Titel der Originalausgabe: »Un homme qui dort«
© 1967 by Éditions Denoël, Paris
Die vorliegende Übersetzung von Eugen Helmlé
erschien erstmals 1988 im Manholt Verlag.
© diaphanes, Zürich 2012
www.diaphanes.net
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Layout: 2edit, Zürich
Umsetzung Ebook: Version House, Berlin
ISBN Epub: 978-3-03734-370-8
ISBN Mobipocket: 978-3-03734-371-5
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Aus dem Französischen von Eugen Helmlé
diaphanes
broschur
Für Paulette
In Memoriam J. P.
Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.
Franz Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg
Sobald du die Augen schließt, beginnt das Abenteuer des Schlafs. Dem bekannten Halbdunkel des Zimmers, ein von Einzelheiten unterbrochener düsterer Raumkörper, in dem dein Gedächtnis mühelos die Wege erkennt, die du tausendmal zurückgelegt hast und die es vom undurchsichtigen Rechteck des Fensters aus nachzeichnet, wobei es den Waschtisch von einer Spiegelung, das Regal vom etwas helleren Schatten eines Buches aus auftauchen lässt und dadurch die schwärzere Masse der aufgehängten Kleidungsstücke stärker hervorhebt, folgt nach einer gewissen Zeit ein zweidimensionaler Raum, wie ein Bild ohne eindeutige Grenzen, das mit der Linie deiner Augen einen ganz kleinen Winkel bilden würde, als stünde es, nicht ganz senkrecht, auf deinem Nasenrücken, ein Bild, das dir zunächst einförmig grau oder eher neutral erscheinen mag, farb- und formlos, das aber wahrscheinlich ziemlich bald schon mindestens zwei Eigenschaften besitzt: die erste ist die, dass es sich mehr oder weniger eintrübt, je nachdem, ob du die Augenlider mehr oder weniger schließt, als hätte, genauer gesagt, die auf den Balken deiner Brauen ausgeübte Kontraktion, wenn du die Augen schließt, die Wirkung, die Neigung der Ebene im Verhältnis zu deinem Körper zu verändern, so als bilde der Balken deiner Brauen das Scharnier und verändere folglich, obgleich diese Folge nicht beweisbar scheint, es sei denn durch Augenschein, die Dichte oder die Eigenschaft der Dunkelheit, die du wahrnimmst; die zweite ist die, dass die Fläche dieses Raumes überhaupt nicht gleichmäßig ist oder genauer, dass die Verteilung, die Aufteilung der Dunkelheit nicht auf homogene Weise geschieht: der obere Bereich ist sichtlich dunkler, der untere Bereich, der dir der nähere zu sein scheint, obgleich die Begriffe nah und fern, oben und unten, vorn und hinten natürlich schon aufgehört haben, völlig klar und eindeutig zu sein, ist einerseits viel grauer, das heißt, nicht viel neutraler, wie du zu glauben beginnst, sondern unzweifelhaft viel weißer und enthält oder trägt andererseits ein, zwei oder mehrere Arten von Beuteln, Kapseln, ein wenig die Vorstellung, die du dir zum Beispiel von einer Tränendrüse machst, mit schmalen, bewimperten Rändern, in deren Innerem sehr sehr weiße Blitze zucken, sich bewegen, sich winden, die manchmal ganz schmal sind, wie sehr feine Streifen, manchmal viel dicker, fast fett, wie Würmer. Diese Blitze, obgleich Blitze ein völlig unzutreffendes Wort ist, haben die seltsame Eigenschaft, dass sie nicht angeschaut werden können. Sobald du deine Aufmerksamkeit ein wenig zu stark auf sie richtest, und es ist fast unmöglich, das nicht zu tun, denn schließlich tanzen sie vor dir herum und alles Übrige ist eigentlich kaum vorhanden, wirklich spürbar ist nur das Scharnier deiner Brauen und dieser sehr verschwommene, mehr oder weniger wahrnehmbare Raum, in dem sich die Dunkelheit ungleichmäßig ausdehnt, doch sobald du