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Inhaltsverzeichnis








































































Danksagung

Zwar habe ich alle Wörter dieses Romans selbst geschrieben, doch muss ich zugeben, dass ich im Laufe meiner Arbeit alle möglichen Leute schamlos ausgenutzt habe.

 

Am Anfang:

Abgrund begann als Kurzgeschichte. Barbara MacGregor und Nancy Butler, damals noch an der Universität von British Columbia, haben einige frühe Entwürfe des Manuskripts mit kritischem Blick gelesen, während Jena Snyder schließlich den fertigen Roman erbarmungslos auf Herz und Nieren geprüft hat.

 

Am Ende:

David Hartwell hat das Manuskript eingekauft und den Text in Zusammenarbeit mit Jim Minz lektoriert. Natürlich bin ich ihnen zutiefst dankbar, wenngleich ich hoffe, dass ihr Lohn über einfache Dankesworte hinausgeht. Ich hoffe, Abgrund wird sich gut verkaufen und uns allen eine Menge Geld einbringen. (Das Buch, das Sie gerade in der Hand halten, ist ein Anfang. Warum kaufen Sie nicht noch ein paar zusätzliche Exemplare und verteilen sie an sämtliche Zeugen Jehovas, die Ihnen an Straßenecken begegnen mögen?)

 

Und dazwischen:

Glenn Grant hat sich bei David Hartwell für mich eingesetzt, als ich zu viel Muffensausen hatte, es selbst zu tun. Major David Buck von der neuseeländischen Armee ließ mich dankenswerterweise an seinem Fachwissen über Sprengstoffe teilhaben, ob nun atomarer oder anderer Art. Mit einiger Beunruhigung habe ich erfahren, wie viel Gedanken sich manche Leute über die Auswirkungen nuklearer Explosionen am Meeresboden machen.

Als ich die geologischen Hintergründe von Dehnungs- und Erdbebenzonen recherchieren wollte, habe ich mich an einige geologische Usenet-Gruppen gewandt, anstatt selbst Nachforschungen anzustellen. Daraufhin habe ich eine Menge Ratschläge von Leuten erhalten, denen ich nie persönlich begegnet bin und die ich vermutlich auch nie kennenlernen werde: Ellin Beltz, Hayden Chasteen, Joe Davis, Keith Morrison und Carl Schaefer haben mich mit Informationen und Literaturhinweisen versorgt was Vulkanismus, Plattentektonik und (in einem Fall) die Zeitspanne angeht, die es dauern würde, bis ein Atom-U-Boot, das von einer Subduktionszone in der Tiefsee verschluckt wurde, vom Schlot eines aktiven Vulkans wieder ausgespuckt wird. John Stockwell vom Zentrum für Wellenphänomene (Colorado School of Mines) war besonders entgegenkommend und hat mir einige Formeln und Tabellen gegeben, mit denen sich Erdbeben auf einfache und verständliche Weise in »Hiroshima-Einheiten« unterteilen lassen. Ich bin versucht, nie wieder eine eigene Recherche anzustellen.

 

Darüber hinaus wäre es natürlich verlockend, all diese freundlichen Menschen für die technischen Fehler verantwortlich zu machen, die sich im Roman finden mögen, doch das kann ich selbstverständlich nicht tun. Schließlich ist es mein Buch, und deshalb sind es auch meine Fehler.

Die Musik von Jethro Tull hat mir als ständige Inspirationsquelle gedient, nicht nur während ich den Roman geschrieben habe, sondern auch während meiner endlosen Leidensjahre an der Universität, die die Grundlage für seine Entstehung lieferten. Wenn Sie sich eine Art Titelsong wünschen, der die Stimmung des Romans wiedergibt, dann hören Sie sich Sarah MacLachlans »Possession« in einem dunklen Zimmer an, die Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht. (Ich hätte den Song gern im Buch zitiert, aber ich habe es nie geschafft, mich um die Rechte zu kümmern.)

Der Autor

Peter Watts arbeitete lange Jahre als Unterwasserbiologe, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Seine bisher erschienenen Science-Fiction-Romane wurden von Publikum und Kritik einhellig gefeiert. Watts lebt in Toronto, Kanada. Mehr zu Autor und Werk finden Sie unter:

Quellenangaben

Es wird Sie vielleicht überraschen, wie viel von dem, was ich hier beschreibe, nicht meiner Phantasie entspringt. Wenn Sie Näheres über einige der Hintergründe erfahren möchten, dann werden Ihnen die folgenden Literaturhinweise von Nutzen sein. Im Roman werden manche Tatsachen absichtlich ein wenig verdreht, und vermutlich habe ich aus reiner Unwissenheit noch Hunderte anderer Fehler gemacht. Diese Auflistung hat also noch einen anderen Zweck: Sie bietet Ihnen die Möglichkeit, meine Recherchen zu überprüfen.

