Dass Menschen sich fast überall in Europa in der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten von den Sozialdemokraten abwenden, überrascht nicht nur diese. Man traut ihnen offenbar weniger zu, den Karren aus dem Dreck zu ziehen als jenen, die ihn dort hineinfahren haben lassen …
Ist mit fast dreißig Jahren Verspätung jetzt wirklich Dahrendorfs „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gekommen? Die Autorinnen und Autoren dieses Buchs sagen „Nein“. Es gibt ihrer Ansicht nach noch viel zu tun für eine Partei, die für Bürgersinn, Gleichberechtigung, Bildungschancen, sozialen Ausgleich und friedliches Zusammenleben steht. Um es mit Mark Twain zu sagen: Nachrichten vom Ableben der SPÖ sind stark übertrieben. Anders als bei Twain, der mit dieser Mitteilung bei bester Gesundheit kokettierte, sind bei der SPÖ und vielen ihrer Schwesterparteien in Europa Diagnose und Therapie unabweislich geworden.
Barbara Blaha und Wolfgang Moitzi bringen in dieses Buch den erfrischenden Standpunkt der Jungen ein. Beide werden, wenn sie das so wollen, noch im Jahr 2050 politisch tätig sein – das ist wirklich Zukunft … Werden auch sie sich jahrzehntelang von Gremium zu Gremium hochhanteln müssen, damit sie dann endlich einmal, alt und resignativ geworden, ihrer Enkelgeneration einen Platz an der Parteisonne versitzen?
Harald Katzmair analysiert Ursachen und Ausmaß des gigantischen gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts, den die SPÖ in den letzten Jahren erlitten hat. Wo ist heute die intellektuelle Basis der Partei, wo kann sie heute noch Menschen mit wirtschaftlichem Sachverstand rekrutieren, was muss sie tun, um in der Gesellschaft breiter aufgestellt zu sein?
Wie man ein Reich verspielt … Christian Cap lässt die großen Wirtschaftspleiten der SPÖ noch einmal Revue passieren. Warum sind Konsum, BAWAG und AZ gescheitert? Was lässt sich daraus für die Zukunft lernen? Und was würde der legendäre AZ-Chefredakteur Oscar Pollak wohl Franz Vranitzky bei einem freundschaftlichen Kaffeeplausch zu sagen haben …?
Brigitte Ederer plädiert nach dem offensichtlichen Versagen der Finanzmärkte für ein neues sozialdemokratisches Verständnis der realen Marktwirtschaft – Regulierungen und notwendige Eingriffe inbegriffen.
Markus Marterbauer setzt Wegmarken für eine neue sozialdemokratische Finanz- und Wirtschaftspolitik. Wie lange müssen wir es noch dulden, dass tägliche Arbeit schwer besteuert wird, während das mühelose Einstreichen von Aktiengewinnen steuerfrei bleibt?
Margaretha Kopeinig und Wolfgang Petritsch plädieren für eine europäische Ausrichtung der Sozialdemokratie. Das Zurückziehen auf den Nationalstaat scheint ihnen ganz und gar die falsche Antwort auf die Herausforderungen der Zeit – ein starkes Plädoyer für eine neue sozialdemokratische Europa-Internationale.
Ferdinand Karlhofer geht dem Verhältnis zwischen SPÖ-Gewerkschaftern und Partei nach. Lange Zeit, so sagt er, war die FSG mit Konsum- und BAWAG-Pleite und erstaunlichen Funktionärsprivilegien ein Klotz am Bein der Partei. Heute zieht die schlechte Performance der Partei die FSG bei den Arbeiterkammer-Wahlen hinunter. Die Beziehungen dürften lockerer werden …
Robert Misik analysiert die Ausländerpolitik der SPÖ. Er meint, sie sei seit 20 Jahren ein Trauerspiel, dieses sollte nun beendet werden. Die Partei müsse mit allen Mitteln das Entstehen einer migrantischen Unterschicht vermeiden bzw. beenden, wo diese heute schon Realität ist.
Günther Ogris zeigt eindrucksvoll, dass Österreichs Gesellschaft von heute nichts mehr mit dem Land zu tun hat, in dem Bruno Kreisky die SPÖ von Wahlsieg zu Wahlsieg führte. Würde Kreisky heute noch eine absolute Mehrheit gewinnen? Ogris‘ Analyse: Kreiskys Enkel haben es in der ungleich mehr gegliederten, ungleich mehr von sozialen Widersprüchen geprägten Gesellschaft von heute allem Anschein nach schwerer …
Alfred Gusenbauer hat es schon mit Fünfzig zum Elder Statesman gebracht, Alexander van der Bellen erst mit Fünfundsechzig. Beide sind Menschen mit Tiefgang und Wissen, mit denen sich über die SPÖ fundiert reden lässt – beherzigenswerte Ratschläge an die Parteiführung von heute inbegriffen.
Herbert Lackner vermisst an der SPÖ von heute so gut wie jede fundierte Medienarbeit. Eine Lektion für alle, die sich fragen, warum die SPÖ in den Medien oft schlecht wegkommt. Vielleicht auch eine Lektion für alle, die in der SPÖ dafür zuständig sind, dass das notwendige Zusammenleben mit der Journalistik klappt.
Ich selbst lasse mit einer Träne im Knopfloch den ständigen Abstieg des Kanzlers und der SPÖ-Regierungsmitglieder im öffentlichen Vertrauen noch einmal Revue passieren und verbinde diese Chronik des SPÖ-Schreckensjahres 2009 mit dem Appell, endlich aufzuwachen und damit aufzuhören, auf die Medien böse zu sein, nur weil die PR-Profis der ÖVP ihr Handwerk verstehen und es auch tatsächlich ausüben.
