Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Print-Ausgabe:
ISBN 3-89969-046-X
2. Auflage 2008
Copyright © 2006 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
E-Book-Ausgabe:
Copyright © 2011 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89969-111-5
Joana Brouwer
Die Teufelsfrucht
PRINCIPAL VERLAG
Joana Brouwer, Jahrgang 1951, wurde in der Grafschaft Bentheim geboren. Sie war einige Jahre im Schuldienst tätig und arbeitete danach in dem Architekturbüro ihres Mannes.
Sie ist die Mutter dreier erwachsener Kinder, hat drei Enkelkinder und lebt mit ihrem Mann in Nordhorn.
Jeder Mann
ist der Sohn einer Frau
Für Katharina, Mirjam und Dominik
Fragen, die sich während der Recherche zu diesem Roman aus dem Fachbereich der Medizin stellten, wurden von Dr. med. Ingo Barth beantwortet. Ich danke dir, Ingo.
Mein Dank gilt ebenso dem Polizeibeamten Eugen Swoboda, der mir einen Einblick in den Kriminal- und Ermittlungsdienst gewährte.
Last, but not least ein herzliches Dankeschön an meine einfühlsame Lektorin Eddy Langer.
Handlung und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder schon verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Montag, den 21. März 2005
Enschede in den Niederlanden
Nur aus Gutmütigkeit fuhr Mariekje Smitderks an jedem Wochentag um sechs Uhr in der Frühe den Umweg durch die menschenleeren Straßen des neuen Wohngebietes, das auf einem Teil der abgetragenen Trümmerlandschaft im Enscheder Stadtteil Roombeek bereits fertiggestellt worden war.
Jedes Mal, wenn sie vor dem modernen Wohnhaus anhielt, um ihre Arbeitskollegin Carla abzuholen, hatte sie das Inferno vor Augen, das sich an einem schönen Mainachmittag im Jahr 2000 ereignete. Hundert Tonnen Sprengstoff waren in einer Feuerwerksfabrik explodiert. Etliche Tote waren zu beklagen und viele Menschen standen plötzlich ohne ihr Heim da.
Von hier bis zu ihrer Arbeitsstelle, in einem großen Gartencenter an der deutsch-holländischen Grenze bei Nordhorn, benötigte Mariekje in der Regel eine halbe Stunde. Der gleichförmige dauerhafte Graupelschnee, der seit einigen Stunden vom Himmel niedersank, prophezeite, dass sie heute mit der üblichen Fahrzeit nicht auskommen würde. Carla war nie pünktlich. Deswegen wollte sie sie endlich einmal vor vollendete Tatsachen stellen. Nach genau fünf Minuten Wartezeit legte sie achselzuckend den ersten Gang ein, ließ den Wagen anrollen, trat aber nach wenigen zurückgelegten Metern energisch auf die Bremse. Carla war noch sehr jung, man musste Geduld mit ihr haben.
Mariekje zog sich fluchend ihre Kapuze über den Kopf, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und stapfte in der Dunkelheit über einen schmalen, gepflasterten Weg durch den Schneematsch, vorbei an blätterlosem Gestrüpp, bis zu dem Haus, in dem ihre Arbeitskollegin ein kleines Appartement bewohnte.
Auch mehrmaliges Klingeln an der Haustür konnte sie nicht aufwecken. Möglicherweise war die Türglocke defekt und da Mariekje sich jetzt ohnehin nasse Füße geholt hatte, stieg sie kurz entschlossen die Treppe hoch, um laut an Carlas Wohnungstür zu klopfen.
Als sie mit der Faust an die weiße Kunststofftür polterte, sprang diese auf und mit Verwunderung bemerkte Mariekje, dass Carla ihre Wohnungstür nicht geschlossen hatte. Dieser Umstand verblüffte sie zwar, jedoch machte sie sich deswegen keine Sorgen. Carla war mit allem etwas oberflächlich, häufig sogar schlampig.
Mariekje trat, ohne eine Sekunde zu zögern, laut »Carla« brüllend in die hell beleuchtete, enge Diele, öffnete, noch immer laut rufend, eine Tür, blickte in ein unaufgeräumtes Bad, schrie noch einmal »Carla« und stieß die nächste Tür auf.
Sie begriff zuerst nicht, was sich ihr in dem gut ausgeleuchteten Zimmer darbot und blieb, wie zur Salzsäule erstarrt, im Türrahmen stehen, schaute genau und prägte sich das, was sie erblickte, so präzise mit allen Details ein, dass sie es nie wieder vergessen sollte.
Carla hing nackend, in halb sitzender Position, den Unterkörper seitlich verdreht, die rechte Pobacke gut sichtbar, mit gespreizten Beinen vor ihrem großen, weiß lackierten Kleiderschrank. Ihr rechtes Handgelenk war mit einem Gurt an dem metallenen Türgriff des Schrankes festgezurrt, der den Körper in die fast sitzende, unnatürliche, befremdend wirkende Pose zog.
Ich kenne solche Riemen, an denen Carlas Handgelenk gefesselt ist, schoss es Mariekje durch den Kopf.