Tiefsee-Biologie

Die Tiefsee-Geschöpfe habe ich mehr oder weniger so beschrieben, wie sie in der Natur vorkommen. Wenn Sie mir nicht glauben, dann lesen Sie den Aufsatz »Light in the Ocean’s Midwaters« von B. H. Robinson, in der Juli-Ausgabe des Scientific American von 1995. Oder Deep-Sea Biology von J. D. Gage und P. A. Tyler (Cambridge University Press, 1992). Oder Abyss von C. P. Idyll (Crowell Company, 1971). Dieses Werk ist zwar schon recht alt, aber es ist das Buch, das mich damals in der neunten Klasse auf das Thema gebracht hat. Obwohl die Fische, die wir vom Meeresboden heraufholen, in Wirklichkeit meist ziemlich klein sind, ist Riesenwuchs bei manchen Arten von Tiefseefischen durchaus verbreitet. In den 30er-Jahren des 20.Jahrhunderts behauptete der Tiefseepionier William Beebe beispielsweise, von seiner Tauchkugel aus einen zwei Meter großen Fetzenfisch gesehen zu haben.

Viele interessante Dinge habe ich in The Sea – Ideas and Observations on Progress in the Study of the Seas Volume 7: Deep-See Biology (G. T. Rowe, Hg.; 1983 John Wiley and Sons) gefunden. Das Kapitel über die biochemische und physiologische Angepasstheit von Tiefseetieren (von Somero et al.) hat mir ebenso wie das Buch Biochemical Adaptation, das 1983 bei der Princeton University Press erschienen ist (herausgegeben von Hochachka und Somero), viele Anhaltspunkte zum Thema Tiefseephysiologie geliefert, insbesondere, was die Wirkung von hohem Druck auf die Impulse von Nervenzellen und die Anpassung von Enzymen an Systeme mit hohem Druck und hohen Temperaturen angeht.

Die Tektonik von Dehnungszonen und die Geologie

Eine gute Einführung für den Laien in die Küstengeologie des Nordwest-Pazifiks, einschließlich einer Betrachtung mittelozeanischer Rücken wie Juan de Fuca, liefert Cycles of Rock and Water von K. A. Brown (HarperCollins West, 1993). Der Aufsatz »The Quantum Event of Oceanic Crustal Accretion: Impacts of Diking at Mid-Ocean Ridges« (J. R. Delaney et al., Science 281, S. 222—230, 1998) vermittelt einen guten Eindruck von der Stärke und Häufigkeit von Erdbeben und Eruptionen entlang des Juan-de-Fuca-Rückens, obwohl er ziemlich viel unverständlichen Fachjargon enthält.

Die Theorie, dass es in nächster Zeit wieder ein größeres Erdbeben im Nordwest-Pazifik geben könnte, wird in »Giant Earthquakes of the Pacific Northwest« von R. D. Hyndman (Scientific American, Dezember 1995) einer genaueren Betrachtung unterzogen. Die Aufsätze »Forarc Deformation and Great Subduction Earthquakes: Implications for Cascadia Offshore Earthquake Potential« von McCaffrey und Goldfinger (Science, Bd. 267, 1995) und »Earthquakes cannot be predicted« (Geller et al., Science, Bd. 275, 1997) gehen in weiteren Einzelheiten auf das Thema ein. Ich habe früher einmal in Vancouver gewohnt. Nachdem ich diese Aufsätze gelesen hatte, bin ich allerdings nach Toronto umgezogen.

Die absolut beste Quelle für aktuelle Informationen über hydrothermale Quellen ist jedoch die Webseite der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA). Dort findet man alles: Daten von Untersuchungen, Forschungspläne, Übersichtskarten, dreidimensionale Animationen von Seebeben, die neuesten Veröffentlichungen und vieles andere mehr. Beginnen Sie bei und klicken Sie sich durch.

Psionik/Ganzfeld-Effekte

Die rudimentäre Form von Telepathie, die ich im Roman beschreibe, hat es 1994 tatsächlich in die Fachpresse geschafft. Lesen Sie doch einmal den Aufsatz »Does Psi Exist? Replicable Evidence for an Anomalous Process of Information Transfer« von Bem und Honorton, Seite 4–18 in Band 15 des Psychological Bulletin. Die Autoren liefern sogar Daten zur statistischen Wahrscheinlichkeit. Spekulationen über das menschliche Bewusstsein als Quantenphänomen finden sich in den Büchern von Roger Penrose, Computerdenken (Spektrum, 2002) und Schatten des Geistes (Spektrum, 1995).

