Friedensbündnis oder Militärmacht?
Europas neue Rolle in der Weltpolitik
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Europas neue Rolle in der Weltpolitik

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ISBN 978-3-89688-488-6
Vorwort
Einleitung: Politische und militärische Dimensionen einer Europa-Armee
I. Akteure und Handlungsfelder internationaler Außen- und Sicherheitspolitik
II. Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert
1. Voraussetzungen und Bedingungen militärischer Sicherheit
2. „Neue Kriege“?
3. Vom Cyberwar zum ‚digitalen‘ Soldaten
4. Bekämpfung des internationalen Terrorismus
5. Auswege aus dem Sicherheitsdilemma
III. Die USA und das Ende der westlichen Hegemonie
IV. Die Bundeswehr im Spannungsfeld globaler, nationaler und bündnispolitischer Interessen
1. Die Entwicklung der Bundeswehr bis 1990
2. Bundeswehr: Armee in der Demokratie
3. Reformprojekt Bundeswehr – auf dem Weg zur Einsatzarmee
4. Die ISAF-Mission in Afghanistan
5. Bundeswehr und europäische Integration
V. Exkurs: Deutsche Rüstungsexporte weltweit?
VI. Perspektiven für eine europäische Sicherheitsarchitektur
1. Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU
2. Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS)
3. Militärisches und ziviles EU-Krisenmanagement
VII. Der Aufbau von EU-Streitkräften – eine Zukunftsprojektion
1. Umfang und Struktur einer europäischen Armee
2. Die Maritime Einsatzgruppe EUNAVNORTH im Ostseeraum
VIII. Chancen und Risiken einer „Friedensmacht Europa“
IX. Quellen- und Literaturverzeichnis
X. Anhang (Dokumente)
Dokument 1
Dokument 2
Dokument 3
Dokument 4
Zum Autor
Die vorliegende Studie analysiert eine wichtige Thematik im Bereich der Europäischen Integration und versucht, konkrete Aussagen zur aktuellen und zukünftigen Rolle und Bedeutung der Europäischen Union als internationaler Krisenmanager zu machen. Sie bietet zunächst einen historischen und auch aktuellen Überblick über Rahmenbedingungen internationaler Außen- und Sicherheitspolitik und setzt sich kritisch mit militärischen Krisen und Konflikten innerhalb und außerhalb Europas auseinander. Umfassend analysiert werden zudem die „Neuen Kriege“ (Bürgerkrieg, Bandenkrieg, Terrorangriffe, ethnische Auseinandersetzungen, Krieg um Rohstoffe u.a.) sowie die stark gewandelten Formen militärischer Sicherheit. Ausführlich beschrieben werden die Hintergründe, warum Staaten wie China nicht mehr bereit sind, sich der US-amerikanischen Führungsrolle unterzuordnen und die Durchsetzung amerikanischer Sicherheitsinteressen schwieriger wird. Umfassend und aktuell wird die Rolle der Bundeswehr im NATO-Bündnis und in der EU abgehandelt. Von der reinen Armee zur Landesverteidigung ist bereits seit längerem eine Einsatzarmee geworden, die seit vielen Jahren Friedensmissionen (z.B. unter UN-Mandat) sowie Kampfeinsätze im Ausland (im Rahmen der NATO oder der EU) durchführt. Die Bundeswehr musste entsprechend umstrukturiert werden und wird künftig eine reine Berufsarmee ohne Wehrpflichtige sein. Einbezogen werden auch Überlegungen zur europäischen Strategiedebatte sowie zu einer zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur. Detailliert wird in der Studie untersucht, ob die europäische politische Integration mittel- und langfristig zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion führen könnte, sowie zum Aufbau einer EU-Armee als supranationaler Organisation. Diese würde einen wichtigen Beitrag für die nachhaltige Gestaltung von Frieden und Sicherheit nicht nur in und für Europa sondern auch im weltweiten Maßstab leisten. Abschließend wird der Frage nachgegangen ob eine „Friedensmacht Europa“ eine realistische Chance hat. Nach der überraschenden Bekanntgabe über die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union (Preisverleihung im Dezember 2012 in Oslo) wird dazu ein völlig neuer Blickwinkel notwendig sein.
Das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die Dokumente im Anhang sind als Arbeitshilfe sowie zur Orientierung gedacht.
München, im Oktober 2012
Die Debatte über Ursachen, Ausmaß und Konsequenzen des Wandels deutscher Außen- und Sicherheitspolitik nach Ende des Ost-West-Konflikts wird mit zum Teil ganz unterschiedlichen Argumenten geführt. Einigkeit dürfte aber darin bestehen, dass ein wesentliches Element der Veränderung in dem enormen Bedeutungszuwachs zu sehen ist, den die Europäische Union für die Wirtschafts- und Währungspolitik, für Technologie- und Umweltpolitik, aber auch für die internationalen Beziehungen gewonnen hat. Die Förderung des europäischen Einigungsprozesses und später der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) gehörten zwar schon immer zu den strategischen Interessen der Bundesrepublik, Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik standen allerdings erst seit Mitte der 90er Jahre im Vordergrund. Insbesondere Sicherheitspolitik wurde lange Zeit von den politisch Verantwortlichen im Westen als eine vorwiegend militärische Angelegenheit verstanden. Diese verkürzte Sicht der Dinge erscheint inzwischen überholt zu sein. Hintergrund dieser Entwicklung ist der Prozess der Globalisierung, der auch wirtschaftliche, soziale, ökologische sowie humanitäre Aspekte umfasst. Vor allem wird es für einzelne Staaten immer schwieriger, grenzüberschreitenden Gefahren für Stabilität und Sicherheit zu begegnen sowie staatliches Handeln gegen diese durchzusetzen. Dies bewog die EU-Staaten, für ihre auswärtigen Beziehungen größere Verantwortung zu übernehmen.
