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Maria Cosentino

Der gestohlene Sohn

© 2012 Kommode Verlag, Zürich

1.Auflage 2012

Text: Maria Cosentino
Lektorat: Lektorat Hanke
Layout: Claudia Fellmer
Druck: fgb – Freiburger Graphische Betriebe

Kommode Verlag, Zweierstrasse 176, CH-8003 Zürich
www.kommode-verlag.ch

ISBN 978-3-9523768-3-6
eISBN 978-3-9523768-4-3

Gewidmet sind diese Worte vor allem meinen Kindern, die allerhand miterleben und erdulden mussten.
Und doch ist es ihnen gelungen das Beste daraus zu ziehen um ihren Weg zuversichtlich, gesund, glücklich und zufrieden zu bestreiten.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen meinen erstgeborenen Sohn zu finden.

Inspiration

Eine sinneserweiternde Reise

Ich habe gerade meine dreijährige Ausbildung als Psychiatrische Krankenschwester – oder, wie ich mich gerne ausdrücke, als „diplomierter Mitmensch“ – abgeschlossen und brauche nach dem verantwortungsvollen Klinikalltag und dem ständigen Leistungsdruck der Schule dringend eine Erholung. All die schweren Eindrücke, die interessanten Persönlichkeiten und die komplexen Zustandsbilder der Patienten beeinflussen mich nachträglich, sodass meine Spontaneität und mein italienisches Temperament heftig darunter gelitten haben. Obwohl ich erst 22 Jahre jung bin, komme ich mir ausgelaugt vor und muss dringend Energie tanken. Da ist Sonne, Strand und eine gute Gesellschaft das richtige Rezept. In meinen Gedanken schwebt mir eigentlich Afrika vor. Doch meine Jugendfreundin Andrea, mit der ich schon einen Teil Europas per Anhalter bereist habe, will unter allen Umständen nach Jamaika. Sie berichtet aufgeregt: „Von dort kommt die Reggae-Musik, Bob Marley und Rasta!“, was mir alles zutiefst fremd erscheint. „Dahinter verbirgt sich eine interessante Lebensphilosophie!“ erklärt sie mir begeistert. Ihr Argument „Ich will unbedingt mehr darüber erfahren!“ überzeugt mich schlussendlich. Und so wagen wir, etwas naiv, eine kleine fremde Insel zu erforschen.

Diese Reise treten wir 1982 an. Mit der günstigen Fluggesellschaft Aeroflot fliegen wir von Luxemburg aus über Cuba und landen an einem frühen Novembermorgen sicher in Kingston, Jamaika. Was für ein außerordentlicher Empfang wird uns beim Verlassen des Flugzeuges geboten: eine konzentrierte, nach Blüten duftende Luft, die so feucht und schwer ist, dass ich sie direkt in meinem Gesicht und auf der Lunge spüre. Aber gleichzeitig verleiht mir diese angenehme Inspiration das Gefühl an einem wirklich speziellen Ort gelandet zu sein. Ich bin zuvor schon nach Kreta, Israel und Australien geflogen und kenne demzufolge das Gefühl, welches ein solcher Klimawechsel auslöst. Doch habe ich niemals eine solche Intensität empfunden wie bei dieser Ankunft in Jamaika: diese total fremde Atmosphäre einer exotischen kleinen Insel mit einem außergewöhnlichen Klima. Und vorneweg eine bunte, heitere Gesellschaft. Trotz aller Fremde fühle ich mich hier aufgehoben. Vor allem beeindrucken mich die wunderschönen Menschen. Ich kann mich kaum satt sehen. Vollkommen hingerissen glotze ich die Passanten mit ihren großen, strahlenden Augen an. Ihre geheimnisvolle Haut erleuchtet in der prallen Sonne und die Menschen meistern trotz einfachen Verhältnissen mit hoch erhobenem Haupt ihren Alltag. Wie auf Wolken schwebe ich aus dem Flughafen. Ich bewege mich zwar in der Gesellschaft meiner Freundin, bin aber von den neuen Eindrücken so absorbiert, dass ich ihre Gegenwart beinahe vergesse. Aber auch sie steht total überwältigt da. Das grelle Leuchten der Sonne blendet unsere empfindlichen Augen und die schweren Trekking-Rucksäcke lassen uns bald ziemlich schwitzen. Erschöpft setzen wir uns am Ende des Flughafengeländes auf eine kleine leere, im Schatten stehende Bank, um unsere ersten Eindrücke wirken zu lassen.

Unser Tagespensum besteht darin nach Negril - einem Ort im Westen der Insel - zu gelangen, wo wir jemanden namens Country kontaktieren wollen. Eine ehemalige Schulkollegin von mir, Lilian von Tobler, die mehrere Jahre in Negril gelebt hat und früh Mutter in Jamaika wurde, arbeitet zur Zeit wieder in der Schweiz. Leider musste der Vater ihres Kindes, eben dieser Country, aus finanziellen Gründen zurückbleiben. So wurde Country zu unserem einzigen Anhaltspunkt in diesem verführerischen Paradies. Immer noch verträumt und mit etwas Glück wechseln wir unsere ersten jamaikanischen Dollars. Durch meinen früheren, sechsmonatigen Aufenthalt in Australien beherrsche ich genügend Englisch, um mich für das Nötigste zu verständigen. Leider heißt das noch lange nicht, dass ich dieses jamaikanische Englisch auch wirklich verstehe. So einen englischen Dialekt habe ich nie zuvor gehört und muss mich immer wieder fragen, ob sich mein Gegenüber wirklich in Englisch mit mir unterhält. Der Wortklang und die Betonung gleichen nicht im Geringsten meinen von Australien gewohnten Unterhaltungen. Doch mit unserer spontanen Gestik und den gastfreundlichen Einwohnern erreichen wir in Kürze mit einem Taxi die Busstation in Down Town, um von dort aus mit einem Minibus unser Reiseziel in Westmoreland zu erreichen.