Intelligente Gele

Die intelligenten Gele, die im Roman die Schuld an allem tragen, sind an Forschungen von Masuo Aizawa angelehnt, einem Professor am Institut für Technologie in Tokio, die in der August-Ausgabe des Magazins Discover von 1992 vorgestellt wurden. Damals hatte Aizawa einige Nervenzellen miteinander verbunden und damit einen Vorläufer einfacher Logikgatter geschaffen. Mich schaudert, wenn ich daran denke, wie weit er inzwischen wohl vorangeschritten ist.

Die Verwendung neuronaler Netze zur Navigation in unwegsamem Gelände wird in »Robocar« von B. Daviss beschrieben (Discover, Juli 1992), ein Aufsatz, in dem es um die Arbeit von Charles Thorpe an der Carnegie-Mellon University geht (wo sonst?).

ßehemoth

Die Theorie, dass das Leben an den hydrothermalen Quellen entstanden sein könnte, geht auf den Aufsatz »A Hydrothermally Precipitated Catalytic Iron Sulphide Membrane as a First Step Towards Life« von M. J. Russel (Journal of Molecular Evolution, Bd. 39, 1994) zurück. Einige Einzelheiten über die Evolution des Lebens, einschließlich der Brauchbarkeit von Pyranosyl-RNA als alternative genetische Grundlage habe ich aus »The Origin of Life on Earth« von L. E. Orgel (Scientific American, Oktober 1994) entwendet. Die Idee von ßehemoths symbiotischer Beziehung mit den Zellen von Tiefseefischen entstammt dem Werk von Lynn Margulis, die als Erste die Vermutung äußerte, dass die Organellen der Zellen einmal unabhängige freilebende Organismen gewesen sein könnten (eine Idee, die es innerhalb von zehn Jahren vom Status der Ketzerei in den offiziellen Kanon geschafft hat). Nachdem ich diese Idee im Buch untergebracht hatte, habe ich in den beiden Aufsätzen »Parasites Shed Light on Cellular Evolution« (G. Vogel, Science 275, S. 1422, 1997) und »Thanks to a Parasite, Asexual Reproduction Catches On« (M. Enserinck, Science 275, S. 1743, 1997) eine weitere Bestätigung dafür gefunden.

Sexueller Missbrauch als suchterzeugender Stimulus

Der Theorie, dass wiederholter Missbrauch körperliche Sucht erzeugen kann, bin ich zum ersten Mal in dem Buch Psychological Trauma (B. van der Kolk, Hg., American Psychiatric Press, 1987) begegnet. Das Syndrom der falschen Erinnerungen wird in Die therapierte Erinnerung von E. Loftus und K. Ketcham (Klein, 1995) beschrieben.

Auftakt

Ceratius

Die Tiefe sollte einem eigentlich die Sprache verschlagen. Seit Millionen von Jahren ist kein Sonnenstrahl mehr in diese Gewässer vorgedrungen. Hier herrschen mehrere hundert Atmosphären Druck, und die Tiefseegräben könnten ein Dutzend Berge vom Kaliber des Mount Everest verschlucken, ohne auch nur aufzustoßen. Das Leben selbst soll in der Tiefsee seinen Anfang genommen haben. So heißt es jedenfalls. Die Geburt kann nicht leicht gewesen sein, gemessen an den Lebensformen, die heute noch dort ihr Dasein fristen: monströse Geschöpfe, die durch den ungeheuren Druck, das fehlende Licht und den ständigen Mangel an Nahrung zu albtraumhaften Gestalten verformt wurden.

Selbst hier, im Innern des Tauchboots, lastet die Tiefe auf einem wie das Gewölbe einer Kathedrale. Dies ist kein Ort, an dem man lauthals irgendwelchen Unsinn von sich geben würde. Wenn man überhaupt spricht, dann mit leiser Stimme. Aber die Touristen scheint das nicht weiter zu stören.

Joel Kita ist an die Atemgeräusche des Tauchboots gewöhnt und kennt jeden seiner Klick- und Zischlaute. Er verlässt sich auf diese Geräusche; die Anzeigen bestätigen nur, was er dem Gluckern in den Eingeweiden des Gefährts ohnehin schon entnommen hat. Doch die Ceratius ist ein Vergnügungsboot, vollständig isoliert und mit besonders hoher Decke und Klappsesseln ausgestattet sowie mit kleinen Spendern für Erfrischungen und Rauschmittel, die in die Rückenlehnen der Sitze eingelassen sind. Heute hört Joel nur das Geschwätz der Fracht.

