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Martin Klessinger

„O wie ängstlich, o wie feurig,...“

Die Veröffentlichung dieses Buches wurde gefördert von der

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Deutschen Gesellschaft für Westfälische Kultur

Martin Klessinger

„O wie ängstlich, o wie feurig,...“

Form und Ausdruck in der Musik der Oper
von Monteverdi bis Rihm

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Bildrechte:

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Inhalt

Einführung

„O wie ängstlich, o wie feurig klopft mein liebevolles Herz“ singt Belmonte voller Erwartung, seine geliebte Konstanze wiederzusehen, in Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL aus dem Jahre 1782. Und die Musik schildert das Herzklopfen, danach hört man das Zittern und Wanken und spürt die schwellende Brust, und schließlich vernimmt man sogar Konstanzes Lispeln und ihr Seufzen. Dass Mozart die Tonmalerei ganz bewusst einsetzte, um den Seelenzustand seiner Protagonisten zu schildern, wissen wir aus den Briefen, die er während seiner Arbeit an der ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL aus Wien an seinen Vater in Salzburg geschrieben hat. Über Belmontes zweite Arie steht dort:

„Nun die aria von Bellmont in Adur. O wie ängstlich, o wie feurig, wissen sie wie es ausgedrückt ist - auch ist das klopfende liebevolle herz schon angezeigt - die 2 violinen in oktaven. - dies ist die favorit aria von allen, die sie gehört haben - auch von mir. [...] man sieht das zittern - wanken - man sieht wie sich die schwellende brust hebt - welches durch ein crescendo exprimirt ist - man hört das lispeln und seufzen - welches durch die ersten violinen mit Sordinen und einer flaute mit in unisono ausgedrückt ist. -"

Die Musik kann aber nicht nur den Text durch Tonmalerei illustrieren, sie kann auch vieles ausdrücken, was durch das gesprochene Wort allein nicht möglich ist. Die Charakterisierung durch Musik, das ist es, was Mozarts Opernfiguren so lebendig und einmalig macht. Die Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks und der musikalischen Form in der Entwicklungsgeschichte von Oper und Musikdrama aufzuzeigen und durch Beispiele aus Opern der verschiedenen Epochen und Stilrichtungen zu belegen, das ist das Ziel dieses Buches. Es geht hier also um die Musik der Oper und darum, zu verstehen, warum der Komponist den Text so und nicht anders vertont hat, und was er mit seiner Musik ausdrücken will.

Opernmusik wird oft nicht so ernst genommen. Die Tatsache, dass man in der Regel nur wenige Opernbesucher bei einem Kammermusikabend trifft oder umgekehrt, beruht auf dem Vorurteil, dass der ernsthaft an Musik Interessierte sich mit „absoluter Musik“ beschäftigt, während man wegen der Handlung in die Oper geht und sich von der Musik lediglich zusätzlich rühren lässt. Entsprechend findet man in den zahlreichen Opernführern alles über die Handlung der einzelnen Werke, aber fast nichts über die Musik; allenfalls werden die bestens bekannten „Hits“ erwähnt oder gar zitiert.

Das ist umso erstaunlicher, als die Oper die Grundlage für die gesamte Musik des Abendlandes vom Barock bis zur Gegenwart darstellt; die meisten Entwicklungen, die zu den musikalischen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten der verschiedenen Epochen führten, fanden zuerst in der Oper statt. Allein die Tatsache, dass im 17. und 18. Jahrhundert 50 bis 60 000 Opern komponiert wurden, von denen allerdings nur ein Bruchteil erhalten geblieben ist (Dechant erwähnt etwa 400), macht die Bedeutung der Oper für das Musikleben der Zeit deutlich.

Entscheidend für diese Vorrangstellung der Oper ist die bis in die Neuzeit fortwirkende Tradition des antiken Musikbegriffs, der entsprechend der Lehre von Platon die Einheit von Logos (Wort), Harmonie (Ordnung der Töne und Tonfolgen) und Rhythmus (Ordnung von Zeit und Bewegung) voraussetzt. Musik ohne Sprache wurde bis in das 18. Jahrhundert gegenüber jeglicher Art von Vokalmusik als zweitrangig empfunden, obwohl sie, beispielsweise als Tanzmusik, kaum weniger praktiziert worden ist.

Die Oper ist Ende des 16. Jahrhunderts in Florenz entstanden, als Ergebnis der Bemühungen humanistischer Gelehrter, Form und Stil der antiken Tragödie wiederzubeleben. Der Kreis der Camerata Fiorentina um den Grafen Bardi wollte weniger eine neue Gattung schaffen, als vielmehr eine alte erneuern. Man ging davon aus, dass der Text der antiken Tragödie gesungen wurde. Wenig später wendete sich in Mantua mit Claudio Monteverdi erstmals ein Komponist außergewöhnlichen Ranges der Oper zu. LA FAVOLA D'ORFEO (1607) auf einen Text von dem herzoglichen Sekretär Alessandro Striggio d. J. kann als die erste „richtige“ Oper angesehen werden. 1637 begann in Venedig mit der Gründung des ersten ständigen Opernhauses ein öffentlicher Opernbetrieb für ein zahlendes Publikum, mit festen Spielzeiten (stagioni) und einem Abonnementsystem (Logen). Auch von Rom und Neapel gingen wesentliche Impulse für die neue Gattung aus, die schnell ihren Siegeszug durch ganz Europa antrat. Durch die Textreformen von Apostolo Zeno (1668 – 1750) und Pietro Metastasio (1698 – 1782) wurde ein Stilwandel der italienischen Oper eingeleitet, dessen Ergebnis das rationalistisch durchorganisierte Intrigendrama, die opera seria ist. Gleichzeitig gewann die Musik durch die Gesangsvirtuosität der Primadonnen und Kastraten zunehmend an Bedeutung, ganz im Gegensatz zu dem dramatischen Ideal der Florentiner, in deren stile recitativo die Musik vollständig durch die sprachlichen Strukturen und die Ausdrucksqualitäten des Textes bestimmt war.

Auch die klassische französische Oper verdankt ihre Entstehung der Rückbesinnung auf das Theater der Antike, allerdings vermittelt durch den zeitgenössischen Tragödienstil von Pierre Corneille und Jean Racine sowie durch das zeitgenössische Ballett. Statt großer Arien, wie in der italienischen Oper, gibt es hier lediglich Kleinformen, die sich von den hochentwickelten Rezitativen oft nur wenig abheben.

