkeit wird von den Lymphhaargefäßen in ihre Lichtungen aufgenommen; hier wird aus ihr Lymphe. Die Beschreibung dieses komplizierten Vorganges würde den Rahmen dieses Büchleins sprengen. Erwähnt sei lediglich, dass die Lymphbildung durch die „manuelle Lymphdrainage“ (ML) verstärkt wird.

1.4 Die Lymphknoten

In den Verlauf der Lymphsammelgefäße sind Lymphknoten eingeschaltet. Die zu einem Körperabschnitt bzw. zu einem Organ gehörenden Lymphknoten werden als regionäre Lymphknoten (lat. regio = Gebiet) bezeichnet. In diesem Sinne sprechen wir z. B. von den regionären Lymphknoten der Brustdrüse, der Gliedmaßen, der Leber, des Herzens usw. und nennen diese Körperteile Tributargebiete dieser Lymphknoten.

Die Lymphknoten üben die Funktion von Kläranlagen aus. Es gehört zu ihren wichtigen Aufgaben, die durch sie sickernde Lymphe zu reinigen. So enthält z. B. die aus den Lungen und den Luftwegen stammende Lymphe Staubteilchen. Diese werden im Bereich der regionären Lymphknoten der Luftwege aus der Lymphe entfernt, die diese Lymphknoten verlassende Lymphe ist bereits staubfrei. Durch diesen Vorgang werden Lungen und Luftwege kontinuierlich gesäubert. Enthält die Lymphe Bakterien, so werden auch diese in den Lymphknoten zurückgehalten, nicht aber – leider – Viren.

Die Lymphknoten sind außerdem – zusammen mit dem Bries (Thymus), mit den Mandeln (Tonsillen) und der Milz – Bildungsstätten der Lymphozyten, von Zellen, welche im Mechanismus der Abwehr von Ansteckungen von eminenter Bedeutung sind.

Darüber hinaus gelangen Lymphozyten über die Blutkapillaren des Lymphknotens sowie über seine afferenten Lymphgefäße in den Lymphknoten. Ein Teil der im Lymphknoten befindlichen Lymphozyten verlassen diesen in der Lymphe, in den efferenten Lymphgefäßen, ein anderer durch die Venen des Lymphknotens ().

image

Abb. 1.9 Lymphozytenströme zwischen Milz, Lymphknoten, Blut und Lymphe.

Der Zellgehalt der efferenten Lymphe ist viel höher als derjenige der afferenten, und zwar in erster Linie deswegen, weil normalerweise innerhalb des Lymphknotens der Lymphe viel – bis zu 70 % – Wasser entzogen wird: Das Wasser gelangt in die Venen des Lymphknotens. Unter krankhaften Bedingungen kann es aber auch zum umgekehrten Vorgang kommen, nämlich dass der Lymphe im Lymphknoten Wasser beigemengt wird. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Lymphknoten in einem venösen Staugebiet liegt.

1.5 Die Sicherheitsventilfunktion des Lymphgefäßsystems

Beim gesunden, erwachsenen Menschen gelangen über den Milchbrustgang im Lauf eines Tages etwa 2 Liter, über den rechtsseitigen Lymphstamm 0,5 Liter Lymphe in den Blutkreislauf. Vergleicht man diese 2,5 Liter mit der Blutmenge, welche das Herz im Blutgefäßsystem in Bewegung hält – es sind im Laufe eines Tages etwa 10 000 Liter – so erscheinen diese 2,5 Liter verschwindend gering. Und trotzdem sind auch diese 2,5 Liter lebenswichtig: Wie wir sahen, würde ohne Lymphströmung der Kreislauf infolge des Eiweißstaus in den Geweben zusammenbrechen.

Aber das Lymphgefäßsystem spielt auch noch eine andere, sehr wichtige Rolle. Es ist in der Lage, im Falle des Anstieges der lymphpflichtigen Wasserlast – herbeigeführt durch eine Störung des normalen Verhältnisses zwischen dem effektiven ultrafiltrierenden und dem effektiven resorbierenden Druck zugunsten des ultrafiltrierenden –, welcher zu einer übermäßigen Wasseransammlung im Gewebe, zu einem Ödem, führen könnte, dies dank seiner so genannten Sicherheitsventilfunktion zu verhüten. (Im Zusammenhang mit dem Ausdruck Sicherheitsventilfunktion denken Sie an einen Dampfkessel, welcher ohne Sicherheitsventil leicht explodieren kann, wenn der Dampfdruck zu hoch wird). Es kommt zum Anstieg der Lymphbildung und zur Ankurbelung der Lymphpumpen, wodurch die Lymphströmung, das Lymphzeitvolumen, ansteigt.

Störungen dieser Art entstehen nicht nur bei Krankheiten, sondern auch bei völliger Gesundheit. Wenn wir morgens aufstehen, steigt in unseren Füßen der Blutkapillardruck so stark an, dass diese – hätten wir in den Beinen keine Lymphgefäße, die mit ihrer Sicherheitsventilfunktion sofort eingreifen würden – binnen kürzester Zeit ödematös anschwellen würden ().

Erinneren wir uns: Das Lymphangion entspricht einem winzigen Herzen. Auch unser „großes Herz“, welches für den Blutkreislauf verantwortlich ist, pumpt in Ruhe gerade soviel Blut wie unser Körper benötigt und pumpt bei körperlicher Belastung mehr. Aber selbst das Herz eines hoch trainierten jungen Athleten kann höchstens das Achtfache des normalen Ruheherzzeitvolumens befördern. Es gibt eine Höchstgrenze, welche nicht überschritten werden kann. Genauso ist es im Fall der Lymphangione: auch ihre Leistungsfähigkeit ist begrenzt. Wir bezeichnen das höchstmögliche Lymphzeitvolumen, welches die Lymphgefäße bei der Ausführung ihrer Sicherheitsventilfunktion erreichen können, als Transportkapazität; diese kann das Zehnfache des Ruhewertes oder noch mehr erreichen.