Ihr Vater war Jäger und nutzte die kurzen, relativ breiten Lederbänder mit dem praktischen Schnappverschluss, um das Wild an den Hinterläufen aufzuhängen, bevor er ihnen das Fell abzog und sie ausweidete.
Mariekje ließ ihren Blick langsam weiter über Carlas schräg gestreckten, rechten Arm und über die nackte Schulter bis zu dem linksseitig geneigten Kopf schweifen und hielt inne, als sie das schmale, weiße Tuch bemerkte, das die Augen verdeckte. Eine Strähne ihres glatten, schulterlangen, blonden Haares hing über ihrem Mund und zwischen den weit aufgerissenen Lippen steckte ein Knäuel weinroter Spitze.
Carlas linker Unterarm berührte den blauen Teppichboden, die Innenfläche ihrer Hand zeigte nach oben und neben der Hand lag, wie ein absichtlich dekoriertes Accessoire, ein weinroter BH mit schwarzer Spitze.
Mariekje starrte noch eine längere Zeit mit weit aufgerissenen Augen auf die Würgemale an Carlas Hals, auf die Bisswunden an ihren Brüsten und auf die Striemen an den Oberschenkeln und der Pobacke, ehe sie begriff und aus Leibeskräften zu schreien begann.
Donnerstag, den 21. Juli 2005
Berlin, Charlottenburg
Die Atmosphäre war gediegen, der Service ausgezeichnet und Verena Tampens Kunde bisher ungewöhnlich spendabel. Er hatte das nobelste Restaurant der Stadt gewählt und vor dem Essen an der Bar eine Flasche Champagner bestellt. Verena entschloss sich, sein Angebot anzunehmen. Der Mann wirkte auffallend gepflegt, war konservativ und teuer gekleidet, hatte korrekt geschnittenes, an den Schläfen ergrautes Haar und schlanke Hände. Er war schon älter und sicher nicht verwöhnt, deswegen konnte sie davon ausgehen, dass sie ein anspruchsloser, genügsamer Akt erwartete und somit fix verdientes Geld.
Seitdem ihre Freundin Hella und sie nicht länger für den Begleitservice arbeiteten, sondern nur in ihr eigenes Portemonnaie wirtschafteten, konnten sie die Anzahl ihrer Freier deutlich reduzieren und sich einen festen Kundenstamm zulegen. Hella musste diesen Mann aus irgendwelchen Gründen, die Verena vergessen hatte, abgelehnt haben, doch sie würde sich heute Abend ein einträgliches Geschäft nicht entgehen lassen.
»Sie studieren also Medizin, Verena. Gefällt Ihnen das Studium? Sind Sie erfolgreich?«, erkundigte er sich mit gespieltem Interesse, nachdem er den letzten Bissen seines Steaks verspeist und mit einem Schluck Rotwein nachgespült hatte.
Er legte sein Besteck sorgfältig nebeneinander auf den Teller, sah Verena lächelnd an und tupfte sich mit seiner Serviette den Mund ab, bevor er sie korrekt gefaltet neben den Teller legte.
»Das Studium gefällt mir und bisher bin ich sehr gut klargekommen.«
»Sie erinnern mich an meine Gattin. Sie sind wesentlich jünger, aber Ihr herrliches langes, blondes Haar und auch die Figur... Wie alt sind Sie, Verena, wenn ich das fragen darf?«
Es war immer das Gleiche, wenn ›sie‹ nicht über ihren Beruf referierten, palaverten ›sie‹ von einer Ehefrau, die nicht mehr so wollte, wie sie es wünschten, oder von ihren Kindern, die nicht so parierten, wie sie es sich vorstellten. Ihn konnte sie also in der Kategorie: ›Ich schwätze über meine Gemahlin‹ ablegen. Sie würde ihn etwas heiß machen, dann klappte es gleich besser und dauerte insgesamt nicht länger als eine halbe Stunde. Es war fast Mitternacht und die Vorlesung morgen um zehn Uhr durfte sie auf gar keinen Fall versäumen.
»Ich bin zweiundzwanzig«, bekannte Verena offen.
Sie lächelte ihn an, knöpfte ihr Strickbolero auf, zog es aus und deponierte es auf ihrem Schoß.
»Ah, ja, das ist noch jung«, stellte er fest, den Blick auf den Ausschnitt ihres Tops geheftet. »Sehr jung. Falls Sie kein Dessert möchten, Verena, werde ich jetzt bezahlen.«
»Ich möchte keinen Nachtisch.«
Die Art und Weise, in der er den Ober an den Tisch winkte und herrisch nach der Rechnung verlangte, behagte ihr genauso wenig wie sein wässriger Blick, den er in ihr Dekolleté warf. Doch das bildete sie sich sicherlich nur ein. Wahrscheinlich lag es an ihrer Ungeduld und daran, dass sie die Angelegenheit sehr gerne rasch zu einem Abschluss gebracht hätte.
Sie verbrachten nun fast drei Stunden miteinander. Er war zuerst amüsant gewesen und hatte es verstanden, angenehm zu plaudern, aber seit einiger Zeit zog sich das Gespräch in die Länge und langweilte sie. Sollte er nicht bald zur Sache kommen, musste sie sein Angebot ablehnen und sich vor dem Restaurant von ihm verabschieden. Für die Begleitung hatte er im Voraus bezahlt und sie wollte sich mit der Summe zufriedengeben.
