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Print-Ausgabe:
ISBN 978-3-89969-071-2
Copyright © 2009 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.
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Printed in Germany
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ISBN 978-3-89969-118-4
Joana Brouwer
Valentinstag
Heide von der Heide - Krimi
PRINCIPAL VERLAG
Joana Brouwer, Jahrgang 1951, wurde in der Grafschaft Bentheim geboren. Sie war einige Jahre im Schuldienst tätig und arbeitete danach in dem Architekturbüro ihres Mannes.
Sie ist die Mutter dreier erwachsener Kinder, hat drei Enkelkinder und lebt mit ihrem Mann in Nordhorn.
www.joana-brouwer.de
Ich weise darauf hin, dass die Handlungen und die Personen des Kriminalromans Valentinstag ein Geschenk meiner Fantasie sind. Sollte es Übereinstimmungen mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen geben, so wäre dies rein zufällig.
Joana Brouwer
Keine Schuld ist dringender,
als die, Dank zu sagen.
Marcus Tullius Cicero
Für den fachlichen Rat bedanke ich mich sehr gerne und herzlich bei Dr. med. Ingo Barth, dem Kriminalhauptkommissar Achim van Remmerden und bei meiner Lektorin Eddy Langer.
Im Traum hörte er das Echo ihrer hell klingenden Stimme. Erst als er ihre Gestalt vor Augen hatte, sprach er leise und sanft zu ihr, so wie er stets mit ihr redete, um ihr zu zeigen, dass sie ihm nahe war und er sie nicht vergessen hatte.
»Ich bin bei dir, mein Engel, und ich sehe dich«, flüsterte er. »Du hockst, ein Knie auf dem Boden und das andere Bein angewinkelt, in der Diele. Du ziehst das Ende eines langen Schuhriemens durch die vorderen gestanzten Öffnungen deiner neuen roten Stiefel. Mit deinen schlanken Fingern führst du den schmalen, harten Ansatz des schwarzen Schnürsenkels kreuzförmig, jeweils ein Loch überspringend, durch die Durchlässe an der Vorderseite des hohen Schaftes. Ab und an hebst du deinen Kopf und lächelst mich an.«
Obwohl er wusste, dass er erneut allein sein würde, sobald er versuchte, sie zu berühren, konnte er auch in dieser Nacht nicht widerstehen und streckte seinen Arm nach ihr aus, um sie dicht an sich zu ziehen.
Doch bevor seine Hand ihre Gestalt erreichte, verschwamm sie vor seinen Augen und löste sich ganz sachte auf.
Wenig später fuhr ihm der betörende Duft des Leders und der Schuhcreme in die Nase und mit der Wahrnehmung dieses Geruchs, wusste er sie hinter seinem Rücken. Im selben Augenblick fühlte er ihre streichelnden Hände, genau dort, wo er von jeher zu rund war.
Sie lachte und sprach davon, dass er zu dick sei, weniger essen und Sport treiben müsse.
Er bemühte sich, still zu sein, lauschte dem Tonfall ihrer Worte, genoss ihre Berührungen und lehnte sie gleichzeitig ab.
»Es ist ungerecht, mein Engel, dass du mich jederzeit anfassen darfst, indessen dein Körper mir sofort entgleitet, sobald ich ihn ertasten möchte«, beschwerte er sich laut und weinte, denn er ahnte, dass ihre Stimmung nicht anhalten würde, dass Wohlsein umschlagen musste in Schmerz, Liebe in Hass, Feuer in Eis.
Erst gegen Morgen besuchte sie ihn ein zweites Mal. Sie war zornig und warf ihm vor, dass sie allein sei, dass er sie nicht begleitet habe und klagte, dass ihre Füße in dem engen Schuhwerk steckten und für alle Zeit durch seine Schuld schmerzen mussten.
Mit steif gefrorenen Fingern versuchte er, die straff gezogene Schleife des Schuhriemens in einem ihrer Stiefel zu lösen. Er bemühte sich verzweifelt, den doppelt geschlungenen Knoten zu entwirren, ohne dass es ihm gelang.
Wegen seiner Unbeholfenheit trat sie ungeduldig nach ihm, schimpfte ihn einen Versager und stieß den Absatz ihres Stiefels mit letzter aufbäumender Kraft in seinen Bauch.
Er krümmte sich angstvoll vor Schmerzen, wachte schweißgebadet auf, trennte mühsam Realität und Traum voneinander, fand sich in einem zerknüllten, feuchten Bettlaken und bemerkte, dass die Absatzspitze ihres Stiefels in seine Brust drückte.
