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Inken Prohl kommt aus Norddeutschland, wo sie eine Ausbildung im Gartenbau absolvierte. Aus ihrem Interesse an Gärten, insbesondere an der Ästhetik der sogenannten Zen-Gärten entwickelte sich eine große Begeisterung für Japan, die japanische Kultur und den Buddhismus. Sie studierte an der Freien Universität Berlin Japanologie und Religionswissenschaft und lernte zen-buddhistische Zentren und Praktiken in Deutschland kennen. Während der zwei Jahre ihres Studiums, die sie in Japan verbrachte, besuchte sie viele zen-buddhistische Tempel und Klöster.
Nach ihrem Studium in Berlin forschte sie am Institut für Religionswissenschaft der University of Tokyo über Religionen im heutigen Japan. Den größten Teil dieser Zeit verbrachte sie mit sogenannter Feldforschung: Sie suchte buddhistische Tempel, shintoistische Schreine und viele weitere religiöse Orte auf und nahm so oft und intensiv wie möglich an religiösen Praktiken teil. Dazu gehörten stundenlange Rezitationen buddhistischer Sutren unter freiem Himmel und die Teilnahme an buddhistischen Ritualen.
Im Anschluss an ihre Dissertation wurde Inken Prohl Dozentin an der Freien Universität Berlin. Nach ihrer Habilitation ging sie mit ihrem Sohn in einen kleinen Ort in den japanischen Alpen und nahm ein Jahr lang an den Aktivitäten eines ländlichen Zen-Tempels teil, während ihr Sohn einen buddhistischen Kindergarten besuchte. Seit 2006 ist Inken Prohl Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg.
Heutzutage verbergen sich hinter dem Begriff Zen alle möglichen Vorstellungen und Praktiken. Dieses Kapitel gibt Ihnen einen Überblick über das, was alles Zen genannt wird, und einige Gründe dafür, warum die Vorstellungen und Praktiken, die mit Zen in Verbindung gebracht werden, so beliebt sind.
In der Praxis des Zen wird – so wollen es zumindest die traditionellen Überlieferungen – vor allem gesessen. Daher steht im Mittelpunkt des Zen im Westen zazen, das stille Sitzen, das meistens als Meditation bezeichnet wird. Das stille Sitzen in der Haltung von Buddha Shakyamuni soll laut Lehre des Zen die Praktizierenden zur Erleuchtung bringen. Manche Zen-Lehren betonen aber auch, dass durch die Einnahme dieser Haltung die Erleuchtung bereits verwirklicht wird und es außer dem Sitzen nichts zu erreichen gibt. Im Zen ranken sich viele Geheimnisse darum, was die Erleuchtung ist und wie die Praktizierenden des zazen ihr näher kommen.
Die viel beschworenen Geheimnisse des Zen motivieren heutige Großstadtmenschen dazu, sich den Wecker zwei Stunden früher zu stellen und, während viele noch schlafen, ein bis zwei Stunden bewegungslos auf ihrem Kissen zu verweilen. In Vergangenheit und Gegenwart bereitet das zazen leichte bis schwere Schmerzen in den Knien, im Rücken, im Nacken und an vielen anderen Körperteilen, die man erst bemerkt, wenn man sich zwingt, einige Zeit still zu sitzen.
Warum nehmen so viele diese Anstrengung auf sich? Worin liegt der Zauber der Zen-Idee? Und weshalb konnte sie sich über Grenzen und Zeiten hinweg so lange behaupten?
Schweigend und mit halb geschlossenen Augen sollen die Praktizierenden beim zazen in der Lotusposition vor einer Wand sitzen und nichts denken. Die klassischen Schriften des Chan-und Zen-Buddhismus betonen die Bedeutung der korrekten Sitzhaltung und geben detaillierte Anweisungen dafür.
Dieses Sitzen soll ebenso wie der Zen-Buddhismus insgesamt kein definiertes Ziel, keinen Nutzen und keine Bedeutung haben. Zen soll nichts Besonderes sein. Häufig behaupten Zen-Meister gegenüber ihren Schülern, dass Zen nichts bedeute. Sie sagen das, um den Schülern die Illusion zu nehmen, sie könnten ein besonderes Wissen erwerben oder etwas Nützliches lernen.
Andererseits stellen die traditionellen Texte ebenso wie moderne Meister in Aussicht, Zen biete ihnen die Erkenntnis der Natur des Seins, wie sie sich dem erleuchteten Geist offenbart. Dieses Sein, heißt es, kennt kein Innen und Außen, kein Sein oder Nichtsein. Jenseits aller Dualitäten bietet sich dem erleuchteten Geist das »Universum«.