»Sie haben über meinen Vorschlag nachgedacht, Verena?«, fragte er kühl, während er den Beleg begutachtete, dabei die Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts zog und einige Hunderteuroscheine auf die silberne Geldschale unter die Rechnung schob.
»Ja, ich bin einverstanden. Wo haben Sie sich einquartiert?«
»Ich habe für uns ein Extrazimmer im ›Garden‹ gebucht. Sie müssen dafür Verständnis haben. Meine Gattin und ich sind in dem Hotel, in dem ich heute eincheckte, gut bekannt und ich möchte nicht...«
Diese Scheißer sind alle gleich, dachte Verena. Sie kannte das ›Garden‹ nicht, aber es war genauso gut oder schlecht wie jedes andere Fünfsternehotel. Für das, was er wollte und wofür er zahlte, würde es allemal reichen. Dafür benötigte man ein Bett und nicht mehr.
»Keine Extras, nur wie besprochen.«
»Natürlich nicht«, beruhigte er sie mit einem überheblichen Lächeln. »Wir rechnen sofort ab.«
»Das ist nicht notwendig. Wir regeln die finanzielle Angelegenheit, sobald wir im ›Garden‹ sind.«
»Nein, jetzt!« Er nahm ihre Hand und deutete einen Handkuss an. »Ich möchte nicht, dass Sie Ihre Meinung ändern. Ich bin nicht kleinlich, Sie werden sehen.«
Ein betagter, doch sehr großzügiger Kunde, freute sich Verena, als er ihr gönnerhaft das Geld in die Hand drückte.
Freitag, den 22. Juli 2005
Berlin, Kreuzberg
Erst als Verena am frühen Morgen des nächsten Tages ihre Wohnungstür aufschloss und in den Korridor taumelte, erinnerte sie sich, dass ihre Freundin Hella nach Baccum gefahren war, um den achtzigsten Geburtstag ihrer Großmutter zu feiern.
Verena stützte sich mit beiden Händen an der Wohnzimmerwand ab und bewegte sich vorsichtig und steifbeinig ins Bad. Als sie mit stumpfen Augen in den Spiegel blickte, erschrak sie, streifte flüchtig mit der Hand über die Würgemale an ihrem Hals, berührte sachte ihr geschwollenes, verweintes Gesicht und legte behutsam beide Hände auf ihren Kopf. Sie fuhr zögernd mit den Fingern durch das stoppelige, ungleichmäßig lang geschnittene, blonde Haar, um das Hässliche, Unwürdige, Ungewohnte, das sie vor sich sah, ebenso zu fühlen.
Mit jeder einzelnen Haarsträhne, die vor ihren Augen auf den Boden gefallen war, hatte sie ihr Flehen gesteigert, war mit jedem ausgesprochenen »Bitte« kleiner und armseliger geworden, bis schließlich ein flennendes, winziges, klägliches Wesen mit gebundenen Händen nackend vor ihm auf dem Boden kniete. Ein greinender, winselnder Wurm, der ihn Herr und Meister nannte, sooft er es forderte.
Zum Beginn ihrer Qualen hatte sie die Hoffnung gehabt, die für jeden Mitmenschen sichtbare Blamage einer völlig ruinierten Frisur zu verhindern und den Glauben und die Erwartung gehegt, ihre Unterwürfigkeit und ihr Entgegenkommen müssten ihn milde und gnädig stimmen und deswegen würde er keine sichtbaren Male der Misshandlungen hinterlassen. Doch er hatte nur hämisch lachend die Schere bewegt, immer wieder aufs Neue geschnitten, schleppend langsam und genussvoll. Für jeden Schnitt nur eine einzige schmale Strähne ihres langen, gepflegten Haares gegriffen, auf das sie von jeher stolz gewesen war, und damit ihre Zuversicht genährt, er möge so rechtzeitig sein Handeln beenden, dass sie das gewaltsame Entfernen ihres Kopfhaares und die damit verbundene Entehrung durch den Besuch bei einem guten Frisör vor ihren Mitmenschen verbergen könne.
»Schnipp, schnapp, schnipp, schnapp – du Hure! Schnipp, schnapp, einmal kurz, einmal lang, schnipp, schnapp.«
»Bitte! Nicht mein Haar! Bitte!«.
Nach jeder Bitte hatte er die Schere erneut eingesetzt und passend zu dem Rhythmus seiner Hand den Vorgang im Stakkato mitgesprochen: »Schnipp - schnapp, ein - mal - kurz, ein - mal - lang, schnipp - schnapp.«
Angewidert von der Demut und Unterwürfigkeit, die sie ihm zu Anfang gezollt hatte aus Sorge um so etwas Banales wie eine Frisur oder anderen Äußerlichkeiten, ohne nur zu ahnen, welche Qualen an Körper und Seele noch folgen sollten, nahm sie die Hände von ihrem Kopf. Sie kleidete sich langsam aus und schaffte es im letzten Augenblick, ihre zerrissene, befleckte Kleidung in den Wäschekorb zu stopfen, bevor sie sich vor die Toilette kniete und erbrach.
