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© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagbild: Lena Herzog; Werner Herzog bei den Dreharbeiten zu The White Diamond (2004)

eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7844-8132-6

Inhalt

Annäherung eins – Prolog

Die Familie. Eine Genealogie mit Anmerkungen

Annäherung zwei – Riedering

Hypnose

Annäherung drei – Kos

Das erste »Lebenszeichen«

Annäherung vier – Sachrang

Kindheit in Sachrang

Erstes Dramolett – Die Anfänge

Münchner Geschichten

Zweites Dramolett – Klaus Kinski

Annäherung fünf – Berlin

FC Schwarz-Gelb München oder: Der Ball ist ein Sauhund

Drittes Dramolett – In Iquítos

Der Dschungel als große Oper

Annäherung sechs – München

Das Universum des Weiblichen

Viertes Dramolett – Die Kunst des Inszenierens

Ein Anarchist in Amerika

Annäherung sieben – Ering am Inn

Der ekstatische Werner oder: Herzog forever

Annäherung acht – Epilog

Vita

Bibliografie

Bildnachweis

Dank

Annäherung eins – Prolog

»Ich erinnere mich, als Kind einen Schauer erlebt zu haben.«

Wie legt man die Biografie über den visionärsten deutschen Filmemacher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an? Ich entscheide mich erst einmal für den pragmatischen Weg und schicke Werner Herzog eine Mail: Ob wir uns treffen können? Ob wir sprechen können? Er wohnt in Los Angeles. Ich in München. Ich habe ihn bereits einige Male getroffen und gesprochen – als Filmkritiker des Bayerischen Rundfunks konnte ich ihn mehrfach interviewen, meist, wenn neue Produktionen ins Kino kamen wie Fitzcarraldo, Cobra Verde, Cerro Torre: Schrei aus Stein, Mein liebster Feind, Invincible – Unbesiegbar, Rad der Zeit oder Rescue Dawn. Wir haben immer auch ein wenig über Persönliches gesprochen, über seine kurze religiöse Phase im Alter von vierzehn Jahren, über seine Zeit als Student in München, über sein wirkliches Verhältnis zu Kinski, doch jedes Mal wenn ich über ein paar dürre Informationen hinaus mehr wissen wollte, beschied mich Werner Herzog aufs Gleiche: Das ginge mich bzw. die Öffentlichkeit nichts an!

Werner Herzog ist nicht nur ein großartiger Bilder-Erfinder, er ist auch ein Meister der Legendenbildung und der Selbststilisierung. Offenbar möchte er die Kontrolle behalten über das, was die Öffentlichkeit von ihm weiß. Oder vielleicht ist er sogar daran interessiert, kursierende Halbwahrheiten gar nicht erst aufzuklären, um so die teilweise widerstreitenden Angaben zu seiner Person dort zu belassen, wo sie sind: im diffusen Gewölk der Gerüchte. Der Mann existiert als Filmemacher wie als Künstlergestalt, aber nicht als reale Person oder klar umrissenes Individuum. Das beginnt schon beim Namen: In Artikeln und bei biografischen Angaben ist immer wieder zu lesen, er sei am 5. September 1942 als Werner Stipetić geboren worden. Doch das stimmt nicht, richtig ist: Der Mädchenname der Mutter lautete Stipetić, Werner hieß nach seinem Vater Dietrich mit Familiennamen schon immer Herzog. Nach der Scheidung der Eltern war das angeblich vorübergehend nicht so. Der Regisseur behauptet, entsprechend der deutschen Gesetze hätte er dann Stipetić geheißen – und sich später selbst wieder für Herzog entschieden, als er fand, es solle in Deutschland einen Filmemacher mit einem adeligen Namen geben, so wie in den USA etwa den Musiker Duke Ellington. Dieser Erklärung zufolge hätte aber auch sein älterer Bruder Tilbert den Namen Stipetić tragen müssen, doch der weiß davon nichts – er habe nie anders als Herzog geheißen.