Die Busstation wird zu einem eindringlichen Erlebnis. Die Menschenmenge bewegt sich rhythmisch durch den Alltag. Verkäuferinnen und Verkäufer singen oder schreien in der Gegend herum. Freunde und Bekannte treffen sich und führen kleinere Unterhaltungen. Autohupen, Gelächter und Musikfetzen umhüllen ferner den belebten Platz. Die unübersehbare, weit ausgebreitete Armut verschmilzt zu einem kraftvollen Impuls, der für mich ein wirkliches Rätsel darstellt: „Wie schaffen es diese, in Armut lebenden Menschen eine solche lebensfrohe Haltung zu bewahren?“ Hilfreiche Passanten führen uns zu einem halb leeren Minibus, welcher uns nach Negril fahren wird. Erleichtert ergattern wir zwei freie Fensterplätze. Zu unserem Erstaunen müssen wir lange warten, bis sich der Bus vollkommen füllt und wir endlich die etwa vierstündige Busfahrt antreten können. Die Mittagshitze lässt das Sitzen unerträglich werden, da wir mit dem unvermeidlichen Schweißausbruch an den Lehnen fest kleben. Übermüdet lege ich meinen Kopf auf den Rucksack, um ein wenig zu dösen. Doch das ist wohl eher ein Wunschgedanke. Strahlende Kinder in Schuluniformen stürmen mit Gelächter den Bus und nehmen gesittet ihre Plätze ein. Meine Augen können und wollen sich nicht von den verschiedenen, sehr lebendigen Eindrücken lösen. Da kommt ein Mann daher gelaufen, mit einem Schritt, der eher einem Hüpfen oder Tanzen gleicht. Seine Frisur ist einmalig. Solch eine Haarpracht habe ich noch nie zuvor gesehen. Sie besteht aus langen, natürlichen, nicht geflochtenen Zöpfen, die sein Gesicht anmutig schmücken. Darauf sitzt eine rot-gelbgrüne Mütze, in der ein Teil der Zöpfe verschwindet. Er erinnert mich stark an meine vergangene Hippiezeit. Es umgibt ihn zusätzlich eine ausgeglichene Aura, die mich schlagartig in Bann zieht. Sobald er unseren Bus betritt, füllt dieser sich mit einer mir ungewohnten, aber fühlbaren Schwingung, die eine angenehme Atmosphäre verbreitet. Andrea erwischt mich, wie ich den interessant aussehenden Mann mustere. Sie macht mich unauffällig darauf aufmerksam: „Starr nicht so die Leute an – es fällt auf, und das könnte dich möglicherweise in Schwierigkeiten bringen!“ Dabei erklärt sie mir eindrücklich: „Übrigens: Dieser Typ ist ein Rasta!“

Es ist das erste Mal, dass ich einen Rasta von Angesicht zu Angesicht wahrnehme. Meine Müdigkeit verfliegt und ein neugieriges Interesse erwacht postwendend. Ich verspüre großen Respekt gegenüber dem jamaikanischen Volk, aber für mich steht dieser Rastamann eindeutig über dem jamaikanischen, europäischen oder irgendeinem anderen Volk. Rasta eröffnet mir – in diesem engen Bus – eine neue, naturverbundene und grenzenlose Perspektive. Natürlich realisiert der Mann mein Erstaunen und schenkt mir und meiner Freundin ein entspanntes Lächeln, setzt sich cool auf die Sitzbank und meditiert, mit schräg herunterfallender Kappe, vor sich hin. Die Zeit scheint stehen zu bleiben und ich versinke in meinen fragenden Gedanken: „Was ist ein Rasta? Was verkörpert er und woher kommt dieser Lebensgeist, den ich eindeutig wahrnehmen kann und der mich regelrecht anzieht? Wieso trägt er diese interessante und wunderschöne Haarpracht?“ Dies frage ich mich, bis mich das Aufheulen des Motors in die Realität zurückversetzt. Im Bus drängen wir uns nun sehr dicht aneinander. Der Wagen rollt gemächlich auf der holprigen Fahrbahn dahin und gleichzeitig ertönt eine harmonische, klangvolle Musik aus dem Kassettenrekorder des Minibusses. Andrea jubelt mir vollkommen fasziniert zu: „Nur in Jamaika bekomme ich meine Lieblingsmusik im öffentlichen Bus zu hören, meinen heißgeliebten Reggae.“ Ich muss ihr zustimmen, denn dieser Rhythmus ergänzt hier geheimnisvoll die Umgebung. Die Passagiere schaukeln mit. Mein Herz schlägt im gleichen Tempo und sogar unser Vehikel scheint im Takt der Musik zu fahren.

Je länger wir unterwegs sind, desto schöner offenbart sich uns die Aussicht. Das saftige Grün der Pflanzenwelt leuchtet in der hügeligen Landschaft. Bunte Blüten schmücken die kräftigen Bäume und das sanfte Gebüsch. Sie verzaubern die Umgebung mit ihrem wunderbaren Duft, der meinen Atem von Meile zu Meile intensiver erfüllt. Wir haben uns getraut, den großen Teich zu überqueren und sind im Paradies auf Erden gelandet.

Während der langen Fahrt hält der Fahrer mehrmals an, um einige Passagier aus- und andere wieder einsteigen zu lassen. Einmal sogar, um eine kleinere Pause einzulegen, bei der wir uns mit Coca Cola und Früchten verpflegen. Eine saubere Toilette zu finden, bemühen wir uns gar nicht, sondern schauen es den einheimischen Fahrgästen ab und suchen uns ein größeres, abgelegenes Gebüsch, um unsere Bedürfnisse zu erledigen. Die ganze Fahrt hindurch kriege ich kein Auge zu, da sich das interessante Panorama ständig verändert und wir nicht mehr aus dem Staunen kommen. Nach einigen Stunden auf der mit Schlaglöchern übersäten Fahrbahn fängt es plötzlich an zu regnen. Die kühle Erfrischung verwandelt die Straße, sodass mehrere kleinere Bäche entstehen. Nach einem kurzen Augenblick sind die dunklen Wolken verschwunden und die Sonne brennt wieder auf unseren langsamer fahrenden Minibus. Erleichtert erreichen wir vor Sonnenuntergang zu guter Letzt unser Ziel.

Negril, das Touristenstädtchen in Westmoreland, besitzt in seinem Zentrum ein schlichtes, hell leuchtendes Einkaufszentrum. Im Osten breitet sich ein unendlich wirkender Sandstrand aus, der an der Hauptstraße nach Montego Bay an eine Palmenallee grenzt. Die Westseite des Strandes ist dagegen von einer zehn Kilometer langen Felsküste geschmückt. Im Hintergrund sehen wir eine saftig grüne Berglandschaft. Nun müssen wir nur noch diesen Country treffen, der wohl beinahe am Ende der Felsenküste gegenüber von Rick’s Cafe wohnt. Diese Angaben genügen anscheinend, um ihn gegenwärtig ausfindig zu machen. Mit einer Taxe erreichen wir gerade rechtzeitig das bekannte Café, wo wir von einem berauschend feuerroten Sonnenuntergang direkt über dem glitzernden Meereshorizont begrüßt werden. Die Felsen, auf denen die Anlage steht, ragen weit über das türkisblaue Meer hinaus, das sich am Horizont gelb und rot verfärbt. Schnell erkenne ich das entzückende Panorama aus verschiedenen Filmszenen wieder. Momentan besetzen wir die Hauptrollen in unserem eigenen Film und entzückt von der Umgebung schlendern wir zur Bar. Ein gutaussehender Barkeeper fragt uns höflich: „Hi, was kann ich euch zwei bringen?“ Wir schauen uns etwas fragend an. Was trinkt man auf Jamaika? „Ich empfehle euch, unsere Fruchtsäfte zu probieren. Ein Mix aus verschiedenen frischen Früchten, wie wär’s?“ Überzeugt antwortet Andrea: „Sicher, wir nehmen zwei!“ Direkt vor unseren Augen mixt er frisches exotisches Obst zu einer dicken Flüssigkeit zusammen, schabt etwas Eis ab, verteilt es auf zwei Gläser mit Strohhalm und überreicht uns die Getränke. Es schmeckt lecker. Unterdessen holt der Fahrer des Taxis den von uns gesuchten Mann. Nach wenigen Minuten stellt sich ein Rastamann vor: „Irie, ich bin Country.“ Überrascht antworten wir mit Händeschütteln: „Ich heiße Andrea“ – „Ich bin Mary. Schön, dich kennen zu lernen!“ Obwohl ich bei diesem Rasta nicht mehr die gleiche Ausstrahlung bemerke wie mittags bei der Persönlichkeit im Bus, wirkt seine angenehme Art höflich und witzig. Er trägt seine Haare um einiges kürzer und ist etwa in unserem Alter. Als erstes frage ich: „Was heißt eigentlich ‚Irie‘?“ – Country erklärt uns: „Es bedeutet ‚super‘ oder ‚ausgezeichnet‘ und wird vielfach als Grußwort benützt. ‚Irie‘ kann aber auch ein Zustand oder eine Beschreibung sein.“ Dieses Wort eignen wir uns sehr schnell an. Jamaika ist „Irie“. Wir fühlen uns „Irie“. Und die Leute hier, vor allem die Rastas, sind „Irie“.