Er verstand es, seine Quälereien gezielt einzusetzen und zog damit nicht nur ihre körperlichen Schmerzen in unfassbare Längen, sondern nahm ihr gleichzeitig ihre Würde und Selbstachtung. Durch ihr Leiden, ihre Unterwürfigkeit, ihr verzweifeltes Schreien hatte sie seine Lust und seine Befriedigung auf ein Höchstmaß gesteigert. Für sein Wohlbefinden und seine Wollust benötigte er ihre Pein, ihr Winseln, ihr Flehen...
Sie wollte sich niemals wieder ansehen und kein anderer Mensch sollte ihr noch einmal in die Augen schauen. Sagt man nicht: Die Augen sind die Seele eines Menschen? Jeder, der nicht blind war, musste die Wunden erkennen, denn sie würden nicht nur als Narben an ihrem Körper bleiben, sondern hatten sich als ewiges Schandmal in ihrer Seele eingebrannt und mit diesen Verstümmelungen wollte sie nicht zwanzig, vierzig oder gar weitere sechzig Jahre leben.
Sie hockte sich in die Duschwanne, ließ Wasser über ihren Körper laufen, überschüttete sich mit Shampoo, stand auf und verteilte den Schaum mit beiden Händen auf ihrer Haut, ohne die blutigen Bisswunden an den Brüsten und die Striemen auf Oberschenkeln, Po und Rücken zu beachten. Als das Wasser kalt wurde, trocknete sie sich notdürftig ab und kniete sich auf die Badezimmermatte. Sie starrte abwechselnd auf ihre Handgelenke, an denen die Spuren der Fesselung sich wie schmale, eng anliegende rote Armbänder eingegraben hatten, legte dann die Handflächen neben ihre Waden und drückte das Gesicht auf ihre Oberschenkel.
Der Regisseur dieser grauenhaften Nacht überließ nichts dem Zufall, überlegte sie. Er plante akribisch jedes Detail seiner Tat, organisierte eine gut vorbereitete Bühne, hielt sein Werkzeug griffbereit und wählte die günstigste Zeit.
Ein wohlüberlegter Ort, die passende Stunde und mich als Opfer. Es gibt keinen Zufall und ich bin kein Märtyrer. Alles, was geschieht, ist Schicksal. Ich verdiene es nicht besser, denn ich wusste immer, dass ich sündige.
»Jetzt beginnt das Spiel und die Regeln bestimme ich, Verena, ich allein, dein Herr!«, hatte er seinen Trumpf ausgespielt, nachdem die Tür des Zimmers verriegelt war.
Er hatte ihre Ahnungslosigkeit, ihre Naivität, ihre Gutgläubigkeit, ihren Leichtsinn genutzt, sie brutal gestoßen, bis sie sich auf dem Boden krümmte, einige Male mit seinen Füßen nach ihr getreten, an den Haaren auf das Bett gezerrt und ihre Kleidung zerrissen, als sie sich nicht schnell genug für ihn auszog.
Als er sie irgendwann, nachdem er ihr das Haar genommen hatte, anwies, mit geknebelten Händen auf dem Boden zu kriechen, hatte sie längst jeden Widerstand aufgegeben, und als er wenig später anordnete, sie solle, während sie sich auf allen vieren vor ihm bewege, wie ein Hund bellen, war sie auch diesem Befehl nachgekommen. Bei jedem Laut, der aus ihrem Mund gequollen war, hatte er mit den Füßen nach ihr getreten, sie nicht immer getroffen, aber doch häufig. Nachdem er des Tretens müde geworden war, griff er die Peitsche und strafte ihren Rücken oder ihren Po damit, wenn ihr heiser ausgestoßenes Gebell nicht seine Zustimmung fand.
Als er später ihre Fesseln löste und ihr befahl aufzustehen, war sie erleichtert gewesen, hatte kaum gewagt zu atmen und ihn nicht angesehen, aber er entschied, sie weiterhin zu quälen und warf rote Unterwäsche vor ihre Füße, die sie hastig überstreifte. In diesen wenigen Stunden hatte sie gelernt, seine Strafen zu fürchten. Er war um so vieles stärker als sie und hielt nicht nur die Peitsche in der Hand, sondern verwahrte Fesseln, Knebel, Gummibänder, sogar rote Dessous in seiner Hosentasche und in seinem Koffer. Sie fürchtete sich jetzt am meisten vor dem, was sie noch nicht kennengelernt hatte und fragte sich, sobald er ihr einen Moment der Ruhe gab, welches Folterwerkzeug er zusätzlich bereithielt.
