Epub cover

WELCOME

«Welcome to my world

Won’t you come on in

Miracles, I guess

Still happen now and then

Step into my heart

Leave your cares behind

Welcome to my world

Built with you in mind»  (Elvis Presley)

«Karma is a bitch» (unbekannt)

MATTHIAS ACKERET

ELVIS

DER ROMAN

Meier Buchverlag Schaffhausen

AUTOR

Matthias Ackeret (geboren 1963) ist Chefredaktor von «persönlich» und persoenlich.com, dem führenden Kommunikationsbrand der Schweiz. Zudem arbeitete er als freier Journalist u. a. für «Weltwoche», «Welt» und «Merian».

Zuvor war Ackeret lange Jahre Fernsehjournalist und -moderator bei S Plus, TeleZüri und Tele24.

Matthias Ackeret ist promovierter Jurist (Dr. iur). Thema: Das Schweizer Rundfunkrecht.

Er publizierte neben dem Zürich-Handbuch (acht erweiterte Auflagen, Unterwegs-Verlag) die beiden Romane «Die ganze Welt ist Ballermann – Karten an Martin Walser» (1998, Unterwegs, TB: Goldmann-Verlag) und «Der Hammermann» (2005, Unterwegs-Verlag) sowie den Bestseller «Das Blocher-Prinzip» (2007, Meier Buchverlag, 5. Auflage, allein in der Deutschschweiz 40 000 verkaufte Exemplare).

Matthias Ackeret lebt in Zürich.

IMPRESSUM

© 2012 Meier Buchverlag Schaffhausen

Lektorat: Marie-Christine Neininger

Korrektorat: Dr. Jacqueline Preisig

Gestaltung Cover: Zvezdana Schällebaum

Produktion: Daniel Haberthür

ISBN: 978-3-85801-272-2

«Es ist nicht wichtig, ob Elvis noch lebt.

Wichtig ist, dass er gelebt hat.»

(Marcel du Chèvre)

Erster Teil

GISELA




1.

Als Dr. Beat Pestalozzi in die Augen von Gisela von Egloff-Colombier sieht, fühlt er sich wehrlos.

Sie weint.

Beat hebt seinen linken Arm, überlegt sogar, diesen auf Giselas Schultern zu legen, unterlässt es aber. Gisela verstünde dies als plumpe Anmache, als Ausnützen einer Notlage, was es eigentlich auch wäre.

«Nein, Beat», sagt sich Dr. Beat, nicht bei der Frau deines besten Freundes. Besser nicht. Oder vielleicht doch.

Gleichzeitig ist er Gisela noch nie so nah gewesen. Ausser in seinen Träumen.

Beat spürt seinen Herzschlag.

Kontrollverlust wäre das Schlimmste, was ihm nun passieren konnte. Nur der griffbereite Deodorant in seiner Hosentasche garantiert Sicherheit. Für den Fall aller Fälle.

Dieses verdammte Weltgesetz: Wenn eine Frau weint, wird der Mann schwach. Besonders dann, wenn sie wie Gisela einen Adelstitel trägt, und sei dieser auch nur das Resultat einer Heirat.

Alleine die Behauptung, dass die Vorfahren von Giselas Exmann Frederic den grossen Goethe persönlich gekannt hätten, gab Gisela in Beats Augen einen intellektuellen Touch.

Frederic dagegen kannte nur noch Jack Daniels. Nach seinem Tod – Leberzirrhose mit 45 Jahren – posierte Gisela für den «Playboy», deutsche Ausgabe.

Als Trauerarbeit.

Obwohl vieles retouchiert, war dies ihr Befreiungsschlag. Und eine Lebenslehre: Adlige Körper verkaufen sich besser.


Allein die Vorstellung, dass sich Gisela für den «Playboy» ausgezogen hat, steigert Beats Herzschlag. Da stört es auch nicht, dass es vor einigen Jahren war.

Beat war einst Marathonläufer, doch selbst auf seinen Ruhepuls ist kein Verlass mehr.