Zen-Schüler werden hin und her gerissen zwischen ernüchternden Warnungen, dass es sowieso nichts zu erreichen gibt, und großen Versprechungen, die ganze Welt zu erkennen. Die Kraft dieser Überzeugung brachte sie über die Jahrhunderte hindurch bis heute dazu, bewegungslos auf ihrem Kissen zu verharren.
Häufig praktizieren Anhänger des Zen das stille Sitzen in einem Zen-Zentrum. Die meisten Zen-Zentren orientieren sich am Vorbild einer der japanischen Schulen des Zen-Buddhismus und halten Kontakt mit den japanischen Institutionen.
Doch Zen wird schon lange nicht mehr nur in Gruppen und Zentren geübt, die sich auf eine ostasiatische Traditionslinie berufen und sich in ihrer Praxis an ihr orientieren. Vorstellungen über das Zen haben sich in allen Bereichen der Gesellschaft verbreitet.
Es gibt im Westen sehr viele Gruppen und Gemeinschaften von Gleichgesinnten, die sich für die Meditation und die Vorstellungen des Zen interessieren, ohne mit einer japanischen oder sonstigen Institution in Ostasien in Verbindung zu stehen. Das stille Sitzen hat, obwohl es häufig als anstrengend und schmerzhaft empfunden wird, eine große Anziehungskraft.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben Zen-Vorstellungen und -Praktiken auch innerhalb christlicher Kreise Aufnahme gefunden. Daher kann es sein, dass Kirchengemeinden Einladungen zum gemeinsamen zazen aussprechen. Derartige Übungen knüpfen an die Vorstellung an, dass das Zen ein Weg zur Erfahrung letzter Wahrheiten ist, was Christen als Erfahrung der Einheit mit Gott interpretieren.
Andere Zen-Gruppen und -Anbieter haben sich vom ostasiatischen Vorbild gelöst und verstehen Zen als einen Weg zum Abbau von Stress, als Entspannungstechnik oder als Strategie zur Leistungssteigerung, wie etwa in Zen-Kursen für Manager.
Vor allem durch die Schriften von D.T. Suzuki entstand im Westen ein Bild vom Zen als von jeder Form von Weltanschauung und Religion unabhängig und daher mit allen möglichen Praktiken und Zielen vereinbar.
Zen wird auch als Übung der Konzentration angesehen, die dazu verhilft, Abläufe zu optimieren. Daher werden Vorstellungen des Zen auch auf Sport und Kunst übertragen.
Da Zen als Weg zur Loslösung von Illusionen dargestellt wird, der zu Befreiung führt, interessierten sich schon früh Psychologen und Psychotherapeuten für das Zen. Vor allem in den vergangenen Jahrzehnten wurden neue, vom Zen inspirierte Therapien entwickelt. Und immer mehr Menschen, die in heilenden Berufen tätig sind, erhoffen sich neue Einsichten und neue Kraft vom Zen.
Das Zen behauptet von sich selbst, dass seine Lehren nicht in Worte gefasst werden können. Diese Verschwiegenheit des Zen über den Kern seiner Lehre führte im 20. Jahrhundert dazu, dass Zen von vielen Künstlern, Intellektuellen und Therapeuten für ihre jeweiligen Anliegen angepasst wurde. Gleichzeitig geht dem Zen auch der Ruf voraus, einen Schlüssel zum Zugang zur Wahrheit über die Wirklichkeit zu besitzen. Aus dieser Mischung aus Vagheit und Geheimnis resultiert ein großer Teil der Faszinationskraft des westlichen Zen im 20. und 21. Jahrhundert.
Der Zen-Buddhismus ist eine japanische Weiterentwicklung des chinesischen chan, einer Form des Mahayana-Buddhismus, die sich zunächst in China formte. In den folgenden Abschnitten erläutere ich die Zusammenhänge zwischen indischem Buddhismus, chinesischem chan und japanischem Zen. Sie erfahren außerdem, inwiefern es sich beim Zen um Meditation handelt und inwiefern auch nicht.
Der chinesische Begriff chan leitet sich als lautmalerische Umschreibung vom Sanskritwort dhyana ab. Viele Schriften des Mahayana-Buddhismus (mehr zum Mahayana-Buddhismus erfahren Sie auf den nächsten Seiten dieses Kapitels), zu dem die Schulen des chan/Zen gehören, wurden in Sanskrit, der klassischen Sprache Indiens, verfasst. In Sanskrit bezeichnet das Wort dhyana eine Übung der Konzentration und Beobachtung des eigenen Geistes. Häufig wird unter dhyana auch »Versenkung« verstanden.