sie anschaust, obgleich dieses Wort selbstverständlich nichts mehr sagen will, sobald du zum Beispiel versuchst, dich ein ganz klein wenig ihrer Form oder ihrer Substanz oder einer Einzelheit zu versichern, kannst du sicher sein, dass du dich mit offenen Augen vor dem Fenster wiederfindest, einem undurchsichtigen Viereck, das wieder zum Quadrat wird, obgleich dieser oder diese Beutel ihm in nichts gleichen. Hingegen erscheinen sie, und mit ihnen der mehr oder weniger schiefe, mit deinen Augenbrauen verbundene Raum, einige Zeit, nachdem du von neuem die Augen geschlossen hast, wieder, und wahrscheinlich haben sie sich von einem Mal zum andern nicht verändert. Dessen kannst du allerdings nicht ganz sicher sein, denn nach einer schwer abschätzbaren Zeit und obgleich dir noch nichts zu behaupten erlaubt, dass sie tatsächlich verschwunden sind, kannst du feststellen, dass sie merklich blasser geworden sind. Du hast es jetzt mit einer Art gestreiftem Grau in Grau zu tun, das immer noch zu diesem selben Raum gehört, der deine Brauen mehr oder weniger fortsetzt, nun aber, so könnte man meinen, derart verzerrt, dass er ständig nach links hinausgetragen wird; du kannst ihn anschauen, ihn erforschen, ohne das Gesamtbild zu zerstören, ohne ein unmittelbares Erwachen hervorzurufen, aber das ist völlig ohne Interesse. Auf der Rechten verschwindet etwas, im vorliegenden Fall ein Brett, mehr oder weniger hinten, mehr oder weniger oben, mehr oder weniger rechts. Natürlich ist das Brett nicht zu sehen. Du weißt nur, dass es hart ist, obgleich du nicht darauf liegst, weil du nämlich auf etwas sehr Weichem liegst, das dein eigener Körper ist. Darauf kommt es zu einer ganz und gar erstaunlichen Erscheinung: es gibt da zuerst drei Räume, die du durch nichts miteinander verwechseln könntest, deinen Bett-Körper, weich, waagrecht und weiß, dann der Balken deiner Brauen, der über einen grauen, unscheinbaren, schrägliegenden Raum herrscht, und schließlich das Brett, das unbeweglich ist und sehr hart obendrauf, parallel zu dir und vielleicht erreichbar. Es ist in der Tat klar, selbst wenn es das Einzige ist, was klar ist, dass du einschläfst, wenn du auf das Brett kletterst, dass das Brett der Schlaf ist. Das Prinzip des Vorgangs ist so einfach wie möglich, obgleich dir alles zu denken gibt, dass du viel Zeit brauchen wirst: man müsste das Brett, den Körper, so weit zusammendrücken, bis sie nur noch ein Punkt sind, eine Murmel, oder man müsste, was aufs Gleiche herauskommt, die ganze Schlaffheit des Körpers verringern, sie auf eine einzige Stelle konzentrieren, in einem Lendenwirbel zum Beispiel. Doch in diesem Augenblick stellt der Körper überhaupt nicht mehr die schöne Einheit von vorhin dar, er erstreckt sich in Wirklichkeit in alle Richtungen. Du versuchst nun, eine große Zehe oder deinen Daumen oder deinen Schenkel zum Zentrum zurückzubringen, aber jedes Mal gibt es da eine Regel, die du vergisst. Nämlich die, dass du nie die Härte des Brettes aus den Augen verlieren darfst, dass du mit List vorgehen, deinen Körper heranbringen musst, ohne dass er etwas merkt, ohne dass du selber es mit Sicherheit weißt, aber es ist zu spät, jedes Mal längst schon zu spät und, merkwürdige Folge, der Balken deiner Brauen bricht entzwei und in der Mitte, zwischen deinen beiden Augen, als ob das Scharnier das Ganze zusammengehalten hätte und die ganze Kraft des Scharniers sich an dieser Stelle sammelte, taucht plötzlich ein präziser, unzweifelhaft bewusster Schmerz auf, den du sofort als den banalsten aller Kopfschmerzen erkennst.