Montag, den 12. Februar 2007
Osnabrück, Weststadt
Seitdem ihr Lebensgefährte Alexander Hammer die gemeinsame Wohnung verlassen hatte und bei Patricia und ihren niedlichen Zwillingen eingezogen war, verbrachte Heide jeden Montagabend in der Turnhalle. Am Mittwoch suchte sie ein Schwimmbad auf, an den anderen Wochentagen joggte sie morgens durch den Schlossgarten. Ihren Körper hatte sie in ungewohnte Hochform gebracht. An der Balance ihrer Psyche musste sie allerdings weiterhin arbeiten. Deshalb wollte sie es ihrer Schwägerin Anette gleichtun, die rechts neben ihr auf dem Fußboden der Halle lag und entspannt gleichmäßig ein- und ausatmete.
Heide schloss ihre Augen und versuchte, zu meditieren, doch es wollte ihr trotz der größten Mühe, die sie sich gab, nicht gelingen. Obwohl sie sich zwang, nicht zu grübeln, kreisten ihre Gedanken unentwegt um Alexander und um die geräumige, heiß geliebte Altbauwohnung, die sie sich gemeinsam mit ihm vor zwei Jahren gekauft hatte.
›Ich will gebraucht werden. Du brauchst mich nicht‹, hatte er ihr vorgeworfen. ›Du kommst wunderbar allein klar.‹
Recht hatte er. Soweit es ihre Detektei betraf, war sie erfolgreich. Sie hatte sich etabliert und durfte nicht klagen. Seitdem sie sich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert hatte, war ihr Terminkalender ausgebucht. Sie verdiente gut und arbeitete selbstständig.
Als Heide eine Hand an ihrem Arm fühlte, öffnete sie die Augen, wandte den Kopf und blickte verwundert in Elkes hübsches, verschwitztes Gesicht. Ihre Nachbarin zur Linken war aufgestanden. Sie hockte sich vor Heide, strahlte sie an, legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, zwinkerte ihr zu und raunte: »Ich werde heute früher gehen und mir den Abschluss der Übungen schenken. Eine angenehmere Art der Körperertüchtigung liegt vor mir. In einer knappen Stunde habe ich ein Date, auf das ich mich sehr freue. Ich will vorher duschen und mir die Haare waschen. Tschüss, bis nächste Woche.«
Heide nickte zustimmend. »Viel Spaß«, murmelte sie und blickte Elke nach. Sie registrierte ihren tänzelnden Schritt, die schmalen Hüften, die schlanken Oberschenkel, die formvollendete Taille. Elke besaß die Eigenschaft, nicht nur Männerblicke auf sich zu ziehen, resümierte Heide. Davor war auch Heides Jugendfreund Dieter Fuchs, ein Kripobeamter, nicht gefeit, mit dem Elke im letzten Jahr liiert war.
Am Ausgang blieb Elke stehen und drehte sich um. Sie winkte Heide zu, nahm ihre Spange aus den langen, feuerroten Haaren, fuhr mit beiden Händen durch ihre Mähne und warf Heide einen Handkuss zu, bevor sie ihr den Rücken zuwandte und die Halle verließ.
»Es gelingt ihr nicht, Nein zu sagen, sobald ihr ein attraktiver Mann über den Weg läuft«, kommentierte Anette Elkes vorzeitigen Aufbruch.
»Konnte sie ihnen ebenso wenig widerstehen, als Dieter und sie ein Paar waren?«, wollte Heide wissen.
Irgendwann im vergangenen Jahr hatte Dieter ihr erzählt, Elke sei mit seinem Beruf nicht klargekommen. Sie habe die wechselnden Dienstzeiten eines Kripobeamten und die Überstunden nicht akzeptieren können. Natürlich war es durchaus möglich, dass Dieter sie damals angelogen hatte. Welcher Mensch gesteht der alten Liebe gerne ein, dass seine neue sich in fremden Betten vergnügt?