Dhyana ist die zentrale Handlung des unter dem Bodhi-Baum verharrenden Buddha Shakyamuni, in der er laut Überlieferung die Wahrheit des buddhistischen Gesetzes erkannt hat. Dieses buddhistische Gesetz wird dharma genannt. Der dharma ist die Lehre von der Natur des Seins. Unter dem dharma kann man auch die buddhistische Wahrheit verstehen.
Buddha Shakyamuni hat diese Wahrheit gesehen; er hat sie erkannt. Dieser Prozess der Erkenntnis wird als Erwachen zur Wahrheit verstanden. In Sanskrit wird dieser Prozess nirvana genannt. Viele Schriften über den Buddhismus geben diesen Erkenntnisprozess des nirvana als »Erleuchtung« wieder. Der buddhistische dharma erklärt die Ursache vom Leiden und die Quelle der Illusionen. Jemand, der zur Wahrheit erwacht ist, ist daher nicht länger gefangen im Netz von Begierden und Illusionen. Darum wird nirvana auch als Akt der Befreiung verstanden.
Die buddhistischen Lehren haben sich bei ihrer von Indien ausgehenden Entwicklung in China und Japan verändert. In Japan entstanden daher mindestes drei Begriffe, die das nirvana genannte Erwachen bezeichnen:
Man sollte sich von den vielen Begriffen wie dharma, nirvana oder satori nicht verunsichern lassen. Über diese Begriffe und ihre Bedeutungen wurde in unzähligen Texten spekuliert. Niemand kann sagen, was sie bedeuten. Man kann höchstens annähernd Aussagen darüber treffen, was in bestimmten Zusammenhängen mit diesen Begriffen gemeint ist.
»Erleuchtung erlangen«, »Erwachen«, »Buddhaschaft erlangen« und die Formulierung »ein Buddha werden« sind Umschreibungen des buddhistischen Heils, das darin besteht, die Wahrheit zu erkennen und von Illusionen und dem Kreislauf der Wiedergeburten befreit zu werden. Daher wird dieses Heil auch Befreiung genannt.
Die Begriffe dhyana, chan und Zen werden in westlichen Sprachen meistens mit dem Begriff »Meditation« wiedergegeben und der Zen-Buddhismus wird als »Meditations-Buddhismus« angesehen. Sicher verstehen die meisten Praktizierenden im Westen den Kern ihrer Zen-Praxis als Meditation.
Unter »Meditation« werden unterschiedliche Konzentrations- und Versenkungsübungen verstanden. Meistens geht es modernen Praktizierenden darum, Ruhe und Entspannung, verborgene Zugänge zu ihrem Selbst oder ein erweitertes Bewusstsein zu erlangen.
Im ostasiatischen Zusammenhang ist Zen zunächst einmal eine stark körperbetonte Übung der Versenkung, die auf die Erkenntnis der buddhistischen Wahrheit ausgerichtet ist. Der genaue Blick auf traditionelle chinesische und japanische Praktizierende zeigt, dass sie die stille Versenkung als Nachahmung der Erleuchtung des Buddha angesehen haben. Ihnen ging es mehr um eine möglichst getreue Kopie der körperlichen Haltung und geistigen Übungen von Buddha Shakyamuni, um so ebenfalls die buddhistische Wahrheit erkennen zu können.
Traditionellen Buddhisten lag es fern, mit den Versenkungsübungen ihr Selbst oder unbekannte religiöse Sphären zu entdecken. Sie wollten die buddhistische Wahrheit erkennen.
Es ist richtig zu sagen, dass moderne Praktizierender des Zen sich auf die Meditation konzentrieren. Da dieses Wort aber verschiedene Bedeutungen hat und viele mit modernen Dingen wie Stress oder dem Wunsch nach Entspannung zu tun haben, hilft die Bezeichnung »Meditation« nicht weiter, wenn man das Zen in seinen traditionellen Bedeutungen verstehen möchte.
Mit Mahayana-Buddhismus (wörtlich: Großes Fahrzeug) wird eine der drei großen Schulrichtungen des Buddhismus bezeichnet. Der Mahayana-Buddhismus ist vor allem in Ostasien verbreitet. Andere Richtungen sind der Hinayana-Buddhismus (wörtlich: Kleines Fahrzeug), auch Theravada-Buddhismus genannt, der vor allem in Südostasien zu verbreitet ist, und der Vajrayana-Buddhismus (Diamantfahrzeug), der in Zentralasien, Tibet und der Mongolei die meisten Anhänger hat.
In allen Richtungen spielen die vier edlen Wahrheiten vom Leid, von der Entstehung des Leides durch Gier und die Möglichkeit von der Befreiung von der Gier durch den edlen achtfachen Pfad sowie die Ordensregeln für die Mönche eine grundlegende Rolle.