In Kürze dunkelt es auch schon. Zurück mit dem Taxi organisiert uns Country am Anfang der Felsenküste ein einfaches, aber sauberes Zimmer. Wir machen uns dort frisch und bestellen etwas zum Essen. Doch nach dem köstlichen vegetarischen Reisgericht überkommt uns eine lähmende Müdigkeit und erschöpft schlafen wir mit den frisch angezogenen Kleidern ein. Der nächste Morgen bestätigt uns noch einmal im Garten Eden zu erwachen. Diese Insel im Herzen der Karibik, umringt von einem still liegenden, türkisblauen Ozean, verspricht uns vollkommene Entspannung, Abenteuer und romantische Stunden. Wir schlendern gemütlich durch eine farbenreiche Baumallee einer einspurig schlängelnden Fahrbahn entlang, die in größeren Abständen mit kleineren, interessanten Souvenirständen bestückt ist. Unterwegs nehmen wir ein vitaminreiches Frühstück zu uns, bestehend aus einem frischen Fruchtsaft, butterweichen Avocados, Rührei mit Früchtegelee und Bananenbrot. Am Strand angekommen, wollen wir uns in die brütende Sonne legen, um etwas Farbe abzukriegen. Kaum breiten wir unsere Badetücher im heißen Sand aus, eilen bereits verkaufstüchtige Händler herbei: „Wollt ihr Souvenirs kaufen?“ Wir vertrösten sie mit „Wir sind erst angekommen!“ und „Lasst uns etwas Zeit!“ auf die nächsten Tage. Dies wird wohlverstanden akzeptiert. Sie verweisen uns auf einen kleinen Markt, der direkt hinter dem Strand unter Palmen stattfindet. „Dort haben wir unsere Verkaufsstände. Wenn ihr später einen Blick reinwerfen wollt?“ – „Ok, bis später!“ Wieder alleine erholen wir uns am Strand, der sich durch einen cremefarbenen, fein gemahlenen Sand paradiesisch präsentiert. Im einladend glasklaren Meer laufen wir weit hinaus, bevor das Wasser an Tiefe gewinnt. Keine einzige Welle überschlägt sich dabei. Es wirkt so, als hätte sich eine Schicht Olivenöl darauf ausgebreitet. Leider kühlt uns das Wasser nur wenig ab. Desto ausgiebiger genießen wir die Aussicht. Unzählige Kokosnusspalmen reihen sich über die ganze Länge des Strandes auf und stehen im Kontrast zum frischen, hügeligen Hintergrund. Über diesem farbenfrohen Bild strahlend der blaue Himmel. Am Übergang zur Felsküste, unterhalb des Stadtkerns, windet sich eine kleine sumpfige Lagune; daneben erstreckt sich unter den Palmen der erwähnte kuriose Markt. Viele dieser Ladenbesitzer sind einfache Rasta-Menschen. Ganze Familien, teilweise drei Generationen, bieten in ihren aus Holz und Palmenblättern gebastelten Verkaufsständen Produkte aus geschnitztem Holz, schwarzen Korallen, geflochtenem Stroh oder gewobenen Stoffen an, sowie interessante Bücher, Bilder, Schallplatten und vegetarisches Essen. Alle gleichermaßen rot, gelb und grün dekoriert. Obwohl die offizielle jamaikanische Flagge aus einer anderen Farbkombination und Formation besteht, repräsentieren diese überall gegenwärtigen Farben der Rastas für mich Jamaika. Erst viel später erfahre ich, dass die Fahne mit dem Löwen in der Mitte die Nationalflagge Äthiopiens darstellt. An einem dieser Stände bekomme ich eine meiner ersten Fragen beantwortet. Der Grund für diese Rasta-Zöpfe, die übrigens Dreadlocks1 genannt werden, ist in der Bibel zu finden: „… so lange das Gelübde seiner Enthaltung währt, soll kein Schermesser auf sein Haupt kommen.“2 Also hat „Rasta“ etwas mit der Bibel zu tun. Ich kenne aus der Bibel nur die Geschichten vom Religionsunterricht und etwas aus meinem vierwöchigen Aufenthalt in Israel. Für diese Reise hatte ich mich mit einigen Bibel-Passagen etwas intensiver befasst. Aber im Grunde genommen habe ich keine Ahnung, was genau in diesem Buch steht. Für mich ist die Bibel einfach mit der römisch-katholischen Kirche verbunden. Die Religion, die mir als gebürtige Italienerin in die Wiege gelegt wurde. In der katholischen Kirche habe ich mich aber nie wohl gefühlt. Ich glaube an eine höhere Macht, traue mich aber nicht, sie zu benennen. Noch finde ich keinen Zusammenhang zwischen der Heiligen Schrift und den gedrehten jamaikanischen Locken. Leider führe ich in unserem Erholungsurlaub diesbezüglich keine tiefgründigen Diskussionen, da ich das jamaikanische Englisch, das sie „Patwa“ nennen, noch nicht genügend beherrsche. So lasse ich die neuen Eindrükke auf mich wirken und genieße das Ital Essen3, das wir in einem der kleinen Restaurants bestellen, trinke die Milch einer Kokosnuss und höre Bob Marley singen: „There’s a natural mystic blowing thru the air“4. Und wirklich schwebt etwas Geheimnisvolles durch diese tropische Luft.