Wien, im März 2010
Josef Broukal
Wolfgang Moitzi
„Jugend am rechten Rand“ (Profil), „Jungwähler: Die Diskothek als Wahlkampfbühne“ (Die Presse), „Was hat Strache, was andere nicht haben?“ (Die Presse) oder „Rechte Jugend?“ (News) – das sind nur einige der Schlagzeilen, die vor allem seit dem JungwählerInnen-Ergebnis der letzten Nationalratswahl im Herbst 2008 die Kommentare der österreichischen Medienlandschaft bestimmt haben und bei breiten Teilen der Öffentlichkeit das Bild manifestiert haben, dass die österreichischen Jugendlichen in Scharen den rechten Parteien nachlaufen. Doch wie schaut die Datenlage wirklich aus? Nach der Wahlrechtsreform 2007 konnten im Jahr 2008 bei der Nationalratswahl erstmals auch schon 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben. Österreich ist damit in Sachen Senkung des Wahlalters Pionier in Europa. Damit waren am 28. September rund 93 000 Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren erstmals wahlberechtigt. Dazu kamen etwa 91 000 ErstwählerInnen, insgesamt kann man also von ca. 184 000 ErstwählerInnen sprechen.
Das Widerstarken der Freiheitlichen bestärkt die Befürchtung, dass die – von der Sozialistischen Jugend geforderte und von der SPÖ umgesetzte – Wahlaltersenkung vor allem der FPÖ zugutekommt. Ein Vorurteil, wie die vorliegenden wissenschaftlichen Daten belegen. Auf Basis einer von Fessel-GfK durchgeführten Wahltagsbefragung bei einer Gesamtstichprobe von 600 Personen wird vermutet, dass 44 Prozent der 16- bis 19-Jährigen der FPÖ ihre Stimme gegeben haben, 25 Prozent der ÖVP, 13 Prozent den Grünen, 10 Prozent der SPÖ, 3 Prozent dem BZÖ und 3 Prozent anderen Parteien. Auf einer etwas größeren Stichprobe, nämlich 1 200 Personen, beruht eine im Auftrag des ORF von SORA durchgeführte Wahltagsbefragung. Darin sind allerdings die ErstwählerInnen nicht extra ausgewiesen. Unter dem Titel „JungwählerInnen“ wird hier auf die unter 30-Jährigen Bezug genommen, also eine Gruppe, die die jugendlichen ErstwählerInnen ebenso erfasst wie junge Erwachsene, die mehrheitlich schon im Berufsleben stehen. Wahlsiegerin war bei dieser Befragung ebenfalls die FPÖ mit 25 Prozent der Stimmen. Es folgen die ÖVP mit 23 Prozent, die SPÖ mit 21 Prozent, die Grünen mit 14 Prozent, das BZÖ mit 13 Prozent und „andere“ mit 4 Prozent. Zur selben Fragestellung kommt übrigens Fessel-GfK zu deutlich abweichenden Zahlen (Fessel-GfK: 33 Prozent FPÖ, 20 Prozent ÖVP, 14 Prozent SPÖ, 14 Prozent Grüne, 10 Prozent BZÖ).
Trotzdem ist ein dramatischer und besorgniserregender Absturz der Sozialdemokratie bei den Jung- und ErstwählerInnen erkennbar. Ein Absturz, der der SPÖ ein denkbar schlechtes Zeugnis im Umgang mit jungen Menschen ausstellt. Was natürlich die Frage nach den Gründen aufwirft.
Nun gab es in der medialen Öffentlichkeit zwei Erklärungsansätze für das Wahlverhalten der Jugendlichen: die einen, die die Jugend am rechten Rand verorten, und die anderen, die von einer Protestwahl gegen den Stillstand und den Streit in der Großen Koalition sprechen. Beide Ansätze haben zwar recht, denn es ist tatsächlich so, dass immer mehr Jugendliche wie auch Erwachsene offenbar kein Problem damit haben, Parteien zu wählen, die einen offenen rassistischen Wahlkampf führen, und es trifft auch zu, dass die Große Koalition an allen wichtigen Herausforderungen in den Jahren 2006 bis 2008 gescheitert ist. Doch greifen beide Analysen zu kurz: Worum es im Kern geht, ist die Frage, inwieweit Politik für Jugendliche greifbar ist, inwieweit sich Politik mit den realen Lebenswelten der Jugendlichen auseinandersetzt und ob der Politik von den Jugendlichen Lösungskompetenz im Sinn sozialer Sicherheit und sozialem Aufstieg zugetraut wird. Denn wenn man sich Jugendstudien näher ansieht, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem politischen Interesse der Jugendlichen bzw. ihrer im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt liegenden Wahlbeteiligung und der Bereitschaft, sich zu engagieren und aktiv am politischen System teilzuhaben. Das heißt, es gibt offensichtlich eine Barriere, die Jugendliche davon abhält, Politik und Demokratie mitzugestalten.
Diese wichtige Erkenntnis ist eine zentrale Herausforderung für die Sozialdemokratie, aber auch für die Sozialistische Jugend. Denn es geht darum, das politische Interesse von Jugendlichen zu fördern und für das aktive Mitgestalten von Politik und Demokratie zu gewinnen. Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben für die Sozialdemokratie, ein überarbeitetes, modernes und zur Mitgestaltung einladendes Organisationsprinzip zu entwickeln, das die Sozialistische Jugend seit ihrer Gründung als ArbeiterInnenjugend vor mittlerweile schon 115 Jahren und noch immer als eines ihrer Leitprinzipien verfolgt – die politische Organisierung vor Ort, das Abholen von Jugendlichen in ihren jeweiligen Lebensrealitäten, in gewisser Weise die „kleinen Blutgefäße“ vor Ort der Gesellschaft zu sein, um das gesellschaftliche Leben vor Ort und in der Stadt mitzugestalten.