2003 verabschiedete der Europäische Rat die vom Hohen Vertreter der Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, erarbeitete „Europäische Sicherheitsstrategie“ (ESS). Mit dem Strategiepapier kommt die EU erstmals zu einer gemeinsamen Einschätzung der Sicherheitsbedrohungen und der Strategischen Rolle der Europäischen Union. Die ESS stellt zunächst fest, dass größere Angriffe gegen Mitgliedstaaten „nunmehr unwahrscheinlich“ geworden seien, Europa aber mit neuen Bedrohungsformen konfrontiert sei, „die verschiedenartiger, weniger sichtbar und weniger vorhersehbar sind“. (1) In drei Kapiteln werden Zuordnungen zwischen den globalen Herausforderungen und Risiken einerseits und dem Instrumentarium der EU zur Konfliktprävention, zum Krisenmanagement und zur Konfliktbeendigung andererseits herausgearbeitet und ein umfassender Sicherheitsbegriff abgeleitet. Die ESS war die Initialzündung zu einer Gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/ESVP). Insbesondere definierte sie politische Ziele zur Abwehr von Bedrohungen (Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Scheitern staatlicher Systeme sowie Organisierte Kriminalität und Drogen-, Waffen- und Menschenhandel), zur Stärkung der Sicherheit in Europa und im europäischen regionalen Umfeld und für eine Weltordnung auf der Grundlage der Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts. Darüber hinaus plädiert die Europäische Sicherheitsstrategie für ein aktiveres außen- und sicherheitspolitisches Handeln der EU mit verbesserten Fähigkeiten und Durchsetzungsmöglichkeiten. (2) (zur ESS siehe meine detaillierten Ausführungen in Kap. VI.2.). Die EU verfügt im UN-Vergleich mit ihren zahlreichen bislang recht erfolgreich abgeschlossenen Missionen innerhalb und außerhalb Europas über eine nicht nur qualitativ umfassende Bandbreite an Konfliktlösungsstrategien. Die Ansätze reichen von wirtschaftlichen Hilfs- und Sanktionsmaßnahmen über humanitäre Projekte, Rettungseinsätze in Katastrophenfällen bis hin zu internationalen Kampfeinsätzen zur Bewältigung kriegerischer Konflikte. Die Durchführung der ganz unterschiedlichen EU-Missionen (zivile wie militärische) fand auch im Ausland Anerkennung und führte dazu, dass der EU mittlerweile eine hohe Kompetenz auf dem Gebiet internationaler Konfliktlösung zugemessen wird. (3) (siehe Kap. VI.3.).
Die eigentliche Entwicklungsetappe der EU zu einem global agierenden Krisenmanager begann 2003 mit der ersten Mission in Bosnien-Herzegowina. Die Europäische Union hat seitdem 25 Missionen durchgeführt, von denen 11 abgeschlossen sind. Sieben fanden bzw. finden auf dem Balkan statt, drei im östlichen europäischen Umfeld, neun in Afrika sowie fünf im Nahen und Mittleren Osten. Die meisten Missionen zeichnen sich durch eine geringe Personalstärke aus sowie durch ihren überwiegend zivilen Charakter. Die vom Umfang her anspruchsvollste Operation war EUFOR Althea in Bosnien, die zeitweise 7.000 Einsatzkräfte umfasste. Zahlreiche Einsätze, wie z.B. im Kosovo, erforderten Spezialisten unterschiedlicher Qualifikation mit Kernaufgaben wie Rechtsberatung, Grenzmanagement, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Bildung und Ausbildung. (4) Die Europäische Union selbst verfügt über kein eigenes Personal im Bereich ziviler oder militärischer Krisenreaktionskräfte und ist deshalb auf die Bereitstellung durch die Mitgliedstaaten angewiesen. In diesem Zusammenhang muss kurz auf die EU Battle Groups (multinational gegliederte Verbände für Friedenseinsätze) eingegangen werden: diese bestehen aus jeweils 1.500 Soldaten, verfügen über spezielles Gerät und sollen innerhalb von fünf bis zehn Tagen in ein Krisengebiet auch über größere Distanzen verlegt werden können. Als ziviles Gegenstück verfügt die Europäische Union über einen Pool von ca. 6.000 Personen, die z.B. als Katastrophenhelfer, Polizisten oder Rechtsexperten im Rahmen von EU-Missionen zum Einsatz kommen. Hierbei kann es durchaus auch zu handfesten Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen EU-Staaten über Prioritäten oder über den Mitteleinsatz kommen. (5) Hinderlich ist bei den komplizierten und zeitaufwändigen internen Abstimmungsprozessen, dass zahlreiche Gremien und Verwaltungseinheiten in der EU zuständig sind, wie z.B. das „Politische und Sicherheitspolitische Komitee“ (PSK) mit den Politischen Direktoren der einzelnen Außenministerien sowie hohen EU-Beamten unter Vorsitz der jeweiligen EU-Ratspräsidentschaft. Beratend werden auch der EU-Militärausschuss (EUMC), der EU-Militärstab (EUMS) tätig, in denen hohe Militärs der EU-Staaten Sitz und Stimme haben. Darüber hinaus ist eine Arbeitsgruppe „politisch-militärische Angelegenheiten“ sowie der Ausschuss für zivile Aspekte von Krisenbewältigung in die Entscheidungsfindung einbezogen. (6) (siehe Kap. VI.3.).
