Vincent Kliesch
Der Prophet des Todes
Thriller
Vincent Kliesch
Der Prophet des Todes
Thriller
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
1. Auflage
Originalausgabe Mai 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2012 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlaggestaltung: © bürosüd°, München.
Redaktion: Rainer Schöttle
DF · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-07384-8
www.blanvalet.de
Für Papa
Prolog
»Wenn die uns erwischen, sind wir erledigt!«
Slim und Adam hatten auf ihrer atemlosen Flucht nur wenige Sekunden Vorsprung vor ihren Verfolgern gewonnen, die sich mittlerweile aufgeteilt hatten, um sie schneller finden zu können.
»Ich hätte dich da nie mit reinziehen dürfen«, keuchte Slim, als sie hinter einer schwer einsehbaren Ecke ein paar Sekunden lang stehen blieben, um wieder zu Atem zu kommen.
»Schon in Ordnung«, antwortete Adam, bevor sie den Pfiff eines ihrer Verfolger hörten und trotz ihrer vollkommenen Erschöpfung weiterliefen. Slim war erst kurz zuvor auf losem Schotterstein ausgerutscht und hatte sich bei seinem Sturz das Knie und die linke Hand verletzt. Außerdem war seine Jacke eingerissen, nachdem einer der Verfolger sie zu fassen bekommen hatte. Adam war im letzten Moment dazwischengesprungen und hatte den Angreifer zu Boden geworfen.
»Da vorn!«, hörten sie jetzt den Anführer der Gang rufen, der die Schatten der Flüchtenden hinter einem Heuschober hatte verschwinden sehen.
»Rauf da!«, rief Adam und rannte, so schnell er noch konnte, zu der Leiter, die auf den Heuboden führte. »Wenn wir oben sind, ziehen wir sie einfach rauf.«
Ohne dass es einer weiteren Absprache bedurfte, liefen die beiden zu der morschen Leiter, die in diesem Augenblick die letzte Rettung zu sein schien. Slim war gerade einmal zwei Sprossen hinaufgestiegen, als er stehen blieb und seine Augen schloss.
»Das ist ganz schön hoch«, sagte er in einem Ton, der Adam vermuten ließ, dass er unter Höhenangst litt.
»Und die sind ganz schön viele«, entgegnete der mutigere der beiden und deutete in die Richtung, aus der die wild durcheinanderschreienden Verfolger mit jeder Sekunde näher kamen.
Slim nickte, nahm all seinen Mut zusammen und stieg, von Angst getrieben, Sprosse um Sprosse nach oben.
»Ich bin hinter dir«, beruhigte ihn Adam, der in kurzem Abstand folgte.
Gerade als sie es bis ganz nach oben geschafft hatten, stieß auch schon der erste ihrer Jäger das Tor auf, erfasste blitzschnell die Lage und lief zu der Leiter.
»Schnell!«, rief Adam und begann sofort, sie hochzuziehen. Doch noch bevor die beiden es schafften, die lange, schwere Leiter in eine sichere Höhe zu bringen, hatte der andere sie auch schon am unteren Ende zu fassen bekommen.
»Komm schon!«, drängte Adam, woraufhin die beiden unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte so stark zogen, dass sie ihren Gegner schließlich mitsamt der Leiter in die Luft hoben. Dieser ließ intuitiv los, und noch bevor die übrigen Mitglieder seiner Bande nah genug gekommen waren, hatten Slim und Adam es geschafft.
Atemlos ließen sie sich nun auf ihrer sicheren Position ins Heu sinken und versuchten mit schnellen Zügen die verloren gegangene Kraft in ihre Körper zurückzuatmen. Ihre Verfolger berieten sich währenddessen über die Lage. Der Anführer rief den beiden schließlich zu:
»Und jetzt, ihr Schlaumeier?«
Slim sah Adam an. Beiden war bewusst, in welche Lage sie sich gebracht hatten.
»Wie lange könnt ihr da oben aushalten?«
Der Anführer wandte sich seinen Leuten zu und sagte so laut, dass Slim und Adam es hören konnten: »Wir lösen uns ab. Einer bleibt hier unten und hält Wache. Früher oder später müssen sie ja runterkommen.«
Slim sah Adam daraufhin besorgt an.
»Ich hab Angst«, gab er zu.
Adam dachte kurz nach, setzte sich schließlich auf, fasste kräftig an Slims Schulter und sah ihm selbstbewusst in die Augen. Ohne jeden Unterton von Zweifel sagte er:
»Heute Nacht besiegt uns keiner.«
1
Das Kind hörte einfach nicht auf zu schreien.
Julius Kern hatte das herzzerreißende Weinen schon im Hausflur gehört, noch bevor er das Apartment in dem anonymen Wohnkomplex im Berliner Stadtteil Wedding betreten hatte. Das unaufhörliche Wimmern des Kindes beeindruckte ihn sogar noch mehr, als es die Leiche der Mutter tat, die kreisend an einem Strick von der Decke baumelte.
»Ich habe so was noch nie erlebt«, hatte Quirin Meisner am Telefon gesagt. Kern war daraufhin sofort in seinen Wagen gestiegen und zum Fundort gefahren.
Meisner, Erster Kriminalhauptkommissar beim LKA Berlin, war einer von Kerns ältesten Freunden. Sie kannten einander, seit Kern vor vielen Jahren seinen Dienst in der Abteilung für Delikte am Menschen angetreten hatte. Meisner, das bedurfte zwischen den beiden keiner Erwähnung, hätte Kern nicht gerufen, wenn nicht etwas wirklich Außerordentliches vorgefallen wäre.
Aufmerksam musterte Kern nun den Raum, in dem die junge Mutter Jaqueline Ertel ihrem Leben ein furchtbares Ende gesetzt hatte.