Als zu Beginn des 18. Jahrhunderts die komische Nebenhandlung aus der Opera seria verbannt wurde, gewann als weiterer Operntyp die komische italienische Oper zunehmend an Bedeutung, die opera buffa, die sich einerseits aus den Intermezzi entwickelt hat, die zwischen die Akte einer Opera seria eingeschoben wurden, und andererseits aus der neapolitanischen Mundartkomödie. Ende des 18. Jahrhunderts erreichte die Oper mit den Werken von Mozart einen der Höhepunkte, in denen die verschiedenen hier erwähnten Entwicklungen zusammenkamen. Als weitere Höhepunkte sind die italienische Belcanto-Oper und die französische grand opéra, sowie Richard Wagners Musikdrama im 19. Jahrhundert zu erwähnen.

Jede Epoche und jeder der großen Komponisten hat zu einem Wandel der ästhetischen Forderungen und damit zu einem Wandel der musikalischen Formen und Ausdrucksweisen geführt. Ausgehend vom monodischen recitar cantando, bei dem die Musik sich völlig dem Text unterordnet, führt die Entwicklung mit zunehmender Bedeutung der Musik über die Trennung von ariosen und rezitativischen Partien schließlich zum Rezitativ und der Dacapo-Arie der von der Dichtung des Metastasio geprägten Opera seria, die einen gewissen Endpunkt darstellt. Neue Impulse kamen aus dem Aktionsensemble der Opera buffa, sie führten mit der Dramatisierung der Musik zu neuen Formen der Arie und vor allem des Ensembles, wie etwa in dem mit höchster Kunst gestalteten Finale des II. Aktes von Wolfgang Amadeus Mozarts LE NOZZE DI FIGARO (1786). Die auf Giaochino Rossini zurückgehende solita forma der italienischen Belcanto-Oper markiert wiederum einen Endpunkt. Ausgehend von der scena der romantischen Oper des 19. Jahrhundert führt der Weg über das tableau der grand opéra zur durchkomponierten Oper und zum Musikdrama, das keine geschlossenen Formen mehr erkennen lässt. Der Beginn des 20. Jahrhundert bringt dann, bei aller Vielfalt der musikalischen Mittel, als Reaktion auf Wagners Musikdrama typischerweise den Rückgriff auf die traditionellen Formen.

Diese Entwicklungen der musikalischen Formen im einzelnen zu verfolgen und durch geeignete Beispiele aus Opern der entsprechenden Epochen zu illustrieren ist das Ziel des Teils I „Musikalische Formen“. Im Teil II „Musikalischer Ausdruck“ geht es darum, ähnliches für den musikalischen Ausdruck zu erreichen und die Entwicklung von den Madrigalismen und Monteverdis seconda pratica über die Darstellung von Affekten bis zur musikalischen Darstellung des Seelendramas am Ende des 19. Jahrhunderts und der unterschiedlichen Formen des Musiktheaters im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Allerdings ist dieses Vorhaben sehr viel komplexer, da es das weite Gebiet von Sprache und Musik umfasst, wobei natürlich der umstrittene Begriff „Musik als Sprache“ von zentraler Bedeutung ist, wenn es darum geht, was die Musik auf welche Weise ausdrücken kann. Im einzelnen gliedert sich dieser Teil II in die Kapitel „Sprache und Musik“, „Musikalische Ausdrucksmittel“ und „Musikalische Dramaturgie“.

Teil III „Oper und Musikdrama“ schließlich greift die historische Entwicklung auf und geht auf einzelne Opern der verschiedenen Epochen und Richtungen ein, wobei eine detaillierte Analyse unter Verwendung der Ergebnisse von Teil I und Teil II im Vordergrund steht. Auf diese Weise werden die typischen Merkmale eines Werkes der entsprechenden Epoche herausgearbeitet. Besonderheiten der Form und spezielle Ausdrucksmittel geben Auskunft über die vom Komponisten beschrittenen neuen Wege und sollen zeigen, wie sich die oben angedeuteten Entwicklungen in einzelnen Werken der Opernliteratur niederschlagen. Obwohl die Auswahl der so behandelten Opern natürlich begrenzt und subjektiv ist, sollte es doch möglich sein, die Bedeutung der musikalischen Form sowohl im einzelnen als auch für den Aufbau des Werkes als Ganzes, sowie die Bedeutung des musikalischen Ausdrucks in der Entwicklungsgeschichte der Oper nachzuvollziehen.

Allerdings muss beachtet werden, dass ebenso, wie es nicht möglich ist, alle interessanten oder für die Entwicklung wichtigen Opern im Detail abzuhandeln, nicht jede der hier besprochenen Opern in allen Einzelheiten analysiert werden kann. Es soll vielmehr versucht werden, die für die jeweilige Epoche und Stilart wichtigen Merkmale herauszuarbeiten, wobei die Schwerpunkte recht unterschiedlich gesetzt werden können: Bei einigen Opern folgt die Besprechung dem Ablauf der Oper, bei anderen werden Arien oder Ensembles aus verschiedenen Akten miteinander verglichen, und bei manchen werden nur einzelne Teile besprochen; manchmal steht die musikalische Form im Vordergrund, ein anderes Mal wird mehr auf die harmonische Anlage eingegangen, oder es werden spezielle Ausdrucksformen diskutiert.

Es ist klar, dass durch die Besprechung einzelner Opern nicht eine mehr oder weniger vollständige Sammlung von Fakten vermittelt werden kann, mit deren Hilfe sich die Musik jeder Oper „verstehen“ lässt. Doch sollen die Ergebnisse der Analysen als Denkanstöße dienen, die es dem Leser ermöglichen, sich selbst mit seiner Lieblingsoper auseinander zu setzen und heraus zu finden, was der Komponist alles mit seiner Musik ausgedrückt hat und wie er die Protagonisten durch seine Musik so charakterisiert hat, wie das durch die gesprochenen Worte allein nicht möglich ist. Dabei wird sich zumindest ein Überblick der in den Teilen I und II dargelegten Einzelheiten als sehr nützlich erweisen, da im Text trotz zahlreicher Querverweise nicht auf alle Zusammenhänge explizit verwiesen werden kann.

Einige Beispiele aus Opern von Mozart mögen erläutern, was es bedeutet herauszufinden, was der Komponist durch seine Musik wie ausgedrückt hat. So kann man vermuten, dass Mozart das Briefduett „Che soave zeffiretto“ zwischen Susanna und der Gräfin aus LE NOZZE DI FIGARO (1786) ganz bewusst im 6/8-Takt geschrieben hat, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass sich die Gräfin, wenn sie gemeinsam mit Susanna ein Komplott gegen den Grafen schmiedet, sich auf die Stufe ihrer Zofe begibt. Denn im 6/8-Takt stehen Tänze des einfachen Volkes, Standespersonen tanzen ein Menuett oder eine Gavotte, und eine Gräfin würde normalerweise niemals im 6/8-Takt singen.