Du sitzt mit nacktem Oberkörper, nur mit einer Schlafanzughose bekleidet in deiner Dachkammer auf der schmalen Bank, die dir als Bett dient, auf deinen Knien ein Buch von Raymond Aron Lektionen über die Industriegesellschaft, aufgeschlagen auf Seite hundertzwölf.
Zuerst ist es nur eine Art Überdruss, Mattigkeit, als stelltest du ganz plötzlich fest, dass du seit Langem, seit mehreren Stunden, das Opfer eines arglistigen, abstumpfenden Unbehagens bist, kaum schmerzhaft und doch unerträglich, der süßliche und erstickende Eindruck, keine Muskeln und keine Knochen zu haben, ein Sack Gips unter Gipssäcken zu sein.
Die Sonne brennt auf die Zinkplatten des Dachs. Vor dir, in Augenhöhe, auf einem Regal aus weißem Holz, eine halbleere, etwas schmutzige Schale Nescafé, ein Paket Zucker, das zur Neige geht, eine Zigarette, die sich in einem Reklameaschenbecher aus falschem, weißem Opalglas selbst raucht.
Im Nachbarzimmer geht jemand hin und her, hustet, zieht die Füße nach, verrückt Möbelstücke, zieht Schubladen auf. Ein Wassertropfen perlt beständig am Wasserhahn im Treppenflur. Die Geräusche der Rue Saint-Honoré steigen von ganz unten herauf.
Vom Turm der Saint-Roch schlägt es zwei Uhr. Du schaust wieder hoch, du hörst auf zu lesen, aber du hast schon seit Langem nicht mehr gelesen. Du legst das geöffnete Buch neben dich auf die Bank. Du streckst die Hand aus, du zerdrückst die Zigarette, die im Aschenbecher qualmt, du trinkst die Schale mit dem Nescafé aus: er ist nur noch lauwarm, zu süß, ein wenig bitter.
Du bist schweißgebadet. Du stehst auf, du gehst zum Fenster, das du schließt. Du drehst den Wasserhahn des winzigen Waschbeckens auf, du fährst dir mit einem feuchten Waschlappen über die Stirn, über den Nacken, über die Schultern. Arme und Beine angezogen, legst du dich in Seitenlage auf die schmale Bank. Du schließt die Augen. Dein Kopf ist schwer, deine Beine sind steif.
Später kommt der Tag deiner Prüfung, und du stehst nicht auf. Es ist kein vorbedachtes Handeln, es ist übrigens gar kein Handeln, sondern ein Nichthandeln, ein Handeln, das du unterlässt, das du vermeidest. Du hast dich früh schlafen gelegt, dein Schlaf ist friedlich gewesen, du hattest den Wecker aufgezogen, du hast ihn läuten hören, du hast mindestens einige Minuten darauf gewartet, dass er läutet, bereits von der Hitze geweckt oder vom Licht oder vom Lärm der Milchmänner, der Straßenkehrer oder von der Erwartung.
Dein Wecker läutet, du rührst dich überhaupt nicht, du bleibst im Bett liegen, du machst die Augen wieder zu. In den Zimmern nebenan beginnen andere Wecker zu läuten. Du hörst Geräusche von Wasser, Türen, die zugemacht werden, eilige Schritte im Treppenhaus. Die Rue Saint-Honoré ist allmählich erfüllt von Autolärm, Quietschen von Rädern, Gangschalten, kurzem Hupen. Fensterläden schlagen, die Geschäftsleute ziehen ihre eisernen Rollläden hoch.
Du rührst dich nicht. Du wirst dich nicht rühren. Ein anderer, ein Doppelgänger, ein gespenstiges und gewissenhaftes Double macht, vielleicht, statt deiner die Gebärden, die du nicht mehr machst: er steht auf, rasiert sich, zieht sich an, geht weg. Du lässt ihn ins Treppenhaus springen, auf die Straße laufen, im Flug den Autobus erwischen, zur festgesetzten Zeit atemlos, triumphierend an der Saaltür ankommen. Staatsexamen in allgemeiner Soziologie. Schriftliche Prüfung.