»Wie lange hängt sie da schon?«, fragte er, während er die Leiche der Frau näher betrachtete. Ihr totes Gesicht war voll von getrocknetem Blut, das ihr aus Mund und Nase gelaufen war. Außerdem war ihr Speichel auf den Brustkorb geronnen und hatte einen dunklen Fleck auf ihrem T-Shirt hinterlassen. Unter der Toten hatte sich zudem eine Urinpfütze gebildet, nachdem die Schließmuskeln der Frau letztlich versagt hatten.
»Sie sollte schon abgehängt sein. Aber ich wollte, dass du alles noch so siehst, wie wir es vorgefunden haben. Wir haben übrigens zuerst den Ehemann entdeckt, dann sie«, antwortete Meisner.
Kern sah sich unwillkürlich um.
»Der Mann auch? Wo?«, fragte er, nachdem er keine Anzeichen dafür erkennen konnte, dass sich noch eine weitere Leiche in der kleinen Wohnung befand.
»Nicht hier«, wiegelte Meisner ab. »Er hatte eine eigene Wohnung. In Hellersdorf.«
»Hat sie was mit seinem Tod zu tun?«, fragte Kern unsicher und deutete dabei auf die Leiche der jungen Frau, die nun von den Assistenten des Rechtsmediziners mitsamt der Schlinge um ihren Hals losgeschnitten und in einen schwarzen Kunststoffsarg gelegt wurde. Meisner nickte.
»Sie hat ihn wahrscheinlich vergiftet, wir haben das Zeug in ihrer Handtasche gefunden. Danach muss sie hergefahren sein und sich selbst gerichtet haben.«
»Was ist mit dem Kind?«, wollte Kern dann wissen. Meisner antwortete zunächst nicht. Er machte nur eine kleine Geste in Richtung Kinderzimmer.
»Die Kleine ist noch keine zwei Jahre alt«, sagte er dann. »Ich verstehe das nicht. Warum erhängt sich eine Mutter, während nebenan ihre Tochter liegt?«
Kern warf einen kurzen Blick in das Kinderzimmer, in dem eine Kollegin der Schutzpolizei das Mädchen bis zum Eintreffen des Krankenwagens zu beruhigen versuchte. Der Rechtsmediziner Dr. Adrian Homann, der die erste Leichenschau am Fundort vorgenommen hatte, wollte sich zunächst vergewissern, dass das Kind keine Anzeichen von Unterernährung oder Unterkühlung zeigte, bevor er es schließlich zur Beobachtung in die Kinderklinik eingewiesen hatte. Kern trat vorsichtig an seine Kollegin heran und strich der Kleinen sanft mit dem Zeigefinger über die Stirn.
Was musst du heute durchgemacht haben?
»Hat sie noch Verwandte?«, fragte er leise, als wolle er verhindern, dass das Mädchen es hören konnte.
»Wir sind dran«, gab Meisner zur Antwort. Erst als er den besorgten Blick seines Freundes bemerkte, fügte er seiner dienstlichen Antwort noch eine persönliche hinzu: »Sie wird in gute Hände kommen. Es gibt viele gute Pflegefamilien.«
»Wer kann einem Kind schon die Mutter ersetzen?«, flüsterte Kern und berührte sanft die kleinen Finger des Mädchens, die es gerade in seine Richtung ausgestreckt hatte.
Während Ertels Leiche aus der Wohnung getragen wurde, deutete Meisner dem Rechtsmediziner an, dass er noch einmal kurz mit ihm sprechen wolle. Unterdessen wandte sich Kern wieder von dem Kind ab und ließ seine Blicke erneut prüfend durch den Raum schweifen, in dem sich das Drama abgespielt hatte.
An den Wänden hingen Poster aus den Neunzigerjahren, auf denen fliegende Einhörner, traurige Clowns und Regenbögen abgebildet waren. Die Bilder waren nicht gerahmt, nur mit Klebestreifen an die abgenutzte Raufasertapete geklebt. Das Sofa war mit einem Tigerfellmuster bezogen, und auf dem gekachelten Couchtisch lagen neben diversen Fernbedienungen halb volle russische Zigarettenschachteln und abgegriffene Rätselzeitschriften. Zudem stand ein überfüllter Aschenbecher darauf.
Nicht gerade ein Palast.
Als Meisner mit Dr. Homann zu sprechen begann, wandte auch Kern sich den beiden zu.
»Das hätte kaum schlimmer laufen können«, begann Homann, während er Kern mit einem Nicken grüßte. »Wegen der niedrigen Decke ist sie keine zehn Zentimeter tief in die Schlinge gefallen. Da ist alles schiefgegangen.«
»Also kein Genickbruch«, schlussfolgerte Kern und schüttelte betreten den Kopf.
»Dafür müsste der Knoten der Schlinge vorn oder seitlich liegen«, erklärte Homann. »Ihrer lag aber im Nacken, da geht es nur beim Long Drop schnell. Wenn man so um die fünfzig Zentimeter tief fällt. Alle Blutgefäße, die zum Gehirn laufen, verschließen sich, und das Opfer wird sofort bewusstlos. Geht ruckzuck und ist schmerzlos. Wenn man sich allerdings zu vorsichtig in den Strick sinken lässt, dann erstickt man ganz langsam. Mit allem, was dazugehört: Einblutung in die Augen, Lungenüberblähung und Strangfurche am Hals.«
»Hast du Kampfspuren gefunden?«, fragte Meisner.
»Nein. Ich muss sie natürlich noch auf dem Tisch sehen, aber ehrlich gesagt, wenn sie an den Händen und Armen schon keine hat, dann finde ich woanders auch keine mehr. Sie hat sich anscheinend wirklich aus eigenem Entschluss erhängt.«
Kern bemerkte, dass Meisner sich damit nicht zufriedengeben wollte.
»Adrian, bist du absolut sicher?«, hakte er in einem Tonfall nach, der dem Arzt zweifelsfrei zu verstehen gab, dass er Bedenken gegen die Selbstmordtheorie hatte. Homann wusste, dass Meisner sich nur ungern mit den Ergebnissen der ersten Leichenschau zufriedengab.