Breitbeinig stand er vor ihr, die Peitsche in der Hand, als sie seinem Befehl folgte und den Verschluss des roten BHs wieder öffnete. Er umklammerte danach ihren Arm, schleifte sie zu dem schmalen eingebauten Kleiderschrank und band ihr rechtes Handgelenk an dem Griff fest, um damit weiterzumachen, womit er anfangs begonnen hatte. Sie schrie vor Angst, ehe sich seine Zähne in ihr Fleisch gruben, und fühlte sofort darauf seine Hände eng an ihrem Hals. Als sie meinte ohnmächtig zu werden oder sterben zu müssen, lockerte er unerwartet und laut stöhnend seinen Griff. Sie sah einen Moment später, mit weit geöffnetem Mund schwer atmend, in seine aufgerissenen Augen, wusste den Grund für sein Handeln, begriff den Zweck, kannte sein Ziel und ahnte, dass diese Marter, welche er ›Spiel‹ genannt hatte, nun beendet war. Seine Grausamkeiten waren mit dem Erreichen seines Höhepunktes zu einem Abschluss gekommen.
»Hat es dir Spaß gemacht, Verena?«, verhöhnt er sie kurz darauf und band sie los. Er zog grinsend seine Brieftasche heraus und warf mehrere Geldscheine vor ihre Füße.
»Du hast gut verdient in der letzten Nacht und ich bin mir sicher, mehr bist du nicht wert. Bei meiner Kleinen hole ich mir Appetit, bevor ich aus dem Haus gehe und wenn ich dich ansehe, habe ich sie vor Augen. Wenn ich dich mit der Gerte liebkose, streichle ich sie. Wenn ich dir zwischen die Beine fasse, greife ich nach ihr. Wenn ich dich binde, halte ich sie fest. Was soll ich machen? Ich nehme Rücksicht, denn ich bin vernarrt in sie. Ich darf ihr nicht wehtun. Nein, ihr darf ich keine Schmerzen zufügen! Sie ist rein, sie ist sauber, sie ist unbefleckt, aber du brauchst es! Du verdienst es, du Hure! Und nun Schluss mit der Flennerei! Bist du auf deine Kosten gekommen? Nein? Umso besser - du solltest auch keine Freude dabei haben!«
Danach ist er gegangen, ohne das zu tun, wofür er mich in dem Restaurant bezahlt hat und wofür der Freier in der Regel eine Hure entlohnt, dachte Verena.
Sie griff an das Waschbecken, zog sich schwerfällig daran hoch, bis sie stand, stützte sich mit einer Hand an der Kante ab und kämmte sich mit heruntergeschlagenen Augenlidern vor dem Spiegel das, was er ihr von ihrer Haarpracht gelassen hatte.
In ihrem Zimmer öffnete sie den Kleiderschrank und tastete tränenblind nach einer Jogginghose und einem Sweatshirt. Es war gleichgültig, was sie anzog. Die Klamotten waren nicht interessant, Designerkleidung war viel zu lange bedeutungsvoll in ihrem kurzen Leben gewesen.
Zwei Briefe waren wichtig, bevor sie einen Schlussstrich zog. Einen Abschiedsbrief wollte sie ihren Eltern schreiben und einen zweiten ihrer Schwester Angela.
Samstag, den 23. Juli 2005
Baccum bei Lingen im Emsland
An Tagen wie heute erlaubte es sich Angela Meiers, geborene Tampen, nach dem Sinn ihres Lebens zu fragen. Sie war um fünf Uhr in der Frühe aufgestanden, hatte ihren siebenstündigen Arbeitstag hinter der Theke einer Lingener Konditorei überstanden und fühlte jetzt den seit Jahren vertrauten Schmerz in ihren Beinen, der auch mit den unterschiedlichsten Gesundheitsschuhen und diversen Salben aus Reformhäusern und Apotheken nicht in den Griff zu bekommen war.
Es war früher Nachmittag und die zahlreichen blühenden Pflanzen in den Gärten an der Antoniusstraße, hinter der katholischen Kirche des Dorfes, wiesen sie darauf hin, was in dem Vorgarten und auf der Einfahrt ihres schmucken Einfamilienhauses auf sie wartete. Keiner ihrer Nachbarn würde Verständnis haben und an ihre müden Füße denken, sollte sich am Sonntagmorgen vor dem Kirchgang auf ihrer Einfahrt und in ihrem Vorgarten Unkraut zeigen.
Ihren Mann Jan sah sie nur im monatlichen Rhythmus und die wenigen Minuten des Zweifels und die Frage, ob die ewige Schufterei, die Abende, Nächte und langen Wochenenden, die sie ohne ihn verbrachte, kein zu hoher Preis waren für das Haus, die Einbauküche und die neu angeschafften Wohnzimmermöbel, duldete Angela nur eine kurze Weile.
Sie war zweiunddreißig Jahre alt, bis zu ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr wollten Jan und sie ein Kind haben, dann würde sie sich nur noch um den Nachwuchs und den Haushalt kümmern und Jan würde nicht länger auf einem Bohrturm in der Fremde arbeiten.
Angela war die älteste von vier Geschwistern. Zwei Brüder führten ein ähnliches Leben wie sie, beide mit Haus und Garten in ihrem Heimatdorf und einer Ehefrau, die durch ihr zusätzliches Einkommen half, die Hypotheken abzuzahlen. Ihre Eltern hatten sich mit schwerwiegenderen Problemen herumschlagen müssen, aber sie waren genügsam und zufrieden auf ihre bescheidene Art und froh, dass aus den Kindern etwas ›Ordentliches‹ geworden war.