Obwohl die Mehrzahl der EU-Staaten auch Mitglied der NATO sind und somit im Prinzip für beide Organisationen militärische Verbände (z.B. für die Schnelle Eingreiftruppe) zur Verfügung stellen müssen, gibt es immer wieder Probleme. Vor allem bei zeitgleichen Einsätzen im Ausland kommt es unweigerlich zu Konflikten über die Zugriffsrechte von EU und NATO, zumal auch größere Staaten wie Frankreich, Großbritannien, Italien oder Deutschland als Truppensteller für die NATO Response Force (NRF) oder für die europäische Rapid Reaction Force (RRF) schnell an ihre Grenzen stoßen. Um dies zu verhindern, wird im Rahmen des 2003 vereinbarten Berlin-Plus-Abkommens der EU generell ein privilegierter Zugriff zu militärischen Führungs- und Planungskapazitäten der NATO eingeräumt. Wie allerdings eine langfristige künftige Arbeitsteilung zwischen EU und NATO aussehen könnte, ist eine offene Frage. 1998 skizzierte die damalige Außenministerin der Clinton-Administration, Madeleine Albright, unter welchen Voraussetzungen die USA eine eigenständige EU-Sicherheitspolitik akzeptieren würden: der Ausbau der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dürfe erstens nicht zu einer sicherheitspolitischen Entkopplung zwischen EU und USA führen; zweitens sei eine unnötige Duplizierung der militärischen Kapazitäten und Strukturen zu vermeiden, drittens müsse eine Diskriminierung der nicht der EU angehörigen NATO-Staaten ausgeschlossen sein. Ähnlich sahen dies auch nachfolgende US-Regierungen: die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton betonte auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2012, die transatlantische Sicherheit sei unteilbar und ein stabiler Faktor in den internationalen Beziehungen, wenn die Europäer zusätzliche Mittel in ihren Verteidigungshaushalten bereitstellen oder die Verteidigungsausgaben zumindest stabil halten würden – trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise. (7)
Wie ein Paukenschlag mutete der im November 2011 veröffentliche Artikel „America’s Pacific Century“ der US-Außenministerin in der Zeitschrift Foreign Policy an, in dem sie ein verstärktes wirtschaftliches und militärisch-geostrategisches Interesse der Vereinigten Staaten am asiatisch-pazifischen Raum und gleichzeitig ein reduziertes militärisches Engagement in anderen Regionen der Welt, z.B. in Europa, ankündigte. (8) Die außen und sicherheitspolitischen Interessen der USA und der europäischen NATO-Länder sind also nicht notwendigerweise deckungsgleich. Im Gegenteil: mittel- und langfristig kann es durchaus zu einem Bruch in den transatlantischen Beziehungen kommen. Die NATO würde langsam erodieren oder sogar konfliktträchtig zerfallen. Die außen- und sicherheitspolitischen Grundeinstellungen sowie die militärischen Bedrohungsanalysen könnten sich weiter auseinander entwickeln, so dass EU und USA schließlich zu Gegnern im geostrategischen Wettstreit würden. Die relative Stabilität einer multipolaren Weltordnung unter dem Vorzeichen amerikanischer Dominanz würde ersetzt durch einen Machtkonflikt, dessen Ausgang offen wäre. Im Moment ist die EU zwar noch nicht in der Lage, eine Rolle als politischer Rivale im internationalen Maßstab zu spielen, allerdings könnte sie im Zusammenspiel mit anderen aufstrebenden Mächten (China,
Indien, Brasilien u.a.) ihr ökonomisches Gewicht auch außen- und sicherheitspolitisch als global player einsetzen. Aus dieser Gemengelage heraus ergeben sich drei Konsequenzen für eine Europäische Außen, Sicherheits- und Verteidigungspolitik:
Erstens werden die EU-Mitgliedsländer mehr denn je für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sein. Dementsprechend müssen die Regierungen politische Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür schaffen, diese Rolle auch auszufüllen. Wie ein Menetekel für Europas Fähigkeiten im Bereich Sicherheit und Verteidigung zeigte der Libyeneinsatz 2011 schwere Lücken und Versäumnisse auf. Rund 90% der Militäraktionen wären ohne Hilfe der USA nicht möglich gewesen; die am Einsatz beteiligten europäischen Staaten benötigten vor allem logistische und technische Unterstützung im Bereich Aufklärung und elektronische Kriegführung, Ausrüstung und Bewaffnung bei Kampfflugzeugen und Schiffseinheiten.
Zweitens hat die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2009 den Verteidigungshaushalten in fast allen europäischen NATO-Mitgliedsländern enorm zugesetzt. Die massivsten Einschnitte mit bis zu 30% betrafen vor allem kleinere Staaten; die meisten mittleren Staaten kürzten ihre Militärbudgets um bis zu 15%, die großen Staaten wie Deutschland und Großbritannien reduzierten die Militärausgaben bislang nur um ca. 10%. Mittelfristig jedoch werden alle Länder in ihren Verteidigungshaushalten drastisch sparen müssen, zumal die Neuverschuldung auch nach teilweiser Überwindung der Wirtschaftskrise überall anwachsen wird. Anhaltende Kürzungen werden den Bereich Sicherheit und Verteidigung in drei Wellen treffen: wegen des Entzugs von Ressourcen werden die Streitkräfte insgesamt, hierbei unterschiedlich Heer, Luftwaffe, Marine und Streitkräftebasis, reduziert und umstrukturiert werden müssen; überdies tut sich eine Modernisierungs- und Technologielücke bei der Rüstungsbeschaffung auf. Darüber hinaus wird diese Entwicklung auch negative Folgen für die Rüstungsindustrie haben, insbesondere für den Bereich Forschung und Entwicklung.
Drittens ist die Koordinierung einer europäischen sicherheitspolitischen Strategie dringend erforderlich, in der die aktuellen Sicherheits- und Verteidigungskonzepte der einzelnen EU-Staaten berücksichtigt werden müssen. Insbesondere sollten die Aufgabenstellungen der nationalen Streitkräfte neu bestimmt und gewichtet werden. Hierzu gehört auch eine Neuorientierung im Bereich Kosten-/Nutzen-Abschätzung, bei militärischer Effektivität (Zusammenlegung von Truppenteilen, Abschaffung kostenträchtiger Waffensysteme u.s.w.) sowie bei der Organisationsreform der Kommando- und Führungsstrukturen. Bezogen auf die Bundeswehr, die sich seit zwei Jahren in einem Transformationsprozess von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligenarmee befindet, bedeutet dies: die deutschen Streitkräfte, deren Auftrag bereits seit längerem nicht nur auf Landesverteidigung sondern auf weltweite Einsätze mit unterschiedlicher Konfliktintensität ausgerichtet ist, müssen technologisch wie auch in Ausbildung und Training ein immer größeres Spektrum abdecken. Dadurch steigt allerdings die Gefahr einer Überdehnung militärischer Fähigkeiten, insbesondere durch ständig neue Anforderungen an Personal, Ausrüstung und Instandhaltung. Verschärft wird die Situation noch durch Kürzungen bei den Rüstungsinvestitionen sowie durch den Mangel an Spezialisten in vielen Funktionen bis auf die Führungsebenen. (9) Abzuwarten bleibt, ob die Politik hierauf Antworten findet. Die Vorschläge seitens des Verteidigungsministeriums („Verteidigungspolitische Richtlinien“) sowie der Verteidigungsexperten des Deutschen Bundestages lassen gewisse Hoffnungen auf Reformen zu. (siehe auch Kap. IV.3.)