Er wirft einen Blick über die Schulter. Die Reiseleiterin, eine Hinderin mit einem Zebra-Haarschnitt, etwa Mitte zwanzig – sie heißt Preteela irgendwas –, schenkt ihm ein rasches, entschuldigendes Lächeln. Sie ist ein Auslaufmodell und sich dessen nur zu bewusst. Mit der Computer-Bordbibliothek kann sie nicht mithalten. Sie hat keine 3-D Animationen mit Allround-Soundtrack zu bieten. Eigentlich ist sie nur ein Requisit. Sie wird nicht dafür bezahlt, dass sie etwas Sinnvolles tut, sondern gerade dafür, dass sie nichts tut. Wozu ist man schließlich reich, wenn man sich immer nur das Nötigste leistet?

Es sind acht Passagiere. Ein älterer Herr an die hundert in einer Latzhose, der an den Knöpfen seiner Kamera herumfummelt. Die anderen haben Headsets auf, in denen ein Programm abläuft, das darauf konzipiert wurde, die Passagiere während des Abstiegs zu beschäftigten, ohne sie jedoch so sehr zu beeindrucken, dass sich bei ihrer Ankunft am Zielort womöglich Enttäuschung breitmacht. Eine schwierige Gratwanderung heutzutage.

Joel wünscht sich allerdings, das Programm wäre ein wenig interessanter, denn wenn sich die Passagiere darauf konzentrieren würden, würden sie vielleicht endlich die Klappe halten. Aber wahrscheinlich ist es ihnen ohnehin gleichgültig, ob die Meeresungeheuer an der Channer-Quelle dem ganzen Rummel gerecht werden, der um sie gemacht wird. Diese Leute sind nicht hier, weil die Tiefsee so beeindruckend ist, sondern weil die Reise hierher so unglaublich viel kostet.

Er wirft einen Blick auf das Steuerpult. Selbst das wirkt überdimensioniert: Die Steuerungen für die Klimaanlage und die Unterhaltungsmedien an Bord nehmen gut die Hälfte der Konsole ein. Gelangweilt wählt er irgendeines der Programme, die in den Headsets laufen, klinkt sich ein und öffnet ein Fenster auf dem Hauptbildschirm.

Ein Holzschnitt von einem Kraken aus dem achtzehnten Jahrhundert erwacht dank der Wunder der modernen Animation zum Leben. Grob gezeichnete Tentakel schlingen sich um die Masten einer Galeone und ziehen sie unter die kantigen Wellen. Eine weibliche Stimme, die darauf abgestimmt ist, die Aufmerksamkeit beider Geschlechter zu fesseln, erklärt dazu: »In unserer Vorstellung sind die Meere schon immer von Ungeheuern bevölkert gewesen …«

Joel klinkt sich wieder aus.

Mr. Latzhose kommt zu ihm und legt ihm von hinten vertraulich eine Hand auf die Schulter. Joel widersteht dem Drang, sie abzuschütteln. Das ist ein weiteres Problem bei diesen Touristen-Tauchbooten: Es gibt kein richtiges Cockpit, nur eine Steuerkonsole am vorderen Ende der Passagierkabine. Man kann sich vor der Fracht nicht zurückziehen.

»Sieht ganz schön kompliziert aus«, sagt Mr. Latzhose.

Joel erinnert sich an seine berufliche Pflicht und lächelt.

»Machen Sie diese Tour schon lange?« Die Haut des Grauhaarigen glänzt golden von einer Schicht künstlich gezüchteter Xanthophylle. Joels Lächeln wird noch gezwungener. Natürlich hat er von den Vorteilen der Xanthophylle gehört: UV-Schutz, Erhöhung des Sauerstoffgehalts im Blut, mehr Energie – sie sollen sogar zu einem geringeren Nährstoffbedarf führen; auch wenn sich diese Leute keine Gedanken darüber machen müssen, wie viel Geld sie für Lebensmittel ausgeben. Trotzdem ist das Ganze für Joels Geschmack einfach zu verdammt merkwürdig. Implantate sollten aus Gewebe bestehen oder zumindest aus Plastik. Wenn die Menschen dafür gemacht wären, Photosynthese zu betreiben, würden sie Blätter besitzen.

»Ich habe gesagt …«

Joel nickt. »Ein paar Jahre.«

Ein Knurren. »Ich wusste nicht, dass es die Firma Tiefsee Safaris schon so lange gibt.«

»Ich arbeite nicht für Tiefsee Safaris«, erwidert Joel so höflich wie möglich. »Ich bin selbstständig.« Der Grauhaarige weiß es vermutlich nicht besser. Er entstammt einer Generation, die noch jahraus jahrein demselben Arbeitgeber verpflichtet war. Damals hielt man das sogar für eine Errungenschaft.