Dass seine linke, leicht zitternde Hand nur noch wenige Zentimeter von Giselas «Playboy»-Brust entfernt ist, wirft ihn aus seinem überkontrollierten Seelengefüge.

Selbst der Umstand, dass Gisela mit Marcel du Chèvre verheiratet ist, ist in diesem Moment vernachlässigbar.

Auch die Tatsache, dass Marcel Beats Freund ist und er sich in dessen Wohnung befindet, stört nicht.

Die Kraft der Geografie: Marcel ist weit weg, Dr. Beat aber da.

Plötzlich verspürt er eine unkontrollierte Wut auf Marcel.

Dass ihm dieser seine Botox-gespritzte Schönheit ausliefert, ohne einen Hauch von Anwesenheit zu markieren, ist nur noch demütigend. So tief war er in dessen Augen also gefallen. Er scheint ihm überhaupt nichts zuzutrauen.

Giselas Schluchzen ist unerträglich. Alles an ihr vibriert.

«Jetzt», stammelt sie, «jetzt hat mich Marcel endgültig verlassen.»

Verlegen versucht Beat Giselas Hand zu streicheln, doch sie weicht zurück.

«Ich wusste es», schluchzt sie und blickt ihn von unten an. «Ich wusste es von jenem Moment an, als er nur noch von dieser Schlampe gesprochen hat.»

Beat registriert ganz genau, dass sie Marcels Namen vermeidet.

Ihre Stimme stockt für einen kurzen Augenblick, bevor sie von einem weiteren, eruptiven Tränenausbruch geschüttelt wird.

Dies ermöglicht Dr. Beat, unbemerkt auf ihren Busen zu starren. Dass ihre Hand mittlerweile in der seinigen liegt, scheint sie zu ignorieren; vielleicht ist es ihr gar nicht bewusst. Dank eines «La Prairie»-Caviar-Extrakts fühlt sich ihre Haut erstaunlich sanft an.

«Warum ist Marcel eigentlich gegangen?»

Schlagartig beendet Gisela ihr Wimmern.

Ihr Körper nimmt Achtungstellung an.

«Beeindruckend», denkt Dr. Beat, der immer noch verlegen ihre weiche Hand streichelt. Doch nun zieht sie diese abrupt zurück, nicht ohne noch einen kontrollierenden Blick darauf zu werfen. Wer die Hände kennt, kann die Jahre verzeihen.

«Wegen Elvis.»

Ihre Stimme ist fester geworden.

«Wegen Elvis?»

Marcel habe in den letzten Wochen ständig davon geschwafelt, dass er Elvis Presleys letztes Geheimnis entdeckt habe.

Genauer, eine Frau habe sich bei ihm gemeldet und habe behauptet, dass sie Elvis’ letztes Geheimnis kenne und dieses ihm – dem grossen Marcel du Chèvre – anvertrauen wolle. So viel Exklusivität sei besonders verdächtig.

Dabei sei doch alles über Elvis bekannt. Im Gegensatz zu Kennedy, Barschel, Haider, Marilyn oder Lady Di sei dieser verschwörungstechnisch unbefleckt. Vom 11. September oder Bin Ladens Tod gar nicht zu sprechen.

Gisela lacht bitter. «Diese ganze Verschwörungstheorieindustrie ist doch nur ein Ausbund von Scharlatanerie.»

Trotzdem sei Marcel gestern Morgen früh aufgebrochen. Sein Ziel: unbekannt – oder fast unbekannt. Irgendwo im Grossraum Frankfurt lebe diese Schöne. Das Wort «Schöne» habe er äusserst ironisch ausgesprochen, wohl um jegliche Zweifel zu dämpfen. Das Gegenteil sei aber passiert.

Was er, Beat, darüber denke.

Dr. Beat schweigt verlegen, was ihren Redefluss aber keineswegs stoppt.

Das Ganze höre sich doch stark nach Flucht an, einer Ausrede, als wolle er ihr damit seinen Abgang in homöopathischer Dosierung schmackhaft machen.

«Aber ohne mich.»