Die vier edlen Wahrheiten:
Die Verhaltensregeln des edlen achtfachen Pfads werden in die drei Bereiche Weisheit, Ethik und Versenkung eingeteilt:
Wichtig im Mahayana-Buddhismus ist außerdem die Lehre vom Nicht-Selbst. Diese Lehre besagt, dass die individuelle Persönlichkeit keine unabhängige oder kontinuierliche Substanz hat. Die Vorstellung eines individuellen Selbst ist reine Illusion. Es hat keine Seele nach europäischem Verständnis, sondern ist substanzlos und damit leer.
Das, was wir als unser individuelles Selbst wahrnehmen, ist das sich stetig verändernde Produkt unserer jeweiligen Empfindungen und Wahrnehmungen. Es ist durch die Gier an den Kreislauf der Wiedergeburten (samsara) gebunden. Wer diese Natur des Selbst durchschaut, wird aus dem Kreislauf der Wiedergeburten befreit. Daher besteht das klassische buddhistische Heilsziel darin, die Natur des Selbst und des Seins zu erkennen, was auch als Erleuchtung bezeichnet wird. Die buddhistischen Lehren sind in den Sutras des Pali-Kanons festgehalten, die Anfang unserer Zeitrechnung auf Sri Lanka niedergeschrieben wurden.
Typisch für alle buddhistischen Schulen ist die Trennung zwischen dem sangha, der in Klöstern lebenden Gemeinschaft der Mönche und Nonnen, und den Laien. Angehörige des sangha praktizieren die buddhistischen Formen der Versenkung. Laien unterstützen die klösterlich lebenden Mönche und Nonnen und erwerben so religiöse Verdienste. Diese religiösen Verdienste führen im Verständnis der meisten Buddhisten zu diesseitigem Nutzen, zum Beispiel in Form von Heilung oder Wohlstand, oder zu jenseitigem Nutzen, zum Beispiel in Form eines verbesserten Karmas und einer guten Wiedergeburt.
Die Versenkung der Mönche zielt auf die Erkenntnis der Wahrheit und bringt daher die sogenannte Wahrheitskraft hervor. Die Vorstellung über religiöse Verdienste basiert auf dieser Wahrheitskraft. Laien unterstützen den sangha, weil sie im Gegenzug in den Genuss der Wirkung der übernatürlichen Macht dieser Wahrheitskraft kommen möchten, die in der Verbesserung der Lage im Diesseits oder Jenseits besteht.
Während Laien im Hinayana-Buddhismus durch den Verdiensterwerb ein gewisses Maß an Heil erwerben können, liegt der Schwerpunkt der Lehren auf den Mönchen und ihrem Erleuchtungsstreben.
Der Mahayana-Buddhismus hingegen berücksichtigt die Anliegen der Laien stärker. Daher wird diese Schule des Buddhismus auch »Großes Fahrzeug« genannt. Der Mahayana-Buddhismus betont das Potenzial aller Lebewesen, Buddhaschaft zu erlangen. Die wichtigste Figur des mahayanistischen Erlösungsprogramms ist der Bodhisattva.
Ein Bodhisattva hat Erleuchtung erfahren und könnte aus dem Kreislauf der Wiedergeburten austreten. Er schiebt dies jedoch auf, um allen Lebewesen bei ihrem Streben nach Erkenntnis und Heil beizustehen. Diese Lehren des Mahayana-Buddhismus wurden in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in Indien aufgeschrieben.
Eine Reformbewegung ist der Vajrayana-Buddhismus, der Diamant-Buddhismus, der sich vor allem in Tibet, aber auch in China und Japan entwickelte. Die chinesischen und japanischen Schulen sind im Westen unter der Bezeichnung esoterischer Buddhismus bekannt. Im Mittelpunkt stehen komplexe Rituale, mit deren Hilfe die Buddhaschaft erlangt werden soll.
Zu den Ritualen gehört die Rezitation von mantra genannten Silben, wie zum Beispiel der Silbe »om«, die Konzentration auf mandalas – komplexe Diagramme, die das Wirken der Buddhas zeigen – und die Einnahme einer bestimmten Handhaltung, die mudra genannt werden. In China und Japan konkurrierten die Strömungen und Schulen des esoterischen Buddhismus und des chan miteinander um die Gunst des Staates, von dessen Unterstützung sie abhängig waren.
In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstanden neue buddhistische Schriften, die nach und nach ins Chinesische übersetzt wurden, sodass sich ein komplexes Bild buddhistischer Lehren formte.