»Freut mich für Sie.« Mr. Latzhose klopft ihm väterlich auf die Schulter.

Joel schiebt das Steuerruder ein wenig nach Backbord. Sie fahren mit ausgeschalteten Scheinwerfern an der südöstlichen Flanke des Meeresrückens entlang. Das Echolot zeigt eine wenig bemerkenswerte Landschaft aus Schlamm und Gesteinsbrocken. Die Riftzone selbst ist noch etwa fünf bis zehn Minuten entfernt. In dem Touristenprogramm auf dem Bildschirm geht es gerade um Riesenkalmare, die während des Zweiten Weltkriegs Rettungsboote angegriffen haben, und eine Parade von Archivphotos wird als Beweis gezeigt: menschliche Beine, die mit faustgroßen kegelförmigen Wunden überzogen sind, wo verhornte Saugnäpfe Fleischstücke herausgerissen haben.

»Widerlich. Werden wir auch Riesenkalmare zu sehen bekommen?«

Joel schüttelt den Kopf. »Das ist eine andere Tour.«

Das Programm geht zu einer ganzen Litanei von Meeresungeheuern über: ein zerfetzter Kadaver, der an der Küste Floridas angespült wurde und darauf hindeutet, dass es Kraken von bis zu dreißig Metern Durchmesser geben könnte. Gigantische Aallarven. Hypothetische Ungeheuer, die vielleicht einmal die großen Wale gejagt haben und aufgrund von Nahrungsmangel ausgestorben sind, ohne Spuren zu hinterlassen.

Joel vermutet, dass neunzig Prozent von all dem Schwachsinn ist, und der Rest spielt eigentlich keine Rolle. Selbst Riesenkalmare tauchen niemals in die wirkliche Tiefsee hinab; kaum ein Geschöpf tut das. Dort unten gibt es einfach nicht genug Nahrung. Joel fährt schon seit Jahren hier unten herum, und bisher hat er noch nie ein echtes Ungeheuer gesehen.

Außer an der Riftzone natürlich. Er berührt einen Schalter; draußen schickt ein Lautsprecher mit lautem Heulen hochfrequente Wellen in die Tiefe hinab.

»Überall in den Weltmeeren entspringen in den Dehnungszonen hydrothermale Quellen, aus denen blubbernd heißes Wasser aufsteigt«, plappert das Programm weiter. »Sie ernähren ganze Scharen von Riesenmuscheln und Bartwürmern, die bis zu drei Meter Länge erreichen können.« Archivaufnahmen von der Lebensgemeinschaft an einer Hydrothermalquelle. »Und dennoch sind es selbst in den Dehnungszonen nur die Filtrierer und Schlammwühler, die solch gewaltige Körpermaße erreichen. Fische – die wie wir Menschen Wirbeltiere sind – gibt es hier nur wenige, und sie werden höchstens ein paar Zentimeter groß.« Eine Aalmutter schlängelt sich kraftlos durchs Bild und erinnert eher an einen abgetrennten Finger als an einen Fisch.

»Außer hier«, fügt das Programm nach einer dramatischen Pause hinzu. »Denn diese winzige Region des Juan-de-Fuca-Rückens hat etwas Besonderes an sich, für das es bis heute keine Erklärung gibt. Hier hausen Drachen.«

Joel legt einen anderen Schalter um. An der Außenhülle leuchten Köderlampen auf, die das gesamte biolumineszente Spektrum abdecken. Gleichzeitig wird die Kabinenbeleuchtung gedimmt. Für die Riftzonenbewohner, die von den Schallwellen angelockt wurden, sieht es so aus, als sei in ihrer Mitte gerade eine ganze Schule Nahrungsfische aufgetaucht.

»Wir kennen das Geheimnis der Channer-Quelle nicht. Wir wissen nicht, wie die seltsamen und faszinierenden Giganten entstehen, die sie hervorbringt.« Die Anzeige des Programms wird schwarz. »Wir wissen nur, dass wir hier, an der Flanke des Axial-Vulkans, endlich das Nest der Ungeheuer gefunden haben.«

Etwas schlägt gegen die Außenhülle. Die Akustik in der Passagierkabine lässt das Geräusch unnatürlich laut erscheinen.

Die Passagiere halten endlich die Klappe. Mr. Latzhose murmelt noch etwas und kehrt dann zu seinem Sitz zurück – ein mannsgroßer Chloroplast, der es plötzlich sehr eilig hat.