An Perspektiven und Konzepten für eine zukunftsorientiere Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU mangelt es sicherlich nicht, jedoch an konkreten Maßnahmen zu deren Umsetzung. Wie im Bereich Währungs- und Wirtschaftspolitik, so findet die EU auch im Bereich der äußeren Sicherheit nicht den einen Weg zur Durchsetzung der Interessen ihrer Mitgliedsstaaten. Ein Grund ist sicherlich, dass die EU als Organisation insgesamt und auch die einzelnen Institutionen (Europäischer Rat der Staats- und Regierungschefs, EU-Kommission, Ministerrat, EU-Parlament, Europäischer Gerichtshof) häufig nur sehr schwerfällig und zudem auf unterschiedlichen Ebenen zusammenarbeiten und durch die Vorbehaltsrechte der EU-Mitgliedsländer nur begrenzte Entscheidungsbefugnisse besitzen. So besteht auf der Ebene der Verteidigungspolitik ein krasses Missverhältnis zwischen globalen Ambitionen und (national-) staatlicher Borniertheit. Daraus ergibt sich bis auf weiteres ein Paradox europäischer Politik: je mehr die EU als Ganzes als Garant von Frieden und Sicherheit auftritt, desto mehr Verantwortung als weltweiter Krisenmanager muss sie tragen. Die Europäische Union, die auch die Mitgestaltung einer internationalen Friedensordnung (zusammen mit OSZE, NATO und UN) beansprucht, begibt sich so immer weiter in Abhängigkeit divergierender politischer Interessen anderer Mächte wie z.B. der USA. (10) Ein Ausweg aus diesem Dilemma wäre eine Reform der europäischen Einigungsagenda im Bereich der intergouvermentalen Beziehungen. Mittelfristig wäre es vorstellbar, dass einzelne Mitgliedsstaaten der EU auf nationale Souveränitätsrechte verzichten und Kompetenzen ihrer Parlamente auf neugeschaffene Organisationen übertragen. Eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsorganisation (ESO=European Security Organisation) könnte als Verteidigungsagentur für alle EU-Staaten fungieren und langfristig in diesem Bereich zentrale Funktionen ausfüllen. Darüber hinaus wären selbstredend eine Änderung des EU-Vertrags (insbesondere Art. 25) sowie der Zuständigkeiten und Befugnisse wichtiger Institutionen wie EU-Präsidentschaft, Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sowie Generalsekretariat einschließlich dem bereits erwähnten EU-Militärstab und dem EU-Militärausschuss geboten. (11) (siehe Kap. VII.1)
Die EU-Länder geben derzeit ca. 160 Mrd. Euro für Sicherheit und Verteidigung aus. Allerdings finden entsprechend historischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen in den einzelnen Nationalstaaten eine unterschiedliche Streitkräfteentwicklung statt, die sich in Zukunft durch die bereits erwähnten teilweise drastischen Kürzungen in den Verteidigungshaushalten noch verstärken wird. Die europäischen Staaten sind überdies dabei, gegenüber der NATO rüstungstechnisch weit zurückzufallen, dies betrifft vor allem die Bereiche Allwetteraufklärung, Kommunikationssysteme, Luft- und Seetransport über größere Distanzen, ‚intelligente‘ Abstandswaffen (z.B. Marschflugkörper), ABC-Schutz, Kampfhubschrauber und seegestützte ballistische Flugkörper. Im transatlantischen Verhältnis EU - USA gab und gibt es deshalb erhebliche Irritationen darüber, ob und wie die Europäer in der Lage sind, gut ausgebildete und modern ausgerüstete Truppenverbände für mehrere Friedensmissionen gleichzeitig zur Verfügung zu stellen.
Um diese Probleme zu überwinden, müsste ein Ziel der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungsorganisation (ESO) der effizientere Einsatz von Personal und Material, die Zusammenlegung und Integration von Truppenteilen und Führungseinrichtungen im regionalen Bereich (Pooling, Sharing) sowie die Realisierung einer gemeinsamen politisch-strategischen Richtlinie sein. Die ESO könnte mittelfristig den Weg zum Aufbau von europäischen Streitkräften unter einem gemeinsamen institutionellen Dach der EU ebnen. Diese EU-Armee als supranationale Organisation bedarf allerdings der Überwindung vielfältiger Hürden, die in der EU-Verfassung und in der Praxis der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angelegt sind: zum einen sollten die EU-Streitkräfte einer gemeinsamen Befehls- und Kommandostruktur unterliegen, zum anderen müssten die einzelnen Verbände bis hinunter zur Kompanie multinational gemischt und Angehörigen aller EU-Staaten zugänglich sein. Dabei könnten diese Streitkräfte auf die weitgehend positiven Erfahrungen, die mit den oben erwähnten militärischen Kooperationen auf europäischer Ebene gemacht wurden, anknüpfen. (12)
Das Vorhaben einer EU-Armee sollte unterstützt werden von politischen Impulsen seitens der EU-Mitgliedsländer; diese müssten mit einem klar formulierten Auftrag für die neuen Streitkräfte dafür sorgen, dass diese nur dann eingesetzt werden, wenn europäische und/oder globale Interessen berührt sind. Der Einsatz der EU-Armee zur Landesverteidigung sowie Umfang und Ziele von Auslandseinsätzen ist institutionell neu zu regeln. Nur so kann die EU als Ganzes, aber auch die NATO, davon profitieren, wenn die einzelnen nationalen Streitkräfte in einem supranationalen militärischen Pool integriert werden, der einzelne militärische Fähigkeiten zu Land, zu Wasser und in der Luft konzentriert und regional zusammenfasst. Dieses bereits erwähnte Pooling wird auf NATO-Ebene ja bereits seit längerem praktiziert. (13) Eine multinational aufgebaute und in die Europäische Union fest verankerte Armee würde eine Reihe von Vorteilen gleichzeitig aufweisen: sie wäre eine logische Antwort auf Konfliktszenarien und Bedrohungen innerhalb und außerhalb Europas und würde außerdem zu einer neuen europäischen Identität führen. Unter der Devise ‚Europa zuerst’ könnten europäische Streitkräfte im globalen Kontext zu einer nachhaltigen Gestaltung von Frieden und Sicherheit beitragen. (siehe Kap. VII und VIII).
(1) Europäischer Rat (Hrsg.): Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie, a.a.O. S. 3, in: Anhang, Dokument 2, S. 180
(2) siehe: Knelangen, Wilhelm: Die Europäische Union und die deutsche Sicherheitspolitik, in: Böckenförde, Stephan / Gareis, Sven Bernhard (Hrsg.): Deutsche Sicherheitspolitik. Herausforderungen, Akteure und Prozesse, a.a.O., S. 270-272
(3) vgl.: Ehrhart, Hans-Georg: Die EU im Einsatz. Friedensmacht oder Wolf im Schafspelz?, a.a.O., S. 112 ff.