Viele Jugendliche sehen laut diverser Studien[1] Politik als etwas Abstraktes, eine abgetrennte Sphäre, die wenig Auswirkung auf ihre Lebensrealität hat. Schlimmer: „Für viele Jugendliche ist politisches Handeln die Aktivität von Parteien und PolitikerInnen (so wie für sie Demokratie durch das Wählen bestimmt ist). Dieses enge Verständnis von Politik steht mit der Umdefinition politischen Handelns als nicht politisch im Zusammenhang. Es findet eine Trennung zwischen Dingen, die PolitikerInnen und Parteien betreffen, und jenen, die zwar politisch sind, nicht aber als solche wahrgenommen werden, statt.“[2]
Und genau hier gilt es anzusetzen, nämlich aufzuzeigen, dass alle Lebensbereiche politisch beeinflusst und konstituiert sind, dass durch politische Aktivität die Lebensumstände gestaltbar sind, dass es sich für jeden und jede auszahlt, sich einzubringen und mitzureden, weil man etwas verändern kann. Politik darf sich nicht als bloße Vollstreckerin von ökonomischen und globalisierten Sachzwängen sehen, sondern muss die aktive Gestaltung von Gesellschaft und Demokratie in den Vordergrund stellen. Ein enges Politikverständnis erschwert sicherlich die Vermittlung fortschrittlicher Positionen, da bei der heutigen Jugend ein formelles Politikbild vorherrscht, das gesellschaftliche Zusammenhänge eher verschleiert als freilegt.
Daher ist es wichtig, entsprechend zu reagieren und das Politikverständnis junger Menschen zu verändern. Die Einbindung von Jugendlichen in die aktive Gestaltung von Politik und Gesellschaft lässt sich aber nur dann bewerkstelligen, wenn die Sorgen, Ängste und Probleme der Jugendlichen ernst genommen und offen angesprochen werden, ohne Vorverurteilung und vorgefertigte Antworten. Das heißt für die Sozialdemokratie, ihre Strukturen für die verschiedensten Zugänge von jungen Menschen offen zu halten und auf veränderte Rahmenbedingungen einzugehen. Denn Politisierung von Jugendlichen heißt, sich intellektuell und praktisch auf andere zu- und nicht von anderen wegzubewegen. Dafür braucht es eine gezielte Auseinandersetzung mit diesen Lebensrealitäten und Problemlagen, damit die Sozialdemokratie als Organisation mit neuen Entwicklungen umgehen kann. Und dafür muss direkt mit den Jugendlichen in Kontakt getreten werden, vor Ort, in den Schulen und Universitäten, in den Betrieben oder in den Parks und Freizeitanlagen. Der Kontakt mit Jugendlichen auf allen Ebenen muss Grundbestandteil sozialdemokratischer Jugendpolitik sein. Wenn die Sozialdemokratie es schafft, mittels kommunaler Einbindung, aber auch politischer Bildungsarbeit und Sensibilisierung für politische Themen auf nationaler und internationaler Ebene die Bedeutung politischen Handelns für die Lebensumstände der Jugendlichen aufzuzeigen, leistet sie einen Beitrag zur Politisierung und Demokratisierung der Gesellschaft. Diese Partizipation von Jugendlichen ist eines der wesentlichen Merkmale der Demokratie, jedoch zeigen sich hier die verkrusteten Strukturen der Beteiligungsformen innerhalb der Partei, aber auch in den staatlichen Institutionen, was dazu führt, dass „die Jugend heute offenkundig politisch weniger von einem radikalen Widerspruch zu bestehenden Verhältnissen getrieben scheint, sondern eher von Distanz und Desillusionierung-“[3]
Diese offensichtliche Distanz und die wahrgenommenen Hürden zeigen sich auch im Vergleich der Jugendwertestudien aus den Jahren 1990, 2000 und 2006/07: Dieser Zeitvergleich belegt, dass die politischen Aktivitäten sowohl bei den männlichen wie den weiblichen Jugendlichen deutlich abgenommen haben. So zum Beispiel bei Unterschriftensammlungen (1990: 59%, 2006: 32%) oder bei Demonstrationen von 30% im Jahr 1990 auf nunmehr nur 15% (2006).[4]
Das lässt unter anderem den Schluss zu, dass Jugendliche wenig Vertrauen in die derzeitige Ausgestaltung der Partizipationsmöglichkeiten haben. Diese Distanz gilt es zu überwinden, wenn die Sozialdemokratie wieder an gesellschaftlicher Verankerung gewinnen will, wofür durchaus viele Chancen bestehen. So haben sich neben einer sicher feststellbaren Entsolidarisierung und zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft aufgrund des neoliberalen Wandels seit den 80’er Jahren, auch neue Möglichkeiten ergeben, mit modernen Methoden traditionelle Strukturen mit neuem Leben zu erfüllen. Mit der zunehmenden Verbreiterung des Internets und sozialer Netzwerke (Twitter, Facebook usw.) ist ein neues Leitmedium der Jugend als eine direkte und im Unterschied zum TV duale Kommunikationsmöglichkeit mit partizipativem Potenzial entstanden, das die Sozialdemokratie für sich nützen kann. Voraussetzung dafür ist aber, dass Jugendliche wirklich in Entscheidungsprozesse eingebunden werden und gehört werden, denn nichts ist fataler, als Jugendliche zu Wort kommen zu lassen und sie dann mit den Erfahrungen über die mangelnde Wirksamkeit ihres Engagements allein zu lassen. Dafür bedarf es auch eines notwendigen organisatorischen und inhaltlichen Muts, die derzeitigen verkrusteten und wenig durchlässigen Strukturen der SPÖ zu durchleuchten und danach grundlegend zu ändern.
Denn wenn sie es nicht macht, werden sich Jugendliche weiterhin außerhalb der Sozialdemokratie oftmals für prinzipiell sozialdemokratische Inhalte organisieren, wie zum Beispiel die österreichweiten Universitätsproteste oder die Lichterkette gegen Rassismus um das Parlament gezeigt haben. Aber neben dieser organisatorischen Frage, wie Partizipation wieder erlebbar gemacht werden kann und mehr Demokratie gewagt werden kann (Willy Brandt), ist natürlich auch die inhaltliche Ausdünnung und Beliebigkeit der Sozialdemokratie in Österreich – aber auch europaweit – eine wesentliche Ursache der mangelnden Attraktivität auf junge Menschen. Doch wie schauen die Werte der Jugendlichen heutzutage aus?