Sie habe schliesslich den Realitätssinn einer Frau. Und die profundeste Marcel-Erfahrung.

«Beat, welches Geheimnis soll Elvis Presley gehabt haben?»

Auch diesmal schweigt Beat. Ausser einem missglückten Ausflug nach Graceland, der Bestandteil seiner Flitterwochen war, verfügt er über keine weiteren Elvis-Kenntnisse. Doch dies ist auch schon zehn Jahre her.

Im Innersten ist sich Beat ganz sicher, dass sich diese vermeintliche Tochter von Elvis Presley niemals auf einen wie Marcel du Chèvre einlässt. Das wäre stillos. Doch dies sagt er Gisela nicht.

Ohne nach falschen Worten zu suchen, unterbindet er jegliche Sprach-Kaskaden und versucht die Peinlichkeit durch Gegenpeinlichkeit abzuwürgen.

Stattdessen versucht er Giselas Hand ein weiteres Mal zu streicheln. Diesmal weicht sie nicht mehr aus.

Der Tiger in ihm lauert auf den Sprung.

Gisela stutzt, dann blickt sie auf ihre und seine Hand.

«Beat, so einer bist du also?»

Aus ihren Worten glaubt Beat einen Hauch von Anerkennung zu hören. Oder täuscht er sich? Ganz sicher ist er sich aber nicht. Schmeichelt es nicht jedem Nichtplayboy, als Playboy geoutet zu werden? Obwohl Dr. Beat von Berufes wegen gegen menschliche Käuflichkeit immun sein müsste, ist er manchmal auch nur Mensch. Manchmal aber auch nur, wie jetzt, ein Mann.


2.

Dr. Beat Pestalozzi kannte Marcel du Chèvre sieben Jahre. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung war aber nur noch verschwommen. Unbestritten war lediglich, dass sie in einem Zürcher Nachtlokal stattfand, welches Beat mit einem Klienten, dem deutschen Reisebuchverleger Manni M., aufsuchte. Auf Mannis Wunsch. Man trank Gin Tonic. Auch auf dessen Wunsch.

Beat war froh, dass ihm Manni M. eine Welt ausserhalb der Paragrafen zeigte und ihm damit über seine Scheidung hinwegzuhelfen versuchte. «Andere Frauen haben auch schöne Töchter», sagte Manni M. und hoffte, dass Beat dank dieser Erkenntnis endlich Helene, seine Exfrau aus München, würde vergessen können. Doch selbst die Kraft der Worte hat ihre Grenzen.

Sogar die Rückkehr von München nach Zürich, wo Beat aufgewachsen war, konnte seinen Trennungsschmerz nicht lindern.

Und so nippte man weiter am Ginglas.

Plötzlich tauchte eine massige Gestalt aus dem schummrigen Gegenlicht auf, die sich als der «weltberühmte Marcel du Chèvre» vorstellte. Beat kannte ihn nicht. Stockbesoffen stand der Unbekannte vor dem Reisebuchverleger und dem Anwalt Pestalozzi, das gelbe Stoffhemd aus den Hosen gerissen. Was er wollte, war Beat sofort klar. Hinter ihm eine halb bekleidete Brasilianerin, die unentwegt schrie. Die ersten Gäste drehten sich bereits um, was Beat, vor allem gegenüber Manni M., peinlich war. Doch dieser nahm die Peinlichkeit gar nicht als solche wahr und musterte nur das durchsichtige Kleid der Brasilianerin. In der Funktion eines Reisebuchverlegers: andere Länder, andere Sitten.

Beat zögerte keine Sekunde und öffnete sein Portemonnaie. Dies nicht nur aus Nächstenliebe, sondern vor allem aus Angst, dass ihn jemand erkennen könnte. Das Einzige, was er in seinem Geldbeutel vorfand, war eine 1000-Franken-Note, die er Marcel zusteckte. Dieser, gerührt, umarmte Beat, murmelte, dass er das nie mehr vergessen werde, und verschwand sogleich hinter einem roten Plüschvorhang. Mit der Brasilianerin. Das Geld sah Beat nie mehr, die Freundschaft aber blieb. Nur das zählt.