»Nein ...«, erwiderte Anette zögernd. »Eine feste Verbindung hat sich selten auf die Anzahl ihrer zusätzlichen Männerbekanntschaften ausgewirkt. Allerdings hat dein ehemaliger Freund, der Kommissar Fuchs, sehr bald erfahren, dass Elke ihn betrügt, worauf er die Beziehung beendet hat.« Anette schwieg einen Moment lang und fügte nachdenklich hinzu: »Ich bedauere es sehr, Heide, dass du dich von Dieter getrennt hast. In meinen Augen seid ihr das absolute Traumpaar gewesen.«
Heide hörte deutlich den ernsthaften Unterton in Anettes Stimme. Statt eine Antwort zu geben, führte sie die unumgänglichen gymnastischen Übungen aus, hob abwechselnd die Beine, spannte die Bauchmuskeln an, richtete sich auf und legte die Fingerspitzen an ihre Zehen. Dabei dachte sie an Dieter und ihr wurde warm ums Herz. Erst seitdem sie sich in einer ähnlichen Situation befand, begriff sie, wie er sich gefühlt haben musste, als sie ihm eines Tages mitgeteilt hatte, dass es einen anderen gab, einen, der sich nicht länger aus ihrem Gefühlsleben vertreiben ließ. Dieter hatte sie trotz seines Kummers fair und verständnisvoll behandelt. Sie würde sich zumindest bemühen, Alexander bei ihrem nächsten Zusammentreffen gleichermaßen großherzig gegenüberzutreten.
Heide drehte ihren Kopf, sodass sie Anettes Gesicht sehen konnte und tuschelte: »Dieter beschrieb mir sein Verhältnis mit Elke folgendermaßen: Es begann mit einem Knall und endete mit einem Donnerwetter.«
»Bei Elke beginnt jede Veränderung mit einer Explosion ihres Gefühlslebens, Heide«, raunte Anette zurück.
»Kennst du ihren Freund?«
»Elke ist verlobt und hat mir ihren Verlobten vorgestellt. Er heißt Björn Schoen und ist ihr Arbeitskollege. Er möchte unbedingt, dass sie zusammenziehen. Elke hat sein Ansinnen bisher strikt abgelehnt. Eine gemeinsame Wohnung schränke sie zu sehr ein, begründete sie ihre ablehnende Haltung, sie brauche ein Eigenleben.«
Wohnung ... Wohnung ..., schoss es Heide durch den Kopf. Sie war erneut an dem Punkt ihres wahren Seelenschmerzes angelangt. Es war dringend angebracht, bezüglich der Altbauwohnung eine Lösung zu finden, die Alex und ihr gerecht wurde. Zumindest musste sie sich bemühen, über ihren eigenen Schatten zu springen und ebenso fair handeln wie Dieter damals. Nur mit Patricia - nein, niemals -, mit der würde sie kein Wort wechseln. Gefühle waren nicht zu erzwingen und falls Alexander der Ansicht war, mit Patricia seinen Lebenstraum erfüllen zu können, wollte sie ihm nicht im Wege stehen.
Betrachtete sie ihren momentanen Seelenzustand objektiv, musste sie sich ohnehin eingestehen, dass sie Alex gar nicht mehr zurückhaben wollte. Nicht nachdem, was er ihr angetan hatte. Dieser treulose Schuft konnte ihr gestohlen bleiben! Allerdings war eine Verabredung mit ihm nicht zu verhindern. Sein Krempel stand in ihrer Wohnung, um korrekt zu sein, in ihrer gemeinsamen Wohnung. Sie musste sich ernsthaft bemühen ...
»Mir reicht es«, polterte Anette unvermittelt in Heides gute Vorsätze, »wir sind zehn Minuten über der Zeit.« Sie seufzte, setzte sich und erhob sich schwerfällig.
»Ich fühle bereits jeden Muskel in meinem Körper«, stimmte Heide ihr zu und stand ebenfalls auf.
»Laura fiebert seit heute Mittag und Christian ist schnell überfordert, sobald eines der Kinder krank ist.«
»Du verwöhnst meinen Bruder. Gibst du nicht Acht, entwickelt er sich in seinen späten Jahren zu einem Macho«, gab Heide auf dem Weg zu den Umkleideräumen zu bedenken.
»Ich vermute«, Anette kicherte, »dass er bisher ...«
Sie brach ihren Satz abrupt ab und blieb auf der Türschwelle so unvermittelt stehen, dass Heide gegen sie prallte, sie fast umrannte. Heide legte ihre Hand auf Anettes Hüfte, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und blickte über Anettes Schulter in den Umkleideraum.
»Ist ... daas ... Elke ...?«, brachte Anette stotternd hervor.
Heide schob Anette zur Seite und stürzte in den Raum. Elke lag mit dem Hinterkopf, die Beine gespreizt und die Arme weit ausgebreitet, auf den weißen Bodenfliesen des Umkleideraumes. Sie war nackt und ihr langes Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein grandioser Fächer.