(4) Schneider, Thomas: Die europäische Sicherheitspolitik. Vergleich und Interaktionen von WEU, NATO, OSZE und ESVP, a.a.O., S. 83 ff.
(5) vgl.: Knelangen, Wilhelm (Anm. 2), S. 276 ff.
(6) Mölling, Christian: Militärisches Krisenmanagement innerhalb der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, a.a.O., S. 13 ff.; Schneider, Thomas (Anm. 4), S. 92 ff.
(7) vgl.: Fröhlich, Stefan: Die Europäische Union als globaler Akteur. Eine Einführung, a.a.O., S. 120 ff.
(8) deutsche Übersetzung in: Amerika-Dienst / US-Außenpolitik, 11.10.2011, S. 2 ff.; zur verstärkten Militärpräsenz der USA im asiatisch-pazifischen Raum siehe: USA schicken mehr Kriegsschiffe in den Pazifik, in: Spiegel Online. Politik. 02.06.2012
(9) vgl.: Bredow, Wilfried von: Militär und Demokratie in Deutschland. Eine Einführung, a.a.O., S. 268 ff.; Katsioulis, Christos (Red.): Für eine Neuausrichtung deutscher Sicherheitspolitik, a.a.O., S. 3 ff.
(10) Fröhlich, Stefan (Anm. 7), S. 125 ff.
(11) siehe: Mölling, Christian (Anm. 6), S. 6 ff.
(12) vgl.: Höfer, Gerd: Europäische Armee. Vision oder Utopie?, a.a.O., S. 149 ff.
(13) ebenda, S. 141 ff.
Außen- und Sicherheitspolitik gehört in Deutschland nicht zu den Themen, die in der öffentlichen Meinung oder aber bei Meinungsumfragen ganz oben auf der Agenda stehen. Zwar werden Veränderungen im internationalen Krisen- und Konfliktgeschehen, das Auftreten aktueller Risiken (z.B.: Terrorismus) immer auch kontro-vers diskutiert, eine Debatte über außen- und sicherheitspolitische Strategien, über Deutschlands politische Rolle in Europa und weltweit oder über Instrumente der außen- und sicherheitspolitischen Durchsetzung von Interessen gelangen über Expertenzirkel kaum hinaus.
Die Außenpolitik jedes Staates verändert sich in dem Maße, wie seine inneren und äußeren Rahmenbedingungen dem globalen Wandel ausgesetzt sind. Deutsche Außenpolitik bildet hier keine Ausnahme. Insbesondere seit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges haben sich die nationalen, regionalen und weltweiten Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik grundlegend gewandelt. Die außenpolitischen Handlungsspielräume Deutschlands haben sich vergrößert, aber auch die Anforderungen und Erwartungen, die in Europa und anderswo an das Land gerichtet werden. Bereits die Präambel des Grundgesetzes (GG) verweist auf die Leitlinien bundesdeutscher Außenpolitik, nämlich „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt“ dienen zu wollen. Weiter konkretisiert wird dieses sogenannte Friedenspostulat durch Art. 26 (1) GG, der alle Handlungen für verfassungswidrig erklärt, die geeignet sind „das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“. Diese Verfassungsnorm bringt die entschiedene Abkehr der Bundesrepublik von der Vergangenheit der nationalsozialistischen Diktatur zum Ausdruck. Ebenfalls im Grundgesetz verankert, erklärt Art. 24 (2) die Bereitschaft Deutschlands, „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ beizutreten und dabei im Einzelfall auf souveräne Rechte zu verzichten. In der außenpolitischen Praxis der Bundesrepublik, zuerst im Rahmen der Westbindung nach 1949, dann im wiedervereinigten Deutschland nach 1990, ist die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (UN, WEU, OSZE) sowie in der Europäischen Union und ihren Vorgängerinstitutionen quasi zur unbestrittenen Staatsraison geworden.
Auch in den vergangenen Jahren betrieb Deutschland eine an internationaler Kooperation, Multilateralismus und friedlicher Konfliktbeilegung orientierte Außenpolitik. Nach Wiedervereinigung und vollständiger Souveränität hat sich der außenpolitische Spielraum der Bundesrepublik erheblich vergrößert. Im Mittelpunkt steht hierbei Deutschlands Rolle als außenpolitische Mittelmacht und Motor der europäischen Integration. Die Gestaltungsmöglichkeiten lassen sich an folgenden Indikatoren messen:
- Beiträge zur Lösung globaler Probleme, Förderung gewaltfreier Mittel der Konfliktlösung innerhalb von und zwischen Staaten
- Stärkung des Völkerrechts auf regionaler und globaler Ebene zur Förderung der Demokratisierung internationaler Beziehungen
- Verbesserung der Arbeit nichtstaatlicher Akteure und Schaffung von zivilgesellschaftlichen Kooperationen als Element internationaler Politik (14)
Außenpolitische Entscheidungen werden von staatlichen Institutionen (Exekutive und Legislative) im Bereich historisch gewachsener Strukturen gefällt und umgesetzt. Die Verantwortung für die praktische Gestaltung der Außenpolitik überträgt in der Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz dem Bund. Dieser ist nach Art. 32 (1) GG zuständig für die Pflege der Beziehungen zu anderen Staaten. Unter den Akteuren auf Bundesebene nimmt die Bundesregierung eine herausgehobene Stellung ein: ausgestattet mit einem umfassenden Initiativrecht und einem allgemeinpolitischen Handlungsauftrag („Richtlinien der Politik“) ist sie die wichtigste Trägerin der auswärtigen Gewalt. Die Exekutive gestaltet außerdem den politischen Rahmen der auswärtigen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Unter den weiteren Organen auf Bundesebene hat insbesondere das Parlament wichtige Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik. So besitzen der Deutsche Bundestag ebenso wie seine Ausschüsse und Abgeordneten das Recht, sich mit außenpolitischen Fragestellungen zu befassen. Die wichtigsten Foren hierzu sind neben dem Plenum die im Grundgesetz Art. 45a vorgesehenen Ausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung sowie der Ausschuss für Angelegenheiten der EU. (15)