Prinzipiell ist festzuhalten, dass man in der heutigen Soziologie davon ausgeht, dass es „die Jugend“ nicht gibt, die gemeinsame Interessen, Kultur und dergleichen hat, sondern dass es eine immer breiter gefächerte Differenzierung in verschiedene Lebenslagen und Lebensstile der Jugendlichen gibt. Während man jahrelang von einer postmaterialistischen Jugend ausging, unter der der Soziologe Ronald Inglehart eine Wertehaltung zur Erfüllung des Lebens durch Selbstverwirklichung und im Engagement für Gesellschaftsutopien gesehen hat,[5] sieht man seit ca. der Jahrtausendwende die These Ingleharts kritisch. Galten im Jahr 1980 noch 50% der deutschen Jugendlichen als PostmaterialistInnen, so konnten im Jahr 2002 nur mehr 25% dieser Einstellung zugeordnet werden.[6] Eine Entwicklung, die auch in Österreich vonstattenging bzw. -geht und die direkte Auswirkungen auf die politischen Wahlergebnisse hat. So ging der Anteil der 18- (bzw. 16-) bis 29-jährigen WählerInnen der SPÖ von 1986–2008 von 39% auf 14% zurück, während der der FPÖ von 12% auf 33% stieg.[7]
Dies ist sicher damit zu begründen, dass immer weitere Teile des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Profitmaximierung unterworfen werden und damit die Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft gewandelt wird. Damit einhergehend zeigt sich auch, dass die Politik in immer stärker werdendem Ausmaß den „Marktgesetzen“ unterworfen wird und daher immer mehr Jugendliche ihr politisches Engagement im Verhältnis zu ihrem persönlichen Nutzen bestimmen und damit idealistische Motive in den Hintergrund rücken, was – als Treppenwitz der Geschichte – von der Sozialdemokratie mitgestaltet wurde und ihr jetzt das Leben massiv erschwert.
Jedoch teilen sich noch immer bei Wahlentscheidungen im Wesentlichen die Jugendlichen in zwei Großgruppen auf: Diese teilen sich rund um die Themen Bildung und Stellung im Arbeitsprozess.[8] Damit zeigt sich, dass „das Sein noch immer das Bewusstsein“ bei der politischen Meinungsbildung bewirkt. Bei den Jugendlichen handelt es sich im Wesentlichen um zwei Gruppen, die unterschiedliche Jugendkulturen, Interessen, Sprache und sozioökonomischen Hintergrund haben:
Während erstgenannte Gruppe eher massenkulturellen Angeboten nachhängt und materialistisch denkt, inszeniert die bildungsnahe Gruppe einen postmaterialistischen Individualismus, der sich klar von der breiten Masse abheben soll. Damit stehen diese unterschiedlichen Milieus auch in vielen politischen Entscheidungen auf anderen Seiten: Für junge ArbeitnehmerInnen ist das Thema Nummer eins „Zuwanderung“, was durch ordnungsstaatliche Eingriffe „gelöst“ werden soll, während die bildungsnahen Schichten Zuwanderung als Chance und kulturelle Bereicherung ansehen. Oder die Rolle des Staats und der Politik: Erstere sehen den Staat eher als Servicefunktion und erachten Politik als notwendig, im persönlichen Kontext aber als nicht so wichtig. Und wenn Politik, dann möglichst einfach und im passenden Lifestyle, während die bildungsnahen Schichten an Politik vielmehr teilhaben und mitmachen wollen und diese im stärkeren Maße inhaltlich differenzieren. Für eine erfolgreiche sozialdemokratische Jugendpolitik ist es daher notwendig, beide „Großgruppen“ der Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen Inhalten, ihrer Kommunikation und Ästhetik differenziert anzusprechen und zu erreichen.
Daher möchte ich im Folgenden Thesen zur Diskussion stellen, die das bisher Geschriebene versuchen zu verbinden und die beiden Gruppen von Jugendlichen sowohl kommunikativ als auch thematisch ansprechen sollen.
Eine historische Stärke der Sozialdemokratie war es viele Jahrzehnte lang, ein allumfassendes politisches Gegenkonzept gegenüber den bürgerlichen Parteien zu haben. So stand dieses einer konservativen Bildungspolitik, Kulturpolitik, Frauenpolitik aber vor allem einem ausschließlich auf Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaftssystem diametral gegenüber. Doch spätestens seit dem Zusammenbruch des angeblich oder als real behaupteten Sozialismus in der ehemaligen UdSSR sickerte immer mehr neoliberale Programmatik in die Sozialdemokratie ein, sodass sogar viele SozialdemokratInnen den neoliberalen Schlachtruf „TINA – there is no alternative“ übernahmen und beim großen Privatisieren und Liberalisieren europa- und weltweit mitmachten.
Die Sozialdemokratie wurde durch die immer weitere Vorantreibung des Freihandels und der daraus folgenden Standortwettbewerbslogik schleichend geschwächt und vom Neoliberalismus infiziert. Durch diese Schwächung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung in Österreich und in Europa verschwand eine ideologische Gegenwehr de facto über Jahre und Jahrzehnte komplett, während die Neoliberalen intellektuell und in ihrer politischen Propaganda massiv aufgerüstet haben – repräsentiert in Österreich auch durch Wolfgang Schüssel und sein Dogma „Mehr privat, weniger Staat“. Die Sozialdemokratie hat gleichzeitig den Fehler gemacht, Grundsatzarbeit zu vernachlässigen, ja sogar fast vollständig aufzugeben. Aber auch in der Auswahl des politischen Personals wurde und wird auf eine fundierte politisch-ökonomische Ausbildung und Kenntnis keinerlei Wert mehr gelegt und die Querverbindung in den akademischen Diskurs sträflich vernachlässigt. Das Ergebnis dieser Entwicklung: Die Partei wurde immer mehr zu einem Wahlverein und weniger zu einer Gesellschaftsbewegung, die auch gesellschaftsbildend agiert (Vernachlässigen des Mitgliederprinzips, das Kappen bzw. Vernachlässigen von Verbindungen und einem Diskurs mit Intellektuellen und KünstlerInnen uvm.). Aber auch das letzte große sozialdemokratische Leitmedium, die „Arbeiterzeitung“, wurde eingestellt und von der Ausrichtung der Pressearbeit durch die Krone ersetzt. Die Folgen davon: Die Sozialdemokratie ist intellektuell nicht mehr selbstverteidigungsfähig, ideenlos und wird nur mehr als machtpragmatisch angesehen.