Tatsächlich gibt es in Deutschland bisher keine Biografie über Werner Herzog, auch keine Autobiografie, allenfalls filmtheoretische Abhandlungen und einige tagebuchartige Texte. Während ich also auf eine Nachricht aus Los Angeles warte, recherchiere ich, inwieweit Mitarbeiter oder Menschen, die mit ihm zusammengelebt haben – und sei es nur während der Zeit von Dreharbeiten –, etwas über den Menschen Werner Herzog wissen. Nach ein paar Tagen des Zusammentragens und Lesens von Büchern fällt das Ergebnis ziemlich nüchtern aus. Der Schauspieler Peter Berling, der in Filmen wie Aguirre, der Zorn Gottes oder Fitzcarraldo mitgespielt hat, schreibt in seinen Arbeitserinnerungen über Herzog: »Er hat Bilder in mein Hirn gebrannt, die mich zumindest in diesem Leben nicht mehr loslassen. Er hat mir Erfahrungen von Schönheit ermöglicht, die weit über den exotischen Reiz von Wildnis hinausgehen, er hat eine Sehnsucht nach unbegreiflicher Ferne und dem dunklen Geheimnis der Tiefe des Regenwaldes geweckt. Das verdanke ich Werner Herzog. Fremd geblieben ist mir der Mensch.«[1]

Die Schauspielerin Eva Mattes, die mit Herzog von 1976 bis 1980 liiert war, sagt im Interview über den Mann, mit dem sie die gemeinsame Tochter Hanna hat: »Ich war in Hamburg, er war in München, beziehungsweise er war meist irgendwo, auf irgendwelchen Inseln, in irgendwelchen Dschungeln. Wir haben nie wirklich zusammengelebt, haben unsere Beziehung nie öffentlich gemacht. Das fällt mir heute noch schwer, das habe ich beim Schreiben meiner Autobiografie gemerkt. Er war immer partout dagegen, dass etwas Privates nach außen dringt. Einerseits habe ich das respektiert. Andererseits haben wir eine gemeinsame Tochter, und der kann ich nicht antun, dass ich nicht über ihre Herkunft spreche.«[2]

Dann liegt die Nachricht aus Los Angeles in meinem Mailfach bzw. eigentlich kommt die schlechte Botschaft aus Wien, wo die Produktionsfirma Werner Herzog Film GmbH ihren Sitz hat. Der Regisseur lässt mir über seinen Halbbruder und Geschäftsführer Lucki Stipetić folgende offizielle Nachricht übermitteln: »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Werner Herzog anlässlich seines 70. Geburtstages sämtliche Aktivitäten, Ehrungen, Berichte oder dergleichen, auf die er Einfluss hat oder an denen er mitwirken soll, strikt vermeiden will. Er möchte aus dem Geburtstag keine öffentliche Angelegenheit machen, es ist ihm diese Art von Öffentlichkeit sehr unangenehm. Natürlich wird sich nicht vermeiden lassen, dass es Berichte geben wird, das liegt aber außerhalb seines Einflusses und ist dann einfach zu akzeptieren.«

Mein spontaner Gedanke ist es, die Sache damit aufzugeben. Andererseits – warum muss die Beschreibung eines Lebens autorisiert sein? Warum muss der, um den es geht, direkt daran mitwirken? Ist nicht gerade die unautorisierte Biografie die spannendere, noch dazu über einen Künstler, von dem man weiß, dass er selbst einen sehr freien Umgang mit der Wirklichkeit bevorzugt? Werner Herzog spricht in Bezug auf seine Arbeit von der ekstatischen Wahrheit: »Ich glaube, dass sich Wahrheit, eine bestimmte, tiefere Schicht von Wahrheit, auch in Dokumentarfilmen, nur erreichen lässt durch stellenweise Stilisierung und Inszenierung und Erfindung. Ich nenne es die ekstatische Wahrheit.«[3]

Ein schönes Beispiel dafür taucht in der Eloge auf, die der amerikanische Filmpapst Roger Ebert im April 2009 verfasst hat, als das Time Magazine Werner Herzog (neben Angela Merkel, sonst aber niemandem aus Deutschland) zu einem der hundert einflussreichsten Menschen der Welt kürte. Ebert schrieb: »Werner Herzog machte einen Film über Russen, die glauben, auf dem Grund eines zugefrorenen Sees ruhe eine Stadt von Engeln (Glocken aus der Tiefe, Anm. d. Verf.). Sie riskieren ihr Leben, wenn sie vorsichtig aufs dünne Eis hinauskriechen. Ich sagte ihm, das sei ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm. Ich habe alles erfunden, antwortete er mir. Herzog sagt, seine Spielfilme seien dokumentarisch und seine Dokumentarfilme fiktiv.«[4]