»Einen Menschen gegen seinen Willen zu erhängen ist so gut wie unmöglich«, erklärte er daher. »Er würde wie verrückt um sein Leben kämpfen und dabei enorme Kräfte aufwenden. Er würde treten, um sich schlagen, sich fallen lassen, schreien, toben, spucken, kratzen. Ohne Abwehrverletzungen und Kampfspuren läuft das nicht ab. Mal ganz zu schweigen von den Nachbarn, die das alles mitbekommen müssten.«
»Und wenn sie was im Blut hatte? Drogen vielleicht?«, hakte jetzt auch Kern nach.
»Klar, prüfe ich noch. Aber wenn sie so auf Droge gewesen wäre, dass man sie ohne Gegenwehr einfach hätte aufhängen können, dann müsste es Spuren davon geben, dass jemand sie gehoben und gestützt hat.«
Weder Kern noch Meisner konnten den Argumenten des Mediziners etwas Schlüssiges entgegensetzen.
»Danke, Adrian. Wir sprechen dann, wenn du sie genau gesehen hast. Und ihren Mann.«
Homann verabschiedete sich und folgte seinen Kollegen, die den Sarg mittlerweile zum Leichenwagen gebracht hatten.
Kern sah seinen Freund kritisch an.
»Okay, jetzt mal Schluss damit«, begann er. »Das ist eine tragische Geschichte. Eine Mutter hat ihren Mann ermordet und sich danach erhängt.«
»Es spricht wirklich alles dafür«, bestätigte Meisner.
»Und warum«, fuhr Kern fort, »bin ich dann hier?«
Julius Kern galt unter seinen Kollegen als einer der besten Ermittler des LKA Berlin. Meisner, daran konnte kein Zweifel bestehen, hätte ihn niemals wegen eines tragischen Familiendramas in einem sozialen Problembezirk zurate gezogen. Und er hätte niemals leichtfertig die Einschätzung seines langjährigen Kollegen von der Rechtsmedizin infrage gestellt.
»Also gut, kommen wir zum Punkt«, setzte Meisner daher an. »Wir haben nicht nur das Gift bei ihr gefunden. Da war noch was. Und ich verspreche dir, es wird dich interessieren.«
Meisner griff in die Innentasche seines Mantels und zog eine Plastiktüte hervor, die vom Erkennungsdienst mit einer Nummer versehen worden war. Kern erkannte, dass sich ein Zettel und ein Briefumschlag darin befanden.
»Also?«, fragte er mit ruhiger Konzentration.
Ohne eine Miene zu verziehen, reichte Meisner ihm den Beutel. Kern atmete noch einmal tief durch, bevor er ihn herumdrehte und las, was auf dem Zettel geschrieben stand. Nachdem er die Botschaft gesehen hatte, hob er den Kopf und ließ den Blick erneut im Raum umherschweifen. Der Geruch von Fäkalien, Bier und kaltem Zigarettenrauch stand in der Luft, während das Kind unaufhörlich weiterschrie und weinte, als könne es fühlen, welches Drama sich in dieser Wohnung abgespielt hatte. Noch einmal las er die Botschaft auf dem Zettel und wandte sich dann mit gerunzelter Stirn an seinen Kollegen.
»Du hast recht«, bestätigte Kern. »Diese Geschichte interessiert mich.«
Meisner wandte seinen Blick keine Sekunde lang von Kern ab.
»Dann bist du im Team«, sagte er kurz und sachlich.
»Sehr gut«, erhielt er zur Antwort. »Diese Stadt hat so viele Irre, da brauchen wir den hier nicht auch noch.«
Weiterer Worte bedurfte es nicht. Während das Kind im Nebenraum einen kurzen Augenblick lang zu weinen aufgehört hatte, betrachtete Kern den abgeschnittenen Strick, an dem die Frau an diesem Tag den Tod gefunden hatte. Ohne es selbst zu bemerken, wiederholte er flüsternd, was er gelesen hatte:
»In drei Tagen wirst Du Deinen Mann vergiftet und Dich selbst erhängt haben.«
Dann setzte das Weinen wieder ein.
2
»Viel Zeit haben wir nicht«, begann Meisner, noch bevor er mit Kern das trostlose Gebäude mit den heruntergekommenen Fluren und den beschmierten Wänden verlassen hatte. »Adrian wird als Todesursache spätestens morgen Selbstmord eintragen. Und wenn sie ihren Mann wirklich ermordet hat, ist die Ermittlung damit abgeschlossen.«
Kern wirkte abwesend. Die Umstände, unter denen er Jaqueline Ertels Leiche vorgefunden hatte, gingen ihm noch immer durch den Kopf.
»Wo hat die Frau eigentlich das Gift her?«, fragte er deshalb. »Angenommen, sie hat diese Prophezeiung wirklich vor drei Tagen bekommen. Wie hat sie das alles in so kurzer Zeit organisiert? Und vor allem: warum?«
Unter den Augen einer ganzen Gruppe von Schaulustigen, die kurz zuvor den Abtransport des Sarges wie ein dramatisches Schauspiel verfolgt und mit ihren Handykameras festgehalten hatten, blieben Kern und Meisner auf dem abgesperrten Bürgersteig stehen.
»Du hast recht, das stinkt zum Himmel«, bestätigte Meisner. »Wenn der Brief wirklich der Auslöser war, dann muss bei der Frau in den vergangenen Tagen einiges los gewesen sein. Und dafür muss es Zeugen geben.«
Noch bevor Kern Gelegenheit hatte, darauf zu antworten, brachte sich ein Passant ein, der mit seinem Zwergschnauzer an der Leine direkt hinter dem Absperrband stand:
»Wat is’n da drinne eigentlich passiert?«, fragte er.
Immer stärker staute sich jetzt der Verkehr in der Seitenstraße, die ohnehin schon seit Wochen wegen einer Baustelle verengt war. Auch die Fahrer der Autos, die sich an den unsanierten Altbauten vorbeischoben, wollten einen Blick auf das Spektakel werfen.