Ersichtlich wird diese inhaltliche Krise bei der ständigen Liberalisierung der Finanzmärkte unter Mitwirkung sozialdemokratischer Regierungen. Dadurch wurden den Finanzmärkten Spekulation und Quasi-Betrug Tür und Tor geöffnet und durch die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme flossen immer größere Geldmengen in die Finanzmärkte. Als Beispiel dafür entpuppt sich gerade die „private Pensionsvorsorge“ bei gleichzeitiger Kürzung öffentlicher Pensionsleistungen als der größte Betrug der vergangenen Jahre. Die Pensionsvorsorge von Millionen von Menschen wird in einer solchen Finanzkrise ja nicht nur gefährdet, sie selbst ist es, die durch die Veranlagung privater Versicherungsbeiträge auf den Finanzmärkten Teil der großen Spekulationsblase wird, die nun zu platzen droht, womit ihr natürlich auch ein massives Glaubwürdigkeitsproblem europaweit entstanden ist. Und wenn man auf die politische Landkarte Europas sieht, ist das mehr als offensichtlich.
Daher ist es für die sozialdemokratische Bewegung dringend notwendig, gerade in dieser Situation nicht aus den Augen zu verlieren, dass die gegenwärtige Finanzkrise keine Verkettung unglücklicher Zufälle, sondern Ausdruck einer schweren Krise des Kapitalismus ist, dessen Krisenanfälligkeit einem systemimmanenten Zwang unterliegt. Diese Krisenanfälligkeit und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zerstörungen machen die Alternative einer gerechteren und solidarischen Wirtschaftsordnung mehr denn je notwendig. Die Krise ist aber nicht zuletzt auch Ausdruck einer gescheiterten neoliberalen Strategie, diese Krise zu übertünchen. Die notwendigen Gegenmaßnahmen sind der Beleg dafür, dass selbst Neoliberale und Konservative durch ihr konkretes politisches Handeln zugeben mussten bzw. müssen, dass die Wirtschaft ohne solidarische, öffentlich-staatliche Intervention nicht funktioniert. Deshalb stellt sich die entscheidende Frage, warum in Zukunft nicht das gescheiterte neoliberale Dogma von „mehr Privat, weniger Staat“ umgekehrt werden soll?
Dafür muss die Sozialdemokratie aber wieder ein umfassendes politisches Konzept entwickeln und nicht der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte hinterher hecheln. Mit der „Denkfabrik“[9] gibt es in Österreich einen ersten Ansatz dazu, wieder ein glaubwürdiges sozialdemokratisches Konzept für das 21. Jahrhundert zu entwickeln. Wenn die Sozialdemokratie ein solches Gesamtkonzept erarbeitet hat, muss sie dieses aber auch in der alltäglichen politischen Praxis umsetzen und anwenden. Glaubwürdig zu sein, heißt nicht: Nichts zu versprechen, weil man ohnehin weiß, dass man nichts halten wird. Glaubwürdig sein heißt, zu den Grundwerten der Sozialdemokratie zu stehen und sie auch in der Tagespolitik umzusetzen. Von Bruno Kreisky stammt das auch noch heute zutreffende Zitat: Nichts ist für eine erfolgreiche Praxis so nützlich wie eine gute Theorie – damit hatte er zweifellos recht, denn nur wenn man weiß, welche politischen Visionen eine Bewegung hat, in welche Richtung man eine Gesellschaft weiterentwickeln will, kann die Sozialdemokratie in der alltäglichen politischen Praxis auch danach handeln und eine linke, progressive Politik gestalten und damit Menschen für ihre Politik gewinnen. Doch wo sind diese Visionen zurzeit? Wo sind eigenständige, klar erkennbare politische Konzepte der SPÖ? Wo merken Wählerinnen und Wähler, dass die Sozialdemokratie nicht eine nur leicht abgeschwächte ÖVP-Politik betreibt? Das alles zeigt, dass die Sozialdemokratie inhaltlich beliebig und austauschbar wurde und so vor allem Jugendliche zur scheinbar einzig klar erkennbaren politischen Alternative – der FPÖ unter Strache – gehen. Aber Echtheit und Authentizität ist Jugendlichen wichtig, und ohne inhaltliche Konzepte lassen sich diese wohl nicht bewerkstelligen.
Die Verteilungsfragen wirken nur auf den ersten Blick diffus und unkonkret, jedoch fängt man am besten dort an, wo die Jugendlichen direkt betroffen sind. Die laut Nachwahlbefragungen, – aber auch laut vielen persönlichen Diskussionen und Gesprächen mit Jugendlichen –, für Jugendliche besonders wichtigen Interessensgebiete sind eben jene, die sie direkt in ihrer Umgebung betreffen: Arbeitsmarkt, Bildung, Wohnen und Integration. Wenn Jugendliche davon sprechen, dass sie eine schlechte Meinung von politischen Parteien und AkteurInnen, der Regierung oder demokratischen Institutionen wie dem Parlament haben, dann ist das keine grundsätzliche Ablehnung gegenüber politischen Institutionen, sondern Abbild der Politik, die dort gemacht wird. Daher ist eine programmatische Antwort auf die Lebenslagen junger Menschen zentral. Jugendliche sind sich bewusst, dass sie sich in einer unsicheren Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation befinden und erwarten von der Politik eine konkrete Verbesserung ihrer Lage und Zukunftschancen.