Werner Herzog hat die meisten seiner Filme gegen extreme Widerstände durchgesetzt, ob diese nun finanzieller, produktionstechnischer, logistischer, politischer oder rein menschlicher Natur waren. Vermutlich ist es in diesem Sinne nur folgerichtig, auch eine Biografie über Werner Herzog im Gefühl und im Zustand einer gewissen Widersetzlichkeit zu schreiben, vielleicht ist es der einzig sinnvolle Weg, dieses Buch nicht im Einverständnis mit ihm, sondern mehr oder minder gegen seinen Willen zu verfassen. Vermutlich kann man dem Filmemacher nur im Zustand des beharrlich durchgesetzten Eigensinns und im Gefühl des Gegendrucks nahekommen. Ich mache also weiter, ich bin starrköpfig – und damit vielleicht ein kleiner Bruder im Geiste von Werner Herzog, der die bewundernswerte Gabe besitzt, nie aufzugeben und den Lauf der Dinge in bizarr beeindruckender Selbstüberhöhung beeinflussen zu wollen. Bisweilen erreicht er sogar sein vermessenes Ziel, etwa als er Ende 1974 von München zu Fuß nach Paris geht, um die schwer kranke Filmhistorikerin Lotte Eisner zu retten. Er war beseelt von dem Glauben, sie werde deshalb nicht sterben. Lotte Eisner starb erst neun Jahre später. So beschließe auch ich, eine kleine Wallfahrt zu unternehmen, in meinem Fall allerdings nicht, um ein Menschenleben zu retten, sondern um die herzoglichen Familiengeister gnädig zu stimmen. An einem verlängerten Wochenende im Januar entscheide ich mich, von München nach Sachrang zu laufen, dem Ort im Chiemgau, in dem Werner Herzog seine Kindheit verbracht hat.

Ich komme mir ziemlich lächerlich vor, als ich vor dem Computer sitze und die Strecke google: Von meiner Wohnung bis Sachrang sind es rund 85 Kilometer, für den Weg werden 17 Stunden und 39 Minuten veranschlagt. Endgültig als anmaßend empfinde ich mich, als ich dann de facto aufbreche. Werner Herzog hat das Gehen immer als inneren Prozess begriffen, ich hingegen möchte mir vor allem das Recht erlaufen, die Biografie über ihn schreiben zu dürfen. Die ersten Schritte und die folgenden Kilometer durch die südöstliche Peripherie von München bin ich also vor allem damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie unterschiedlich doch unsere Motive sind und ob es überhaupt rechtens ist, dass ich mich dem großen Werner zu Fuß ein wenig annähere. Bildlich gesprochen: Ich sehe ihn in einiger Entfernung vor mir herlaufen, uneinholbar, und weiß, dass ich nie zu ihm aufschließen werde. Aber ich habe mich nun mal entschlossen, zumindest seiner Spur zu folgen. Meine stummen Begleiter sind die beiden großen Tagebuchtexte, die er veröffentlich hat – Eroberung des Nutzlosen über die Dreharbeiten an dem Dschungelabenteuer Fitzcarraldo sowie Vom Gehen im Eis über seine Fußwanderung zu Lotte Eisner. Wenn ich eine Rastpause einlege, lese ich vor allem in seinem Buch über das Gehen – und habe bald ein paar über den Text verstreute Sätze memoriert, die meinen Marsch ins Chiemgau wie kleine Kapitelüberschriften strukturieren:

Die Beine gehen.

Das Gehen geht.

Das Gehen sollte ein jeder.

Links weiß ich auf einmal, was ein Meniskus ist, bei einer scharfen Wendung, ich wusste bisher davon nur aus der Theorie.

Auf dem Weg hinunter überhole ich hinkend einen hinkenden Mann.

Das Gehen geht nicht mehr.

Das Gehen geht auch bei mir bald nicht mehr. Als es auf einer Straße durch den Hofoldinger Forst zu regnen beginnt, suche ich mir einen Unterstand und lese zum Trost sowie zur Ermutigung in Herzogs Vom Gehen im Eis. Das hilft. Da steht gleich zu Beginn: »Die rechte Wade gibt vielleicht noch ein Problem, der linke Stiefel möglicherweise auch, vorne am Rist. Beim Gehen kommt einem so vieles durch den Kopf, das Hirn, das wütet. Jetzt fast ein Unfall ein Stückchen voraus. … Bayernfahnen am S-Bahnhof Aubing (Germering?). Der Zug wirbelte trockene Blätter hinter sich auf, es wirbelte lange, dann war der Zug fort. In meiner Hand fühlte ich noch die kleine Hand meines kleinen Sohnes, dieses seltsame Händchen, wo sich der Daumen so eigenartig gegen das Gelenk abbiegen lässt. Ich schaute in das Wirbeln der Papiere und da wollte es mir das Herz zerreißen. Es geht langsam auf zwei Uhr.«[5]