»Damit sind wir am Ende unserer Einführung. Die Außenkameras sind mit Ihren Headsets verbunden und lassen sich durch normale Kopfbewegungen schwenken. Mithilfe des Joysticks an Ihrer rechten Armlehne können Sie die Bildschärfe einstellen und Aufnahmen machen. Wenn Sie möchten, können Sie durch die Sichtscheiben in der Kabine auch direkt hinausschauen. Sollten Sie Hilfe brauchen, stehen Ihnen unsere Reiseleitung und der Pilot gern zur Verfügung. Tiefsee Safaris möchte Sie an der Channer-Quelle herzlich willkommen heißen und wünscht Ihnen viel Spaß bei Ihrem Ausflug.«

Zwei weitere dumpfe Schläge sind zu hören. An der vorderen Luke blitzt etwas Graues auf; ein biegsamer Leib, der einen Moment lang von den Scheinwerfern erfasst wird, ein Wirbeln von Flossen. Die Symbole auf Joels Schaltpult, die die Außenkameras darstellen, zucken und schwenken hin und her.

Die überflüssige Reiseleiterin gleitet in den Copilotensitz. »Dort draußen herrscht der übliche Fressrausch.«

Joel senkt die Stimme. »Ob draußen oder drinnen – was macht das für einen Unterschied?«

Sie lächelt; eine stumme Geste der Zustimmung. Sie hat ein tolles Lächeln, das beinahe das gestreifte Haar wieder wettmacht. Joel erhascht einen Blick auf ihren linken Handrücken und auf etwas, das fast wie die Tätowierung eines Flüchtlings aussieht, doch er bezweifelt, dass sie echt ist. Wohl eher ein modisches Accessoire.

»Sind Sie sicher, dass Ihre Schützlinge ohne Sie auskommen?« , fragt er spöttisch.

Sie wirft einen Blick in die Passagierkabine. Die Fracht ist wieder zum Leben erwacht. Schau dir das an. Hey, es hat sich wohl an uns einen Zahn ausgebissen. Verdammt, sind die hässlich …

»Sie kommen schon klar«, erwidert Preteela.

Auf der anderen Seite der Sichtluke taucht etwas auf: ein Maul wie ein Sack voller Nadeln, eine lange Schnur, die vom Unterkiefer herabhängt und an deren Ende sich eine leuchtende Glühbirne befindet. Der Kiefer öffnet sich bis zum Anschlag und schnappt zu. Seine Zähne gleiten harmlos von der Sichtscheibe ab. Ein flaches schwarzes Auge starrt zu ihnen herein.

»Was ist das?«, erkundigt sich Preteela.

»Sie sind hier die Reiseleiterin.«

»So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht.« Er schickt eine schwache elektrische Ladung durch die Außenhülle. Erschrocken jagt das Ungeheuer in die Dunkelheit davon. Hin und wieder hallt ein dumpfer Schlag durch die Ceratius, und die Fracht hält keuchend die Luft an.

»Wie lange noch bis zur Channer-Quelle?«

Joel wirft einen Blick auf die Positionsanzeige. »Wir sind praktisch dort. Etwa fünfzig Meter links von uns befindet sich ein Riss von mittlerer Größe im Meeresboden.«

»Was ist das?« Eine Reihe von in gleichmäßigen Abständen verteilten hellen Punkten ist auf dem Schirm erschienen.

»Vermessungspfähle.« Hinter der ersten Reihe kommt eine weitere in Sicht. »Für das Geothermalprogramm, wissen Sie?«

»Wie wär’s mit einem kurzen Abstecher? Diese Generatoren sind bestimmt sehr eindrucksvoll.«

»Ich glaube nicht, dass die Generatoren schon installiert wurden. Sie sind noch damit beschäftigt, das Fundament zu legen.«

»Es wäre trotzdem eine schöne Dreingabe zu unserem Ausflug.«

»Wir dürfen uns dem Gelände eigentlich nicht nähern. Wenn jemand dort draußen ist, bekommen wir eine Menge Ärger.«

»Und?« Wieder dieses Lächeln, diesmal jedoch berechnender. »Ist dort draußen jemand?«

»Wahrscheinlich nicht«, gibt Joel zu. Seit ein paar Wochen schon wird nicht mehr gebaut, was ihn besonders ärgert. Er kann auf einige lukrative Verträge hoffen, wenn die Netzbehörde endlich den Arsch in Bewegung setzt und zu Ende bringt, was sie angefangen hat.