„Im Grunde zeichnen die jungen WählerInnen ein eher pessimistisches Bild von ihrer Zukunft. 42% der Befragten vertreten die Meinung, dass ihre Einkommenssituation in zehn Jahren schlechter sein wird als die ihrer Eltern zum jetzigen Zeitpunkt. Außerdem geht jeweils die Hälfte davon aus, dass ihre Arbeitsplatzsituation und ihre Altersabsicherung schlechter sein werden als die ihrer Eltern jetzt. Im Hinblick auf die Einkommenssituation bewerten die weiblichen Befragten ihre Zukunft noch einmal signifikant pessimistischer als ihre männlichen Kollegen: Während 41% der männlichen Jugendlichen der Ansicht sind, dass ihre Einkommenssituation in zehn Jahren ziemlich bis sehr viel schlechter sein wird als die ihrer Eltern jetzt, geben selbiges 47% der weiblichen Befragten an.“[10]
Dies zeigt besonders dramatisch die Angst der Jugendlichen vor dem sozialen Abstieg. Denn diese negative Zukunftserwartung gepaart mit einer rasant steigenden Jugendarbeitslosigkeit, der Lücke am Lehrstellenmarkt, sowie der zunehmenden Prekarisierung junger Arbeitskräfte und einer auf uns zukommenden Budgetkonsolidierung – die dadurch wieder nicht notwendige Budgetaufstockungen in das Bildungssystem oder die Universitäten erlaubt – ist ein potenzielles Einfallstor für demagogische Hetze. Aber es ist auch eine große Chance für die SPÖ, wenn sie es versteht, den zukunftsskeptischen Jugendlichen ein Bündnis für soziale Sicherheit und sozialen Aufstieg anzubieten. Ein mithilfe einer höheren Vermögensbesteuerung gewonnener finanzieller Spielraum soll auch speziell für die soziale Absicherung junger Menschen genutzt werden. Denn, obwohl für sie die soziale Frage brennend ist, dringt die SPÖ offensichtlich nur mangelhaft zu ihnen durch.
Es darf nicht sein, dass die Zeche für diese Krise nun junge ArbeitnehmerInnen und Jugendliche in den nächsten Jahren über Sparpakete zahlen müssen und dadurch ihr Vertrauen in die Politik im Allgemeinen und den Sozialstaat im Speziellen weiter ramponiert wird. So glauben ohnehin nur mehr wenige Jugendliche an die Finanzierbarkeit des staatlichen Pensionssystems oder haben die Hoffnung auf normale Anstellung im Arbeitsleben aufgegeben. Drei Viertel geben an, sich große oder eher große Sorgen über Arbeitslosigkeit zu machen,[11] 40% meinen, dass die Regierung zu wenig zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit unternimmt.[12] Oder als drittes Beispiel die veränderten Arbeitswelten. So sind atypische Beschäftigungen für junge Menschen schon typisch und die „Generation Praktikum“ nicht nur ein mediales Schlagwort, sondern zigtausendfach gelebte Realität. Auf diese Schieflage bei der Verteilung von Arbeit muss die Sozialdemokratie in einer ihrer Kernkompetenzen wieder Antworten finden und Lösungen präsentieren. Es kann beispielsweise nicht sein, dass trotz ständig wachsender Produktivität die Arbeitszeiten gleich bleiben, ja sogar noch ausgeweitet werden oder PflichtpraktikantInnen noch immer keine adäquate rechtliche Absicherung haben und per moderner Form der Sklaverei ausgebeutet werden. Jedoch reicht dieses für die Sozialdemokratie und für die Menschen so zentrale Thema weit über Österreich hinaus. Der Kampf um gerechte Arbeitsverhältnisse und das Ziel der Vollbeschäftigung wäre eine wichtige politische Klammer aller sozialdemokratischen Parteien Europas, denn ein immer radikaler werdender Nationalismus und die Angst vor der Zukunft sind eine Folge des Wettkampfs um Arbeitsplätze. So könnte die sozialdemokratische Bewegung ihre internationalen Wurzeln wieder verstärkt beleben und der Globalisierung des Kapitals endlich einen Entwurf zum Thema Arbeit als konkrete Strategie für die Schaffung neuer Arbeitsplätze entgegenhalten. Bei über zwanzig Millionen Erwerbslosen europaweit wohl höchst an der Zeit.
Eine konkrete Möglichkeit wäre es, das Ziel der Vollbeschäftigung wieder in den Mittelpunkt sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik zu stellen und ein europäisches Konjunkturpaket zu schnüren, dass das Hauptziel verfolgt, eine ökologische Wende und dadurch einen Einstieg zum Ausstieg aus den fossilen Energieträgern einzuleiten. Damit wären enorme arbeitsmarktpolitische Chancen verbunden und die dringend notwendige ökologische Wende mit einer sinnvollen Arbeitsmarktpolitik verbunden. Die Energiewende ist nicht nur eine dringende ökologische Herausforderung, sondern vielmehr eine der größten sozialen Zukunftsfragen, um auch in den nächsten Jahrzehnten allen Menschen – unabhängig von ihrer sozialen Lage – Zugang zu leistbarer Energie zu gewähren.
Ein zweiter konkreter sozialdemokratischer Anknüpfungspunkt wäre es, innerhalb der Europäischen Union das Ziel der Vollbeschäftigung verbindlich festzuschreiben und zu einer fünften Grundfreiheit der sozialen Sicherheit (Recht auf Arbeit, auf Ausbildung, auf Wohnen usw.) auszubauen. Dadurch würde der alte, aber immer noch gültige Slogan „social Europe for everyone“ endlich mit politischem Leben erfüllt werden!