Im Finale des II. Aktes der gleichen Oper kommt der Gärtner Antonio und berichtet, dass jemand aus dem Fenster sprang und die Blumen zertrat; bei diesem Bericht bewegt sich der Gesang weitgehend innerhalb des Tonraums einer Terz, nur an ganz wenigen Stellen wird ein benachbarter Ton außerhalb dieses Tonraums erreicht: So beschränkt wie der Ambitus, der Stimmumfang dieser Partie, so beschränkt ist auch der Gärtner Antonius.

Als letztes betrachten wir Don Ottavio, den Verlobten der Donna Anna aus DON GIOVANNI (1787), den etwas zögerlichen Weichling, dem es an emotionalen Ausbrüchen und Spontaneität mangelt, obwohl er herzensgut ist und für Donna Anna nur das Beste will. Mozart charakterisiert diesen der Konvention ergebenen Edelmann dadurch als altmodisch, dass er seiner Arie „Il mio tesoro“ aus dem II. Akt die Form einer am Ende des 18. Jahrhunderts längst antiquierten und überholten Dacapo-Arie gibt.

Muss man solche Fakten wissen, um die Musik der Oper genießen zu können? Natürlich nicht, es ist ja gerade die große Kunst eines Mozart, die uns beim unvoreingenommenen Hören des Duettinos „Che soave zeffiretto“ oder der Arie „Il mio tesoro“ das Richtige empfinden lässt. Doch ist auch die Neugier berechtigt, herauszufinden, mit welchen Mitteln der Komponist das erreicht, und warum andere Komponisten in anderen Epochen zu den gleichen oder zu ganz anderen Mitteln greifen.

Musik, und das gilt für die Musik der Oper genauso wie für die absolute Musik, kann auf die verschiedensten Weisen gehört werden; man kann sich ganz den Tönen und dem durch sie vermittelten Gefühl hingeben, oder man kann analysierend alle Einzelheiten der Komposition nachvollziehen, aber man kann auch einen der beliebig vielen Wege zwischen diesen beiden Extremen wählen. Doch unabhängig davon, wie man die Musik hört, je mehr man über sie weiß, umso mehr Einzelheiten wird man hören, und umso größer wird die Freude an der Musik sein.

Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen kann, die Freude an der Oper und im besonderen an der Musik der Oper zu erhöhen. Dazu gehört es, zu verstehen, dass die Musik ein wesentlicher Teil des Dramas ist, dass erst durch die Musik die Handelnden der Oper zu Charakteren werden, deren Handlungsweise dann nachvollziehbar ist.

Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass, obwohl zahlreiche Opern besprochen und noch mehr Opern erwähnt werden, es sich hier um keinen Opernführer handelt. Nicht nur, weil die Auswahl der behandelten Opern recht subjektiv ist, sondern vor allem deshalb, weil Libretto und Plot nicht Gegenstand dieses Buches sind. Vielmehr wird der Inhalt einer Oper oder einer Szene nur insoweit wiedergegeben, wie es erforderlich ist, um die Situation zu erfassen, welche von der Musik beschrieben wird. Auch sollte dieses Buch im Gegensatz zu einem Opernführer von vorn nach hinten gelesen werden, denn die Analyse und Besprechung der einzelnen Opern im Teil III „Oper und Musikdrama“ geschieht vor dem Hintergrund der in den Teilen I „Musikalische Form“ und II „Musikalischer Ausdruck“ dargelegten Fakten, wobei der Wandel der ästhetischen Ideale, die Besonderheiten eines Werkes oder die Neuerungen einer Epoche vor allem durch die vergleichende Betrachtung von Beispielen für die musikalische Form und den musikalischen Ausdruck in der Entwicklungsgeschichte von Oper und Musikdrama deutlich werden. Vor diesem Hintergrund jedoch kann das Kapitel über eine bestimmte Oper auch als Vorbereitung für einen Opernbesuch sehr nützlich sein, weil es die Aufmerksamkeit auf Details richtet, die sonst leicht überhört werden.

W. A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Hrsg. W..A. Bauer, O.E. Deutsch, Kassel 1963, Brief vom 26. September 1781, Bd. 3, S. 162.

H. Dechant, Arie und Ensemble, Bd. I, Darmstadt 1993, S. IX.

I. Musikalische Form

Musik erklingt in der Zeit, jeder Ton hat nur eine endliche Dauer; Musik, die am Ohr des Hörers vorüber zieht, stellt daher große Anforderungen an sein Gedächtnis, wenn sie als Musikstück und nicht als bloße Abfolge von Klängen erfasst werden soll. Musikalische Formen oder Kompositionsmodelle bilden die Voraussetzung für die Erfassung musikalischer Zusammenhänge, wobei übergeordnete formale Momente wie Gliederung, Gewichtsabstufung und Attraktionspunkte eine besondere Rolle spielen. Nach Hugo Riemann ist Form „Einheit im Verschiedenen“, sie hängt davon ab, auf welche Weise Zusammenhang gestiftet wird. Dabei lassen sich zwei Typen von Gestaltungsprinzipien unterscheiden, einerseits solche der allgemein ästhetischen Art, wie etwa Symmetrie, Ausgewogenheit, Abwechslung und Kontrast, und andererseits spezifisch musikalische wie etwa Wiederholung, Variation, Transposition und Sequenzierung.

Die Wiederholung von bereits Gehörtem, die mit oder ohne Abänderungen erfolgen kann, ist bei weitem die wichtigste Art, musikalischen Zusammenhang zu stiften. Dabei kann etwa wie bei Variationen Gleiches unmittelbar aufeinander folgen oder wie beim Rondo durch kontrastierende Teile unterbrochen werden. „Was sich sonst dem Zuhörer an musikalischer Form bietet, wie Ebenmaß oder Unregelmäßigkeit des Aufbaus durch Taktgruppen, Perioden, Satzteile oder Sätze, wird von ihm mehr unbewusst aufgenommen und anhand eines latenten Zählvorganges abgeschätzt.“ Bei besonders komplexen Werken wie etwa Alban Bergs WOZZECK (1925) wird der Hörer in der Regel musikalische Form und Formtypen zwar nicht unbedingt beim ersten Hören wahrnehmen, unbewusst aber eine Ordnung „erspüren“ – einer der Gründe für die Akzeptanz eines Werkes.

Bei den musikalischen Formen kann man zwischen den in der Instrumentalmusik entstandenen rein musikalischen Formtypen und solchen Formtypen unterscheiden, die sich im Zusammenhang mit der Vertonung von Texten herausgebildet haben. Hier ist der Sprachrhythmus von Bedeutung, insbesondere die Gliederung eines Textes in Verse und Strophen, an der die musikalische Form sich orientieren kann. So begegnet man in dem Singspiel des 18. Jahrhunderts dem Strophenlied, das eine der einfachsten musikalischen Formen darstellt und sowohl beim Hörer als auch beim Sänger eine relativ geringe Gedächtnisleistung voraussetzt. In der Oper spielt naturgemäß vor allem die zweite Gruppe von Formtypen eine Rolle, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich hier aufbauend auf vorhandenen Typen ganz eigene Formen entwickelt haben, die in diesem Kapitel besprochen werden sollen. Anhand geeigneter Beispiele wird die Entwicklung des Rezitativs, der Arie, des Ensembles und des Finales geschildert. Das Ziel dieser Darstellung ist es, Modelle und deren Wandlung im Laufe der Geschichte zu beschreiben, wobei es häufig von Interesse sein wird, gerade die Abweichungen von dem bloßen Schema zu erkennen, welche die Besonderheiten einzelner Werke ausmachen.