»Wenn ich das wüsste, könnte ich Feierabend machen und zu meiner Familie fahren«, rief Kern dem Mann zu und wandte sich wieder an Meisner, während die Beamten der Schutzpolizei vergeblich versuchten, die Menge der Schaulustigen auseinanderzutreiben.
»Was würdest du machen, wenn du so einen Brief bekommst?«, fragte Kern nun seinen Kollegen.
Meisner musste nicht lange nachdenken.
»Ich würde ihn wegwerfen. Es sei denn, er bezieht sich auf etwas Konkretes, das ich ernst nehme. Oder ich kenne den Absender und weiß, was er mir damit sagen will.«
Kern sah noch einmal zum Fenster der Wohnung hinauf, in der Jaqueline Ertel ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.
»Ich könnte mir auch vorstellen, dass eine Frau mit so was zur Polizei gehen würde«, sagte er dann. »Sie müsste sich doch von dem Brief belästigt fühlen. Oder sogar bedroht.«
»An eine Drohung habe ich auch schon gedacht«, stimmte Meisner zu. »Aber womit?«
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge der Schaulustigen, als der Krankenwagen eintraf. Kern und Meisner bemerkten, dass jetzt das Kind aus dem Haus gebracht und von einem Mitarbeiter des Jugendamts in Empfang genommen wurde, der den Krankentransport begleitete.
»Moment, bitte«, rief Meisner und deutete dem Mann an, dass er ihn kurz sprechen wolle. »Wo bringen Sie die Kleine denn hin? Hat sie noch Verwandte?«
»Sie wird jetzt erst mal gründlich untersucht und braucht dann Ruhe«, entgegnete Gunnar Rosenbaum, der beim Jugendamt Berlin-Mitte für die Ertels zuständig war.
»Kennen Sie die Familie gut?«, hakte Kern interessiert nach.
»Leider. Eine schwierige Situation, aber das erzähle ich Ihnen später. Die Kleine hat heute schon genug durchgemacht. Kommen Sie doch einfach in zwei Stunden in meinem Büro vorbei, okay?«
»Dann sehen wir uns gleich«, antwortete Meisner.
Nachdem Rosenbaum daraufhin mit dem noch immer weinenden Kind losgefahren war, setzten die beiden Kommissare ihre Überlegungen fort.
»Unser Briefschreiber muss irgendwas gewusst haben«, begann Kern. »Vielleicht, dass sie ihren Mann ermorden wollte?«
»Aber wenn ihr bekannt war, dass sie einen Mitwisser hat, warum hätte sie es dann noch durchziehen sollen?«
Die Männer sahen einander ratlos an.
»Ich habe echt keine Idee, was hier abgelaufen ist«, verlieh Meisner seiner Hilflosigkeit schließlich Ausdruck.
Während immer mehr Polizisten das Haus verließen und ihre Einsatzfahrzeuge vom Bürgersteig wegfuhren, begann nun endlich auch die Gruppe der Schaulustigen langsam auseinanderzubrechen.
»Okay, im Moment kann es noch alles sein«, fasste Kern zusammen. »Vielleicht stammt der Brief von einem Bekannten. Vielleicht auch von einem Irren oder einem ganz miesen Scherzkeks. Aber das sage ich dir: Wenn dieser Typ irgendwas mit der Sauerei da oben zu tun hat, dann finde ich ihn. Darauf kannst du dich verlassen.«
3
Das Jugendamt Berlin-Mitte war für die Bezirke Mitte, Tiergarten und Wedding zuständig. An manchen Tagen kamen die Mitarbeiter dort mit ihrer Arbeit kaum dem Aufkommen an Meldungen besorgter Lehrer, Verwandter oder Nachbarn hinterher.
Gunnar Rosenbaum teilte sich sein Büro mit drei Kolleginnen. Die meiste Zeit verwendeten sie an diesem Tag darauf, mit Bürgern zu telefonieren, die völlig aufgelöst über die Kinderschutz-Hotline von mutmaßlichen Misshandlungen berichteten.
»So geht das die ganze Zeit«, empfing er Kern und Meisner. »Tee?«
Ohne eine Antwort abzuwarten ging er zu dem Wasserkocher, der auf einer mit Aktenstapeln überfüllten Anrichte stand, und legte Teebeutel in zwei angeschlagene Tassen. Das Wasser im Kocher war noch heiß, sodass er es aufgoss, ohne das Gerät vorher noch einmal eingeschaltet zu haben.
»Wir werden Shiva Ertel nach dem Check-up in der Klinik erst mal zum Übergang in ein Heim bringen. Da ist sie versorgt, bis wir die familiäre Situation geklärt haben«, berichtete Rosenbaum, während er seinen Gästen vom LKA den Tee reichte. »Zucker und Milch müssen Sie sich selber reintun.«
»Ganz schön belastender Job, oder?«, stellte Kern fest, während er sich umsah.
»Wir haben für dieses Jahr zwei neue Planstellen bekommen. Aber glauben Sie, die wollte jemand haben?«, entgegnete Rosenbaum. »Dauernd bekommen wir die schlimmsten Meldungen rein. Machen wir dann ein großes Fass auf, stellt sich vielleicht raus, dass ein Nachbar übertrieben hat und gar nichts vorgefallen ist. Nehmen wir eine Meldung nicht ernst genug und ein Kind wird verletzt, dann sind wir die Sündenböcke. Alle denken, wir sind Supermänner, die geflogen kommen und Kinder aus schlimmen Verhältnissen retten. Aber wirklich handeln können wir eigentlich nur, wenn schon was passiert ist.« Er griff nach der Akte der Familie Ertel und schlug sie auf. »Aber wem erzähle ich das?«, fügte er hinzu.
Die Beamten nickten zustimmend. Die Arbeit der Kriminalpolizei und die des Jugendamts waren einander tatsächlich sehr ähnlich.