Der Chan-Buddhismus ist eine Reaktion auf dieses komplexe Bild, bringt er doch Vereinfachung. Der Chan-Buddhismus rückt die Versenkung beim stillen Sitzen in den Mittelpunkt. Laut der Lehre des chan führt die Versenkung automatisch zu rechter Ethik und rechter Weisheit. Mit dieser ebenso einfachen wie eingängigen Lehre wurde das chan im Laufe des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung zur mächtigsten Strömung des chinesischen Buddhismus.
Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung in China wurde der Chan-Buddhismus von reisenden Mönchen aus Japan aufgenommen und in Japan verbreitet. Dort entwickelten sich die Vorstellungen und Praktiken des Zen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Westen bekannt wurden. In den folgenden Abschnitten erfahren Sie, wie sich der Chan-/Zen-Buddhismus in China und Japan formierte.
Der Chan-Buddhismus ist eine Strömung innerhalb des chinesischen Buddhismus, die sich seit dem 6. Jahrhundert im kaiserlichen China ausbreitete. Basierend auf den Sutras des Mahayana-Buddhismus, betont die Lehre des chan, dass alle Lebewesen das Potenzial besitzen, Buddhaschaft zu erlangen. Chan lehrt ein direktes Sehen der in jedem Menschen existierenden Buddha-Natur.
Die Wege der Erkenntnis verlaufen jenseits der intellektuellen Vermittelbarkeit. Die Erkenntnis soll vielmehr durch Versenkungsübungen oder die Beschäftigung mit paradoxen Rätseln, den koan, herbeizuführen sein. Eine wichtige Rolle spielt die Begegnung zwischen Lehrer und Schüler. Diese Begegnung konfrontiert den Schüler mit Worten und Gesten der Erleuchtung, um ihn zur Erkenntnis zu bringen. So vollzieht sich laut Lehre des chan die Weitergabe der Lehre jenseits der Worte von Meister zu Schüler.
Laut Selbstverständnis des chan wurde diese Lehre vom indischen Mönch Bodhidharma im 6. Jahrhundert nach China gebracht. Bodhidharma soll viele Jahre vor einer Wand in einer Höhle in schweigender Versenkung gesessen haben, bevor er den Chinesen Huike als seinen Schüler anerkannte. Huike wurde berühmt, da er sich einen Arm abschnitt, um Bodhidharma von der Ernsthaftigkeit seines Strebens zu überzeugen. Als Bodhidharma endlich das Wort an Huike richtete, erfuhr jener, so berichteten die Chroniken des Zen, sofort Erleuchtung.
Voraussetzung für die Erleuchtung im chan/Zen ist die Übung der schweigenden Versenkung. Die Erleuchtung erfährt der Praktizierende aber nicht aus sich selbst heraus, sondern durch die Begegnung mit einem bereits erleuchteten Meister.
Huike wurde der zweite Patriarch, das heißt Vater des chan in China. Die Erleuchtung wurde jenseits der Worte von Meister zu Schüler weitergeben bis zu Huineng, dem sechsten und letzten Patriarchen des chan in China.
Huineng leitete das Goldene Zeitalter des chan in China ein. Chroniken berichten von den alten Meistern als unabhängigen Freigeistern, die sich allein dem Ackerbau und ihrem Streben nach Erleuchtung hingaben. Diese alten Meister sind die Hauptdarsteller in der Literatur der koan, für die der Zen-Buddhismus bis heute so berühmt ist. Das wohl berühmteste koan lautet:
Frage: Hat ein Hund Buddha-Natur?
Antwort: Mu.
Koan kann man sich vorstellen als Erleuchtungsdialoge, in denen die Meister ihre Schüler durch scheinbar sinnlose Fragen, paradoxe Aussprüche, heftige Gesten oder Schläge zur Erleuchtung bringen. Um die buddhistische Wahrheit zu erkennen, so lehrt das Zen, muss man das gewöhnliche Alltagsdenken, die Kategorien, mit denen man die Wirklichkeit wahrnimmt, und persönliche Anliegen hinter sich lassen.
Koan berichten, wie die alten Meister ihre Schüler durch Wortspiele, Schläge oder plötzliche Gesten dazu gebracht haben, ihr gewöhnliches Denken aufzugeben und die Wirklichkeit zu erkennen, »wie sie wirklich ist«.
Berichte über die alten Meister und die Sammlungen der koan entstanden in der Mehrzahl erst ab dem 10. Jahrhundert, als sich das chan zur mächtigsten Strömung innerhalb des chinesischen Buddhismus entwickelte. Die Überlieferungen, von denen Chroniken und die koan berichten, sind reine Legenden. Aus der Sicht des Zen haben sich die Geschichten allerdings wirklich abgespielt und bilden bis heute die Grundlage für das Selbstverständnis des Zen.