Staaten und Staatenbünde müssen seit jeher damit leben, dass ihre Existenz und ihr Fortbestehen von Unsicherheit geprägt ist. Deshalb ist es eine der grundlegenden Aufgaben von Politik, Sicherheit und Stabilität dort zu gewährleisten, wo es möglich ist. Unter Sicherheitspolitik kann man dementsprechend die Politik verstehen, die einem Gemeinwesen dazu dient, Fähigkeiten auszubilden, seine Gesellschaft nach innen und außen zu schützen, um Bedrohungen fernzuhalten und darüber hinaus existentielle Gefahren für jeden Einzelnen abzuwehren. Ein Minimum an außenpolitischer Sicherheit ist immer auch Teil der territorialen Integrität des Staates oder des Staatenverbunds. So gesehen rückt Sicherheitspolitik ganz nahe an die Außenpolitik heran, ist quasi eine Seite derselben Medaille. (16) Im demokratischen Verfassungsstaat sind der sicherheitspolitische Entscheidungsapparat - parallel zur Außenpolitik – in seinen Grundzügen durch verfassungsrechtliche Normierungen undgesetzliche Vorgaben reglementiert. Im Bereich der nationalen und internationalen Sicherheitspolitik überträgt das Grundgesetz dem Bund zentrale Befugnisse. So legt Art. 73 (1) GG fest, dass der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten sowie für die Verteidigung ausschließlich zuständig ist. Vor dem Hintergrund veränderter Bedrohungswahrnehmungen des Westens nach dem 11. September 2001 sind dem Bund durch zahlreiche Verfassungsänderungen im Zuge der Föderalismusreform zudem noch weitere Zuständigkeiten, wie z.B. die Abwehr von Gefahren durch den Terrorismus, für Fälle, in denen Bedrohungen länderübergreifend sind, übertragen worden. (17)
Das deutsche Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik ist, wie bereits ausgeführt, kooperativ und multilateral ausgerichtet. Internationale Politik orientiert sich aus deutscher Sicht wesentlich an der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen (wie z.B. UNO und OSZE) und zielt auf den Ausgleich von Machtinteressen und Konflikten. Für alle bisherigen Bundesregierungen stellten die Werte der internationalen Gemeinschaft Auftrag und auch Ziel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik dar. (18) Schon seit Adenauer bildete Europa und seine supranationalen Organisationen (z.B. EWG) einen der wichtigsten Handlungsrahmen für deutsche Außenpolitik dar. Die Entwicklung der Europäischen Union in den vergangenen Jahrzehnten (EU-Osterweiterung, Wirtschafts- und Währungsunion, Integrationspolitik, Handelspolitik u.a.) wirkte weit herein in die bundesdeutsche Innen- und Rechtspolitik, Außen- und Verteidigungspolitik, und spiegelte als Handlungsrahmen „die Essenz der deutschen Sicherheitskultur wider“. Das europäische Modell internationaler Zusammenarbeit „ist heute der wichtigste und auf absehbare Zeit einzige Weg für Deutschland, seine Sicherheitsinteressen und Ordnungsvorstellungen erfolgreich zu vertreten und ein relevanter Akteur der multipolaren Weltordnung zu bleiben“. (19)
Eine Folge der Komplexität von Sicherheit ist der Zwang, bestehende Risiken, Gefährdungen und Bedrohungen möglichst kurzfristig abzuwenden. Hoffnungen auf überschaubare Handlungs- und Entscheidungslinien verkehren sich in der Wirkung leicht in ihr Gegenteil, einfache Lösungen sind nicht in Sicht. Gerade nach Ende des Ost-West-Konflikts zeigte sich, dass Staaten alleine Sicherheit nicht mehr garantieren können, sondern diese im internationalen Maßstab gemeinsam mit anderen organisieren müssen. Vor allem stärkte die „europäische Identität“, die besonders von Frankreich und Deutschland politisch unterstützt wurde, eine konsensuale Strategie der europäischen Einigung. Nachdem die EU in drei Stufen 1995, 2004 und 2006 um insgesamt 15 weitere Mitglieder vergrößert worden war, stand sie plötzlich auch außen- und sicherheitspolitisch plötzlich auf einer Ebene mit anderengroßen internationalen Organisationen, wie der NATO, so dass sich mittlerweile ein „europäischer Stabilitätsraum“ entwickelte, ein globaler Machtfaktor ersten Ranges. (20)
Die Neuorientierung Deutschlands als Mittelmacht mit globalen Ansprüchen und Interessen führte zu einer Veränderung der Bundeswehr von einer Armee zur Landesverteidigung hin zu einer ‚Einsatzarmee‘. Bereits vor 1990 wurden deutsche Soldaten bei Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen (VN) im Bereich humanitäre Unterstützung eingesetzt. Aber das wiedervereinigte Deutschland schaffte bereits wenige Jahre später die Voraussetzungen dafür, dass sich die Bundeswehr an Auslandseinsätzen außerhalb des NATO-Gebiets („out of area“) und jenseits der NATO-Beistandsverpflichtungen beteiligen konnte. Die wichtigsten in dieser Zeit: 1992 Einsatz eines Sanitätsverbands in Kambodscha (UNTAC); 1993/1994 Beteiligung an der VN-Mission in Somalia (UNOSOM II); Embargoüberwachung in Ex-Jugoslawien im Rahmen der NATO-Operation SHAPE Guard 1992-1996; Beteiligung an den Operationen in Bosnien-Herzegowina IFOR 195/1996 und SFOR 1996-2004 sowie KFOR seit 1999 im Kosovo. (21)
In den letzten 20 Jahren war die Bundeswehr somit vor die Aufgabe gestellt, das gesamte Spektrum internationaler Auslandseinsätze abzudecken – von der klassischen Peacekeeping-Operation im Rahmen der VN (z.B.: Militärbeobachtung) bis hin zu Einsätzen von Sanitätsverbänden im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen in verschiedenen Ländern der Erde und Kampfeinsätzen in Afghanistan mit mittlerweile schweren Waffen und Großgerät (ISAF). (22) Wenngleich das Bild der Einsätze deutscher Soldaten zunächst durch ihre Beteiligung an Maßnahmen zur Friedenskonsolidierung und zum Schutz ziviler Wiederaufbauprogramme geprägt war, hat sich dieses grundlegend gewandelt: seit vielen Jahren sind Bundeswehrverbände in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt; die Zahl verwundeter oder getöteter Bundeswehrangehöriger steigt ständig. (23) Detailliert und mit aktuellen Zahlen und Fakten belegt siehe dazu meine Ausführungen in Kap. IV.