»Wir vermuten, dass Frau Ertel bedroht wurde«, begann Meisner nun. »Können Sie uns vielleicht was dazu sagen?«
Rosenbaum nickte, nahm einen Schluck Tee, lehnte sich zurück und begann zu erzählen.
»Frau Ertel und ihr Mann haben einander gehasst. Der typische Fall: schlau genug zum Vögeln, aber zu dumm zum Verhüten. Das Kind kam, und sie dachten, sie müssen deswegen zusammenbleiben. Und geheiratet haben sie gleich auch noch, damit bloß die Trennung später nicht zu einfach wird.«
Rosenbaum rollte mit den Augen.
»Haben die Eltern ihre Tochter misshandelt?«, warf Kern ein. »Oder warum waren Sie bei der Familie?«
»Das hängt davon ab, was Sie unter misshandeln verstehen«, erklärte Rosenbaum. »Geschlagen haben sie die Kleine jedenfalls nicht. Sie haben sich nur den ganzen Tag betrunken, die Bude vollgequalmt und sich dann angebrüllt und geprügelt. Und die Kleine lag immer wehrlos daneben. Man muss ja froh sein, dass es überhaupt Nachbarn gibt, die sich in solchen Fällen an uns wenden. Oft endet so was nämlich damit, dass derjenige, der helfen will, am Ende von der ganzen Hausgemeinschaft ausgeschlossen wird.«
»Wer hat Sie denn dann immer gerufen?«
»Meistens die Nachbarn. Ertels waren sehr unbeliebt im Haus. Aber machen konnten wir nie was. Wenn Eltern keine körperliche Gewalt ausüben, sind uns die Hände gebunden. Eine Inobhutnahme gegen den Willen der Eltern ist nur bei Gefährdung und Misshandlung möglich. Dass die Eltern verantwortungslos sind, reicht nicht.«
»Aber die beiden hatten doch getrennte Wohnungen?«, warf jetzt Meisner ein.
»Seit Kurzem, ja. Danach ist es dann auch besser geworden. Wir haben hier wochenlang nichts mehr von der Familie gehört. Zumindest bis heute.«
Meisner pustete sachte gegen seinen Tee, bevor er vorsichtig einen Schluck davon nahm.
»Uns interessieren vor allem die Eltern«, sagte er dann. »Können Sie sich vorstellen, dass Frau Ertel ihren Mann selbst vergiftet hat?«
Rosenbaum hatte in der Vergangenheit immer wieder Gespräche mit dem Ehepaar geführt. Er versuchte, eine möglichst treffende Einschätzung abzugeben.
»Ich kann mir vorstellen, dass sie es gern getan hätte«, antwortete er schließlich nach einer kleinen Denkpause. »Aber, ehrlich gesagt, ich hatte in keinem meiner Gespräche mit ihr das Gefühl, dass sie zu so was imstande gewesen wäre. Sie war jung und sicher nicht besonders gebildet. Außerdem labil und verantwortungslos. Man kann bestimmt viel Schlechtes über sie sagen – aber eine Mörderin? Nein, das war sie nicht.«
»Und eine Selbstmörderin?«, fasste Kern nach.
Rosenbaum überlegte noch einmal. Es gehörte zu den wichtigen Aufgaben in seinem Beruf, die potenzielle Gewaltbereitschaft von Menschen einschätzen zu können. »Nein«, gab er schließlich zur Antwort. »Dafür hat sie zu wenig über Konsequenzen nachgedacht. Sie hat immer nur in den Tag hinein gelebt. Der Streit mit ihrem Mann war ihr wichtigster Lebensinhalt, sogar wichtiger als ihre Tochter. Wenn sie ihn ermordet hätte, wäre ihr Leben vollkommen sinnlos für sie geworden. Sie hat den Krieg und den Hass gebraucht – sie hatte ja sonst nichts.«
Rosenbaum sah den beiden Polizisten an, dass sie seine Einschätzung zu teilen schienen.
»Warum nehmen Sie denn an, dass die Familie bedroht wurde?«, ging er daher auf Meisners Eingangsbemerkung ein.
»Sagen wir mal so: Jemand hat Frau Ertel vor einigen Tagen prophezeit, dass sie furchtbare Dinge tun werde«, antwortete dieser. Die genauen Details des Falles konnte er aus ermittlungstaktischen Gründen nicht preisgeben.
»Und was?«, hakte Rosenbaum nach.
»Wir glauben, dass sie ihren Mann nicht freiwillig ermordet hat. Haben Sie vielleicht eine Idee, wer an seinem Tod ein Interesse gehabt haben könnte?«
Die Unruhe in dem Großraumbüro riss nicht ab. Immer wieder klingelten die Telefone der Kinderschutz-Hotline, zudem mussten eingehende Schreiben bearbeitet und Außentermine koordiniert werden. Trotzdem blieb Rosenbaum bei der Sache, er machte einen ruhigen und aufmerksamen Eindruck.
»Ich weiß nur, dass es bei den Ertels nichts zu holen gab. Ansonsten habe ich mich immer nur auf die Situation des Kindes konzentriert.«
Während Meisner sich im Verlauf des Gespräches Notizen gemacht hatte, war Kerns Blick immer wieder auf die Fotos misshandelter Kinder gefallen, die auf Rosenbaums Schreibtisch lagen.
»Sind das alles Ihre Fälle?«, erkundigte er sich.
»Noch nicht mal die schlimmsten. Sie kennen das ja«, erhielt er zur Antwort. »Haben Sie selbst Kinder?«
»Eine Tochter. Sie ist vierzehn.«
»Oh, schwieriges Alter«, erwiderte Rosenbaum und lächelte.
»Sie behauptet, ich sei in einem schwierigen Alter«, entgegnete Kern.
»Also, wenn ich Ihnen noch helfen kann, dann melden Sie sich einfach. In Ordnung?«, bot Rosenbaum an.
»Jetzt kümmern Sie sich erst mal um die kleine Shiva und helfen ihr, in gute Hände zu kommen«, antwortete Meisner und erhob sich.