Bei mir geht es bereits auf vier Uhr. Es beginnt zu dämmern. Der Wald wirkt etwas unheimlich. Werner Herzog sagte mir einmal in einem Interview, im lateinamerikanischen Dschungel zu sein, sei auch nicht anders, als etwa durch den Hofoldinger Forst bei München zu gehen. Das sei nur eine andere Daseinsform von Wald.

Weiter geht’s. Beim Aufstehen weiß auch ich plötzlich, was ein Meniskus ist. Humpelnd erreiche ich die Straße und bemerke, wie sich, fast wie von selbst, mein rechter Daumen beim erstbesten Auto zum Anhalter-Zeichen hebt. Bereits der zweite Wagen hält und setzt mich im nächsten Ort ab. Aying, Brauereigasthof, irgendwo hinten plärrt ein Kind, die Kellnerin trägt ein paar Bier durch die gutbürgerliche Stube. Sie bringt etwas zu essen, dazu ein Helles – bei Herzog steht: »Germering, Wirtshaus, Kinder haben Erstkommunion. […] Das zweite Bier, es geht mir schon in die Knie hinunter. Ein Junge spannt mit einem Faden ein Schild aus Karton zwischen zwei Tischen, die Schnurenden mit Tesa befestigt. Der Stammtisch schreit Umleitung, wer seids denn ihr sagt die Bedienung, dann fängt die Musik wieder sehr laut an. Der Stammtisch würde gerne sehen, wenn der Junge der Bedienung unter den Rock langen würde, aber der traut sich nicht. Nur wenn es Film wäre, würde ich das alles für wahr halten.«[6]

Es sind noch Zimmer frei. Kaum im Bett, beginnt das Knie heftig zu schmerzen, aber ich schlafe trotzdem bald ein. Am nächsten Morgen ist der RVO, der Regionalverkehr Oberbayern, meine Rettung. Es gibt einen Bus von Aying bis Bad Aibling. Der wird genommen. Herzog hin oder her. Von Bad Aibling aus geht es, jetzt wieder zu Fuß, durch die Sterntaler Filze. Das ist zu schaffen, auch mit Meniskus. Dann Raubling, Huberwirt. Das Knie fühlt sich ganz gut an, am Abend ist es nur noch leicht geschwollen, als habe es sich erst einlaufen müssen. Die zwanzig Kilometer bis Sachrang morgen sollten zu schaffen sein.

Erschöpft, aber glücklich steuere ich am nächsten Tag meiner kleinen Wallfahrt kurz nach zwei Uhr das Haus an, in dem Werner Herzog seine Kindheit verbracht hat. Das ehemalige Zuhäusl eines Bauernhofs liegt im etwas höher gelegenen Ortsteil Berg. Von hier aus schaut man über weite Wiesen hinüber nach Sachrang, das eigentliche Dorf liegt auf der anderen, der nordöstlichen Seite der Prien. Eine einzelne weiße Wolke, die aussieht wie ein sitzender Hase, schwebt am Himmel. Rechts erhebt sich der Spitzstein, im Hintergrund hört man den Bach im Talgraben gluckern, der vom Geigelstein herunterrauscht. Von dem einfachen, zweistöckigen Haus, in dem Werner Herzog aufgewachsen ist, sind es nur ein paar Schritte bis zu dem Gewässer. Der Talgraben und der rund 400 Meter entfernt gelegene Wasserfall, zu dem ein kleiner Weg führt, waren Plätze, an denen er als Bub oft spielte. Über diese Zeit ist wenig bekannt. Man muss Werner Herzog erst eine Kindheit erfinden, die erlebt wurde – man muss die Puzzleteile, die er versteckt hat, ausgestreut über viele Interviews und Texte, erst achtsam zusammenfügen. Eine faszinierende Stelle findet sich in Eroberung des Nutzlosen: »Ich erinnere mich, in Sachrang als Kind einen Schauer erlebt zu haben, als ich im Bach in der Nähe des Wasserfalls ein Stück leuchtend blaues Plastik angetrieben fand, das sich zerfranst im Ast eines Strauchs gefangen hatte. Ich hatte als kleiner Bub noch nie so etwas zuvor gesehen und hob es wochenlang heimlich auf, schmeckte daran, fand es leicht dehnbar, voll von Wundern. Erst Wochen später, als ich mich daran satt besessen hatte, zeigte ich es her. Mit meinem Bruder Till fand ich heraus, dass es in sich zusammenschmolz, wenn man ein brennendes Streichholz daran hielt; es rauchte schwarz und roch nicht gut, aber es war etwas Niegesehenes aus einer fernen Welt vom Oberlauf des Bachs in den Bergen, wo er sich in Schluchten verlor und wo es auch keine Menschen mehr gab.«[7]