Heide ließ sich vor Elke auf die Knie fallen und wollte ihren Mittelfinger und den Zeigefinger an Elkes Halsschlagader legen, als sie die schmale Drosselfurche bemerkte, die sich tief in ihrem Hals eingegraben hatte. Ihr aufgedunsenes Gesicht mit den weit aufgerissenen, toten Augen war blauviolett verfärbt, mit feinen punktförmigen Hautblutungen, die sich gleichfalls oberhalb der schmalen Marke an ihrer Halshaut zeigten sowie in den Bindehäuten ihrer Augen. Entsetzt zog sie ihre Hand zurück.
Anette hatte sich in den Korridor auf den Fußboden gehockt, die Beine angezogen und das Gesicht auf die Knie gelegt.
»Mir ist schlecht.« Anette hob den Kopf und starrte ihre Schwägerin aus einem kreidebleichen Gesicht an. »Wenn ich sie noch ein einziges Mal anschaue, werde ich mich übergeben.«
Heides Kehle war wie zugeschnürt. Sie verkniff sich die Bemerkung, dass es egal sei, ob man zum ersten oder fünften Mal das Opfer eines Gewaltverbrechens vor Augen hatte, immer sei es gleichermaßen unfassbar und grauenhaft.
Mit weichen Knien durchquerte sie den Raum, bis sie die Bank unterhalb ihres Kleiderhakens erreichte. Dort angekommen setzte sie sich und griff mit zitternden Händen nach dem Handy in ihrer Jackentasche. Sie würde sich augenblicklich zusammenreißen und ihren rebellierenden Magen und das rasende Herzklopfen, das bis in ihre Ohren dröhnte, ignorieren. Kurzerhand beschloss sie, zuerst Dieter auf seinem Handy anrufen, um ihn darauf vorzubereiten, dass die Ermordete eine ehemalige Freundin von ihm war.
Nachdem sie das Telefongespräch beendet hatte, fragte sie sich, was sie ihm genau gesagt und wie er geantwortet hatte. Doch es gelang ihr nicht, sich an seine Reaktion auf ihre Hiobsbotschaft oder gar an seine Worte zu erinnern. Dann sann sie mit schlechtem Gewissen darüber nach, dass Elke mit dem Tode gerungen hatte, während sie selbst, nur wenige Meter von Elkes Sterbeort entfernt, einen Kummer gepflegt hatte, den sie in Wahrheit längst überwunden hatte.
Sie blickte sich suchend um und war bemüht, sich jedes Detail zu merken, das ihre Augen erfasste. Elkes Haar und das rosafarbene Badetuch, das neben der Leiche lag, waren trocken. Insgesamt neun Frauen, Elke und sie selbst eingeschlossen, hatten die Kleiderhaken und nicht die abschließbaren Schränke genutzt. Die Verbindungstüren zu den Räumen und zu den Fluren waren beidseitig zu öffnen. Auf den Fliesen, unterhalb des Bordes, auf dem Elkes Tasche stand, lag nur ein langer, roter Schnürsenkel. Wo waren die auffälligen roten Stiefel, die Elke getragen hatte und Heide bereits auf dem Parkplatz vor der Sporthalle aufgefallen waren?
Als Heide ein aufgeregtes Stimmengewirr hinter sich vernahm, erhob sie sich langsam und ging in den Korridor.
»Was ist passiert?«, fragte Yvonne, die den Kurs leitete. Sie starrte Heide verständnislos an und fügte zweifelnd hinzu: »Anette erzählte uns, Elke sei umgebracht worden. Sie läge dort nackt im Umkleideraum. Stimmt das?«
Heide nickte zustimmend. »Ich habe die Polizei schon verständigt. Wir sollten warten, bis die Kripobeamten eintreffen und den Raum bis dahin nicht betreten«, schlug sie leise vor.
»Wie konnte das geschehen?«, hörte Heide jemanden gleich darauf fragen.
»Elke? Ist das die hübsche Rothaarige, Anettes Freundin?«
Und eine andere Stimme, die sagte: »Wir haben nichts gehört. Sie muss doch um Hilfe gerufen haben.«
Heide zuckte die Achseln. Sie drehte ihren Sportfreundinnen den Rücken zu, setzte sich neben Anette und nahm ihre Hand. »Wo hast du Elke kennengelernt?«, fragte sie behutsam und achtete nicht weiter auf das Gemurmel hinter sich.