Mit diesem Lied in den Ohren begeben wir uns zurück in unser Zimmer. Dieser Weg entspricht einem Spaziergang von fast einer Stunde. Er führt über eine kleine Brücke zu einer großen Kreuzung, wo sich der Platz mit dem Supermarkt befindet. Rechts davon schlängelt sich unsere Straße. Das Meer sehen wir nach einer Meile nicht mehr, weil die fantastische Fülle der Vegetation es verdeckt, doch riechen wir es ununterbrochen. Als wir das einfache, von einer gepflegten Wiese umrandete Gästehaus erreichen, stehen Country und ein charmanter, junger Rastamann auf der Veranda. Offensichtlich warten sie auf uns. Ein Kassettenrekorder spielt im Hintergrund die jamaikanische Volksmusik, den Reggae. Country stellt uns den etwas scheuen Besucher vor: „Das ist mein Brethren“5 – „Freut uns“, erwidern wir aufrichtig. Gemeinsam betreten wir etwas ausgelaugt unser gemietetes Zimmer, das mit zwei Einzelbetten, zwei Stühlen, einem kleinen Tischchen und einer einfachen Kommode ausgestattet ist. Beim Hinsetzen bemerke ich, wie Andrea ein kleines braunes Säckchen von Country zugesteckt bekommt. Neugierig öffnet sie die Tüte und entdeckt stark duftendes Marihuana. Fragend schaut sie zuerst mich und dann die Jungs an, um herauszufinden, was sie nun damit anfangen soll. Der Brethren reicht ihr wortlos ein Papier aus seiner abgetragenen Hosentasche. Offensichtlich überrascht und ungeschickt dreht Andrea einen rauchbaren Joint. Verlegen schaue ich ihr zu und erinnere mich vage an meine zwei vergangenen Erfahrungen mit diesem eher harmlosen, aber mir persönlich weniger bekannten Rauschmittel.

Mein erster Versuch damit liegt fünf Jahre zurück, während meiner Diplomprüfung an der kaufmännischen Handelsschule in Zürich. Als ich kurz vor der Abschlussprüfung mit hohem Fieber erkrankte, gab mir ein Schulkollege einen Joint. Er war der Meinung, ich hätte Prüfungsängste und dieser Stoff würde mich entspannen. In der Tat half es mir zur schnellen Genesung und ich erzielte überraschenderweise wunderbare Prüfungsnoten. Ein Jahr später bin ich bei meinem zweiten Versuch in Australien eingenickt und habe ein wildlebendes Känguru, das sich uns näherte, verschlafen. Wie bereits erwähnt besitze ich wenig persönliche Erfahrungen damit und durch meinen Job darf ich mir solche Späße sowieso nicht leisten. Ich bevorzuge es, klar und nüchtern meinen eher ausgeflippten Arbeitstag zu meistern.

Nun sitze ich wie angewurzelt im kühlen Zimmer und der Brethren streckt mir die brennende Tüte mit diesem „Heidenkraut“ entgegen. Mir gebührt der nächste Zug. „Du kannst dich ja nun wirklich nicht blamieren! Du bist ja in den Ferien! Probier es einfach“, sage ich mir. Und: „Als starke Zigarettenraucherin macht mir das Rauchen sowieso nichts aus“. Gewohnt, wie bei einer Zigarette, ziehe ich nun an diesem verführerischen Joint und meine Lunge füllt sich. Es fühlt sich ungewöhnlich an und ein ungeheuerlicher Husten überkommt mich. Es vergehen sicherlich Minuten, bevor ich mich erhole. Ich halte noch immer den rauchenden Halskratzer in meiner Hand und mit feuerrotem Gesicht, der Blamage zum Trotz, nehme ich diesmal einen sanften, vorsichtigen Zug. Den Husten noch knapp unterdrückend, reiche ich den glühenden Stängel weiter an Country. Mit etwas kühlendem Wasser überwältige ich den restlichen Hustenreiz. Kaum erholt, wandert der Joint schon wieder in meine Hand. Etwas entspannter lasse ich mich diesmal auf dem Bett nieder und nehme behutsam den nächsten Zug. Eine wohltuende Wärme, mit der bekannten entspannenden Wirkung, breitet sich in mir aus. Ich gebe erleichtert den Rest meiner Freundin Andrea, die sich grinsend neben mich hinlegt. Immer stärker wird unser Wohlgefühl. Ich fange an von innen zu glühen und träume auf dem Bett dahin. Unsere Gäste verkünden aus weiter Ferne: „Wir organisieren schnell Drinks für uns alle!“ und schon leere ich das kühle Ginger Ale gierig in mich hinein, um meinen innerlichen Brand zu löschen. Zu mehr bin ich nicht mehr im Stande. Meine Gedanken drehen sich im Karussell, mein Bewusstsein versinkt in mein Inneres. Ich nehme nur noch den Brethren war, der sich schweigend neben mich auf den Stuhl setzt und besorgt über mich wacht.

Aus dem Nichts tritt ein kleines Hündchen auf. Zitternd steht es auf seinen dünnen Beinchen am Bettrand und schaut mich mit seinen großen, treuherzigen Kugelaugen ängstlich an. Ich vergleiche mich unverzüglich mit diesem mageren, unwissenden kleinen Hund. Visuell, wie auch spirituell, stehe ich mit ihm auf gleicher Höhe. Ich habe mich zwar schon mit Schizophrenie, Manie und Depressionen, sowie Drogensucht, Suizid, Homosexualität und allen möglichen Menschenschicksalen auseinandergesetzt. Doch in diesem Moment fühle ich mich so unbeholfen, unverwirklicht, willenlos und hundselend. Wer bin ich denn schon? Außer dass ich mich hinter meiner Arbeit verkrieche, eine etwas entwurzelte Immigrantentochter verkörpere und ziellos die Welt bereise? Ich existiere wesentlich als eine armselige Persönlichkeit. Ein Nichts, gleichgestellt mit einem kleinen, erbärmlichen, aber barmherzigen Köter. Mit diesem intensiven Gefühl schlafe ich ein.

Durch ein Klopfen am Fenster erwache ich am nächsten Morgen. Eine vertraute, besorgte Stimme ertönt: „Seid ihr ok?“ Etwas benommen erwidert Andrea mit einem deutlichen: „Irie“ und dreht sich auf die andere Seite. Ich hingegen springe aus dem Bett und antworte dem Brethren: „Bitte warte einen Moment!“ Im Nu bin ich frisch geduscht und angezogen. Mein Magen knurrt und da ich heute meine Freundin als eine Langschläferin erkenne, will ich mich auf den Weg machen und etwas Essbares fürs Frühstück zu besorgen. Da kommt die Gesellschaft dieses ruhigen Burschen mehr als gelegen. Er strahlt eine natürliche Zufriedenheit aus, einer ungebildeten Person gleich, ist mir aber sicherlich in mancher Hinsicht voraus. Mein Ebenbild mit dem kleinen Hund schwebt weiterhin präsent in meinem Bewusstsein. Wie alte Bekannte marschieren wir in den frischen Morgen über Pfade und durch Gebüsche bis zu einer abgelegenen kleinen Holzhütte. Eine Rastafrau sitzt auf einem kleinen Hocker neben einer kleinen, mit Holzkohlen betriebenen Kochstelle und frittiert Dumplings6 und süß riechende Kochbananen. Ihr kleiner Sohn spielt mit einem Holzstück neben ihr auf dem Boden. Sobald er uns erblickt, läuft er uns mit ausgebreiteten Armen entgegen und schreit voller Freude: „Onkel Georgy, Onkel Georgy!“ Ich schaue den Brethren verblüfft an: „Georgy?“ Sein Schmunzeln verrät mir, dass er bemerkt hat, wie überrascht ich über seinen wirklichen Namen bin. Eine schöne Art, vorgestellt zu werden! Er hingegen führt mich direkt zu seiner Schwester und stellt sie höflich als „Sister Pat“ vor und mich als „eine Sistren7 aus der Schweiz“. Die schlanke, wunderschöne Dreadlock-Lady zählt bestimmt einige Jahre mehr als ihr Bruder, strahlt aber eine unerschöpfliche Vitalität aus. Mit einem „Gottes Segen“ begrüßt sie uns und hantiert eifrig an ihrer Bratpfanne weiter. Lächelnd nicke ich ihr zu und beobachte mit Erstaunen, wie diese Frau mit wenigen, einfachen Kochutensilien ein sauberes und köstliches Frühstück vorbereitet.