H. Riemann, Musik-Lexikon, Sachteil, Mainz (1882) 196712, S. 295.

H. Dechant, Arie und Ensemble, Band I, Darmstadt 1993, S. 4.

1. Das Rezitativ

1.1 Entstehung des Rezitativs

Kurz vor 1600 bemühte sich die Camerata fiorentina um die Wiederbelebung der antiken griechischen Musik und glaubte, dies in einem radikalen Stilwandel durch die Monodie zu erreichen, die man einer in 200 Jahre zur höchsten Kunstfertigkeit entwickelten Polyphonie entgegenstellte. An die Stelle kontrapunktischer Linienkunst trat der Sologesang über einer akkordisch ausgesetzten Bassstimme, dem so genannten Generalbass. Man strebte einen Deklamationsstil zwischen pathetischer Rede und liedhaftem Gesang an, der dann als stile recitativo zusammen mit der Ausbildung des Generalbasssatzes zu künstlerisch vollgültiger Ausprägung geführt wurde. Die sprachliche Struktur und die Ausdrucksqualitäten des Textes bestimmten die Musik vollständig, ihr blieb kein Raum zu selbständiger Entfaltung.

Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses recitare cantando zwischen Sprechen (recitare) und Singen (cantare), dem Ausgangspunkt der frühen Oper, ist der Bericht der Botin von Euridices Tod aus Claudio Monteverdis ORFEO (1607). Zunächst weithin im Erzählton gehalten, steigert sich die Deklamation an der zentralen Stelle zu leidenschaftlicher Dramatik:

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Jede Einzelheit des Textes ist in der Vertonung wiedergegeben: so erfolgt der Aufschrei „Orfeo“ auf den lang gehaltenen Spitzenton e“, der mit einem ungewöhnlichen Sextfall abgerissen plötzlich verstummt, während in der Begleitung ein schroffer Wechsel von E-Dur nach g-Moll auftritt, der zu einem ungeminderten Querstand zwischen Singstimme (gis’) und Bass (g) führt; hastig und erregt ist die Sechszehntel-Bewegung, mit der knapp vom Sterben Euridices berichtet wird, die sich anschließende Generalpause nimmt den späteren rhetorischen Topos zur Abbildung des Todes vorweg; durch ihre Bewegungslosigkeit bei den Worten „ed io rimarsi“ lässt die Musik erkennen, dass die Botin bewegungslos, wie versteinert zurückblieb, und ihr Schrecken („spavento“) wird durch das unvermittelte Aufeinandertreffen von c-Moll und A-Dur im Zuge des Terzfalls es – c – A im Bass sowie durch die chromatische Anhebung der Singstimme beschrieben.

An jeder Stelle wird Neues gesagt. Bei strikt syllabischer Vertonung (auf jede Silbe fällt ein Ton) gibt es keine Wiederholungen, keine Symmetrien, keine überwölbende Melodie, keine tonale Geschlossenheit, keine Unterwerfung unter ein Taktschema. Der stile recitativo ist frei in jeder Dimension des Satzes; er ist nur ausdrucksvollem Vortrag verpflichtet, Text und Textausdruck rechtfertigen auch Lizenzen vom „strengen“ kontrapunktischen Satz. Seconda pratica nannte Monteverdi diese dem Textaffekt verpflichtete und deshalb in der Dissonanzbehandlung freiere Kompositionsweise, die er gegenüber den Angriffen konservativer Theoretiker als Ausdruck kompositorischer „Wahrheit“ verteidigte.

Während die frühen Opern durch das Überwiegen des dem Text prosodisch folgenden Sprechgesanges gekennzeichnet sind, der durch Choreinschübe dramatisch unterbrochen wird, weisen vor allem die venezianischen Spätopern Monteverdis abgeschlossene kurze, melodisch und rhythmisch durchgeformte Abschnitte auf; eine Entwicklung zur Nummernoper ist bereits feststellbar. Der Sprechgesang entwickelte sich kompositorisch und stilistisch zum eigenständigen Typus des Rezitativs; die eingeschobenen ariosen Partien wurden Grundlage für die strophisch gegliederte und primär nach musikalischen Gesichtspunkten gestaltete Arie. Das Rezitativ ist Träger der Handlung (erzählende und erklärende Abschnitte, Berichte, Dialoge usw.) und bereitet damit die in den Arien dargestellten Reflexionen und Affekte vor.

1.1 Das italienische Rezitativ

Nachdem um 1650 in Italien die Trennung von Rezitativ und Arie bzw. ariosen Abschnitten vollzogen war, entwickelte sich das Rezitativ in seinem Ursprungsland zu einem Typus, der durch einen der italienischen Sprache gemäßen Charakter ausgezeichnet ist. Das folgende Beispiel aus IL TIGRANE (1715) von Alessandro Scarlatti ist typisch:

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Die syllabische Vertonung schreitet meist in Achteln voran, notiert wird das Rezitativ im C-Takt und in der Regel ohne Generalvorzeichen. Die Begleitung, die als Generalbass notiert ist und von den Continuo-Instrumenten – meist Cembalo, aber auch Laute, Theorbe, Chitarrone oder gegebenenfalls Orgel sowie ein Streichinstrument (Viola da gamba, Cello oder Bass) oder ein Blasinstrument (Fagott oder Posaune) zur Verstärkung der Basslinie – ausgeführt wird, bildet die harmonische Grundlage, auf der sich der rezitativische Gesang melodisch und rhythmisch deklamierend bewegt. 1802 schreibt Heinrich Christoph Koch in seinem „Musikalischen Lexikon“:

Von dem eigentlichen Gesange [...] unterscheidet sich das Rezitativ durch folgende Kennzeichen:

1) ist es an keine bestimmte und gleichartige Taktbewegung gebunden. [...] Kurz, das Rezitativ wird in Rücksicht auf die Zeitdauer der einzelnen Sylben eben so vorgetragen, wie eine Rede. (Die Deutschen und Italiäner setzen das Rezitativ gewöhnlich in den Viervierteltakt, und theilen die Noten dergestalt ein, daß dem Metrum des Textes sein Recht wiederfährt;...)