Gäbe es auf dieser Welt eine einzig wahre Männerfreundschaft, dann wäre es unsere, predigte Marcel jeweils. Daran hegte er keinen Zweifel, Beat zögerte. Das Leben, so hatte er als Jurist gelernt, sei eine Ansammlung von Varianten, wobei die beste selten die wahrscheinlichste sei.

Seither war die Aufgabenteilung klar: Marcel redete, Dr. Beat zahlte. Vor allem in ihrem Stammlokal, der «Casa Aurelio», einem schmucken Spanier in Zürichs Vergnügungsviertel, deren Gäste sich nur zwischen 50 Millionen Franken Vermögen und 50 Jahren Gefängnis unterscheiden, wie eine Zeitung einmal schrieb. Die Spreu und der Weizen. Alles benannt nach dem Besitzer, Señor Aurelio, der als abendliches Ritual kurz vor Mitternacht jeweils mit einem Glas Macabeo auf dem Kopf durch sein Lokal stolzierte.

*

Am liebsten dozierte Marcel über sein Nachtessen im «Ritz» mit Soraya, der Exfrau des Schahs, die Liebesnacht mit Jackie Collins im Beverly-Hills-Hotel oder das Tänzchen mit Prinzessin Diana in einer tief verschneiten Arlberg-Alphütte, welches abrupt endete, als sie erkannte, wen sie in ihren Armen hielt: einen Journalisten!

Den personifizierten Abschaum menschlicher Existenz. Doch Marcels Mythos tat dies keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Er hatte damit das Höchste erreicht, was möglich war: Er galt als Institution.

Kein hundskommuner Journalist, keine schreibende Kanalratte: Marcel du Chèvre, der Spezialist für menschliche Krisenherde. Seine Kolumne «Auf eine Tasse Tee mit ...» krönte jahrzehntelang das nationale Boulevardblatt. Eine wöchentliche Ode an das richtige Leben der anderen:

«Kann Boris Becker überhaupt lieben?» – «Ist Michael Jackson wirklich tot?» – «Gibt es ein Leben nach Beckenbauer?»

Marcel, dieser Scholl-Latour der Seele, gut aussehend, frankophil. Keiner, dessen Namen mit den beiden Buchstaben -er endet, das die andern Heroen seines Fachs kennzeichnet: den Wagner, den Sahner, den Graeter, den Glogger. Da mochten die Vornamen noch so klingend sein: Franz Josef, Paul, Michael oder Helmut-Maria, gegen wahren Adel hat man damit keine Chance.

Marcel du Chèvre. Seine Passion: europäische Königshäuser; Titel seines Standardwerkes: «Ich stelle nur Fragen», 24. Auflage, 13 Sprachen. So jedenfalls sagt es Marcel.


Wenn es ein Hautnah gab, war Marcel hautnaher. Das Marcel-Prinzip: Die Storys überstülpen, als wären sie eine zweite Haut. Sich selbst zur Geschichte machen. L’acteur, c’est moi! Marcels Durchbruch: Bereits drei Tage nach Uwe Barschels Tod quartierte er sich im Herbst 1987 unter einem Pseudonym im Zimmer 317 des Genfer Hotels Beau Rivage ein. Im gleichen Zimmer, in welchem der verstorbene Politiker in der Badewanne aufgefunden worden war. Statt als Marcel du Chèvre meldete er sich als Marcel von Bahlsen an. Er wusste, einer wie Marcel kann nicht Hans Meier heissen. Namen sind Naturgesetze, bei welchem sich der Mensch dem Namen anpasst – und nicht umgekehrt.


Marcels Vater war ursprünglich ein französischer Ingenieur gewesen, ein Gentleman mit dem klingendem Nachnamen du Chèvre. Nach seinem Militärdienst zog er der Liebe wegen in ein kleines Kaff bei Bamberg, Marcels Mutter hingegen war eine anständige Bäckerstochter aus Bayern. Wie alle Franzosen habe sein Vater auch in der Résistance gekämpft, erzählte Marcel Beat. Dies verbinde die Franzosen mit den Deutschen, die alle auch Widerstandskämpfer gewesen  seien – im Gegensatz zu den Österreichern, die nicht einmal einem der Ihren widerstehen konnten.