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1 Inspiration durch Landschaft – hinter dem Haus, in dem Werner Herzog aufwuchs, rauscht ein mythischer Wasserfall vom Geigelstein ins Tal.

Ich gehe das sprudelnde Gewässer im Talgraben ab und versuche, ober- wie unterhalb des überraschend machtvollen Wasserfalls, den Ort zu finden, an dem Werner Herzog das Stück Plastik entdeckt haben könnte. Fast jede und damit eigentlich keine Stelle kommt dafür infrage. Ich lese den Text noch einmal durch, ob ich nicht einen Hinweis übersehen habe. Doch es heißt nur »in der Nähe des Wasserfalls«. Ich blättere ein wenig vor und zurück, vielleicht gibt es ja noch eine weitere Erwähnung des Plastikfetzens. Aber außer dem Hinweis, dass das Stück Kunststoff einen Namen bekommen hat, an den sich Herzog, wie er schreibt, leider nicht mehr erinnern könne, finde ich nichts. Ich stehe also unterhalb des Geigelsteins in den bayerischen Voralpen, unter mir rauscht der Wasserfall, an manchen Stellen liegen umgestürzte Bäume über dem von Herbstblättern glitschigen Steig, da und dort sind Wasserpfützen dünnhäutig überfroren, Inseln hellen Schnees leuchten aus dem Grau-Braun-Grün des Berghangs hervor, es wird langsam dunkel – und ich stelle mir vor, wie der kleine Herzog-Werner aufgeregt zwischen meinen Beinen durchläuft, mal hierhin, mal dorthin, wie er die Welt erforscht und seinen Plastikschatz unter dem groben, etwas zu großen Pullover verbirgt, den er von seiner Mutter bekommen hat. Später im Tal sitze ich schließlich müde in einer Ecke der Dorfwirtschaft, beim Lesen fallen mir immer wieder die Augen zu. In einen Dämmerzustand hinübergleitend ist es, als hörte ich einen Satz von Werner Herzog, keine Ahnung, ob er den je gesagt hat, einen Satz, der auf magische Weise all das zusammenfasst, was ich an diesem trüben Nachmittag auf einer Bergflanke im Priental erlebt habe: »Erwachsen ist man immer ärmer, als man es als Kind war. Das bedauere ich.«

Anmerkungen

Alle im Text wörtlich wiedergegebenen Zitate, die ohne einen Nachweis aufgeführt sind, stammen aus Gesprächen, die der Autor persönlich geführt und aufgezeichnet hat.

Die verwendeten Zitate aus dem englischen Interview-Buch Herzog on Herzog (Hrsg. Paul Cronin, Faber & Faber, 2002) wurden vom Autor ins Deutsche übertragen.