Rosenbaum reichte den beiden zum Abschied die Hand. Noch während er seinen Telefonhörer abhob, um die nächste Meldung entgegenzunehmen, antwortete er:
»Das verspreche ich Ihnen.«
4
Bärbel’s Gourmet-Tempel befand sich direkt gegenüber dem Hauptgebäude des LKA in Berlin-Tempelhof. Die urige Berliner Imbissbude war für die Kriminalisten ein beliebter Rückzugsort, wenn ihnen in dem großen, ungemütlichen Bürogebäude mal wieder die Decke auf den Kopf zu fallen drohte.
»Das wäre doch mal eine schöne Abwechslung, oder nicht?«, fragte Daniela Castella. Sie war in ein angeregtes Gespräch mit Bärbel, der Inhaberin des Imbisses, vertieft.
Castella war die Dezernatsleiterin der Abteilung 1, die beim Landeskriminalamt für Delikte am Menschen zuständig war. Jetzt, im Gespräch mit der für ihre Berliner Schnauze bekannten Bärbel, war sie allerdings in einer ganz anderen Mission unterwegs.
»Aber mit sowat kenn’ ick mir doch jar nich aus«, hielt Bärbel Castellas Vorschlag entgegen.
»Das soll nicht das Problem sein. Mein Mann wäre ja dabei«, erwiderte Castella.
»Na, wenn Se meinen …«
Während Castella noch überlegte, wie sie die korpulente Bärbel von ihrer Idee überzeugen konnte, trafen Kern und Meisner ein. Sie hatten bereits vom Auto aus den Gourmet-Tempel als Treffpunkt mit ihrer Vorgesetzten verabredet.
»Ich bringe Ihnen mal ein paar Proben vorbei. Sie werden begeistert sein«, schloss sie das Gespräch mit Bärbel ab, bevor sie sich ihren Mitarbeitern zuwandte.
»Was geht denn hier vor?«, fragte Meisner neugierig. »Steigen Sie jetzt ins Imbissgeschäft ein?«
Castella zog die linke Augenbraue hoch und musterte ihren Mitarbeiter argwöhnisch.
»Nur, wenn Sie dann als mein Wurstfahrer anfangen.«
»Dit is’n Jeheimnis«, brachte sich nun Bärbel ein. »Ick sage nüscht.«
Castella wurde sachlich.
»Also, was ist das für ein Brief?«
Sie war bereits über die wesentlichen Punkte des Familiendramas im Wedding unterrichtet. Meisner legte daraufhin die Tüte mit dem ungewöhnlichen Beweisstück auf einen der Stehtische, die vor dem Imbiss aufgestellt waren. Castella musterte das Schreiben kurz.
»Hübsch. Kann das der Frau auch jemand nachträglich in die Handtasche gelegt haben?«
»Theoretisch schon«, antwortete Kern. »Der Umschlag ist zwar definitiv vor drei Tagen abgestempelt worden, aber ob diese Vorhersage auch der Inhalt war, wissen wir noch nicht.«
»Gut, das findet das Labor raus«, kürzte Castella mit geradliniger Nüchternheit ab. »Was, wenn der Brief wirklich drei Tage alt ist? Darf man Menschen keine Prophezeiungen schicken?«
Castella hatte den Finger ohne Umschweife direkt in die Wunde gelegt.
»Die Frau kann das alles nicht allein gemacht haben«, wandte Kern daher ein. »Wir waren gerade beim Jugendamt: Der Mitarbeiter war sich sicher, dass sie das nicht geschafft hätte. Und die Situation am Tatort passt absolut nicht zu der toten Frau. Das war alles nicht ihr Stil. Ich will Ihnen mal was demonstrieren.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten wandte sich Kern ab und ging zügig zu seinem Dienstwagen. Unter den skeptischen Blicken seiner Vorgesetzten öffnete er den Kofferraum und hielt nach kurzem Suchen sein Abschleppseil in der Hand. Er entfernte die Metallhaken und trat schließlich damit an Castella heran.
»Binden Sie mir doch bitte mal einen Strick. So wie an einem Galgen.«
Meisner schmunzelte; er kannte die unkonventionellen Methoden seines Freundes Julius nur zu gut und sah seiner Dezernatsleiterin neugierig dabei zu, wie sie mit fragendem Gesichtsausdruck das Seil griff, als habe sie noch nie in ihrem Leben eins in der Hand gehabt.
»Was soll das?«, fragte sie und beäugte Kern dabei wie einen Lausbuben, der gerade im Begriff war, ihr einen Streich zu spielen.
»Versuchen Sie es einfach mal«, wiederholte dieser seine Bitte.
Castella begann nun tatsächlich, das Seil zu einer seltsamen Schlaufe zu wickeln, die eher an einen Krawattenknoten als an eine Galgenschlinge erinnerte. Als deutlich geworden war, dass sie mit ihrer Aufgabe nichts anzufangen wusste, nahm Kern ihr das Seil aus der Hand und gab es Meisner.
»Jetzt du«, forderte er seinen Freund auf.
»Ich verstehe«, stellte Meisner fest, während auch er es nicht schaffte, eine professionelle Schlinge zu bilden.
»Ich kann das auch nicht«, ergänzte Kern und fügte hinzu: »Außerdem – wie hat Ertel es geschafft, das Seil so professionell zu fixieren?«
Tatsächlich war das kräftige Tau in der Wohnung der Toten gewissenhaft über mehrere Entlastungspunkte gebunden und stabil an der Decke befestigt worden.
Castella nickte und gab Meisner den Brief mit der geheimnisvollen Prophezeiung zurück.
»Also gut«, setzte sie an. »Sie vermuten, dass da noch jemand seine Finger im Spiel hatte. Aber wen wollen Sie jetzt suchen? Einen Täter, einen Komplizen oder einen Spinner mit hellseherischen Fähigkeiten?«
Kern sah ratlos ins Leere.