Marcel holte aus. Der Genfersee, so erinnerte er sich an einem ihrer «Casa Aurelio»-Abende, sei damals in herbstlichstes Licht getaucht gewesen, als er am 14. Oktober 1987 in Genf angekommen sei. Er habe das Hotel Beau Rivage bestens gekannt. Früher, wenn er mit seinen Eltern im Wohnwagen vom Fränkischen ans Mittelmeer gefahren sei, sei dies der erste Zwischenhalt gewesen. Eine pädagogische Zweckübung. «Beau rivage», habe ihm sein Vater jeweils gesagt, was so viel bedeute wie Po rivage oder noch besser: Po lavage. Die Verpflichtung nämlich, nach jedem Toilettengang seinen Hintern zu putzen. Dies gab dem Vater die Legitimation, mit Klein Marcel im «Beau Rivage» zu übernachten. Gleichzeitig habe es seinem Vater die Möglichkeit gegeben mit Claudine, dem welschen Zimmermädchen, welches er auf seinen unzähligen Geschäftsreisen kennengelernt hatte, französische Vokabeln auszutauschen. Claudine sei zwar schlussendlich nicht der Scheidungsgrund von Marcels Eltern gewesen, hätte aber einer sein können. Er habe sich als Kleinkind nur gewundert, warum er im «Beau Rivage» bereits um 17 Uhr ins Bettchen gehen musste. In Begleitung seiner deutschen Mutter, die, obwohl sie gar nicht so richtig wollte, dem gestrengen Vater aber nicht zu widersprechen wagte. Bereits damals habe er erkannt: «Auch Mutterliebe kennt ihre Grenzen.» Sein Vater sei eben ein richtiger «Filou» gewesen. Obwohl er längst den deutschen Pass angenommen hatte. Diese Tatsache ignorierte Marcel.


Marcel verfiel in ein schallendes Gelächter, was nicht weiter auffiel, weil der Lärmpegel in der «Casa Aurelio» das Zumutbare längst überschritten hatte. Beat staunte nur über so viel Welterfahrung. Die Erinnerung an seine eigene Kindheit war völlig unspektakulär. Schweizerisch halt.


Als Marcel, mittlerweile Starreporter, 20 Jahre später wieder im «Beau Rivage» auftauchte, um Barschels Ableben zu recherchieren, erinnerte er sich an Claudine. Diese – mittlerweile auch zwanzig Jahre älter – auch an Marcel, den Sohn des Alten. Der du-chèvreschen Familientradition folgend, tauschte man wieder französische Vokabeln aus, und Marcel durfte zum Dank im Zimmer 317 übernachten, dem ominösen letzten Aufenthaltsort des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten. Dass Marcel – beim Einsteigen in die Badewanne – vom schweren Duschvorhang beinahe erschlagen wurde, verschwieg er. War es Barschel am Ende gleich ergangen?

Doch als mögliche Todesursache war ein technischer Defekt kein Heuler: So viel Banalität erträgt die Wahrheit nicht, so viel Normalität widerspräche auch Marcels Lebenscredo. Die Story «Ich war in seiner Wanne» bedeutete für Marcel aber kurzzeitigen Weltruhm und für Claudine die Entlassung, was jedoch nicht weiter schlimm war, weil sie eh ins Hotel Président Wilson wechseln wollte. Nur ohne Kündigung. Das Bild – Marcel mit Victoryzeichen im Schaumbad – hängte er über seinem Schreibtisch auf. Dass die Fotografin anschliessend zu Marcel ins warme Nass stieg, sich aber aus Pietätsgründen weigerte, ihr Oberteil auszuziehen, war für Marcel noch lange ein Ärgernis. Dies wäre die Trophäe gewesen: ein Büstenhalter aus Barschels Wanne, keine verfaulten Elefantenzähne wie bei Hemingway oder abgegriffene Agfa-Bilder wie bei Scholl-Latour.