Laut Eigenverständnis des Zen »kennt« das Zen keine Lehre. Diese Behauptung bezieht sich darauf, dass die Wahrheit, so wie sie das Zen sieht, von Meister zu Schüler weitergegeben wird, ohne sie in Worte zu fassen. Um diese Lehre mit dem historischen Buddha in Verbindung zu bringen, haben sich die Chinesen sogar eine Geschichte über Buddha Shakyamuni und seinen Schüler Mahakasyapa ausgedacht.
Laut chinesischen Chan-Chroniken hielt Buddha bei seiner Blumen-Predigt einfach eine weiße Blume hoch. Nur Mahakasyapa lächelte daraufhin still. Im Selbstverständnis des chan ist Mahakasyapa daher der erste indische Patriarch des chan/Zen. Von Mahakasyapa aus nennt die Chan-Tradition 26 indische Patriarchen. Der 26. indische und zugleich erste chinesische Patriarch des chan ist Bodhidharma.
Im Kern des Selbstverständnisses des chan/Zen liegt die Überzeugung, dass die Wahrheit, so wie sie Buddha Shakyamuni erkannt hat, in einer ununterbrochenen Linie von ihm und den Meistern des chan/Zen weitergeben wird.
Man darf sich also vom Selbstverständnis des Zen nicht in die Irre leiten lassen. Die Wahrheit über die Natur des Seins, die das Zen beansprucht zu lehren, lässt sich in der Tat nicht in Worte fassen. Das heißt aber nicht, dass das Zen keine Lehre kennt. Zwei wichtige Säulen, auf denen die Tradition des chan/Zen basiert, sind:
Damit kennt das Zen sehr wohl eine Lehre. Vor allem Menschen im Westen finden am Zen attraktiv, dass es nach ihrem Dafürhalten keine Lehre kennt, und schließen daraus, dass man im Zen machen kann, was man will. Dabei handelt es sich allerdings um ein großes Missverständnis.
Der Chan-Buddhismus entwickelte sich seit dem 7. Jahrhundert zur mächtigsten Strömung innerhalb des chinesischen Buddhismus. Seit dem 13. Jahrhundert gelangte das chan nach Japan und wurde dort als Zen aufgenommen, praktiziert und verändert.
In Japan entstanden die Schulen des Rinzai-, Soto und Obaku-Buddhismus. In allen Schulen werden koan studiert und zazen, das stille Sitzen, geübt. Diese Praktiken haben jedoch bei den verschiedenen Schulen einen unterschiedlichen Stellenwert:
Während der Rinzai-Buddhismus zunächst vor allem von der japanischen Oberschicht aufgenommen wurde, verbreitete sich der Soto-Buddhismus in der ländlichen Bevölkerung. Die Obaku-Schule gelangte erst im 17. Jahrhundert von China nach Japan. Der Chan-Buddhismus verbreitete sich auch in Korea (son) und Vietnam (thien).
In der Neuzeit fanden die verschiedenen Strömungen des chan, Zen, son und thien zahlreiche Anhänger im Westen, wobei wieder neue Interpretationen und Praktiken entstanden.
Im Westen herrschen die Vorstellungen und Praktiken des japanischen Zen-Buddhismus vor. Daher stammen auch die im Westen mit dem Zen in Zusammenhang gebrachten Begriffe wie zazen (stilles Sitzen) oder dojo (Ort des Weges) aus dem Japanischen.
Ende des 19. Jahrhunderts musste sich der japanische Buddhismus grundlegend ändern. Lange war er vom Staat gefördert worden. Doch der japanische Staat setzte Ende des 19. Jahrhunderts mehr auf den Kult der einheimischen Götter, den sogenannten Shinto (im Gegensatz zum Buddhismus, der aus Indien und China gekommen war und daher zuweilen als ausländisch gebrandmarkt wurde). Da buddhistische Institutionen jahrhundertelang als Handlanger des Staates agiert hatten, hatten viele Japaner den Respekt vor der buddhistischen Lehre verloren. Sie waren nicht länger vorbehaltlos bereit, den Buddhismus, der sich aus ihrer Sicht zu großen Teilen hinter hohen Kloster- und Tempelmauern im Verborgenen abspielte, zu unterstützen.
Um ein besseres Image zu erlangen und Rückhalt zu gewinnen, öffneten fortschrittliche Äbte seit Ende des 19. Jahrhunderts die Tore ihrer Klöster für Laien. Einer von ihnen war Soen Shaku, der Abt eines großen Klosters in Kamakura, der ehemaligen Hauptstadt von Japan in der Nähe von Tokio.