Die jamaikanische Küche ist übrigens eine der schmackhaftesten und feinsten, die ich je kosten durfte. Natürlich ist das italienische Essen, das ich von Geburt an kenne, weltweit eines der bekanntesten. Dennoch gibt es ein paar jamaikanische Gerichte wie Reis in Kokosnussmilch, Dumplings, Kochbanane mit Akee8 und Salzfisch, die ich ab sofort zu meinen gewohnten Essgewohnheiten hinzufügen möchte.

Inzwischen hat Georgy, den ich weiterhin Brethren nenne, mit seinem Buschmesser ein paar Kokosnüsse von einer niedrigen Palme heruntergeholt und geschickt geöffnet, so dass wir sie genüsslich zum Frühstück trinken können. Nachdem wir uns satt gegessen haben, packen wir eine reichliche Portion in eine Papiertüte ein, klemmen ein paar Kokosnüsse unter den Arm und verabschieden uns herzlichst von der kleinen Familie, um auch Andrea ihr frisches Frühstück zu bescheren. Beim Händeschütteln reiche ich der Sistren ein paar jamaikanische Dollar hin, die sie anfänglich nicht annehmen will, doch mit etwas Nachdruck meinerseits lässt sie das Geld unter ihrer Bluse verschwinden. Auf dem Weg zurück erkundigt sich mein Begleiter über unseren Tagesplan und informiert mich über seine Vorschläge: „Heute Abend findet im Kaisers Cafe ein Konzert statt. Sollen wir alle zusammen dorthin gehen?“ Ich vertröste ihn auf eine spätere Antwort: „Ich will zuerst Andreas Absicht erfahren, aber das Konzert ist sicherlich eine interessante Option für heute Abend.“ Wieder in unserer Bleibe angekommen, erwartet uns meine frisch aussehende Freundin sehnsüchtig: „Irie, zusammen. Wo wart ihr so lange? Ich schiebe Kohldampf!“ Ohne zu antworten reiche ich ihr die noch warme Tüte entgegen. Überrascht nimmt sie das Essen, breitet es geschickt auf dem Verandatisch aus und genießt sichtlich ihre Mahlzeit. Der Brethren köpft daneben abermals eine Kokosnuss am obersten Zipfel, so dass auch Andrea problemlos aus der prall gefüllten Nuss ihren Durst löschen kann. Inzwischen steht die Sonne schon im ersten, östlichen Viertel des Himmels und ein heißer Tag kündigt sich an. Da wir uns noch in einem flanierenden Zustand befinden, entschließen wir: „Heute ist für uns wieder Entspannung am Strand angesagt und am späteren Abend besuchen wir mit dem Brethren das Konzert. Okay?“ Wir packen unsere Strandutensilien, verabschieden uns vorübergehend von unserem netten Begleiter und bummeln gemütlich ans Meer. Unterwegs wechseln wir noch im Zentrum genügend Dollars, die für eine Weile ausreichen sollten.

Das wohltuende, ruhige Wasser und ein längerer Strandspaziergang auf dem feinen, nassen Sand bedeuten für uns Entspannung pur. Dabei erblicken wir in Richtung Stadt auswärts mehrere kleinere Hütten, versteckt unter den schattenspendenden Palmen, in denen verschiedene Rastas hausen. Wir trauen uns anfänglich gar nicht, in die Nähe der Hütten zu gehen, jedoch ruft uns ein Rastamann freundlich und spontan zu: „Ihr seid zu einem frisch gegrillten Fisch willkommen.“ Diese kulinarische Verführung lassen wir uns natürlich nicht entgehen. Auf einem einfachen Feuer, das in dem Sand bei einer Palmenlichtung eingegraben ist, brutzeln mehrere mit Zwiebeln, Tomaten und schwarzem Pfeffer bedeckte Fische. Daneben steht ein umgedrehter Eimer, der als kleinere Ablage dient. Auf einem großen, flachen Stein sitzt zufrieden der Koch. Ein bemaltes Bongo dekoriert zusätzlich die kleine Lichtung und zwei Hängematten sind an den umliegenden Palmen befestigt, wo sich ein zweiter Rastamann ausruht. Trotz dieser einfachen „Einrichtung“ fühlt man sich hier königlich und wir werden von den zwei gefälligen Gastgebern sogar als „Prinzessinnen“ betitelt. Nach einer banalen, nur nickenden Begrüßung platzieren wir uns etwas gehemmt auf der leeren Hängematte und lassen uns fürstlich bedienen. Die Atmosphäre ist entspannend, doch die Situation dementsprechend aufregender. Schweigend beobachte ich die athletischen Körper dieser Männer. Die ebenholzfarbene Haut leuchtet im Sonnenlicht, vor allem, wenn der Schweiß die Haut anfeuchtet. Die muskulösen Oberarme und die Bauchmuskulatur gleichen denen eines Bodybuilders, ihre Ausstrahlung eher der eines Priesters. Kurz - zwei schöne, interessante Herren. Von denen leben übrigens viele auf dieser Insel. Doch nicht nur ihre Schönheit und das lange Haar, das lose oder zu einem Knopf zusammengebunden auf die Schultern fällt, fasziniert mich, sondern auch das Selbstbewusstsein und die Ausdruckskraft dieser Menschen. Nach dem köstlichen Fisch mit gerösteter Brotfrucht lullen sie uns, während wir die Köstlichkeiten verdauen, mit einem kleinen Trommelspiel ein. Verschiedene Lieder wie „By The Rivers Of Babylon“9, „Bongo Man Is Calling“10 und „Fly Away Home“11 singen sie melodisch, von der Trommel begleitet. Die genaue Bedeutung dieser Lieder verstehe ich nicht richtig, doch ich spüre darin eine tiefgründige Botschaft, der ich nachgehen will.