Nach solch opulenten Schilderungen schwieg Beat regelmässig und verlangte die Rechnung. Er fühlte sich wie jene Hauswand in einem Münchner Arbeiterviertel, die stundenlang von den Fussbällen des jungen Franz traktiert wurde. Standhaft, aber trotzdem wehrlos.

*

Tröstlich: Nur wenige Wochen nachdem Dr. Beat Pestalozzi Marcel du Chèvre kennengelernt hatte, trat Marcel auch in Giselas Leben. Für Beat göttliche Fügung, für sie Zufall.

Schon einen Tag nachdem Gisela für den «Playboy» posiert hatte, bekam sie einen Anruf von Marcel.

«Wieder angezogen?»

Woher er ihre Nummer kannte, wusste sie nicht. Auch der Name Marcel du Chèvre war ihr unbekannt. Dass sie nicht gleich auflegte, lag vor allem an seiner Stimme – und ein wenig an seiner Direktheit. Marcel schien dies zu spüren.

Nur wer den geraden Weg wähle, so entschuldigte er sich ungefragt, treffe auch sein Ziel. Er wolle nicht mit der Haustüre ins Haus fallen, im Gegenteil, er sei der neue Hausbesitzer.

Daraufhin lachte er. Dass dies kein Scherz war, realisierte Gisela erst viel später.

Sein Ziel sei ganz banal: Er wolle ihr wahres Ich finden.

Wer sich vor der ganzen Welt entblättere, habe etwas zu verstecken – und sei es nur seine Seele. Und diese zu ergründen, sei seine verdammte Journalistenpflicht. Der «Playboy» sei ein Hilferuf.

Dann senkte er seine Stimme. Er würde gerne mit ihr über das ganze «Playboy»-Shooting sprechen. Völlig unvoreingenommen, aber am besten schon morgen. Es gebe überhaupt keine Zeit zu verlieren: «Adel verkauft sich gut, ‹Playboy› noch besser.» Die Welt – und vor allem seine Leser – habe das Recht, alles über Gisela und ihre Motivation zu erfahren. Titel der Story: «Auf eine Tasse Tee mit Gisela von Egloff-Colombier».

Fast schon beiläufig fügte Marcel an: «Widerspruch zwecklos.»

Und auch das mit dem Tee müsse sie nicht so wörtlich nehmen.

Dann legte er auf.

Erstmals fühlte sich Gisela von einem Mann verstanden.


Für das Interview hatte Marcel zwei Tage später die grösste Suite im «Dolder Grand» gemietet. Tief unten leuchtete Zürich.

Als Gisela – wie immer – verspätet eintraf, war bereits alles vorbereitet. Ein «Starfotograf» mit langen Haaren und Mundgeruch hetzte herum. Doch dies schien die beiden Visagistinnen, wovon eine Asiatin war, nicht zu stören. Auf dem Tischchen unübersehbar das Tonbandgerät, ein kleines Graues von Sony.

Marcels schärfste Waffe.

Er war in seinem Element.

Als er Gisela erblickte, rückte er die Nickelbrille über die Nasenspitze, gab ihr drei knappe Wangenküsse und sprach sie sogleich auf ihren Verwandten Goethe an.

Gisela, geschmeichelt, mochte nicht präzisieren, dass es sich bei diesem angeblichen Verwandten lediglich um einen Vorfahren ihres Jack-Daniel-trinkenden, verstorbenen Gatten handelte, der Goethe gekannt haben soll, was aber auch ziemlich hypothetisch war. Vielleicht hatte dieser unbekannte Verwandte den grossen Goethe einmal vor seinem Weimarer Haus am Frauenplan gesehen. Im besten Fall also Wahlverwandtschaft.

Marcel: «Auch Goethe war Entblössungskünstler.»

Gisela: «Ja.»

Sie sah die Headline bereits vor sich und schwieg.