Als auch an Vertreter des japanischen Buddhismus die Einladung erging, 1893 am Weltparlament der Religionen in Chicago teilzunehmen, wurde Soen Shaku ausgewählt. Seine Rede in Chicago beeindruckte die Zuhörer sehr und erste Kontakte zwischen westlichen Buddhismus-Interessieren und japanischen Zen-Buddhisten wurden geknüpft. Die Rede von Shaku hatte ein junger Japaner ins Englische übersetzt, der als einer der ersten Japaner als Laie an den Aktivitäten in einem Kloster teilnehmen durfte. D.T. Suzuki wurde später zum Wegbereiter des Zen-Buddhismus im Westen.
Als Soen Shaku nach dem Weltparlament der Religionen zu Vorträgen in die USA eingeladen wurde, um sein Wissen über den Zen-Buddhismus weiterzugeben, schickte er an seiner Stelle keinen ausgebildeten Zen-Priester aus seinem Kloster, sondern den jungen Suzuki, der eine große Begabung für die englische Sprache zeigte.
D.T. Suzuki blieb als Übersetzer und wissenschaftlicher Assistent über zehn Jahre in den USA und half bei englischen Übersetzungen und Schriften zum Buddhismus. Nach langer Tätigkeit als Privatgelehrter verfasste er seit den 1920er-Jahren Schriften über den Zen-Buddhismus auf Englisch. Seine späteren Bücher machten sowohl ihn als auch den Zen-Buddhismus weltweit bekannt.
Suzuki entwirft in seinen Schriften ein Bild vom Zen als einem Weg persönlicher, mystischer Erfahrung, der sich von anderen Religionen grundsätzlich unterscheidet. Im Mittelpunkt vom Suzuki-Zen steht das satori als persönlicher Erfahrungsweg zur Wahrheit.
Dieses Suzuki-Zen unterschied sich gewaltig von dem Zen-Buddhismus, den Suzuki in japanischen Tempeln und Klöstern selbst erfahren hatte. Mehr noch als von traditionellen buddhistischen Zen-Lehren war das Suzuki-Zen von westlichen Vorstellungen über Religion und Buddhismus beeinflusst, mit denen Daisetsu Teitaro Suzuki während seiner Zeit in den USA in Kontakt gekommen war. Doch das tat dem Erfolg seiner Schriften keinen Abbruch.
Wahrscheinlich ist es gerade auf die Vertrautheit von D.T. Suzuki mit der westlichen Geistesgeschichte und westlichen Vorstellungen über Religion zurückzuführen, dass sein Bild vom Zen sich im Westen so stark durchgesetzt hat.
Die Bücher von D.T. Suzuki machten den Zen-Buddhismus auf der ganzen Welt bekannt. In Deutschland war der Heidelberger Privatdozent der Philosophie Eugen Herrigel so angetan vom Zen, den D.T. Suzuki präsentierte, dass er nach Japan ging, um mehr über Zen zu erfahren. Er lernte einen japanischen Bogenschießmeister kennen, den er für den Inbegriff eines Zen-Meisters hielt.
Eugen Herrigels Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« (1948) trug maßgeblich dazu bei, das Zen im Westen bekannt zu machen. Auch Herrigels Zen hat mehr mit seinen westlichen Wunschvorstellungen zu tun als mit dem Zen-Buddhismus seiner Zeit in Japan, war ihm doch entgangen, dass der Meister des Bogenschießens, den er so sehr bewunderte, gar kein Zen-Priester war und auch sonst so gut wie nichts mit dem Zen zu tun hatte.
In den USA kam es in den 1950er-Jahren zu einem regelrechten Zen-Boom: Künstler, Literaten, Intellektuelle und Therapeuten interessierten sich für das Zen. Besonders die sogenannten Beatniks verarbeiteten zen-buddhistisch inspirierte Ideen in ihren Büchern und trugen weiter zu dessen Verbreitung bei. Zu ihrem Sprachrohr wurde Alan Watts, dessen Bücher über das Besondere und den Geist des Zen das Bild einer überlegenen östlichen Tradition weiter vertiefte, in deren Mittelpunkt persönliche, außergewöhnliche Erfahrungen stehen.
Bis in die 1950er-Jahre hinein hatte sich die Faszination des Zen unter Intellektuellen, Künstlern, Therapeuten und Studenten weit verbreitet, doch kaum jemand wusste, wie man die viel beschworene Praxis des Zen, die zu außergewöhnlichen Erfahrungen führen sollte, verwirklichen konnte.
Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sich zen-buddhistische Priester in die USA begeben und zen-buddhistische Gruppen gebildete. Der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten lag allerdings auf dem Studium und nicht auf der praktischen Ausübung des Zen.