Ich habe bis dahin schon einiges erlebt und gesehen, mehr als manch andere in meinem Alter. Durch meinen Beruf trete ich auch in gewisser Weise abgehärtet und sicherlich als selbstständige Frau auf. Ich ließ oft harte Schicksale einfach auf mich wirken, ohne Wertung, und versuchte immer eine kleine, vorübergehende Unterstützung im Rahmen meiner Möglichkeiten anzubieten. Doch jetzt bewege ich mich echt auf Neuland. Ich entdecke eine große unbeachtete Ungewissheit in mir und traue mich – bis heute – kaum, auf die Suche nach den richtigen Fragen zu gehen. Doch mit diesen zusätzlichen, eindrücklichen Erlebnissen, die ich in dieser kurzen Zeit erfahren darf, öffnet sich bei mir ein unbekannter Weg, der mir möglicherweise neue Erkenntnisse verspricht und mir in meiner privaten wie auch beruflichen Entwicklung weiter helfen könnte. Ich darf die Mutter Erde aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Man setzt mir eine Brille auf, zu vergleichen mit einer Sonnenbrille, die mich das Leben aus der „dunklen“ Sicht in einer einfachen und vollkommenen Natürlichkeit erblicken lässt. Der mir bekannte grelle Schein erhält einen angenehmen dunklen Schatten, der wohltuend für meine Sichtweise und meine Seele ist. Außerdem erkenne ich die kleinen wichtigen Details, die das Grelle oberflächlich wirken lassen. Ich werde mutig, sicherlich mit der unterstützenden Wirkung des Marihuanas, mich als Person, mein bisheriges Leben und meine bekannte Umwelt zu hinterfragen. Ich beginne meine Beziehung zu Gott zu analysieren, indem ich handfeste Fragen stelle, die ich mir im Laufe der Zeit beantworten werde, und sicherlich noch einige, die weiterhin auf Antwort warten.

Am späten Nachmittag verabschieden wir uns von unseren spontanen und inspirierenden Gastgebern mit einem herzlichen „Irie“ und schlendern nachdenklich zurück ins Gästehaus. Trotz der neu kennengelernten, charmanten Männer werden wir selbstverständlich unsere bereits ausgemachte Verabredung einhalten. Das Kaiser’s Cafe liegt direkt an der Westküste in der Nähe unserer Bleibe und wir können es mit einem gemütlichen Spaziergang erreichen. Notgedrungen beginne ich in Jamaika die langen Spaziergänge zu genießen. Zuvor habe ich mich in meiner Freizeit nie so viel zu Fuß bewegt und meine Oberschenkel formen sich nun allmählich mit neuen Muskeln. Die lästige Cellulitis verschwindet zusehend und ich fange beiläufig an, meine Figur zu mögen. Während des Gehens bemerken wir schon von der Ferne eine leise Musik. Speziell das Vibrieren des Basses wird immer heftiger und erreicht schwingend meinen Bauch, je mehr wir uns dieser etwas luxuriösen Bar nähern. Als wir endlich vor der spielenden Gruppe stehen, befällt mich das unheilbare Reggae-Fieber. Magisch wirkt der Klang dieser Musik auf mich – vielleicht vergleichbar mit der Wirkung von Flötenklängen auf eine Kobra. Mein Körper bebt mit dem Bass und dem Schlagzeug, den zwei tragenden Elementen im Reggae. Ich verstehe nur einen kleinen Bruchteil der besungenen Texte, kann mich aber auch kaum auf die Worte konzentrieren, da mich das Gesamte, auch das zum großen Teil mitschwingende und mitsingende Publikum vollständig verzaubert.

Andrea, Country, Georgy und ich entscheiden uns danach, gemeinsam die Eröffnung des Bob Marley Memorial Stadium mitzuerleben. Noch intensiver als zuvor verspüre ich die Stimmung an diesem Wintersplash in Montego Bay. Vor allem beeindrukken mich die vielen anwesenden Rasta-Familien, die an den verschiedenen Ständen ihre Ware anbieten oder sich auch als internationale Musiker und Besucher auf dem Gelände aufhalten. Das ganze Geschehen findet direkt hinter einem Strand statt. Die Eröffnungsrede verfolge ich, weil sie so lange andauert und sich eine auffallende Stille verbreitet. Beschämenderweise kann ich mir aber nicht einmal die Namen der auftretenden Gruppen merken. Eines ist sicher: ich liebe diese Atmosphäre, die harmonisch mit dem Rhythmus der dargebotenen Musik im Einklang steht. Die verschiedenen Musiker drücken sich mit einer so intensiven Überzeugung aus, dass ich gezwungenermaßen zuhören muss. In den meisten Liedern geht es um die Identität des schwarzen Menschen, um die verheerenden Folgen der Sklaverei und die damit verbundene, wirtschaftlich ungerechte Umverteilung, den Fokus auf Afrika, die Legalisierung des Cannabis und natürlich auch um die Liebe. Vor allem aber um Gottes wundervolle Botschaft. Stolz schafft sich eine weltweit unterdrückte Rasse somit politisch, wirtschaftlich und moralisch auf eine sympathische und clevere Art internationales Gehör. Das Gerücht, dass die Regierung schon mit Gewalt versucht habe diese Bewegung zu boykottieren, höre ich im Umlauf und durch die angeblichen, nicht zufälligen Todesfälle von verschiedenen, jamaikanischen Musikern erhoffte sich das Machtsystem den Zerfall dieser Verkündigung. Doch die Botschaft der Rastas kann nicht mehr aufgehalten werden. Im Gegenteil: Bob Marley verkörpert zum jetzigen Zeitpunkt einen internationalen Mythos. Zu Lebzeiten des später erkorenen King of Reggae wurde ihm nach seinem Konzert „One Love“ nahegelegt, aus politischen Sicherheitsgründen nicht mehr in Jamaika zu wohnen. Nach seinem Tod profitiert nun die Regierung vom immer mehr anwachsenden Reggae-Tourismus. Unter anderem wird sein Grabmal in Jamaika zu einer historischen Attraktion.

Die Botschaft dieser Künstler stimmt sich mit dem Rhythmus des ruhenden Herzschlags ab, sodass es uns alle durchdringt, bewegt und in allen Belangen mitreißt. Diese intensive Euphorie entwickelt sich mit steigender Tendenz. Wir verfolgen alle vollumfänglich das Festival und dösen tagsüber am Strand oder am nahe gelegenen herrlichen Wasserfall. Insofern begünstigt das zunehmende Schlafmanko unsere beflügelte Stimmung. Am Nachmittag fangen die Konzerte relativ früh an und die nächtliche Show endet jeweils erst bei Sonnenaufgang.