Auf Verena, die Jüngste, waren die Eltern besonders stolz. Bei ihr war alles ganz anders gewesen. Sie war intelligenter, hübscher, flinker und selbstbewusster als ihre Geschwister und jeder in der Familie hatte das nicht nur schnell erkannt, sondern immer akzeptiert, dass es ihre Wünsche waren, die zuerst aus der schmalen Haushaltkasse finanziert wurden.
Sie war schon in der Grundschule die Klassenbeste gewesen, ohne sich sonderlich bemühen zu müssen. Als Einzige der Geschwister hatte sie das Gymnasium in Lingen besucht und dort, typisch Verena, mit dem besten Notendurchschnitt ihres Jahrgangs das Abitur bestanden.
Vorausschauend parkte Angela ihren roten Polo nicht in der Auffahrt, sondern auf der Straße vor dem Haus. Als sie den Motor ausgestellt hatte, sah sie in den Innenspiegel, blickte kurz in ihr weiches, kindlich rundes Gesicht mit den hellen wasserblauen Augen und fuhr sich mit der Hand über ihr kupferrotes, leicht gewelltes, gepflegtes Haar. Angela besaß die feinporige reine Haut einer Rothaarigen und das tröstete sie, wenn sie an ihr beklagenswertes Sehvermögen dachte.
Als sie mit gesenktem Kopf zur Haustür ging, nahm sie sich vor, die Kontaktlinsen aus den Augen zu nehmen und ihre Brille aufzusetzen, bevor sie die Blumen in die Schale neben der Haustür einpflanzte, Unkraut zupfte und das Pflaster fegte.
Im Korridor lagen die Tageszeitung und eine bunte, sonnige Postkarte aus dem Oman, die Jan ihr geschickt hatte und in dem Posteinwurf der Tür steckten zwei Umschläge. Auf dem obersten erkannte sie den Absender der Telefongesellschaft und auf dem unteren Verenas Handschrift. Angela telefonierte regelmäßig mit ihr und zweimal hatte sie ihre Schwester in Berlin besucht, aber einen Brief von Verena zu erhalten, war so außergewöhnlich, dass Angela sofort erschrak, als sie die Schrift erkannte.
Sie schloss mit klopfendem Herzen die Haustür, warf Jans Postkarte, die Tageszeitung und die Rechnung der Telefongesellschaft auf die Treppe und hastete, mit Verenas Brief in den Händen, in die Küche. Noch im Gehen riss sie den Umschlag auf, nahm mehrere Bögen rosa Schreibpapier aus dem Kuvert und setzte sich an den Küchentisch.
Sie las das Geschriebene oft, verstand zuerst nicht die ganze Tragweite, las den Text leise, danach laut, sprach die Sätze langsam und korrekt aus, erkannte zwar jedes Wort, aber konnte und wollte eine lange Zeit den Inhalt nicht begreifen, bis irgendwann die Gewissheit kam: Verena hatte sich umgebracht...
Es war ihre Pflicht zu handeln, sie musste irgendetwas unternehmen. Nur, was sollte sie tun? Nach Berlin fahren? Sie anrufen? Verena würde den Hörer nicht abnehmen können, weil sie seit gestern tot war. Sie lebte nicht mehr, wenn sie in ihrem Brief die Wahrheit geschrieben hatte. Sie war sich ganz sicher, dass Verenas Selbstmord Wirklichkeit war, dass ihre Schwester niemals diese Botschaft geschrieben hätte aus... Aus was? Aus Spaß?
Ihr Bruder Frank, der stillere und ältere ihrer Brüder, schlug kurzerhand vor, seine Frau Helga und die beiden Kinder mitzubringen, als sie ihn am Telefon bat, sofort zu ihr zu kommen. Als sie sein Ansinnen ablehnte, reagierte er beleidigt, klingelte aber trotzdem zehn Minuten später an ihrer Haustür.
»Seit wann hast du etwas gegen Helga und unsere Kinder? Ich muss schon sagen, das finde ich...«, platzte er zornig heraus, noch bevor er in die Diele trat, schwieg allerdings augenblicklich, als er in Angelas Gesicht blickte.
»Was ist geschehen, Angie?«
»Verena ist tot«, sagte Angela monoton.
Sie ging ihrem Bruder voraus in die Küche und setzte sich auf denselben Stuhl, auf dem sie wie in Trance eine Stunde lang gehockt und auf das Telefon gestarrt hatte, nachdem sie zuvor immer wieder versucht hatte, Verena zu erreichen.
»Unsere kleine Schwester hat sich selbst umgebracht. Würde sie noch leben, müsste sie das erste Mal in ihrem Leben eine Tracht Prügel bekommen.«
»Angela..., ich...«
»Es tut mir leid, Frank. Ich bin so wütend auf Verena! Ich fasse das alles nicht! Vielleicht will ich es auch nicht kapieren.«
Irgendwann würde sie nicht mehr zornig sein, sondern traurig und ihre Schwester vermissen, aber jetzt..., jetzt war sie nur hilflos und böse.