»In der Orientierungsstufe«, erwiderte Anette schluchzend. Sie begann zu weinen. »Elke hat keine Geschwister. Sie lebte bei ihrem Vater, bis sie sich zerstritten. Sie ist - war immer sehr kameradschaftlich und hilfsbereit, ein Kumpel, weißt du, sehr temperamentvoll. Dein Bruder Christian verglich Elke mit einer Kerze, die an beiden Enden brennt. Sie hatte dauernd Angst, etwas Faszinierendes zu versäumen, und war stets auf der Suche nach Neuem, nach Veränderungen, nach ihrem ›Kick‹. Veranstaltungen, Feten, Männer, ganz gleich. Ihr Interesse war beileibe nicht anhaltend, nur ihre Freundschaft zu mir hat all die Jahre überdauert.«
»Sie trug heute rote Stiefel, Anette.«
»Ich habe nicht darauf geachtet. Sie hat - hatte ein Faible für Stiefel.«
»Tatsächlich?«
»Stiefel und Handtaschen.«
»Du meinst Lederwaren im Besonderen?«
»Nein, nicht speziell Leder. Stiefel und Handtaschen allgemein, aus jedem Material, ohne auf eine bestimmte Farbe fixiert zu sein.« Anette hob ihren Kopf und sah Heide aus rot verweinten Augen an. »Wurde sie vergewaltigt oder misshandelt?«
»Ich weiß es nicht. Wir werden es nach der Obduktion erfahren.«
An Elkes Körper hatte Heide, außer der Drosselfurche an ihrem Hals, keine Wunden und keine Male einer Misshandlung erkennen können. Heide hatte zwar nicht den Waschraum und die Duschen inspiziert, um keine relevanten Spuren zu verwischen, jedoch vermutete sie, dass Elke sich dort ausgekleidet hatte und dann, aus irgendwelchen Gründen nur in ihr Badehandtuch gewickelt, zurück in den Umkleideraum gegangen war. Auf der Ablage hatte sie Elkes roten Pulli, eine schwarze Hose, obendrein eine Strumpfhose gesehen und an dem Kleiderhaken ihren schwarzen Blazer, aber weder ihre Sportbekleidung noch Unterwäsche.
»Hast du eine Ahnung, mit wem Elke heute Abend verabredet war?«
»Nein. Sie sprach des Öfteren über ihre wechselnden Männerbekanntschaften, doch sie nannte niemals einen Namen.«
* * *
Dieter Fuchs traf vor seinen Kollegen der Spurensicherung ein.
»Und was denkst du?«, wandte er sich fragend an Heide.
»Ich vermute, Elke wurde erdrosselt.«
Sie folgte ihm in den Umkleideraum. Er blieb vor der Leiche stehen, bückte sich, betrachtete Elkes Gesicht und die Drosselfurche an ihrem Hals. Wahrscheinlich hatte Heide mit ihrer Vermutung recht, was ihn nicht wunderte. Sie hatten sich, als sie seinerzeit ein Paar waren, mehrfach gemeinsam mit den verschiedenen Fachbereichen des Polizeidienstes beschäftigt. Es war ein Jammer, dass Heide den sportlichen Anforderungen nicht gewachsen und daher durch die Prüfung gefallen war. Sie hätte nicht Jura studiert und nicht den Staatsanwalt Alexander Hammer kennengelernt. Heide und er wären heute verheiratet, hätten gar gemeinsame Kinder. Sie hatte immer Kinder gewollt.
Er unterdrückte das Verlangen, Elkes aufgedunsenes, fleckiges Gesicht mit dem Badetuch abzudecken, und fragte sich, ob ein Mann sie getötet hatte, den sie auf die gleiche schäbige Weise betrogen hatte wie ihn. Einer, der ihr nicht die Koffer vor die Tür gestellt und einen Schlussstrich unter die Beziehung gezogen hatte, sondern seine Enttäuschung auf diese entsetzlich brutale Weise abreagierte, die er gegenwärtig vor Augen hatte.
Heide legte ihre Hand auf seinen Arm. »Es tut mir leid, Dieter«, sagte sie bedauernd.
»Für mich ist diese Affäre lange beendet. Ihr Tod trifft mich nicht mehr oder weniger als jeder andere Mordfall, den ich bearbeite.«
Sie schaute in sein angespanntes müdes Gesicht. »Du lügst«, widersprach sie ihm leise.