»Ich fürchte, das wissen wir erst, wenn wir ihn gefunden haben.«
Castella wägte ab. Eine lange, vielleicht ergebnislose Suche nach einem ominösen Drahtzieher in einem eigentlich eindeutigen Fall passte ganz und gar nicht in ihre Einsatzplanung. Dennoch sah auch sie ein, dass der seltsame Brief Fragen aufwarf, die man nicht einfach unbeantwortet lassen konnte.
»Also gut, gehen Sie der Sache nach«, entschied sie kurzerhand. »Aber nicht zu lange, sonst steigt mir der Staatsanwalt aufs Dach. Und halten Sie die Presse raus, die machen aus diesem Briefschreiber gleich einen …« Die Dezernatsleiterin hielt kurz inne, um zu überlegen, mit wem sie den Verfasser der Vorhersage am besten vergleichen konnte. Schließlich hatte sie eine treffende Idee: »… einen Nostradamus. Und auf so einen Affentanz haben wir ja wohl alle keine Lust.«
»So, ick hab’s!«, wurden die drei plötzlich unterbrochen.
Bärbel war von hinten an die Beamten herangetreten. Sie hatte ihre Stammgäste beobachtet und kurz entschlossen eine durchaus akzeptable Galgenschlinge in ihr Schlüsselband gewickelt.
»Woher können Sie das denn?«, wunderte sich Kern.
Bärbel legte ihren Kopf schräg in den Nacken und musterte ihr Gegenüber skeptisch. Dann antwortete sie:
»Ick bin seit dreißig Jahren verheiratet.«
Kern und Meisner mussten lachen. Castella beherrschte sich, auch wenn für einen kurzen Augenblick ein leichtes Schmunzeln über ihre schmalen Lippen huschte.
»So, wollen Se jetzt och wat essen oder nur rumstehen?«, kam Bärbel zum Geschäft, während sie mit einem Schwammtuch den Stehtisch abwischte, an dem die vier standen.
»Also, wenn Sie hier geheime Absprachen mit unserer Chefin treffen, vermute ich mal, dass Sie Ihren Imbiss in ein Spezialitätenrestaurant umwandeln wollen. In diesem Fall hätte ich gern Honigmelone mit Parmaschinken«, spottete Kern mit einem schelmischen Grinsen. Meisner fügte hinzu:
»Für mich Carpaccio mit weißem Trüffel.«
»Ne Tasse Kaffee können Se haben. Janz frisch aus Kolumbien einjeflogen, sojar noch warm!«, bot Bärbel an, nachdem sich die Erheiterung etwas gelegt hatte.
Der Kaffee des Gourmet-Tempels genoss, anders als seine deftigen Speisen, einen Ruf, den man bestenfalls als zweifelhaft bezeichnen konnte.
»Wissen Sie was?«, entschied Castella kurzerhand. »Bringen Sie den beiden Herren jeweils einen großen Becher. Das geht auf mich.«
Damit klopfte sie Meisner und Kern auf die Schulter, legte einen Geldschein auf den Tresen, wandte sich triumphierend ab und ging zurück ins LKA.
Meisner sah Kern betreten an, nachdem Bärbel zu ihrer Kaffeekanne gelaufen war und die bestellten Getränke einschenkte.
»Bärbels Gourmetkaffee«, hauchte er kopfschüttelnd. »Wenn unser Nostradamus das mal vorhergesagt hätte …«
5
In der absoluten Finsternis des kühlen Kellerraumes war die Gestalt, die man im LKA fortan Nostradamus nennen würde, nicht zu erkennen. Nur seine ruhigen, gleichmäßigen Atemgeräusche vermischten sich mit dem leichten Knarren der Hängematte, die sanft hin und her schaukelte.
Das Schaukeln wiegt mich. Die Dunkelheit beschützt mich. Hier drinnen bin ich sicher.
Nostradamus hatte die Fenster verdunkelt. Es war mitten am Tag, doch kein Lichtstrahl vermochte die Barriere aus Farbe und Folie zu durchdringen. In diesem Raum, dunkel und still, durch das sanfte Schaukeln gewiegt, fühlte es sich für ihn fast so an wie früher.
Damals war ich sicher. Damals hat sie mich beschützt.
Nostradamus war zufrieden. Der Tag war erfolgreich für ihn gewesen.
Und doch war es erst der Anfang.
Schon bald würde es weitergehen. Er hatte noch viel zu tun.
Noch eine Weile würde Nostradamus den Schutz der Dunkelheit genießen. Dort, in diesem Raum, im dem es so wundervoll still und sicher war.
Draußen muss ich mich wieder zusammenreißen. So, wie Vater es immer verlangt hat: Reiß dich zusammen! Sie sollen nicht merken, wie missraten du bist!
Er hatte wie kein anderer gelernt, sich zu beherrschen. Deshalb würde auch niemand etwas merken. Nicht einmal den kleinsten Verdacht würden sie schöpfen. Nur auf diese Weise konnte er schließlich weitermachen. Noch lange, lange weitermachen.
6
»Ganz im Ernst, da überlege ich mir, ob ich wirklich heiraten soll«, erklärte Dennis Baum und zeigte Kern die Fotos aus der Wohnung, in der Ronny Ertel von seiner Frau vergiftet worden war.
Während Kern und Meisner den Fundort von Jaqueline Ertels Leiche untersucht hatten, war ihr jüngerer Kollege in Hellersdorf gewesen, wo am Morgen zunächst ihr toter Ehemann aufgefunden worden war.
»Jetzt gibt’s keine Ausreden mehr«, widersprach Kern. »Wir warten schon alle drauf. In zwei Wochen wird geheiratet. Oder soll ich Suzi sagen, dass du kalte Füße bekommst?«
Dennis Baum hatte seine Lebensgefährtin Suzana Kostic fünf Jahre zuvor bei einer Ermittlung kennen und lieben gelernt. Nun stand die Hochzeit des Paares bevor.