In seiner Entscheidung vom 12. Juli 1994 betonte das Bundesverfassungsgericht, dass der Deutsche Bundestag gemäß Art. 24 (2) GG Grundsätze und Ausführungsbestimmungen für die Entsendung von Bundeswehrsoldaten zu Auslandseinsätzen erlassen darf (sogenannter Parlamentsvorbehalt). Als Folge dieser Entscheidung setzte der Bundestag am 24. März 2005 das Parlamentsbeteiligungsgesetz in Kraft, das ein vereinfachtes und beschleunigtes Verfahren für die Abstimmung über einzelne Einsätze und Operationen der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets ermöglichte.
Für die politische Praxis bedeutete dies, dass das Parlament wichtige Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte in einer wichtigen Frage der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erhielt und somit auch erstmals Kontrollbefugnisse in einem Teilbereich der eigentlich der Exekutive vorbehaltenen äußeren Gewalt. Allerdings kam es immer wieder zu organisatorischen Problemen und Pannen, etwa wenn die von ständigen Strukturreformen und Kürzungsmaßnahmen betroffenen deutschen Streitkräfte bei einzelnen Missionen im Ausland weder bei Ausrüstung und Ausbildung noch bei Einsatzführung oder Kommunikationsmitteln den gestellten Anforderungen gerecht werden konnten. Hier rächte sich nicht selten der Wunsch der Bundesregierung, langfristigen Festlegungen durch UN, NATO oder EU gerecht werden zu wollen, häufig ohne entsprechende Vorbereitung auf das militärisch machbare und notwendige. (24)
(14) vgl.: Sandschneider, Eberhard: Deutschland-Gestaltungsmacht in der Kontinuitätsfalle, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 10/2012, S. 3 ff.
(15) siehe: Gareis, Sven Bernhard: Grundlagen, Akteure, Strukturen und Prozesse, in: Informationen zur politischen Bildung (Schwerpunktheft: Deutsche Außenpolitik), H. 304/2009, S. 8 ff.; Hellmann, Gunther / Wolf, Reinhard / Schmidt, Siegmar: Deutsche Außenpolitik in historischer und systematischer Perspektive, in: Schmidt, Siegmar / Hellmann, Gunther / Wolf, Reinhard (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Außenpolitik, a.a.O., S. 15 ff.
(16) vgl.: Böckenförde, Stephan: Die Veränderung des Selbstverständnisses, in: Böckenförde, Stephan / Gareis, Sven Bernhard (Hrsg.): Deutsche Sicherheitspolitik, a.a.O., S. 17 ff.
(17) Einzelheiten dazu in: Gareis, Sven Bernhard: Die Organisation deutscher Sicherheitspolitik. Akteure, Kompetenzen, Verfahren und Perspektiven, in: Böckenförde, Stephan / Gareis, Sven Bernhard (Anm. 16), S. 80 ff.
(18) vgl.: Heidenkamp, Henrik: Der Entwicklungsprozess der Bundeswehr zu Beginn des 21. Jahrhunderts, a.a.O., S. 142 f.
(19) ebenda, S. 143, Anm. 573 u. 574; siehe auch: Knelangen, Wilhelm: Die Europäische Union und die deutsche Sicherheitspolitik, in: Böckenförde, Stephan / Gareis, Sven Bernhard (Anm. 16), S. 255 ff.
(20) Böckenförde, Stephan (Anm. 16), S. 28 f.; vgl. auch:. Bredow, Wilfried von: Militär und Demokratie in Deutschland. Eine Einführung, a.a.O., S. 183 ff.; Schlotter, Peter: Berliner Friedenspolitik? – Zum Stand der Forschung und zur Einführung, in: Schlotter, Peter / Nolte, Wilhelm / Grasse, Renate (Hrsg.): Berliner Friedenspolitik? Militärische Transformation-Zivile Impulse-Europäische Einbindung, a.a.O., S. 19 f.
(21) ausführlich dazu: Krause, Ulf von: Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr. Politischer Entscheidungsprozess mit Eskalationsdynamik, a.a.O., S. 20 ff.; Risse, Thomas. Kontinuität durch Wandel: Eine „neue“ deutsche Außenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 11/2004, S. 28 f.
(22) zu den abgeschlossenen und laufenden Auslandseinsätzen siehe: www.bundeswehr.de
(23) Bredow, Wilfried von (Anm. 20), S. 231 ff.; siehe auch: Gareis, Sven Bernhard: Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Einführung, a.a.O., S. 180 ff.
(24) ausführlich dazu: Gareis, Sven Bernhard (Anm. 23), S. 184 ff., Naumann, Klaus: Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, a.a.O., S. 31 ff. ; Kolanoski, Martina: Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland, a.a.O., S. 23 ff., S. 33 ff.; Krause, Ulf von (Anm. 21), S. 63 ff.