Dieter brachte ein mühsames Lächeln zustande. »Du kennst mich gut. Dich konnte ich nie täuschen. Erzähle mir, was dir am Fundort aufgefallen ist und welche Gedanken dir dabei durch den Kopf gingen.«
»Elke wurde getötet, bevor sie duschte. Das Handtuch und ihre Haare sind trocken.«
»Ja«, stimmte er ihr knapp zu. »Ich schließe mich deiner Meinung an.«
»Ein roter Schnürsenkel liegt auf dem Boden. Wo ist der andere? Ihre Stiefel stehen nicht dort, wo Elke sie abgestellt hatte, ehe wir in die Halle gingen. Wo sind sie? Hat der Täter sie mitgenommen? Wenn ja, weswegen? Wo ist der zweite Schnürsenkel? Aus welchem Grund wurde er aus dem Stiefel entfernt? Elke verließ die Halle etwa eine Viertelstunde vor Anette und mir. Sie wollte duschen und sich die Haare waschen. Sie hatte eine Verabredung, auf die sie sich sehr freute. Ich weiß nicht, mit wem sie sich treffen wollte, und Anette ist darüber auch nicht informiert.«
»Seit wann besucht ihr diese Veranstaltung?«
»Anette und ich nehmen seit Januar an dem Kurs teil. Er beginnt jeden Montag um 20.30 Uhr und endet gegen 22.00 Uhr. Elke hat sich uns erst vor vierzehn Tagen angeschlossen.
Mir ist, als befände ich mich in einem Film, Dieter. Ich stehe neben mir und schaue mir selbst zu. Ich fasse es nicht, dass sie hier ermordet wurde, nur einige Meter von uns entfernt, und wir währenddessen brav unsere Gymnastikübungen ausführten. Wir haben heute die eingeplante Zeit überschritten. Hätten wir den Kurs wie vorgesehen beendet, wäre ...« Heide schwieg. Sie war den Tränen nahe und die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Dieter griff ihre Hand und ließ sie umgehend los, als sein Kollege Herbert Schoven sich neben sie stellte. Heides Hand war eiskalt. Sie würde jeden Moment zusammenklappen, folgerte Dieter.
»Es sind ausnahmslos die Jungen und die Hübschen, die diese perversen Kerle sich greifen«, brummelte Herbert Schoven. Er schüttelte den Kopf und beschwerte sich lauthals: »Du hast mir einen bedeutenden Abend versaut, Fuchs! Das nächste Mal hältst du dich an den Dienstplan! Warum hast du den Krüger nicht informiert? Nur weil die Ermordete ‘ne ehemalige Geliebte von dir gewesen ist, musst du mich nicht aus dem Feierabend holen! Ich hatte es mir gerade mit meiner Frau auf dem Sofa gemütlich gemacht und eine Flasche Sekt geöffnet, um auf die Geburt unseres Ältesten vor zehn Jahren anzustoßen. Habe ohnehin wenig Schlaf in der letzten Woche gehabt, meine Jüngste ist krank.«
Heide runzelte die Stirn und schaute Herbert Schoven unwillig an. Sie ertrug sein lärmendes Auftreten nicht, nicht zu diesem Zeitpunkt. Er erwiderte ihren Blick, zuckte die Achseln und bat halbherzig um Verzeihung: »War nicht so gemeint, wie es klang, schöne Frau.«
Dann hockte er sich hin und musterte die Leiche vor sich. »Tadellose Figur. Eine echte Rothaarige, Dieter? Du musst es wissen. Ich kann es nicht beurteilen, weil sie überall am Körper rasiert ist.«
»Überlege dir, was du sagst und wie du es formulierst«, hielt Dieter ihm ungehalten vor und beobachtete Heide.
Er ahnte, dass sie nicht länger durchhalten würde. Sie war kreidebleich, hielt die Arme über der Brust verschränkt und zitterte am ganzen Körper. Er legte seinen Arm um ihre Schultern.
»Die Männer der Spurensicherung werden nachher die Schränke aufschließen, damit deine Freundinnen sich umkleiden können. Die frei zugängliche Garderobe werden sie notwendigerweise eintüten und mitnehmen. Mag sein, dass wir an der Bekleidung etwas Auffälliges finden. Wo sind deine Sachen?«
Heide wies mit der Hand auf einen Kleiderhaken.
»Angst, bestohlen zu werden, hast du keineswegs. Willst du in diesem Outfit nach Hause fahren?« Er musterte sie, ihr feuchtes verschwitztes T-Shirt, die kniekurzen Leggins. »Du wirst krank werden.«
»Ich werde es überleben«, bemühte sich Heide um einen forschen Ton.
»Ja«, stimmte er ihr zu, »das wirst du.« Er legte seine Hand auf ihr Haar und wickelte eine Strähne um seinen Finger. »Deine Schlüssel und dein Portemonnaie stecken in deiner Jackentasche?«
Heide wich seinem Blick aus und nickte zustimmend. Dieter ging zum Garderobenhaken und fischte beides aus ihrer Jacke.