Total übermüdet erreichen wir nach vier Tagen wieder Negril. Nach einer langen und nötigen Schlafpause besuchen wir wieder regelmäßig den Sandstrand mit den obligatorischen Spaziergängen am Morgen. Kulinarisch verwöhnen wir uns abwechslungsweise mit Abstechern zu unseren freundlichen Gastgebern unter den Palmen und auf dem kleinen Rasta-Markt. Den Sonnenuntergang an der Felsküste versäumen wir nie. Entweder befinden wir uns im Kaiser’s oder in Rick’s Cafe. Immer häufiger begleitet uns Brother Georgy, mit dem ich ein harmloses, vorhersehbares Geplänkel anfange, obwohl in der Schweiz ein langjähriger Freund auf mich wartet. Ich kann es einfach nicht verhindern. Zudem nähert sich uns auf eine gefällige Weise ein süßer Bursche vom Markt. Er wirft von Anfang an ein Auge auf Andrea, beobachtet uns lange aus der Ferne, aber schon bald funken intensive Blickkontakte zwischen den beiden. Gelassen nähert er sich uns mit einer albernen Ausrede und bleibt bis zum Ende ein willkommener Gast für meine Freundin. So verfliegen unsere Tage in Romantik, Entspannung und Spiritualität. Wir werden feinschmeckerisch verwöhnt, mit Reggae-Klängen berieselt und mit großer Erkenntnis bereichert – mehr, als wir je gewagt hätten zu wünschen.

Durch unsere Bekanntschaften dürfen wir einige Brethren in ihren luxuriösen Privatwohnungen besuchen. Bemerkenswert empfinde ich ein dunkles Haus aus Edelholz, das in Harmonie mit der dahinter liegenden Pflanzenwelt und den danebenstehenden Klippen ruht, mit einem aus Marmorplatten ausgelegten Zugang, der direkt zum Felsen und mit einer Treppe ins Meer führt – Wohnen wie im Traum. Bei einem anderen Freund besteht die außergewöhnliche Architektur des Hauses daraus, dass es um einen lebenden Baum gebaut wurde. Der Stamm ist mit einer Wendeltreppe ausgestattet, die vom Wohnzimmer Zutritt zum obenliegenden Schlafzimmer gewährt. Die Äste sind sorgfältig mit Brettern verbunden, sodass sich der obere Teil als ein romantisches Baumhaus entpuppt. Durch die großen Fenster und eine zierliche Veranda bewahrt das Haus eine Winddurchlässigkeit, natürlich aber auch seine Wasserdichte. Bei diesem Besuch lernen wir Tyrone Taylor kennen, der das Lied „A Little Cottage In Negril“ seiner Freundin gewidmet hatte und darin das wundervolle Gebäck ihrer Mutter bewirbt. Beide gehören zu unserem neuen Freundeskreis.

An einem lauen Abend gehen wir zur Abwechslung in eine Disco im oberen Stockwerk des örtlichen Supermarktes. Dort beobachte ich, wie sich in einer Ecke viele Rastamänner versammeln und ihre Joints rauchen. Plötzlich überrascht uns eine Gruppe bewaffneter Polizisten. Sie umzingeln gezielt die Männergruppe und verscheuchen mich nur soweit, dass ich das Ganze noch beobachten kann. Sie schleppen die Rastas, zum Teil an den Haaren reißend, in einer Reihe ab. Sie zerren rücksichtslos an ihnen, beschimpfen sie auf das Übelste und durchsuchen sie nach Gras. Dabei wird mir bewusst, wie unbeliebt die Rastas bei der restlichen Bevölkerung sind, und ich erkenne das viel besungene Babylon auch in meinem neugefundenen Paradies. Ich realisiere die unterschiedliche Behandlung von Weißen und Schwarzen und dass der Rassismus sich auch in Jamaika verankert hatte. In mir wächst das Interesse für das Thema Rassismus und ich bemerke dadurch sogar einen unterschiedlichen Umgang von ein paar Dreadys mir als „Weiße“ gegenüber. Wieder einmal komme ich mir verloren vor. Ich war überzeugt, hier meine Lebensphilosophie gefunden zu haben, und doch werde ich nicht von allen Beteiligten bedingungslos akzeptiert – schon gar nicht als eine von ihnen angesehen. Bemerkungen wie „Das ist doch nur eine kleine weiße Touristin, deren Augen sich zu öffnen wagen“, oder „Was hat so ein hübsches, intelligentes weißes Mädchen bei den Rastas verloren“ fallen. Die mir von zuhause bekannte Melancholie schleicht sich gemächlich wieder bei mir ein. Ich beginne mir die berechtigte Frage zu stellen: „Ist Rasta nur für die schwarze Bevölkerung gedacht?“ und suche mit langen Diskussionen, die man in Jamaika „Reasoning“ nennt, nach einer Antwort. Andrea ist vom Ganzen nicht so überzeugt wie ich und meint: „Ich weiß auch nicht, ob diese Lebenseinstellung für uns Weiße bestimmt ist. Du musst eher aufpassen, dass du nicht fanatisch wirst!“ Das erschüttert meinen frisch errungenen Glauben, nicht aber meine Wissensgier über diese Philosophie.

Am nächsten Tag bestellen wir wieder einmal unser Mittagessen am kleinen Markt beim Strand. Durch Zufall studiere ich erst jetzt die interessanten Bilder an den Wänden und entdecke ein Foto aus Äthiopien. Es handelte sich um eine Schlacht zwischen H.I.M. Haile Selassie I. von Äthiopien und dem italienischen Faschisten Benito Mussolini. Die linke Seite des Bildes besiedeln die italienischen Soldaten unter meiner gebürtigen Nationalflagge, die mit Fliegern, Panzern und Kanonen die äthiopische Armee in Afrika angriffen. Die gegenüberliegenden Bilder zeigen mit Pfeil und Bogen bewaffnete Afrikaner, die ihr Land bis zum Blut unter der rot-gelb-grünen Flagge verteidigen. Ich traue meinen Augen nicht. Wie konnten meine Vorfahren so etwas Barbarisches tun? Sogar mein geliebter Großvater diente als Soldat unter Mussolini. Doch erinnere ich mich vage an seine Kriegsgeschichten, die etwas beschämt wiedergegeben wurden. Er habe den Dienst in Äthiopien verweigert, sei nach Kalabrien zurück und musste sich mit seiner Familie im Kaninchenstall verstecken, als im Bergdorf nach ihm gesucht wurde. Erst jetzt verstehe ich diese Geschichte und meinen Großvater. Ich schäme mich zum ersten Mal in Grund und Boden eine gebürtige Italienerin zu sein. Tränen rollen ungewollt über meine Wangen. Mein ganzer Körper bebt. Ich verspüre eine aufrichtige Reue für diese italienische Gräueltat und mir wird dabei speiübel. Fassungslos starre ich immer noch auf das historische Dokument des Zweiten Weltkrieges. In meinen Gedanken entschuldige ich mich, während ich die imposanteste Persönlichkeit auf dem Bildes, den Kaiser von Äthiopien, betrachte, wie er mit einem Fuß auf einer abgefeuerten Kanonenkugel steht. Aus dem Nichts höre ich die klaren Worte: „Keine Angst, aus meinen Feinden erlese ich meine Kinder.“ Trotz meiner Verwirrung spüre ich eine gewisse Erleichterung und von nun an bin ich überzeugt auf dem richtigen Weg zu sein. Nicht nur das Wissen als „weiße Rasta“ anerkannt zu sein gibt mir die Zuversicht, sondern eine Erkenntnis. Wissen ohne Glauben erweist sich für mich gleichermaßen belanglos wie Glaube ohne Wissen.