Im Jahre 1959 kam ein Priester der Soto-Zen-Schule nach San Francisco, um sich um die religiösen Anliegen japanischer Immigranten zu kümmern, die dem San Francisco Zen Temple angehörten. Dieser Priester war ein echter Glücksfall für die Entwicklung der Zen-Praxis im Westen: Shunryu Suzuki, der Gründer des San Francisco Zen Center, das bis heute eines der größten Zen-Zentren im Westen ist.
Shunryu Suzuki ist nicht zu verwechseln mit Daisetsu Teitaro Suzuki. Daisetsu Teitaro Suzuki ist der buddhistische Laie und Gelehrte, dessen Schriften das Zen weltweit bekannt machten. Shunryu Suzuki ist ein Priester der Soto-Schule, der die Praxis des Zen in den USA einführte.
In den Büchern über das Zen, die bis zur Ankunft von Shunryu Suzuki im Westen zu lesen waren, war zwar vom stillen Sitzen, dem strengen Leben im Kloster und vom Ablauf mehrtägiger Übungsperioden, den sesshin, die Rede, doch kaum jemand wusste, wie man diese Dinge in die Tat umsetzte.
Shunryu Suzuki sammelte mit seiner ruhigen, doch durch und durch entschlossenen Art viele Schüler um sich. Gemeinsam mit ihnen verwirklichte er die Praktiken des Zen in den USA: Zunächst zeigte er seinen Schülern, wie man richtig sitzt, wie man die zafu genannten runden Sitzkissen näht, auf denen die Zen-Praktizierenden beim zazen sitzen (solche zafu sind auf dem Titelbild zu sehen), wie man sie richtig füllt und dass man eine zafuton genannte flache Unterlage beim zazen braucht, um die Knie zu schützen.
Nach und nach führte Suzuki die wichtigen Elemente der Zen-Praxis im San Francisco Zen Center ein, wie das Verbeugen, das Abbrennen von Weihrauch, die Rezitation von Sutras und die Verwendung von Trommeln und Glocken bei der Rezitation.
Die Abläufe im dojo sind, wie die Schüler von Suzuki und viele weitere Zen-Praktizierende im Westen immer wieder erstaunt feststellen, stark ritualisiert. Der Begriff dojo (japanisch für »Ort des Weges«) hat sich im Westen sowohl für den Raum oder die Halle eingebürgert, indem das zazen praktiziert wird, als auch als allgemeine Bezeichnung für Gruppen und Zentren, die Zen-Praxis oder Aktivitäten, die mit dem Zen in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel Kampfsportarten, anbieten.
Es gibt viele Regeln für die Bewegungsabläufe im dojo, die genau eingehalten werden müssen. Wie man das dojo betreten soll, wie die Blumen auf dem Altar angeordnet sein sollen, wie man sich auf sein Kissen setzt und wie man sich verhalten soll, falls man während des zazen niesen muss – das alles ist genau vorgeschrieben.
Die meisten der Zen-Zentren und -Gruppen im Westen folgen dem traditionellen Vorbild japanischer Klöster bei der Gestaltung ihrer Praktiken. Die wichtigsten Bestandteile sind:
Die Schüler des Zen im Westen stellten fest, dass die Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen und die Begegnung mit der Wahrheit, die die Bücher über das Zen preisen, mit dem zazen beginnen. Diese Erkenntnis schmälerte aber keinesfalls die Anziehungskraft, die vom Zen ausging: Nach und nach kamen immer mehr Priester aus Japan und später auch aus Korea, Taiwan, China und Vietnam, um das Zen zu lehren. Neue Schulen und Zentren wurden gegründet, in deren Mittelpunkt keine abstrakten Lehren, sondern die Praxis des Zen stand und bis heute steht.
Im deutschsprachigen Raum setzte die Verwirklichung der Zen-Praxis mit der Ankunft von Taisen Deshimaru in Paris im Jahr 1967 ein. Wie Shunryu Suzuki in den USA musste Deshimaru den Europäern erst einmal die Grundlagen der Zen-Praxis beibringen, da es nur sehr wenige Zen-Begeisterte gab, die bereits praktische Erfahrungen besaßen. Auch in Europa fanden schon bald sesshin statt, in den 1970er-Jahren wurden überall neue Gruppen und Zentren gegründet. Heute gibt es auch in Europa Gruppen und Organisationen, die sich auf die verschiedenen Schulen und Meister aus Ostasien berufen.
Eines der wichtigsten Kennzeichen des Zen-Buddhismus im Westen ist seine Vielfalt. Die meisten der großen Schulen und Strömungen des Zen in Ostasien sind in den USA und Kanada, in Europa, Australien und Neuseeland vertreten.