Preteela blickt ihn erwartungsvoll an. Joel zuckt die Achseln. »Die Lage dort ist ziemlich instabil. Es könnte ein wenig holprig werden.«

»Ist es gefährlich?«

»Das kommt darauf an, was Sie unter ›gefährlich‹ verstehen. Wahrscheinlich nicht.«

»Dann lassen Sie uns hinfahren.« Preteela legt ihm verschwörerisch die Hand auf die Schulter.

Die Ceratius schwenkt herum und schlägt eine neue Richtung ein. Joel schaltet die Köderlampen aus, und die Lautsprecher geben zum Abschied noch ein letztes hohes Kreischen von sich. Die Ungeheuer draußen – diejenigen, die sich nicht längst würdevoll verzogen haben, nachdem ihren winzigen Fischgehirnen klar geworden ist, dass man Metall nicht fressen kann – verschwinden mit aufflammenden Seitenlinien in der Nacht. Einen Moment lang herrscht erstauntes Schweigen unter der Fracht. Preteela Irgendwas spricht in die Stille hinein: »Meine Damen und Herren, wir machen einen kurzen Abstecher, um uns etwas Interessantes in der Riftzone anzusehen. Wenn Sie einen Blick auf die Echolotanzeige werfen, werden Sie feststellen, dass wir auf ein Schachbrettmuster aus akustischen Signalen zusteuern. Die Netzbehörde hat sie für die Bauarbeiten an einer der neuen Geothermalstationen installieren lassen, über die wir schon so viel gehört haben. Wie Sie vielleicht wissen, sind ähnliche Projekte in Dehnungszonen von den Galapagos-Inseln bis zu den Aleuten in Arbeit. Wenn sie ihren Betrieb aufnehmen, werden hier unten in der Riftzone tatsächlich Menschen leben …«

Joel kann es kaum fassen. Preteelas große Chance, die Computer-Bibliothek zu übertrumpfen, und sie redet genau wie das Programm. Ein Phantasiebild, das in seinem Mittelhirn Gestalt angenommen hat, löst sich auf. Würde er versuchen, der Preteela in seinem Kopf an die Wäsche zu gehen, würde sie vermutlich anfangen, mit fröhlicher Stimme jede Einzelheit zu kommentieren.

Er schaltet die Außenscheinwerfer ein. Schlamm und noch mehr Schlamm. Auf der Echolotanzeige kommt das Signalnetz weiter auf sie zu, ein unveränderliches Sternbild.

Die Ceratius wird von irgendetwas erfasst und herumgeschleudert. Die Anzeige für den Thermistor an der Außenhülle flackert kurz auf.

»Nur eine Thermalquelle, Leute«, ruft Joel über die Schulter. »Kein Grund zur Beunruhigung.«

Eine schwach leuchtende, kupferfarbene Sonne zieht steuerbords an ihnen vorbei. Man könnte sie als eine Fackel auf einem Pfahl beschreiben, eine Gebietsmarkierung, die mit einer Natriumlampe und einem Herzschlag im Längswellenbereich die Dunkelheit zurückdrängt. Die Netzbehörde hat ihre Duftmarke hinterlassen, um allen zu beweisen: Das hier ist unser Scheißloch.

Die Reihe der Türme, an deren Spitzen sich Scheinwerfer befinden, erstreckt sich weiter nach Backbord. Sie wird von einer zweiten Reihe Scheinwerfer gekreuzt, die direkt vor ihnen wie Straßenlaternen in einer dunstigen Nacht in der Dunkelheit verschwinden. Sie beleuchten eine merkwürdige, halbfertige Landschaft aus Plastik und Metall. Riesige Metallgehäuse liegen wie ausrangierte Güterwagen auf dem Meeresboden herum. Tränenförmige ROVs ruhen untätig auf glatten Pfützen aus erstarrtem Plastik, das härter ist als Basalt. Scharfkantige Leitungsrohre ragen aus den geronnenen Oberflächen wie hohle Knochen, die unterhalb des Gelenks abgesägt wurden.

An der Spitze eines der Türme backbordseits greift irgendetwas Dunkles und Massiges den Scheinwerfer an.

Joel wirft einen Blick auf die Kamera-Icons: Alle sind nach oben links gerichtet und auf maximale Vergrößerung eingestellt. Um Sauerstoff zu sparen, hat Preteela in ihrem Geplapper innegehalten, während die Grauhaarigen hinausschauen. Also gut. Wenn sie noch mehr Fische sehen wollen, die in blinder Raserei über irgendetwas herfallen, dann können sie das gern haben. Die Ceratius schwenkt in Richtung Backbord herum und fährt auf den Turm zu. Es ist ein weiblicher Tiefsee-Anglerfisch. Immer wieder wirft er sich gegen den Scheinwerfer, ohne das herannahende Tauchboot zu bemerken. Seine Rückenflosse peitscht hin und her; der Köder über seinem Maul, ein leuchtendes wurmförmiges Ding, blitzt wütend auf.