Kaum ergründen wir die Muse des Lebens, schon müssen wir diese gegen die bitterliche Kälte austauschen. Allein schon der Gedanke daran lässt uns frösteln und wir verdrängen diese Tatsache zum Selbstschutz. Mit Hilfe unseres Bruders Country, der uns pflichtbewusst an unseren Rückflug erinnert und die nötigen Vorbereitungen trifft, nehmen wir vor Sonnenaufgang den ersten Minibus nach Kingston, um unseren Abendflug nicht zu verpassen. Unsere Traurigkeit prägt den schmerzenden Abschied und nur unsere waghalsige Zuversicht, dass wir in ein paar Monaten wieder in Jamaika sein werden, hilft uns Negril wirklich zu verlassen. Als Abschiedsgeschenk steckt mir Georgy einen vorgedrehten Joint in meine Tasche mit der Bemerkung „Eine kleine Begleitung für unterwegs“. Ich hingegen versinke so in meinem Selbstmitleid, dass mir das als Droge geltende Utensil erst wieder im Flugzeug beim Durchwühlen meines Handgepäcks kurz vor dem Start auffällt. Erschrocken zeige ich die Tüte meiner noch trauernden Begleitung und erstarrt warten wir, bis das befreiende Signal für die Sicherheitsgurte und das erlaubte Rauchen erscheint. In unserem gebuchten Raucherabteil zünde ich spontan den geschenkten, illegalen Reisebegleiter an. Entsetzt schupst mich Andrea mit der Frage: „Bist du nun ganz durchgedreht?“ Ohne zu überlegen und kommentarlos schaue ich sie schmunzelnd an, nehme wieder genüsslich ein paar Züge am Joint und reiche ihn schlussendlich zu ihr rüber. Die nächst sitzenden jungen Passagiere riechen aufgebracht den besonderen Duft des Grases und bitten höflich, aber gierig: „Kann ich auch ein paar Grüße des grünen Gras aus Kingston haben?“ So begrüßen wir jeden willigen Raucher auf jamaikanische Art, und ehe mir die möglichen Konsequenzen bewusst werden, wandert der Joint, Zug um Zug, von einem kiffenden Mitreisenden zum anderen. Natürlich bemerken die russischen Flugassistenten den beißenden Geruch und suchen aufgescheucht nach dem Beweisstück. Doch dieses hat sich glücklicherweise schon in Rauch aufgelöst und der Heimflug gestaltet sich trotz Abschiedsschmerzen auffallend kurz und entspannt.

Zurück zu den Wurzeln

Diese Ferien vergehen im Nu, aber die Eindrücke bleiben für ewig in meiner Erinnerung und bewirken eine sichtbare Veränderung in mir. Meine Gedanken spielen mit der Vorstellung, mir auch Dreadlocks wachsen zu lassen, und im Frühling 1983 entschließe ich mich endgültig, meinen Kamm wegzuwerfen, so wie es im Lied „Since I Throw the Comb Away“12 besungen wird. Natürlich wasche ich meine Haare regelmäßig. Mithilfe von Kernseife beginnt mein feines Haar sich bald zu drahtigen Strähnen zu verknüpfen. Trotzdem muss ich lange ausharren, bevor meine ganze Haarpracht voller Dreads wuchert. Einleitend mit einem wilden Strubbelkopf überdecke ich meinen Kopf oft mit Tüchern oder Mützen und entwickle behutsam meinen eigenen Stil. Wieso ich genau damit beginne, vermag ich noch kaum zu erklären. Ich handle einfach aus einer spontanen Überzeugung, will meine Wurzeln wieder kitzeln, mein Inneres enthüllen und vor allem auf diesem Weg Gott entdecken. Sicherlich benötige ich noch eine kleine Portion Mut, um so in Zürich herumzulaufen. Ich bin eine von drei weißen Frauen, die Dreadlocks tragen. Unter den männlichen Zürchern entdecke ich keinen einzigen. (Jahrzehnte später wird mein Herz voller Freuden hüpfen, wenn ich die vielen jungen und auch älteren europäischen Rastas erblicke.)

Auf der psychiatrischen Akutaufnahmestation arbeite ich trotz allem engagiert weiter. Meine äußerliche Veränderung wird dort zum Teil mit Skepsis betrachtet, aber zu meinem großen Erstaunen toleriert. Doch schon bald plagt mich ein grässliches Fernweh. Aus diesem entsteht mein größter Wunsch, sodass mein nächstes Ziel nur darin besteht, so bald wie möglich mit Andrea zurück nach Jamaika zu fliegen, diesmal für eine längere Zeit. Ich reiche für den nächsten Sommer einen dreimonatigen unbezahlten Urlaub ein, der mir bewilligt wird, und meine nächsten Reisevorbereitungen beginnen.

Mit meinem mehrjährigen Freund Martin wohne ich noch bequemlichkeitshalber am Ufer der Limmat. Unsere Beziehung leidet aber erheblich unter meinem Ferienflirt und konsequent trennen wir uns auch nach meiner Rückkehr von Jamaika. Er schließt seine Ausbildung als Wirtschaftsökonom ab und tritt eine Stelle als Anlageberater in einer Großbank an. Sein Interesse gilt vor allem der Wirtschaft, der Politik und dem Finanzmarkt. Er studiert stundenlang die Neue Zürcher Zeitung und den Tagesanzeiger, um seine nächste Wochenprognose abzugeben. Früher hatten wir auf diesem Gebiet zahlreiche Diskussionen, bei denen ich mitreden konnte, weil auch mich dieses Fach faszinierte. Doch meine Interessen und meine Lebensphilosophie ändern sich unvermeidbar. Sofern das mein Arbeitsplan zulässt, besuche ich jedes mögliche Reggae-Konzert, egal ob es in Zürich, Bern oder Genf stattfindet. Zuhause höre ich nur noch diese ausdrucksvolle Musik und studiere ihre hintergründigen Texte. Dazu hilft mir hauptsächlich das schon erwähnte Lied von Bob Marley, „There’s A Natural Mystic Blowing Thru The Air“. Es verfolgt mich und die Worte klammern sich in meinem Kopf fest. Dennoch ist meine erste Reggae-Schallplatte, die ich noch in Jamaika kaufe „Special“ von Jimmy Cliff. Ich höre sie mir immer und immer wieder an, bis ich den Text verstehe und mitsingen kann. Erst danach ergattere ich mir die größten Hits von Bob Marley and the Wailers, und damit ist der Grundstein für eine große (aber später in Afrika verschollene) Sammlung von Reggae-Platten gelegt. „Material Comes And Goes In A Million, Billion Ways.“13 Wichtig scheint es mir den Sinn dieser Texte tief in mir zu verankern.

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