Ein weiteres Thema, wo Chancen der Jugendlichen noch ungerecht verteilt sind, ist das österreichische Bildungssystem. Das derzeitige Schulsystem, das SchülerInnen schon im Alter von 9 bis 10 Jahren in Hauptschule oder AHS auseinanderdividiert, verstärkt (wie eine Studie nach der anderen beweist) soziale Unterschiede, anstatt sie zu entschärfen. Neben den Steuern für das staatliche Bildungssystem zahlen Eltern in Österreich rund 140 Mio. Euro für Nachhilfe pro Jahr. Trotzdem bleiben jährlich rund 35 000 SchülerInnen sitzen – weitere Mehrkosten von mindestens 500 Mio. Euro pro Jahr für Eltern und Staat. Allein das sind Bankrotterklärungen für das heimische Bildungssystem. Die von vielen Studien aufgezeigten Leistungsschwächen, Notendruck und Schulangst sind Folgen davon.
Höchste Zeit also für einen Systemwechsel, der Gleichheit im Bildungssystem bringt. Gleichheit muss für die Sozialdemokratie bedeuten, dass alle Menschen, egal welcher sozialen Herkunft, welchen Geschlechts oder welcher Nationalität die gleichen Möglichkeiten auf Bildung haben. In Österreich ist das theoretisch auch so. Es gibt kein Gesetz, das Kindern mit ärmeren Eltern verbietet, eine teure Privatschule zu besuchen, und es ist auch nicht gesetzlich verboten, dass MigrantInnen maturieren. Dennoch entscheidet meist die Geldbörse der Eltern über den weiteren Bildungsweg (und somit über die beruflichen Möglichkeiten) der Kinder und nicht deren Interessen und Fähigkeiten, was – glücklicherweise – auf immer größer werdenden Unmut in der Gesellschaft stößt, vor allem bei SchülerInnen und Studierenden. Im Frühjahr 2009 waren 70 000 SchülerInnen und im Herbst 50 000 Studierende wochenlang auf der Straße, um gegen diese Auswirkungen eines schwarzen Bildungsjahrzehnts unter Hahn und Gehrer zu protestieren. Aber wo blieb während der Proteste die politische Perspektive der Sozialdemokratie für diese engagierten Jugendlichen, wo waren die alternativen Konzepte für eine sozialdemokratische Hochschule? Statt die ÖVP-Verantwortlichen dafür zu attackieren, dass sie die Unis ausgehungert und Bildung zur Ware gemacht haben, hat man aus Rücksicht auf den Koalitionspartner lieber von Zugangsbeschränkungen gesprochen. Wer solche Chancen vorbeigehen lässt, eine ganze Generation für unsere Partei zu gewinnen, der braucht sich über schlechte Ergebnisse im Jugendbereich wirklich nicht zu wundern.
Chancen wurden in den letzten Jahrzehnten auch im Integrationsbereich zuhauf vergeben. Während die Freiheitlichen, im Gegensatz zu anderen Parteien ununterbrochen seit 30 Jahren das Thema „Integration“ oder besser gesagt das Thema „AusländerInnen“ besetzen, hüllt sich der Rest der Parteienlandschaft mehr oder minder in Schweigen, steht in der Defensive und entwickelt aus einer Angst, mit diesem Thema nur verlieren zu können, kein Konzept, wie man das Zusammenleben vor Ort verbessern könnte. Statt nach Wegen zu suchen, die soziale Unausgeglichenheit zwischen einem großen Teil der MigrantInnen und der Mehrheitsbevölkerung zu beenden und damit Teilhabe überhaupt zu ermöglichen, schwenkt die SPÖ zu einem immer bedenklicheren „Law & Order“-Kurs, der für die Sozialdemokratie nur kontraproduktiv sein kann.
Die Definition der „Integration“ von MigrantInnen wird in Österreich zum größten Teil „kulturalistisch“ gehalten. So werden Diskussionen um „das Kopftuch“ als Entscheidungsmoment für oder gegen eine gelungene Integration hochstilisiert, aber gleichzeitig Sozialhilfe, gleichberechtigte Wohnungsvergaberichtlinien für MigrantInnen als kulturelles Angebot der Mehrheitsgesellschaft und nicht als Grundrecht gesehen. Man vergisst also auf die realen Lebensumstände eines Großteils der MigrantInnen: Substandardbehausungen, niedrige Löhne, schwerer Zugang zu Arbeit und Bildung usw. erschweren die Teilhabe an einem dynamischen Prozess des Zusammenfügens und Wachsens. Denn Teilhabe bedingt Chancengleichheit im gesellschaftlichen und sozialen Dasein für alle Menschen. Solange diese sozialen Probleme nicht gelöst werden, wird es den Rechten in Österreich weiter gelingen, die Sorgen und Ängste von Jugendlichen zu kanalisieren und soziale Probleme mit ihrem Rassismus zu überlagern und somit neue gesellschaftliche Trennlinien diskursiv zu etablieren. Solange man sich aber nicht einmal ein eigenes Integrationsstaatsekretariat fordern traut, wird man wahrscheinlich weiter den rassistischen Diskurs der anderen Parteien folgen. Die Ergebnisse daraus sind dann jedoch ohnehin bekannt.
Völlig ausgeblendet in der aktuellen Asyldebatte werden auch internationale Aspekte bzw. Perspektiven, denn internationale Migrationsströme sind die Folge einer völlig ungerechten Weltwirtschaftsordnung, in der auch Europa – und somit auch Österreich – eine unrühmliche Rolle spielt. Als Beispiel eignet sich, wie Jean Ziegler in seinem aktuellem Buch ausführt, vor allem die Agrarausfuhrstützung, die afrikanische Länder mit Billig-EU-Landwirtschaftsprodukten überschwemmt und somit den afrikanischen Bauern und Bäuerinnen die Lebensgrundlage entzieht. Die Folge sind Binnenwanderung in die Großstädte und oftmalig die Weiterwanderung vieler in den Norden/Westen. Eine fairere Welthandelsordnung würde dazu beitragen, nicht die Lebensgrundlage vor Ort zu zerstören, sondern vor Ort Lebensperspektiven zu schaffen. Aber Kreisky, Brandt und Palme waren mit dem Marshall-Plan für den Süden leider die Letzten, die versucht haben, hier effektiv gegenzusteuern und einen Nord-Süd- Ausgleich zu schaffen. Deshalb muss die internationale Solidarität wieder ein zentrales Element der Sozialdemokratie werden.