»Schon okay«, räumte Dennis ein. »Ganz so schlimm wie Ronny bin ich ja nun auch nicht.«
Kern sah sich die Fotos aufmerksam an. Doch noch bevor er sich mit seinem Kollegen darüber austauschen konnte, trat auch schon Dr. Adrian Homann aus dem Sektionssaal der Rechtsmedizin, vor dessen Tür sie auf ihn gewartet hatten.
»Dann kommt mal rein, ich bin mit den beiden durch.«
Mit respektvoll bedächtigen Schritten betraten sie den gefliesten Raum, in dem zwei Sektionstische mit abgedeckten Leichen darauf standen. Homann trat zunächst an die Frau heran und zog vorsichtig die Decke von ihrem toten Körper.
»Meine Annahme hat sich bestätigt«, begann er. »Ein ganz klarer Selbstmord. Guckt mal hier, die roten Beine und Arme. Das sind Blutstauungen. Sie hat gehangen, deswegen ist das Blut nach dem Todeseintritt nach unten gesackt. Und dann hier.« Der Arzt zog mit seinem Gummihandschuh vorsichtig ein Augenlid der Toten zurück. »Seht ihr die kleinen roten Punkte an der Schleimhaut? Das sind Petechien, typisch bei Erhängungsopfern. Und dann das Blut, das ihr aus Nase und Mund gelaufen ist. Das kommt von einer Stauungsberstung der Venen unter der Schleimhaut. Schulbuchmäßiger Fall. Und dann natürlich die vertrocknete Schürfwunde vom Strick an ihrem Hals.«
»Und was ist mit Drogen oder Alkohol im Blut?«, fragte Kern nach.
»Keine Drogen«, erklärte Homann. »Alkohol schon, aber bei Weitem nicht genug, um sie einfach gegen ihren Willen aufhängen zu können. Ich vermute, dass die Frau praktisch immer alkoholisiert war.«
Kern konnte nicht widersprechen.
»Also definitiv Selbstmord?«
»Es gibt keine Kampfspuren und keine konkurrierenden Todesursachen.«
»Und was ist mit ihm?«, fragte jetzt Dennis und deutete auf die zweite Leiche, die Homann an diesem Tag obduziert hatte.
»Der arme Kerl ist jämmerlich verreckt«, erklärte der Arzt, deckte die Tote wieder ab und ging zu dem anderen Tisch hinüber. Während er nun die Decke von Ronny Ertels Leiche zog, erklärte er:
»Sie hat ihm das Zeug ins Bier getan. Zyankali, das kann man sogar riechen. Bittermandel, muss er auch sofort geschmeckt haben. Das würde auch erklären, warum er nur so wenig von dem Gift aufgenommen hat. Er hat wohl sofort mit dem Trinken aufgehört, als er es gemerkt hat. Das hat ihn aber leider auch nicht gerettet.«
»Aber wenn er es gemerkt hat, hätte er doch noch einen Krankenwagen rufen können«, wunderte sich Dennis.
»Zyankali ist ein Nervengift«, erhielt er zur Antwort. »Das wirkt normalerweise innerhalb von Minuten. Das Gift blockiert die Zellatmung, der Stoffwechsel der Zellen kommt zum Erliegen und die Körperfunktionen setzen aus. Wenn du das geschluckt hast, rufst du keinen Arzt mehr. Dann stirbst du nur noch.«
Kern und Dennis betrachteten still die furchtbar zugerichtete Leiche von Ronny Ertel. Während seines langen Todeskampfes hatte er sich mehrmals erbrochen. Krämpfe und Atemnot hatten dazu geführt, dass er unkontrolliert durch seine Wohnung getaumelt und dabei mit dem Kopf immer wieder hart gegen Tischkanten, Regale und Türen geschlagen war. Aus den Wunden hatte sich Blut über den Körper des Mannes ergossen, das sich mit dem Erbrochenen zu einem entsetzlichen Brei vermischt hatte.
»Das kann bis zu einer Stunde gedauert haben. Inklusive Schwindel und Atemstillstand, das ganze Programm«, erklärte Homann.
»Wo bekommt man denn Zyankali überhaupt her?«, wollte Kern jetzt wissen.
»Na ja, unter Umständen kann man es sogar selbst machen. Sonst haben noch Fotografen und Goldschmiede mit Zyankali zu tun. Und natürlich Apotheker. Ärzte und Chemiker kommen ja sowieso an alles ran.«
Kern schwieg einen Augenblick lang. Dann sah er sich um, als wolle er sich noch einmal vergewissern, dass er mit Dennis und Homann allein im Raum war. Der Assistent des Rechtsmediziners hatte sich bereits vor dem Eintreten der Polizisten zurückgezogen.
»Adrian«, sprach Kern leise zu seinem langjährigen Kollegen, »wie lange kannst du deinen Bericht noch zurückhalten?«
Jetzt sah sich auch der Arzt um.
»Du willst den Fall noch nicht abschließen?«, fragte er.
»Irgendjemand hat einem kleinen Kind die Eltern genommen. Auf grausame Weise. Ich weiß noch nicht wie, aber ich weiß, dass ich den Kerl haben will. Adrian, ich bitte dich.«
»Also gut«, überlegte Homann. »Ich kann mir ein bisschen Zeit beim Öffnen und mit der Blutuntersuchung lassen. Aber höchstens bis morgen.«
Kern biss sich angespannt auf die Unterlippe.
»Tu, was du kannst«, bat er dann und wandte sich Dennis zu. »Ich werde gleich mit Quirin zum Bruder der Toten fahren. Mach du bitte bei ihm weiter.« Kern deutete auf den toten Ronny Ertel. »Finde raus, was in der Wohnung genau abgelaufen ist. Vielleicht war seine Frau ja auch gar nicht die Mörderin.«
Dennis betrachtete noch einmal die Tische mit den toten Eheleuten darauf. Auch er hatte verstanden, was auf dem Spiel stand.
»Okay«, sagte er daher. »Die Zeit läuft.«