»Verena hat zwei Briefe geschrieben, Frank!«, schrie Angela plötzlich laut und verzweifelt. »Einen für die Eltern und den anderen für mich und diesen Brief soll ich niemandem zeigen, aber das bringe ich nicht übers Herz, Frank. Ich werde nicht widerstandslos und schweigend hinnehmen, was sie mir in ihrer Botschaft mitteilt.« Angela warf die Briefbögen auf den Tisch. »Hier lies und ich rufe währenddessen bei Familie Schulz an. Ich weiß, dass Hella aus Berlin gekommen ist, um den achtzigsten Geburtstag ihrer Großmutter zu feiern.«
Freitag, den 22. Juli 2005
Liebe Mama, lieber Papa,
es tut mir leid, dass ich euch solch großen Kummer bereite. Ihr müsst mir verzeihen. Ich mag nicht mehr leben. Es ist nicht eure Schuld. Ich hätte keine besseren Eltern haben können als euch. Danke für all die Liebe, die ihr mir gegeben habt.
Sucht nicht nach meinem Körper, ihr werdet ihn nicht finden.
Eure Verena
Freitag, den 22. Juli 2005
Liebe Schwester, liebe Angela,
es ist jetzt vier Uhr am Morgen. Bevor es draußen hell wird, werde ich mir einen Platz zum Sterben gesucht haben und wenn du diesen Brief liest, habe ich alles hinter mir.
Nach der letzten Nacht kann ich nicht weiterleben. Ich könnte dich anlügen, irgendeinen fadenscheinigen Grund nennen für mein Tun, doch ich will ehrlich sein und die Wahrheit ist auf erschreckende Weise simpel.
Ich bin eine Hure und wusste es bis vor fünf Stunden selbst nicht oder ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe für etwas Luxus meinen Körper verkauft.
Mein letzter Freier hat mir gezeigt, was ich bin. Er hat mich gedemütigt, geschlagen, gebissen, geknebelt und mich auf dem Boden kriechen lassen.
Ich mag mein Gesicht nicht mehr, ich mag meinen Körper nicht mehr, ich mag mich nicht mehr und ich werde dafür sorgen, dass mich niemand jemals wieder ansieht. Ich schreibe ›niemand‹ und meine es genauso, wie ich es schreibe. Das erspart euch die Schande, eine Selbstmörderin auf unserem Dorffriedhof zu beerdigen.
Meinen Platz zum Sterben werde ich mit Sorgfalt wählen. Es wird ein schönes Plätzchen sein, vielleicht weit draußen vor dem Stadtrand von Berlin. Auch die Art und Weise, wie ich zu Tode komme, wird eine gute sein.
Ich habe eine Flasche Cognac, Tabletten und Rasierklingen in meinen Rucksack gelegt, also denke nicht, dass ich gelitten habe, wenn du diesen Brief liest.
Sage Hella, sie soll Schluss machen mit unserer Art des Geldverdienens. Es lohnt nicht, ich habe es jetzt erkannt und sage ihr, dass es Mr. Doolittle gewesen ist, mit dem ich mich verabredet hatte und dass er es gewesen ist, der mich misshandelt hat. Sie kennt ihn. Es ist der Mann mit den langen Beinen.
Verzeiht mir, Angela. Ich weiß, welchen Schmerz ich euch zufüge.
Deine Schwester Verena
P.S. Dieser Brief ist nur für dich bestimmt.
Frank faltete mit kreidebleichem Gesicht nacheinander die Bögen des rosa Schreibpapiers in der Mitte und schob sie über den Tisch.
»Wir fahren nach Berlin, Angela! Unter Umständen hat nicht alles so geklappt, wie Verena es sich vorstellte. Möglicherweise wurde sie rechtzeitig aufgefunden. Wir werden in jedem Berliner Krankenhaus telefonisch nachfragen. Bernd wird uns helfen. Hast du ihn verständigt?«
»Nein.«
Angela stand auf, erkannte, dass sie nicht länger wütend auf Verena war, dass die Handlung in und um sie jetzt ablief wie in einem entsetzlichen Film. Sie fühlte nichts mehr, sondern spielte irgendeine Rolle, und in dem Drehbuch stand geschrieben, dass sie ihren jüngsten Bruder Bernd informieren sollte und danach den Pfarrer, dass sie anschließend mit den Brüdern zu den Eltern fahren musste, um ihnen zu sagen, dass Verena tot war. Dass der Traum der Eltern, Verena als Ärztin in einem weißen Kittel zu sehen, ausgeträumt war.
Sonntag, den 24. Juli 2005
Berlin, Kreuzberg
Am Sonntagabend hatten auch Angelas Brüder die Hoffnung aufgegeben, Verena lebend zu finden. Sie waren noch in der Nacht mit Hella nach Berlin gefahren, gaben eine Vermisstenmeldung auf und hinterlegten auf der Polizeiwache eine Kopie des Briefes, den Verena an ihre Eltern geschrieben hatte. Hella weinte während der Autofahrt nur und beantwortete keine einzige Frage, die ihr gestellt wurde.
Nachdem Verenas Brüder sich verabschiedet hatten und Hella sich mit Angela allein in der Wohnung aufhielt, begann sie zu erzählen.