Klar ist aber: Auch wenn die Sozialdemokratie in ihrem inhaltlichen Auftreten wieder attraktiv für Jugendliche ist bzw. wird, daher das Leben der Jugendlichen tatsächlich nachhaltig und greifbar verbessert werden kann und Konfliktlagen entschärft werden können, ist zwar viel gewonnen, aber noch lange nicht alles. Will eine Jugendorganisation und eine Partei auf Dauer erfolgreich im Neuansprechen, Organisieren und Politisieren möglichst vieler Jugendlicher sein, gilt es, sich permanent auch kommunikativen Veränderungen zu stellen. Daher müssen die „Sende- und Empfangsfrequenzen“ laufend an unsere Zielgruppen angepasst und nachjustiert werden. Dafür ist es, wie zu Beginn schon erwähnt, unerlässlich, uns selbst und unsere Strukturen für neue junge Menschen, gerade dann, wenn sie noch wenig bewusst politisiert sind, offen zu halten. Dafür braucht es eine gezielte Auseinandersetzung mit diesen Lebensrealitäten und Projekte, damit wir als Bewegung mit neuen Entwicklungen, wie z.B. mit der veränderten jugendlichen Kommunikationswelt umgehen können.
Junge Menschen definieren sich und ihre Lebenswelten stark mithilfe jugendkultureller Ausdrucksformen. Freizeitverhalten, Musik, Mode, Zugehörigkeit zu Jugendszenen sind dabei wichtige Bausteine. Dabei müssen wir jedoch besonders darauf achten, dass wir als Sozialdemokratie sowohl die Gruppe der jungen ArbeitnehmerInnen wie auch der bildungsnahen Jugendlichen ästhetisch und mit den richtigen Slogans und Inhalten erreichen.
Daher müssen wir jugendkulturelles Engagement fördern und unterstützen, ja uns mit Jugendkultur in all ihrer Breite und Spezifikation aktiv auseinandersetzen und uns zu einem breiten Jugendkulturverständnis bekennen. Ohne jedoch auch auf unsere Aufgabe zu verzichten, jene Aspekte von Jugendkultur zu kritisieren und eine kritische Auseinandersetzung mit diesen zu provozieren, die politisch problematische Inhalte, wie z.B. neoliberales, frauenfeindliches, rassistisches oder rechtsextremes Gedankengut, transportieren. Weil wir wissen, dass Jugendkultur Räume eröffnen kann, in welchen junge Menschen sich selbst und ihre Lebensumstände ein Stück weit aktiv und eigenverantwortlich mitgestalten können, kann Jugendkultur ein Mehr an Selbstbestimmtheit bedeuten, weil sie eben über bloßes Konsumverhalten hinausgehen kann und deshalb emanzipatorischen Charakter in sich trägt, welchen wir im Sinne eines umfassenden Kulturverständnisses forcieren. Weiters ist für uns die Ermöglichung von jugendkulturellen Eigenengagements ein wichtiger gesellschaftspolitischer Beitrag, um gleichberechtigte Beteiligungs- und Lebenschancen für sozial weniger Privilegierte zu gestalten und zu eröffnen.
Besonders essenziell ist dabei die Weiterentwicklung des starken Organisationsprinzips der Sozialdemokratie. Auch wenn immer wieder Stimmen laut werden, ob eine starke Parteiorganisation überhaupt noch notwendig und zeitgemäß ist, zeigt sich vor allem bei vielen außerparlamentarischen Initiativen und sozialen Projekten, dass Jugendliche bereit sind, sich für Veränderung lokal zu engagieren. Dafür muss die SPÖ – aber wie oben erwähnt – die Rahmenbedingungen schaffen und Partizipation zulassen. Denn das Ziel der Sozialdemokratie muss es sein, nicht nur jugendliche WählerInnengruppen zu mobilisieren, sondern vielmehr langfristige Strategien zur Einbindung von Jugendlichen in politische Entscheidungsprozesse. Strategie und Stärke der ArbeiterInnenklasse war dabei historisch immer die eigene Organisation. Basierend auf der Erkenntnis, dass der autonome Zusammenschluss die entscheidende Voraussetzung für den politischen Erfolg ist, entwickelte speziell die österreichische Sozialdemokratie ihre eigene rote Gegenwelt. Diese unsere „Organisation“ ist unser wichtigstes Interventionsinstrument, um unseren fortschrittlichen Veränderungsanspruch vom geschriebenen oder gesprochenen Wort auch tatsächlich in die Tat umzusetzen. Denn die sozialen Kräfteverhältnisse sind nicht gottgegeben, sondern Ausdruck von Machtverhältnissen und mittels Intervention im ökonomischen Unterbau wie auch im gesellschaftlichen Überbau von uns gestaltbar. Dies muss immer aufs Neue angepasst werden, denn Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme (Jean Jaures).
Nur so kann die SPÖ in jene Offensive und auf breiter Basis den bürgerlichen Parteien klare Konzepte entgegenhalten, wie: freien Bildungszugang für alle, gleiche Chancen am Arbeitsmarkt für alle und eine umfassende Integrationspolitik, die auf kommunaler, Länder- wie auch auf Bundesebene gleichermaßen gemacht werden muss. Auf diesem Weg muss die SPÖ die Parteibasis einbinden und mitnehmen, denn die Basis ist der direkte Kontakt zu den Menschen vor Ort, also auch den Jugendlichen. Und wenn die Jugendlichen sehen, dass es die SPÖ ist, die konsequent ihre Interessen vertritt, dann haben wir als Sozialdemokratie bereits aus der Vergangenheit gelernt, dass es sich nämlich lohnt, den Bürgerlichen konsequent die Stirn zu bieten und ein umfassendes sozialdemokratisches Gegenkonzept, wie Gesellschaft gestaltet werden kann, anzubieten.