2) dadurch, dass es keinen gleichförmigen melodischen Rhythmus hat; man beobachtet dabey bloß die Einschnitte des Textes [...]; und

3) dadurch, dass [...] die Worte bloß syllabisch eingekleidet sind; es hat auch

4) keine Haupttonart, auf welche sich die Modulation in andere Tonarten beziehet.

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird das Rezitativ häufig vor dem Einsatz der Gesangstimme mit einem Sextakkord instrumental eröffnet, wie das folgende Beispiel aus dem I. Akt von Mozarts LE NOZZE DI FIGARO (1786) zeigt.

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Am Schluss des Rezitativs treten Gesangsstimme und Begleitung meist auseinander, indem die Gesangsstimme bereits vor der instrumentalen Schlusskadenz endet. Rezitativ und Arie werden häufig dadurch verknüpft, dass der Schlussakkord des Rezitativs im Dominantverhältnis zum Arienbeginn steht; das folgende Beispiel, wiederum aus dem I. Akt von LE NOZZE DI FIGARO, lässt beides erkennen.

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Als Beispiel für die freie Harmoniebehandlung sei aus Mozarts DON GIOVANNI (1787) das Rezitativ zwischen Don Giovanni und Leporello vor Donna Elviras Arie Nr. 3 „Ah chi mi dice mai“ angeführt:

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Es beginnt in E-Dur und moduliert dann den Quintenzirkel abwärts bis nach As-Dur, bevor es in B-Dur, der Dominante von Donna Elviras Arie schließt.

Die harmonische Fortschreitung ist jedoch nur ein Seite des Rezitativs, am wichtigsten ist mit Abstand die richtige Deklamation; dabei kann man einen quantitativen Aspekt, die Berücksichtigung des Versfußes oder das richtige Skandieren, und einen qualitativen Aspekt, die dem Ausdruck der Deklamation dienende Betonung unterscheiden.

Der Unterschied zwischen dem metrischen Akzent und dem emphatischen Akzent wird von Johann Mattheson (1739) anhand zweier Beispiele erläutert, die den gleichen Text über dem gleichen Bass enthalten. Einmal wird richtig skandiert:

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das zweite Mal wird nicht nur das Metrum, sondern auch die Aussage des Textes berücksichtigt: mesta und sola, Betrübnis und Einsamkeit, werden durch die betrübte und einsame Monotonie ausgedrückt, doglia mia, mein Schmerz, durch die Dissonanz und balen di speranza, der Hoffnungsstrahl, durch den unerwarteten Dezimensprung vom d zum fis.

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Eine weitere Möglichkeit zur Ausdruckssteigerung wurde in dem Einsatz des Orchesters gesehen, und zwar nicht nur zur Begleitung in ausgehaltenen Akkorden, sondern auch zur Schilderung der Emotionen der handelnden Personen und von Naturstimmungen. Daraus entstand der Typus des Recitativo accompagnato. Als Beispiel sei ein Ausschnitt aus der Kerkerszene von Georg Friedrich Händels RODELINDA (1725) zitiert.

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Im Gegensatz zum recitativo accompagnato bezeichnete man das einfache Rezitativ als recitativo secco (ital., trocken) oder semplice (ital., einfach). Die Kombination von secco und accompagnato ermöglichte ein relativ bruchloses Verknüpfen von Rezitativ und Arie und damit eine kontinuierliche Darstellung der Handlung. Pietro Metastasio, der führende Librettist des 18. Jahrhunderts, vertrat die Ansicht, dass das recitativo accompagnato nur sparsam an entscheidenden Stellen des Dramas wie etwa bei Monologen der Protagonisten einzusetzen sei. 1783 schrieb Esteban de Arteaga, dass im recitativo accompagnato der Vortragsstil freier sein solle als in der Arie, und dass die instrumentale Musik zwischen den Gesangsphrasen das ausdrücken solle, was der Sänger verschweigt.

Mit dem Aufkommen der Opera buffa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Giovanni Battista Pergolesi, Niccolò Piccinni, Domenico Cimarosa usw., vgl. Teil III) wurden die Rezitative zunehmend schematisch und kompositorisch weniger anspruchsvoll. So bleiben schon in Pergolesis LA SERVA PADRONA (1733) ganze Abschnitt eines Rezitativs fast ständig in der gleichen Tonart.

Zugleich nimmt das Rezitativ in Nachahmung des schnellen Sprechens einen flüssigen buffonesken Plapperton an, der von einer einfachen Basso continuo-Begleitung getragen wird und auf jegliche Art musikalischer Eigenständigkeit verzichtet, wie etwa im folgenden Beispiel aus Cimarosas IL MATRIMONIO SEGRETO (1792).

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Im Laufe der Zeit bildeten sich Konventionen aus, welche die Komposition der Rezitative weitgehend bestimmten; dazu gehörten bestimmte melodische Formeln sowie das Repertoire der musikalisch rhetorischen Figuren, wie etwa die phrygische Kadenz (vg. Teil II)

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als musikalische Darstellung der Frage oder auch der Brauch, wichtige Begriffe durch spannungsreiche Akkorde hervorzuheben. Im nächsten Schritt wurden dann die Rezitative nicht mehr vom Komponisten selbst ausgeführt, da die Arien ganz in den Vordergrund der kompositorischen Arbeit gerückt waren. So überließ Mozart die Ausführung der Secco-Rezitative seiner letzten Oper LA CLEMENZA DI TITO (1791) vermutlich seinem Schüler Franz Xaver Süßmayr, dessen Namen vor allem im Zusammenhang mit dem unvollendeten Requiem KV 626 verbunden ist. Aber auch für die Ausführung der Rezitative gab es ähnliche Gewohnheiten, etwa dass der Sänger an gewissen Stellen (z.B. bei Einschnitten) einen Vorhalt singt.

1.2 Das französische Rezitativ

Jean-Baptiste Lully entwickelte um 1660 eine Form des Rezitativs, die in Frankreich bis etwa 1770 verbindlich blieb. Dabei orientierte er sich an der Deklamation der großen Schauspieler seiner Zeit, speziell an der Deklamation der Tragödin Marie de Champmeslé, und entwickelte eine Notation, welche die Versstruktur genau wiedergibt. Während in der Tragödie der Zeit Alexandriner mit zwölf Silben die Regel sind - wobei am Zeilenende das stumme e des weiblichen Reims (e muet) nicht gezählt wird – werden in der Oper vers libres verwendet, wobei acht, zehn und zwölf Silben am häufigsten sind. Es gilt das Prinzip der Endbetonung, d.h. die Silbe am Zeilenende trägt den wichtigsten Akzent, ein sekundärer Akzent tritt vor der Zäsur bei der Zeilenmitte auf. Dieser Akzent eines Verses fällt nun auf den betonten Taktanfang (oder auf die zweite betonte Zählzeit eines geraden Taktes), und ebenso erhält die Zäsur in der Zeilenmitte einen musikalischen Akzent.