»Am liebsten würde ich dich selbst nach Hause fahren, du siehst ziemlich mitgenommen aus«, sagte er weich und seine Stimme klang so behutsam, dass sie fast geweint hätte. »Nimm deine Schwägerin Anette an die Hand und verschwinde. Morgen im Laufe des Tages kommt ihr aufs Revier. Meine Kollegen müssen eure Aussage protokollieren. Am Abend besuche ich dich in der Detektei. Bis dahin liegt mir der Obduktionsbericht vor.«
Osnabrück, Innenstadt
Die Person, die in dem geparkten Wagen auf der Straße vor dem Gebäude saß, in dem Elke ein Appartement in dritten Stock bewohnt hatte, stach Dieter in die Augen, ehe er den Eingang erreichte.
»Lass dir die Papiere von dem Fahrer in dem weißen Audi mit dem Osnabrücker Nummernschild zeigen und frage ihn, auf wen er wartet«, forderte er seinen Kollegen Herbert Schoven auf.
Er zog den Schlüsselbund aus der Hosentasche, den sie in Elkes Sporttasche vorgefunden hatten. Ohne zu zögern, schloss er die Haustür mit einem Schlüssel auf, der durch ein rotes Band gekennzeichnet war. Während er die Treppe hinaufstieg und sich Schutzhandschuhe überstreifte, registrierte er mit Erstaunen seine Erleichterung, die Wohnung ohne Herberts Anwesenheit betreten zu können. Heide hatte seine Gefühle richtig eingeschätzt. Elkes gewaltsamer Tod berührte ihn weit mehr, als er es seinem Kollegen zeigen oder sich selbst eingestehen wollte.
›Eine Angewohnheit, die bereits seit vielen Jahren anhält‹, hatte Elke bekannt, nachdem sie bei ihm eingezogen war. ›Rotes Schlüsselband für die Haustür, blaues für die Wohnung. Ich hasse es, zu suchen.‹
Ordentlich und akkurat war sie gewesen, für sein Empfinden fast pedantisch. Jedes Ding hatte seinen passenden Platz gehabt, war stets griffbereit an Ort und Stelle. Auch darum hatten sie häufiger gestritten. Ein aufgeschlagenes Buch neben seinem Lesesessel, gestapelte CDs auf dem Teppichboden unterhalb der Stereoanlage und Zeitschriften in den Bücherregalen hatten ihn nie gestört.
Ihre Wohnung war penibel aufgeräumt und äußerst sparsam möbliert, wie er es vorausgesehen hatte. Auch damals war sie, ohne ein Möbelstück mitzunehmen, bei ihrem Ex aus- und mit nur zwei vollen Koffern bei ihm eingezogen.
Er drückte die Taste der Wahlwiederholung an ihrem Telefon und schrieb sich die Nummer auf, die in dem Display erschien. Danach ging er ins Schlafzimmer, öffnete die Schranktüren, schaute sich aufmerksam die Schuhe und Stiefel auf den eingebauten Metallgestellen an und zog jede Schublade der Kommoden auf, die links und rechts des breiten Bettes standen. In einer Nachttischschublade lagen die abgehefteten Kontoauszüge zweier verschiedener Banken. Das Konto, das sie in der Filiale ihres Arbeitgebers unterhielt, war ausgeglichen, auf dem anderen stand sie mit einem nicht unerheblichen Betrag im Minus.
Herbert Schoven klingelte an der Wohnungstür. Im Vorbeigehen öffnete Dieter ihm, ohne ein Wort zu verlieren, die Tür. Anschließend setzte er seine Inspektion im Bad fort. Er betrachtete die zahlreichen, nebeneinander aufgereihten Kosmetikartikel auf der Ablage, deren Marken ihm allesamt bekannt waren. In seinem Bad hatten sich zu Elkes Zeiten die gleichen Behälter breitgemacht und mit seinem Rasierwasser und seinem Zahnputzbecher um den Platz gestritten.
Zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass in den Ablagefächern des Spiegelschrankes massenhaft Medikamentenschachteln gestapelt waren. Nur Tabletten gegen Kopfschmerzen hatte Elke seinerzeit bei ihm deponiert. Nachdenklich stimmten ihn die Beruhigungs- und Schlafmittel, die er darunter entdeckte.
»Und wer saß in dem Audi?«, rief Dieter fragend und verließ das Badezimmer.