Sie wusste, dass nun jedes falsche Wort die Story gefährden könnte. Dann schon lieber direkt mit Marcel ins Bett, um das Ganze athletisch abzusichern. Wenn nur endlich dieser verdammte Fotograf mit dem Mundgeruch gehen würde. Gisela mochte keine Fotografen mit Mundgeruch und langen Haaren. Sogar dann, wenn ihnen das Prädikat «Starfotograf» wie eine Trophäe anhaftete.

Marcel hingegen schien das Ganze überhaupt nicht zu stören. Gegen Stars hatte er nichts – und in der Schweiz gab es erstaunlich viele.

Er war relaxed.

Er hatte die Story ohnehin schon geschrieben: «Goethe und das Playgirl». Dafür musste er sich nicht mehr mit Gisela unterhalten.

Gleichzeitig war er sich sicher, dass er die Nacht mit ihr verbringen würde. In diesem Zimmer.

Davon konnte ihn selbst ein Starfotograf nicht abhalten. Schliesslich tat der Mann nur seinen Job, und sogar beim Misslingen der Fotos gab es immer noch das Archiv.

Marcels Selbstsicherheit paralysierte Gisela.

Zu Recht: Fünfundvierzig Minuten später war der langhaarige Mundgeruchfotograf weg.

Fünf Minuten danach waren sie im Bett.

Eine Woche darauf kam die Story.


Als Marcel du Chèvre dreizehn Monate nach diesem Schicksalsabend im Zürcher Hotel Dolder Grand das ehemalige Playgirl Gisela von Egloff-Colombier heiratete, war Dr. Beat Pestalozzi Trauzeuge. Die Krönungsmesse schlechthin: Die Quadratur von du Chèvre und von Egloff-Colombier, ein fulminantes Feuerwerk von «Du» und «Von». Wahre deutsch-französische Freundschaft, visitenkartentechnisch jedenfalls.

Auf Beats samtenem Nadelstreifenanzug prangte eine rote Rose, und als Trauzeuge bedrängte ihn der Gedanke, dass er nie so eine tolle Frau wie Gisela bekommen würde. Zum ersten Mal beneidete er Marcel. Die einzige Härte des Lebens spüre dieser – und dies registrierte Beat mit einer Anwandlung von Bosheit – nur zwischen den Beinen. Seit der Trennung von Helene, seiner grossen Liebe,  war Beat ein orientierungsloser, ein vor sich hindümpelnder Dampfer, was aber niemandem weiter auffiel.

Der Schein beeinträchtigt das Bewusstsein.

Obwohl er schon damals gerne mit Gisela geschlafen hätte, durfte er nur unterschreiben. Sogar ihre Zwillingsschwester Ulrike, die als Trauzeugin amtete, war vergeben. «In der Not», hatte Beat erkannt, «ist das Pech am grössten.»


3.

Marcel du Chèvres Abstieg begann mit Heis Einstieg vor einem guten Jahr. Marcel wollte es nicht wahrhaben, Beat hingegen spürte es aus Kleinigkeiten. Sein Nicht-direkt-darüber-Reden machte Marcel verdächtig. Wie immer sass man im «Aurelio» und tauschte Belanglosigkeiten aus. Marcel war anders als sonst; obwohl er immer noch einen starken deutschen Akzent hatte, fluchte er unentwegt über die Deutschen. Dabei meinte er ausschliesslich einen: Hei, was er aber so nicht sagte.

«Hei» hiess eigentlich Heidmann, kam aus Schweinfurt und war ein drahtiger, kleiner, hässlicher Mann, der vom Verleger zum Ressortleiter befördert worden war.

Was Marcel nicht wusste: Hei liebte keine Prominenten – und noch weniger Prominentenreporter, die selbst prominent sein wollten. Das machte ihn unangreifbar. Nur noch schlimmer waren für ihn aber Prominentenreporter, die sogar prominent waren. Hei liebte nur seine Familie, vor allem seine Kinder. Ein knallharter Rechercheur, lobte ihn der Verleger.