Als Folge der wechselnden Zeilenlängen sowie der von der Struktur der Dichtung diktierten Stellung der Taktstriche ergibt sich ein häufiger Taktwechsel, der die Irregularität des Sprachrhythmus nachahmt. Das folgende Beispiel stammt aus dem Prolog der Oper DAR-DANUS (1739) von Jean-Philippe Rameau:

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Natürlich könnte man den geforderten Zusammenhang zwischen poetischer Struktur und metrischer Notation auch durch Manipulation der Notenwerte erreichen, diese Art von Rezitativ wird dann récitatif mesuré genannt. Ebenso wird bei zahlreichen kleinen airs verfahren, die zwar im deklamatorischen Stil gehalten, aber metrisch regulär sind. Das récitatif mesuré folgt strikt dem Zeitmaß, während das normale récitatif rhythmisch sehr frei vorgetragen wird; die Taktstriche sind Hinweise für die Sänger und zeigen ihnen, wo die Akzente zu setzen sind.

In der französischen Tragédie lyrique wurde immer häufiger das Orchester zur Begleitung der Rezitative herangezogen. Dadurch sowie durch die Konzentration auf die Deklamation der Sprache und den dramatischen Verlauf der Dichtung kam es zugleich dazu, dass der Kontrast von Rezitativ und Arie weniger stark ausgeprägt war als in der italienischen Oper. In der Tragédie lyrique kann man zwei Arten von orchesterbegleiteten Rezitativen unterscheiden: das récitatif obligé, das dem Accompagnato-Rezitativ in der italienischen Oper entspricht, und das récitatif accompagné, das vom Secco-Rezitativ herkommt, aber anstatt vom Continuo von Streichern begleitet wird.

1.4 Das orchesterbegleitete Rezitativ

Aufbauend auf dem französische Rezitativ und der italienische Form des Accompagnatos rückte Christoph Willibald Gluck das orchesterbegleitete Rezitativ in den Mittelpunkt seiner Reformbestrebungen. Seit seiner ALCESTE (1767) hat er das Secco-Rezitativ ganz aufgegeben und macht reichen Gebrauch vom Accompagnato-Rezitativ; auch in den großen Monologen seiner französischen Opern verwendet er das „récitatif pathétique“ oder obligé, etwa in IPHIGÉNIE EN TAURIDE (1779) in Iphigénies Traumerzählung im I. Akt mit mehreren Tempowechseln, in Orests „Dieux! protecteurs de ces affreux rivages“ und in Pylades’ „Divinité des grandes âmes“ (vgl. ). Abweichend vom französischen Rezitativ lässt er nach italienischer Manier an einigen Stellen den Bass die Kadenz nach Abschluss der Singstimme alleine zu Ende führen. Auch Glucks unmittelbarer Rivale Niccolò Piccinni gestaltet die gewichtige Szene des Atys in seiner Oper ATYS (1780) in der Tradition der französischen Monologe: Récitatif obligé Andantino vivace „O funeste amitié“, Air Allegro agitato „Quel trouble agite mon coeur“ und Récitatif obligé Andantino sostenuto „Je succombe et je sens une froide langueur“.

In der italienischen Oper dagegen setzte sich das orchesterbegleitete Rezitativ erst im 19. Jahrhundert durch. In ELISABETTA, REGINA D’INGHILTERRA (1815) verzichtet Gioachino Rossini erstmals auf die Secco-Rezitative. Durch die Einbeziehung des Rezitativs in Arien, wie in der Scena ed Aria oder in der großen dreiteiligen Belcanto-Arie (vgl. Abschn. 2.6), sowie in Ensembles, vor allem in den Introduzioni und Finali, und durch die damit verbundene Tendenz zur Durchkomposition verlor das Rezitativ seine ehemalige Funktion und Bedeutung. Doch bleiben auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts rezitativische Partien ein wesentlicher Bestandteil der Oper; im Accompagnato erfuhr der Anteil des Orchesters zunehmend Erweiterungen, und gipfelte schließlich in Richard Wagners Musikdrama, das durch die völlige Überwindung der Nummernstruktur und den anhand der Leitmotivtechnik motivisch durchgebildeten Orchestersatz charakterisiert wird.

Das Secco-Rezitativ lebte einzig in der komischen Oper fort. Rezitativ-Modelle etwa in ARIADNE AUF NAXOS (1911/12) von Richard Strauss und in THE RAKE’S PROGRESS (1951) von Igor Strawinsky stehen im Bereich einer historisierenden Tendenz, die bewusst an barocke Operntypen anknüpft.

Benutzte und weiterführende Literatur

C. Kühn, Formenlehre der Musik, Kassel, 1987.

D.E. Monson, J. Budden, J. Westrup, Beitrag Recitative in New Grove Dict. 21, 1, London, 2001.

L. Rosow in Early Music, N. Kenyon Ed., 11, 1983, S. 468.

R. Strohm, Beitrag Rezitativ in MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart), Bd. 8, 224, Kassel, 1998.

Zitierte Literatur

H.C. Koch, Musikalische Lexikon, Frankfurt/M., 1802.

C. Kühn, loc.cit., 1987.

J. Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg, 1739.

F. Menchelli-Buttini, in Handbuch der musikal. Gattungen 12, Laaber 2001.

L. Rosow. loc. cit., 1983.

vgl. Kühn, S. 40

Koch, S. 1231.

Mattheson 1739, S. 343

Menchelli-Buttini 2001, S. 30.

Vgl. Rosow 1983, S. 477.

2. Die Arie

2.1 Arienformen der frühen Opern

Entsprechend der Rolle, welche die Oper in der Entwicklung der Musik nach 1600 spielte, hat die wichtigste geschlossene musikalischen Form der Oper, die Arie, nicht nur selbst entscheidende Entwicklungen durchlaufen, sondern auch die musikalische Form der Instrumentalmusik, speziell diejenige des Sonatenhauptsatzes und des Instrumentalkonzertes, wesentlich beeinflusst.

Bereits in den ersten, durch den als recitar cantando bezeichneten Sprechgesang geprägten Opern treten mehr oder weniger geschlossene Passagen auf, die als Arien bezeichnet werden können, so etwa der Auftrittsgesang des Hirten Tirsi in Jacopo Peris EURIDICE (1600) oder die drei strophischen Arien in Claudio Monteverdis ORFEO (1607). Als Beispiel sei Orfeos Arie zu Beginn des II. Aktes erwähnt, der vier Strophen aus jeweils vier Achtsilblern zu Grunde liegen. Die Vertonung ist für alle Strophen gleich und besitzt eine Binnenstruktur der Art a - b - a’, wobei a den ersten Vers zweimal enthält, und a’ den doppelten ersten Vers wiederholt und sich von a nur durch die Schlussfloskel unterscheidet und auf dem Grundton g und nicht auf der Terz h schließt:

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Die einzelnen Strophen sind jeweils durch das gleiche Ritornell voneinander getrennt, so dass sich insgesamt der Aufbau A - R - A - R - A - R - A ergibt, wobei A den Strophenteil und R das Ritornell bezeichnet.