Du stehst zu spät auf. Dort beugen sich fleißige oder gelangweilte Gesichter nachdenklich über die Schreibpulte. Die vielleicht unruhigen Blicke deiner Freunde laufen auf deinem leer gebliebenen Platz zusammen. Du wirst nicht auf vier, acht oder zwölf Seiten sagen, was du über die Entfremdung, über die Arbeiter, über die Modernität und über die Freizeit, über die weißen Kragen oder über die Automatisation, über das Wissen um den andern, über Marx als Rivale Tocquevilles, über Weber, den Feind Lukacs’ weißt, was du darüber denkst, was du weißt, das man darüber denken muss. Auf jeden Fall hättest du nichts gesagt, denn du weißt nicht viel, und du denkst nichts. Dein Platz bleibt leer. Du wirst dein Staatsexamen nicht abschließen, du wirst nie mit einer Diplomarbeit oder einer Dissertation beginnen. Du wirst nicht mehr weiterstudieren.
Wie jeden Tag machst du dir eine Schale Nescafé; wie jeden Tag gießt du ein paar Tropfen gezuckerte Dosenmilch hinzu. Du wäschst dich nicht, du ziehst dich kaum an. In einer rosa Plastikschüssel weichst du drei Paar Socken ein.
Du wartest nicht vor dem Prüfungssaal, um dich nach den Themen zu erkundigen, die dem Scharfsinn der Kandidaten unterbreitet worden sind. Du gehst nicht ins Bistro, in das die Gewohnheit dich wie jeden Tag, ganz besonders jedoch an diesem so außergewöhnlich ernsten Tag, hätte führen müssen, um deine Freunde zu treffen. Einer von ihnen wird am nächsten Tag die sechs Stockwerke hinaufsteigen, die zu deinen Zimmer führen. Du wirst seinen Schritt auf der Treppe erkennen. Du lässt ihn an die Tür klopfen, warten, lässt ihn nochmals klopfen, etwas stärker, über dem Rahmen nach dem Schlüssel suchen, den du so oft da gelassen hast, wenn du für ein paar Minuten weggegangen bist, um Brot zu holen oder Kaffee, Zigaretten oder die Zeitung oder die Post, lässt ihn nochmals warten, kraftlos klopfen, leise nach dir rufen, zögern, schwerfällig wieder hinuntergehen.
Er ist später wiedergekommen und hat einen Zettel unter die Tür geschoben. Dann sind andere gekommen, am nächsten Tag, am übernächsten Tag, sie haben geklopft, sie haben nach dem Schlüssel gesucht, haben gerufen, haben Botschaften hereingeschoben.
Du liest ihre Zettelchen und zerknüllst sie zu einer Kugel. Man trifft darauf Verabredungen mit dir, zu denen du nicht hingehst. Du bleibst auf deiner schmalen Bank liegen, die Arme hinterm Nacken, die Knie hochgezogen. Du betrachtest die Decke und entdeckst dort Risse, Schuppen, Flecken, Reliefs. Du willst niemanden sehen, du willst nicht reden, nicht denken, nicht ausgehen, dich nicht rühren.
An einem Tag wie diesem, etwas später, etwas früher, entdeckst du ohne überrascht zu sein, dass etwas nicht funktioniert, dass du, um es einmal unvorsichtig auszudrücken, nicht zu leben verstehst, es nie verstehen wirst.
Die Sonne brennt auf die Bleche. Die Hitze in der Dachkammer ist unerträglich. Du sitzt da, eingezwängt zwischen Bank und Regal, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien. Du liest schon lange nicht mehr. Deine Augen starren auf ein Regal aus weißem Holz, auf eine rosa Plastikschüssel, in der sechs Socken im Wasser vermodern. Der Rauch deiner im Aschenbecher vor sich hinqualmenden Zigarette steigt gradlinig, oder beinahe, nach oben und breitet sich in einer unbeständigen Fläche unter der Decke aus, die von winzigen Rissen gezeichnet ist.
Etwas zerbrach, etwas ist zerbrochen. Du fühlst dich – wie soll man sagen? – nicht mehr unterstützt: etwas, das dich bisher, so schien dir, so scheint dir, gestärkt hat, wo es dir warm ums Herz wurde, das Gefühl deiner Existenz, deiner Bedeutung fast, der Eindruck, zur Welt zu gehören, in ihr eingebettet zu sein, fehlt dir langsam.