Preteela ist wieder zu Joel hinübergekommen. »Es setzt dem Scheinwerfer ganz schön zu, was?«

Sie hat recht. Die Spitze des Transponders wackelt unter den Schlägen des großen Fisches. Merkwürdig, denn diese Tiere sind zwar riesig, aber eigentlich nicht besonders kräftig. Und bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Turm auch dann hin und her schwankt, wenn der Anglerfisch ihn gar nicht berührt hat …

»Oh, verdammt.« Joel reißt die Steuerung herum. Die Ceratius bäumt sich auf wie ein lebendes Wesen. Das Leuchten des Transponders verschwindet nach unten aus dem Blickfeld; von oben senkt sich undurchdringliche Finsternis herab und verschluckt die ganze Außenwelt. Überraschte Ausrufe der Passagiere. Joel achtet nicht darauf.

In der Ferne ist ein dumpfes Dröhnen zu hören, das von allen Seiten gleichzeitig zu kommen scheint.

Joel drückt auf den Gashebel. Die Ceratius gewinnt an Höhe. Etwas prallt von hinten gegen das Gefährt, das Heck dreht sich nach Backbord und reißt den Bug herum. In der Schwärze jenseits der Sichtluke steigen plötzlich schlammig braune Blasen auf, die vom Licht der Kabinenbeleuchtung angestrahlt werden.

Die Anzeige des Thermistors an der Außenhülle schlägt zwei oder dreimal aus. Die Umgebungstemperatur steigt sprungartig von 4 auf 280°C und sinkt dann wieder. Unter niedrigeren Druckverhältnissen würde die Ceratius durch kochenden Dampf hinabstürzen. Hier dreht sie sich lediglich am Rand der Strömung aus hocherhitztem Wasser im Kreis.

Endlich stabilisiert sich die Lage wieder, die Ceratius ist in ruhigere Eiswasserschichten aufgestiegen. Ein Fischskelett trudelt an der Sichtluke vorbei, das nur noch aus Wirbelsäule und Zähnen besteht, jeder Fetzen Fleisch ist von den Knochen abgekocht.

Joel wirft einen Blick über die Schulter. Preteelas Finger haben sich in die Rückenlehne seines Sitzes gekrallt; ihre Fingerknöchel besitzen dieselbe Farbe wie die Knochen, die vor der Luke vorbeitanzen. Unter der Fracht herrscht Totenstille.

»Eine weitere Thermalquelle?«, fragt Preteela mit zittriger Stimme.

Joel schüttelt den Kopf. »Der Meeresboden ist aufgerissen. In dieser Gegend ist er sehr dünn.« Er bringt ein kurzes Lachen zustande. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es ein wenig holprig werden kann.«

»Mm-hmm.« Ihre Finger lösen sich von Joels Sitz. Im Schaumstoff sind immer noch die Abdrücke ihrer Fingernägel zu sehen. Sie beugt sich vor und flüstert: »Können Sie bitte die Kabinenbeleuchtung ein wenig hochregeln? Bis wir so etwas wie eine nette Wohnzimmeratmosphäre haben …« Damit geht sie nach achtern und kümmert sich um die Fracht: »Na, das war ja aufregend. Aber Joel versichert uns, dass kleine Explosionen wie diese hier unten an der Tagesordnung sind. Kein Grund zur Besorgnis, obwohl sie einen manchmal unvorbereitet treffen können.«

Joel dreht die Kabinenbeleuchtung hoch. Die Fracht sitzt schweigend da, die Köpfe in den Headsets vergraben. Preteela eilt zwischen ihnen umher und beruhigt sie. »Und natürlich ist unser Ausflug noch längst nicht zu Ende …«

Er schaltet auf Echolotanzeige um und richtet sie nach achtern aus. Ein leuchtender Sturm wirbelt über die Positionsanzeige. Darunter ist ein neuer Grat aus hervorquellendem Gestein zu sehen, der sich quer durch die Baustelle der Netzbehörde zieht.

Preteela ist wieder hinter ihm. »Joel?«

»Ja?«

»Es heißt, dass hier unten einmal Menschen leben sollen.«

»Mm-hm.«

»Wow. Wer wird das sein?«

Er blickt sie an. »Haben Sie denn die PR-Threads nicht gesehen? Nur die besten und klügsten Köpfe. Die die ewige Nacht zurückdrängen, um das Feuer der Zivilisation zu entfachen.«

»Im Ernst, Joel. Wer wird hier unten leben?«

Er zuckt die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«