»Björn Schoen, ihr Arbeitskollege und Freund, korrekter gesagt, ihr Verlobter.«
Den Namen kannte Dieter. Björn Schoen war sein Nachfolger bei Elke. Mit diesem blonden ›Schoen‹ling hatte er sie damals in seinem Schlafzimmer vorgefunden.
»Unpersönlich, wie ein Hotelzimmer«, kommentierte Herbert, der in den Wohnraum gegangen war. »Weder Fotografien, Pflanzen oder Bücher. Wie kann eine attraktive Frau, wie sie es war, sich in dieser tristen Umgebung wohlgefühlt haben? Nun sag mal, war sie ‘ne echte Rothaarige? War sie gefärbt?«
»Frage den Rechtsmediziner, wenn du es unbedingt wissen willst«, antwortete Dieter schroff.
»Die schöne Heide ist empfindlich wie ‘ne Mimose. Steht da vor einer Leiche und kippt fast aus den Latschen, nur weil ich nach der Haarfarbe der Toten frage. Lag es daran, dass ich die Ganzkörperrasur angesprochen habe? Ist sie gleichfalls überall rasiert?«, frotzelte er. »Steht sie auf glatt rasierte Haut? Trägst du deshalb keinen Bart?«
»Du bist ein ungehobelter Grobian, Schoven! Ich hätte dir am liebsten eine reingehauen! Solltest du ab jetzt ein einziges Wort über Heide verlieren, hole ich es auf der Stelle nach!«
»Mann, oh Mann, du bist weiterhin in die verknallt. Wann gibst du es endlich auf? Gegen den Staatsanwalt Hammer kriegst du von der keine Schnitte.«
»Besser, du hältst augenblicklich den Mund, Schoven!«
»Alles klar. Du weißt, wie ich es meine, Fuchs.«
»Du übertreibst, Schoven! Reiß dich gefälligst am Riemen!«
Fuchs war tatsächlich wütend, begriff Herbert Schoven. Dieters verkniffener Mund zeigte ihm, dass der Unmut nicht gespielt war. Es war günstiger für ihn, einen Gang herunterzuschalten und sich der Arbeit zuzuwenden.
»Was ist mit Elkes Familie?«, fragte er daher sachlich. »Weißt du, wen wir benachrichtigen müssen?«
»Elke Huse wuchs allein bei ihrem Vater auf und hatte keine Geschwister. Ihre Mutter starb, noch ehe sie zehn Jahre alt war, und ihr Vater im Dezember 2005«, gab Dieter widerwillig Auskunft.
›Dass ich die Bestattungskosten übernehme, ist das Einzige, was er von mir erwarten darf, Dieter‹, hatte Elke den Tod ihres Vaters kommentiert, ›und weiter werde ich mich zu dieser Sache nicht äußern, also frage nicht.‹
»Schaut es in den anderen Räumen gleichermaßen kühl aus, Fuchs?«
»Ja. Hast du ihrem Verlobten bereits mitgeteilt, dass sie ermordet wurde?«
»Nein, ich weiß, dass du diesen Part übernehmen willst. Wurde etwas fahrig, der gute Mann, weil ich von ihm wissen wollte, weswegen er im Wagen sitzt und sich den Arsch abfriert und ob er keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung besitzt. Er wartet unten auf dich. Geh nur, ich halte hier die Stellung, bis die Leute von der Spurensicherung auftauchen.«
Dass Björn Schoen keinen Wohnungsschlüssel besaß, verwunderte Dieter nicht. Im Bad hatte er kein einziges Indiz gefunden, das auf einen männlichen Besucher hinwies. Falls sie in ihrer Wohnung Männer empfangen hatte, waren sie gegangen, ohne sich die Zähne zu putzen.
Björn Schoen lehnte lässig an der Tür seines Fahrzeuges, die Hände hielt er in den Manteltaschen vergraben.
»Würden Sie mir bitte endlich sagen, was geschehen ist?«, empfing er Dieter kurz angebunden.
»Selbstverständlich, nur würde ich ungern im Freien darüber sprechen.«
Ich will dein Gesicht, deine Augen und deine Hände sehen, wenn ich dir die Todesnachricht überbringe, dachte Dieter, und dafür ist es in dem diffusen Licht der Straßenlaterne eindeutig zu dunkel.
»Wir haben drei Möglichkeiten, Herr Schoen«, bot Dieter an und hielt ihm seinen Ausweis entgegen. »Sie begleiten mich auf das Revier, wir fahren gemeinsam zu Ihnen nach Hause oder gehen in das Lokal gegenüber. Wobei der letzte Vorschlag mir am unangenehmsten wäre.«