Sie hockte mit angezogenen Beinen auf einem Sofa und beobachtete Angela, die zum wiederholten Male Verenas Schreibtisch durchstöberte und gleich darauf in dem gut bestückten Kleiderschrank wühlte, ohne zu wissen, was sie eigentlich suchte.
»Es hat keinen Sinn, Angela, du wirst nichts finden«, vertraute Hella Angela schluchzend an. »Verena hat ihren Timer, in dem sie die Termine und die Kürzel der Männernamen eingetragen hat, mitgenommen, oder sie hat ihn verbrannt. Er lag immer auf ihrem Schreibtisch.«
Hella griff ein Kleenex-Tuch aus einer Box, die auf dem Tisch vor dem Sofa stand, schnäuzte hinein, knüllte es zusammen und warf es zu den anderen Papierkugeln vor ihren Füßen.
»Wir haben uns oftmals gewundert, dass ihr es nicht bemerkt. Alles, was du hier siehst, die Möbel, den Laptop, die Stereoanlage, unsere Kleidung. Habt ihr wirklich angenommen, wir finanzieren das alles von unserem Bafög? Mit dem bisschen Geld konnten wir nur knapp unser Essen bezahlen.«
»Wahrscheinlich haben wir uns überhaupt keine Gedanken gemacht und wenn, Hella, wären wir sicher nicht auf die Idee gekommen, dass ihr auf den Strich geht«, legte Angela schonungslos dar.
Sie setzte sich auf Verenas Schreibtischstuhl, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seit der letzten Nacht hatte sie unentwegt darüber nachgedacht, was in der Erziehung ihrer kleinen Schwester falsch gelaufen war und war dabei hart mit sich ins Gericht gegangen. Als Ergebnis ihrer Überlegungen war sie zum elementaren Entschluss gekommen, nur noch ihre Auffahrt zu fegen, sobald sie Lust dazu hatte. Denn alles, was geschehen war, konnte sie mit ihrem gepflegten Vorgarten und der bepflanzten Schale neben der Haustür in Verbindung bringen und beides mit dem Satz verknüpfen: ›Das erspart euch die Schande, eine Selbstmörderin auf unserem Dorffriedhof zu beerdigen‹, den Verena in ihrem Abschiedsbrief geschrieben hatte.
Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr war die intelligente, hübsche Verena zu sehr verwöhnt worden und sie hatten versäumt, ihr das Verzichten beizubringen und ein Nein zu akzeptieren. Deswegen wurde Verena in der Familie die Stärkste und mit den Sätzen: ›Alle in meiner Klasse haben dieses oder jenes‹, und: ›Ihr wollt doch nicht, dass ich mich blamiere, dass jeder denkt, wir haben kein Geld oder wir sind arm‹, hatte sie es geschickt verstanden, die Schwäche der Eltern und Geschwister auszunutzen, um den eigenen Willen durchzusetzen. Diese Rückgratlosigkeit der Familie stand in einem direkten Zusammenhang mit Angelas Vorgarten. Es war dieses ewige Abwägen und Grübeln: Was reden die anderen? Was denken die Nachbarn? Was sagt der Pfarrer? Was meinen...?
»Wir sind nicht auf den Strich gegangen, Angela.«
»Nein? Wie würdest du es denn nennen, Hella?«
»Gleich nachdem wir das Studium aufgenommen hatten, versuchten wir etwas Geld nebenher zu verdienen. Verena und ich bedienten am Abend in einer Kneipe. Wir schlugen uns die Nächte um die Ohren und bekamen nur wenige Euro dafür. Dann bot sich die Gelegenheit mit dem Begleitservice. Irgendjemand sprach Verena in einer Diskothek an, unterbreitete ein gutes Angebot und wir nahmen es an. Für Einsteiger ist ein Service sehr vorteilhaft, die Agentur gibt Sicherheit, weil die Mitarbeiter genau wissen, mit wem du unterwegs bist.«
»Und ihr seid nur mit den Männern ausgegangen und nicht mit ihnen ins Bett gestiegen!«, lästerte Angela spöttisch.
Sie stand auf und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches, der sicherlich sehr teuer gewesen war, genauso wie jedes andere Möbelstück in Verenas geräumigem Zimmer.
»Wir durften, aber wir wurden nicht gezwungen und konnten uns die Männer aussuchen. Sobald ein Freier uns gefiel, lehnten wir selbstverständlich nicht ab. Sie bezahlten einen guten Stundenlohn. Die Agentur kassierte allerdings am meisten. Irgendwann kam uns die Idee, in dieser Branche auf eigene Faust zu agieren. Wir schalteten mehrere Zeitungsannoncen. Es war uns durchaus bewusst, dass unser Job gefährlicher sein würde, sobald wir ohne Sicherheitsnetz arbeiteten.«
»Ohne Sicherheitsnetz?«, hakte Angela unwirsch nach.
Sie verließ ihren unbequemen Sitzplatz und stellte sich mit gekreuzten Armen vor ein Fenster.
»Ja, wir konnten die Männer nicht überprüfen, bevor wir uns mit ihnen trafen. Deswegen sprachen wir ab, dass immer nur eine von uns arbeitet und der anderen sagt, wohin und mit wem sie geht und wann sie zurückkommt.