„(…) Auch wenn die Anwendung militärischer Gewalt zwischen Staaten (oder ihre Androhung) im 21. Jahrhundert unwahrscheinlicher geworden ist, als sie es in früheren Zeiten war, birgt sie ein immenses Schadensrisiko, und rational handelnde Akteure reagieren auf eine solche Situation damit, dass sie sich eine teure Versicherung gegen die potenziellen Schäden zulegen (…) Und selbst wenn Kriege zwischen Staaten und Bürgerkriege seltener würden, müssten wir von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass bewaffnete Kämpfe zwischen nichtstaatlichen transnationalen Gruppen und/oder Aufständischen oder zwischen Staaten und solchen Gruppen weiterhin stattfinden. „Hybridkriege“ und Kriege zwischen Volksgruppen wird es weiterhin geben. Die Fähigkeit, Krieg zu führen, Zwang auszuüben, zu beschützen und zu helfen, wird wichtig bleiben, selbst wenn die Zahl der Kriege im traditionellen Sinn weiter zurückgeht. (…) Militärische Macht ist und bleibt wichtig, weil sie zur Strukturierung der weltpolitischen Agenda beitragen kann.“
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Traditionelle Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die die Vertretung nationaler Interessen sowie den Schutz vor Bedrohungen zum ausschließlichen Schwerpunkt gewählt hat, greift heutzutage entschieden zu kurz. Die Herausforderung liegt darin, die internationalen Beziehungen langfristig und nachhaltig zu gestalten. So gesehen muss auch militärische Macht präventiv eingesetzt werden unter Einbeziehung von Bereichen vitaler Zukunftssicherung (Außenwirtschaftspolitik, Währungspolitik, Technologiepolitik, Entwicklungspolitik u.s.w). Die Zeit sicherheitspolitischer bzw. militärischer Nullsummenspiele ist ebenso vorbei wie ein Sicherheitsverständnis, das sich vollständig auf die territoriale Integrität beschränkt und nicht zum Verzicht von Souveränitätsrechten bereit ist. Kurz und gut: im 21. Jahrhundert können Staaten Frieden und Sicherheit nicht mehr allein gewährleisten. (26)
Die Dimension von Sicherheit bemisst sich nach den Gefahren und Bedrohungen, die von außen kommen, sowie entsprechend der Art und Weise, wie sie von Seiten des Staates gewährleistet werden soll (soziale, militärische, wirtschaftliche, finanzielle u.s.w. Sicherheit). Während in den 50er und 60er Jahren die Gefahren des Atomkriegs und der Ost-West-Konfrontation die Sicherheitsdebatte dominierten, wurden in den 70er Jahren zunächst (welt-) wirtschaftliche Probleme miteinbezogen, bevor ab Mitte der 80er Jahre aufgrund des Klimawandels und zunehmender Umweltkatastrophen ökologische Fragen im Vordergrund standen. Seit Ende des Kalten Kriegs wurden schließlich ab den 90er Jahren verstärkt der Schutz der Menschenrechte, die Folgen der Globalisierung und humanitäre Hilfe nach Hungersnöten, Bürgerkriegen sowie ethnisch, ökologisch oder religiös bedingten Konflikten als Sicherheitsprobleme erkannt, die teils regionale, überwiegend jedoch globale Auswirkungen hatten. (27)
Nach dem Sieg über die Achsenmächte konzentrierte sich die US-Außenpolitik zunächst auf die Sicherung ihrer Machtsphäre. George Kennan bezeichnete 1948 den Schutz der nationalen Sicherheit sowie die Förderung des Wohlstands als eine zentrale Aufgabe amerikanischer Politik. Das implizierte zum einen eine umfassende Wirtschaftshilfe – weitgehend gekoppelt mit Militärhilfe – zunächst an die Türkei und Griechenland, später dann im Rahmen des Marshallplans für ganz Westeuropa, um der sowjetischen Expansionspolitik entgegenzuwirken. Zum anderen unterstützten die USA ganz unverblümt befreundete Staaten im Kampf gegen den Kommunismus. Das zentrale Dokument dieser Zeit, die Nationale Sicherheitsstrategie NSC-68 von 1950 identifizierte hinter allen regionalen Konflikten einen global agierenden Weltkommunismus und empfahl zu dessen Eindämmung den Aufbau militärischer Strukturen. Mit der Ost-West-Konfrontation hatte sich bei den USA und seinen westlichen Verbündeten ein Denken durchgesetzt, das eng mit dem sogenannten Politischen Realismus verbunden war, der Konsequenzen aus den Lehren der Geschichte zog, in diesem Fall aus dem Scheitern der Beschwichtigungspolitik (appeasement) gegenüber Hitler und der NS-Diktatur. Im Mittelpunkt dieser Denkschule stand das Konzept militärischer Stärke, die es vor allem den Atommächten erlaubte, im Rahmen eines Wettrüstens zum Erstschlag fähig zu sein. Nachdem sich bald jedoch ein nukleares Patt abzeichnete, mussten neue Strategien entwickelt werden, um einen Atomkrieg zwischen den Supermächten zu verhindern. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ dominierte über Jahrzehnte hinweg das politische und militärische Denken. Erst nach der Kuba-Krise 1962 änderte sich dies, als eine kooperative Rüstungssteuerung die Atombewaffnung absenkte und schließlich in den 70er und 80er Jahren im Rahmen bilateraler und internationaler Verträge eine Reihe von Rüstungskontrollvereinbarungen auf den Weg gebracht wurden, in die z.T. auch konventionelle Waffensysteme einbezogen waren. (28) Gleichzeitig verlagerte sich der Ost-West-Konflikt auf die Dritte Welt. Die Unterstützung der UdSSR für die nationalen Befreiungsbewegungen wurde von den USA als Beeinträchtigung ihrer Sicherheitsinteressen interpretiert und mit gezielten (z.T. auch verdeckten) militärischen Operationen konterkariert. Begrenzte Kriegsführung (limited war) und Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) wurden zu (bis heute gültigen) militärstrategischen Eckpunkten der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. (29) Doch nach dem Scheitern der USA in Vietnam wurde deutlich, dass die Vereinigten Staaten ihre militärischen und strategischen Fähigkeiten überdehnt hatten. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die amerikanische Vietnampolitik führten schließlich zur Rückbesinnung auf die „vitalen Sicherheitsinteressen“ und nach einiger Zeitverzögerung auch zu substantiellen Rüstungskontrollverhandlungen mit der russischen Supermacht. Dem Ziel, Sicherheit und Entspannung, wenn nicht weltweit, so doch an den Rändern der militärischen Konfrontation in Mitteleuropa zu gewährleisten, war man ein Stück näher gekommen. (29)
Nach dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems (Bretton Woods) und nach Ausbruch der Ölkrise 1973 wuchs das Bewusstsein, dass außer der militärischen auch andere Dimensionen den Lebensnerv einer Gesellschaft treffen könnten. Seit den 70er Jahren wurden deshalb wirtschaftliche Sicherheit im internationalen Wirtschafts- und Währungssystem oder Energiesicherheit angesichts der Verknappung natürlicher Ressourcen neu in die politische Agenda der Sicherheitsvorsorge aufgenommen. (30) Strategien wurden entwickelt, um im Bereich der Energieversorgung Lieferengpässe oder Lieferunterbrechungen zu verhindern, den Energiebedarf (an Öl) zu diversifizieren und den Ausbau von international agierenden Energieunternehmen zu fördern. Treibende Kraft waren hier auf der einen Seite die USA und westliche Länder, auf der anderen Seite die Ölförderländer. (31)(32)(33)