Seit Ende der 1630er Jahre bildete sich die Arie als selbständige Form neben dem Rezitativ heraus. In Rom überwiegt zunächst meist das Strophenlied, wie in Stefano Landis dramma musicale IL SANT’ ALESSIO (1632), mit dem das von den Barberinis gestiftete Teatro delle Quatro Fontane mit 3000 Sitzplätzen eröffnet wurde. Daneben spielen Ostinato-Arien in dieser Zeit eine wichtige Rolle, wobei die ständige Wiederholung eines Bassmodells zu einer Erweiterung der Form führte, da der Komponist nun nicht mehr an die strophische Struktur eines Textes oder eines Bassmodells gebunden war.

Die Komponisten der venezianischen Oper verwendeten auch andere Formen, die weniger auf vorhandene Formmodelle Bezug nahmen als vielmehr auf die Position der jeweiligen Arie im Drama. So treten in den Spätopern Monteverdis musikalisch geschlossene Stücke wechselnder, jedoch meist klar umrissener Struktur auf, wie etwa der Gesang des Valletto „Sento un certo non o che“ aus dem II. Akt von L’INCORONAZIONE DI POPPEA (1642). Das Schlussduett der gleichen Oper zwischen Nero und Poppea nimmt bereits die breit angelegte dreiteilige Dacapo-Form vorweg. Die in sich identischen Rahmenteile entfalten sich über einem absteigenden Tetrachord, der erst durch Monteverdis Schüler Francesco Cavalli zur Metapher für Trauer und Klage wurde und von da an vielen Lamentos als ostinater Bass zugrunde lag, während der kontrastierenden Mittelteil sich über einem Strophenbass entfaltet.

Bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts begann durch Mittel wie Textwiederholung, nach Länge und Tonart unterschiedliche Strophenvertonung, Einschiebung von Rezitativen und durch Koloraturen die Loslösung vom Strophenlied und damit die Geschichte der Arie im heutigen Sinn. Ein Beispiel aus dieser Zeit ist die Arie der Proserpina aus Pietro Antonio Cesti's Oper IL POMO D'ORO (1668), die zur Hochzeit von Kaiser Leopold I. mit der Infantin Margherita von Spanien in Wien aufgeführt wurde. Die Oper hat 66 Szenen in fünf Akten, 24 verschiedene Bühnenbilder und ein Ballett in jedem Akt. Proserpina beschreibt ihre bedrückende Umgebung im Hades.

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Angegeben ist eine vollständige Strophe. Sie besteht aus zwei Hauptteilen entsprechend der Gliederung des Textes; alle außer der ersten Zeile werden wiederholt, um die Melodie zu betonen. Man beachte die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Takten 6 - 12 und 13 - 18 mit dem gleichen Text, und ebenso zwischen den Takten 23 - 36 und 39 - 53. Bei der zweiten Strophe werden die Gesangsstimme und die Begleitung geringfügig variiert. Die Regelmäßigkeit macht deutlich, wie die Musik mit ihrer Forderung nach Form und Wiederholung das Medium Oper zu dominieren begann.

Der Meister des Übergangs vom 17. zum 18. Jahrhundert ist Alessandro Scarlatti, der als der wichtigste Vertreter der Neapolitanischen Schule angesehen werden kann. Er schrieb 114 Opern, die einerseits die Tendenzen der Zeit aufnehmen, andererseits aber auch vorausweisen auf die Entwicklungen, welche die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschen. So treten bereits in seiner ersten Oper GLI EQUIVOCI NEL SEMBRANTE (1679) einfache Dacapo-Formen a - b - a auf, etwa in der Arie „Gigli alteri“, bei der wie bei einer Devisen-Arie der vokale Themenkopf wiederholt wird. Der Arie liegt ein Vierzeiler zu Grunde, die ersten zwei Verse bilden den acht Takte langen a-Teil, der b-Teil mit den Versen drei und vier umfasst fünf Takte, und eine Wiederholung des a-Teils beschließt die Arie, die einschließlich Eingangsritornell nur 26 Takte lang ist. Bei der Kürze der Arien überrascht es daher nicht, dass Ende des 17. Jahrhunderts eine Oper üblicherweise 30 – 50 Arien enthielt.

Die Arie „Chi lascia la sua bella“ aus ERACLEA (1700) ist bereits als Dacapo- Arie notiert; dem 18-taktigen a-Teil liegt ein Vierzeiler zugrunde, der zweimal vertont wird, und auch im 10-taktigen b-Teil tritt der zugrunde liegende Dreizeiler zweimal auf. Es folgt die Wiederholung des a-Teils von Anfang an (Da capo), die nicht ausgeschrieben ist. Es handelt sich um eine Devisenarie, bei der zuerst der vokale Themenkopf, die Devise, vorgestellt wird; nach einem instrumentalen Zwischenspiel schließt sich die notengetreue Wiederholung der Devise mit Weiterführung an.

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Während sich in der venezianischen Oper Rezitativ und Arie immer schärfer voneinander trennten, blieb in der französischen Oper das Rezitativ arioser und kantabler, und die Arie deklamiert auch trotz ihrer liedhaften Melodik. Zudem begnügte sich die Air mit bescheideneren Ausmaßen und geringeren Anforderungen an die Sänger.

2.2 Die Dacapo-Arie

Die geschlossene Form der Arie, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelte, hatte eine zunehmende Trennung zwischen textreichem Rezitativ als handlungstragendem Element und Arie zur musikalischen Affektdarstellung zur Folge. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren die von Rezitativen unterbrochenen, wie Perlen auf einer Kette aneinander gereihten "Nummern" einer Opera seria fast ausschließlich Arien, dazu noch so gut wie immer in der Dacapo-Form. Gefördert wurde die Tendenz zur Nummernoper mit der schließlich fast absoluten Vorherrschaft der Arie durch den großen Aufschwung der Gesangskunst in jener Zeit. Dieser vollzog sich vor allem innerhalb der Oper und führte zur Heranbildung eines regelrechten Primadonnen- und Kastratenkultes und damit verbunden zu einer formalen Erweiterung der Arie, die es den Sängern ermöglichte, ihre Virtuosität vorzuführen. So konnte eine Protagonistenarie aus der Glanzzeit der Kastraten in der Mitte des Jahrhunderts bis zu einer Viertelstunde dauern.

Für die Arie als geschlossenes Musikstück hatten sich zweistrophige Texte mit einer Reprisenanordnung der Form

1. Strophe / 2. Strophe / 1. Strophe

am sinnfälligsten erwiesen. Entspricht die Wiederkehr der 1. Strophe einer notengetreuen Wiederholung des erstem Teiles entsprechend dem Schema a - b - a, so wird in der Regel diese Wiederholung nicht ausgeschrieben, sondern in der Partitur durch das Zeichen D.C. (da capo = vom Anfang) angedeutet. Diese Dacapo-Anlage verdrängte um 1700 die älteren Arientypen und beherrschte für lange Zeit die europäische Oper.

Die Reprisenanlage verleiht der Arie eine rein statische Funktion und meist kontemplativen Charakter, doch stellt sie an sich noch kein starres formales Schema dar; tonale Abfolge, Takt- oder Tempowechsel im Mittelteil, Länge der Ritornelle, Einbeziehung obligater Instrumente usw. geben die Möglichkeiten, die Komposition dem Textverlauf anzupassen. Dennoch hat sich nicht zuletzt unter dem Einfluss von Pietro Metastasio (1698 - 1782), der 27 Opernlibretti schrieb, von denen einige mehr als 60 Mal und alle zusammen etwa 1200 Mal vertont wurden, etwa ab 1730 das folgende starre Schema herausgebildet:

1. Strophe – 1. Strophe || 2. Strophe | da capo al fine fine

Durch das Da capo ergibt sich ein fünfteilige Form a - a’ - b - a - a’, wobei die einzelnen Teile durch Ritornelle voneinander getrennt sind, so dass das vollständige Schema R - a -R’ - a’ - R“ - b - R - a - R’ - a’ - R“ lautet. Die Vertonung der 1. Strophe beginnt üblicherweise mit dem im Eingangsritornell dargelegten Motiv und führt zur Dominante (oder, falls es sich um eine Moll-Arie handelt, zur parallelen Dur-Tonart), und ein zweites, meist kürzeres Ritornell in der Nebentonart führt zum zweiten Durchgang (a’) der 1. Strophe. Das folgende Ritornell steht wieder in der Grundtonart, denn es beendet die Arie nach dem Da capo. Dem b-Teil liegt die 2. Strophe zu Grunde, die in der Regel nur einmal und meist in einer in Tonart oder Takt mit dem Hauptteil kontrastierenden Weise und oft auch mit reduzierter Begleitung vertont wird, wobei Wortwiederholungen möglich sind. Daran schließt sich das Da capo an. In beiden Textdurchgängen des Hauptteils ist die letzte Zeile der 1. Strophe oft durch Koloraturen oder Fiorituren ausgeschmückt, und beide Teile können mit Kadenzen abschließen. Bei dem Da capo wurde übrigens erwartet, dass der Sänger zusätzliche Verzierungen nach eigener Wahl anbrachte. Dieses Schema wird nach Johann Adolf Hasse (1699 – 1783), dem seinerzeit sehr renommierten Komponisten zahlreicher Opern, als Hassesche Dacapo-Form bezeichnet und kann wie folgt zusammengefasst werden:

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Ein Beispiel bildet die Arie der Tusnelda aus Hasses Oper ARMINIO (1745). Der Text besteht, wie auch sonst häufig, aus zwei Vierzeilern:

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Die Arie steht in der Ombra-Tonart Es-Dur, der erste Abschnitt a schließt mit einer Kadenz in B-Dur, der zweite Abschnitt a’ führt zur Grundtonart zurück, und der b-Teil moduliert von c-moll nach As-Dur.

Als Beispiel für die ausgeschriebenen Koloraturen jeweils am Ende des letzten Verses der 1. Strophe sei der Schluss des a’-Teils mit der Kadenz auf der Grundtonart B-Dur aus der Arie der Cleopatra „Tu la mia stella sei“ aus Händels GIULIO CESARE IN EGITTO (1724) zitiert.

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Um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie die vom Sänger zusätzlich angebrachten Verzierungen aussahen, ist die Kadenz aus einer Arie aus der Oper MEROPE (1734) von Geminiano Giacomelli

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und die Ausführung durch den berühmten Kastraten Farinelli angegeben:

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Eine Opera seria des 18. Jahrhundert besteht aus einer Kette von etwa 20 - 25 großen, vom Orchester begleiteten Arien (im Vergleich zu mehr als 50 Arien, bei denen es sich häufig um nur vom Basso Continuo begleitete „Cembalo-Arien“ mit Orchester-Ritornellen handelte, in den Opern des 17. Jahrhunderts), die entsprechend der Rangordnung der einzelnen Sänger verteilt waren. Durch die starre Form der Dacapo-Arie verlor der Aufbau der Oper an Beweglichkeit, die Fortführung der dramatischen Idee wird so von musikalischen Rücksichten bestimmt, dass der Handlungsablauf nun immer ausschließlicher in den kurzen Rezitativen wiedergegeben wird. Metastasios Arien sind ausnahmslos Abgangsarien, sie stehen jeweils am Szenenende, der Sänger verlässt die Bühne nach der Arie, und wenn eine Person die Szene verlässt, sollte sie auch die Gelegenheit für eine Abtrittsarie erhalten. Das führt aber oft dazu, dass der Dramenablauf an Stellen aufgehalten wird, an denen für Kontemplation keine Zeit ist, und zu Arieninhalten, die sich ganz ins Allgemeine verlieren.

Typische Beispiele hierfür bieten die Gleichnisarien, in denen eine bestimmte Seelenlage (Affekt) durch den Vergleich mit einem Naturbild deutlich gemacht wird, etwa mit der murmelnden Quelle, die bald in den (Lebens-) Fluss mündet, oder mit den Gefahren des Meeres. Aber gerade diese Naturschilderungen haben die Komponisten oft zu besonders reizvollen musikalischen Erfindungen angeregt, und es ist nicht zuletzt der hier zum Ausdruck kommende lehrhaft-rationalistische Geist, welcher die barocke Opera seria und die Dacapo-Arie in hohem Maße prägt.

Als Beispiel sei hier die Arie Nr. 34 des Cesare aus dem III. Akt von Händels GIULIO CESARE IN EGITTO (1724) angeführt.

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Der Text lautet:

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Häufig werden gerade in den Gleichnisarien auch konzertierende Soloinstrumente eingesetzt, oft in lautmalerischer, die Natur nachahmender Weise. So versah Johann Adolf Hasse mehrere Arien seiner Oper CLEOFIDE, mit der er sich 1731 in Dresden vorstellte, mit langen instumentalen Solopassagen, um die bedeutenden Virtuosen der Hofkapelle zur Geltung zu bringen. Als Beispiel sei die Arie Nr. 58 „Cervo al bosco“ des Alessandro aus dem III. Akt erwähnt, die eine obligate Laute und ein obligates Horn verlangt.