[1] Peter Berling in Werner Herzog, Berlin 2002, S. 92

[2] Eva Mattes in kulturSpiegel, Heft 10, 2011

[3] Werner Herzog in DIE ZEIT, Nr. 06, 04.02.2010

[4] Roger Ebert in Time Magazine, 30.09.2009

[5] Werner Herzog in Vom Gehen im Eis, München 1978, S. 10

[6] a. a. O., S. 11

[7] Werner Herzog in Eroberung des Nutzlosen, München 2004, S. 199

Die Familie. Eine Genealogie mit Anmerkungen

»Man muss unterscheiden zwischen privat und persönlich.«

Im Werk eines Künstlers ist alles enthalten. Man kann dieses Werk autark betrachten, die Persönlichkeit desjenigen, der es geschaffen hat, wird dann sekundär. Um ein Werk aber wirklich entschlüsseln, es in seiner Tiefe zumindest ansatzweise verstehen zu können, braucht es den Menschen. Kunst entsteht nicht zuletzt aus familiären Prägungen, aus Neurosen, gespaltenen Selbstbildern, Vorlieben, Sehnsüchten, Ängsten, Minderwertigkeitskomplexen und individuellen Entwicklungen. Nähert man sich in diesem Sinne einem Künstler mit dem gebotenen Respekt und dazu mit einer Haltung, die nie zementiert, sondern immer der Überprüfung wert ist, erfährt man eine Menge über den Menschen und sein Werk – und, im Idealfall, wie beides miteinander verschränkt ist. Werner Herzog ist, so betrachtet, eine Besonderheit. Zum einen erzählt er Journalisten und Gesprächspartnern durchaus sehr persönliche Dinge, etwa wie er in jungen Jahren mehrfach Hausfriedensbruch beging und unterwegs auf Reisen immer wieder in fremde Häuser einstieg, um dort zu übernachten; zum anderen wiederholt er diese Erzählungen über Jahrzehnte in oft wortgleicher Diktion und stilisiert sich dabei zu einem anarchischen Helden der Einsamkeit. Der Begriff der ekstatischen Wahrheit gilt offenbar auch für große Teile seiner Selbstauskünfte. Vermutlich deshalb hat Werner Herzog, wie beschrieben, für das vorliegende Buch die Mitarbeit verweigert – aus Sorge, er könne nur entmystifiziert werden. Einige der Geschichten, die hier zu lesen sind, hat er freilich schon selbst zum Besten gegeben, auf unzähligen Podien und in Interviews, wobei er in Sachen der Selbstauskunft im Ausland sehr viel bereitwilliger und offener reagiert als in Deutschland. Es scheint, als habe er mit seinem Heimatland, in dem er nicht die Verehrung spürt, die ihm zusteht, ab einem gewissen Zeitpunkt gefremdelt, zumindest was die Öffentlichkeit betrifft. Die großen biografischen Texte über Werner Herzog sind also in Amerika und England erschienen, etwa das britische Interviewbuch Herzog on Herzog oder der von Brad Prager, Professor an der Universität von Missouri, zum 70. Geburtstag herausgegebene, mit 648 Seiten alles sprengende Band A Companion to Werner Herzog. Auch die kluge, sinnliche Schilderung der Dreharbeiten zum Herzog-Film Herz aus Glas, verfasst von seinem Regiekollegen Alan Greenberg, neu herausgebracht unter dem Titel Every Night the Trees Disappear, gibt es nicht auf Deutsch, ein Buch, das vom Magazin Rolling Stone als eines der besten gelobt wurde, die je über Dreharbeiten zu einem Film geschrieben wurden. Selbst die amerikanischen Wikipedia-Seiten über Werner Herzog sind viel umfangreicher als die deutschen und enthalten weitaus mehr Persönliches. Trotzdem – weder hier noch woanders liest man wirklich Neues über Werner Herzog. Ein großes Anliegen des vorliegenden Buches ist es also, dem Filmemacher erstmals eine Geschichte zu geben, dank bisher unbekannter Details vor allem eine Kindheit, über die kaum etwas veröffentlicht wurde. Dabei geht es weniger um investigative Enthüllungen als um das Sichtbarmachen einer Kontinuität des Erlebens vom Kind bis zum Erwachsenen, aus der heraus das Gesamtwerk anders gesehen werden könnte und sich neue Betrachtungszusammenhänge erschließen mögen. Kann man bei Werner Herzog also zum eigentlichen Menschen durchdringen? Lassen sich die über die Jahrzehnte von ihm gepflegten Selbstbilder dekonstruieren oder zumindest hinterfragen, ohne dass man dabei als Autor in kleinliche Rechthabereien um die Deutungshoheit gerät? Der große Respekt vor dem Werk von Werner Herzog ist das eine Fundament dieses Buches, die große Neugierde auf das, was sich hinter diesem Werk noch verbergen mag, das andere.

Werner Herzog hat immer sehr genau zwischen privat und persönlich unterschieden: Das Private müsse privat bleiben, das Persönliche habe eine Bewandtnis, sofern sich ein Bezug zum Werk herstellen lasse. Dieses Prinzip wurde auch auf das vorliegende Buch angewendet.

Im Folgenden werden die familiären Verhältnisse kurz dargestellt, um verwandtschaftliche Beziehungen, die sich auch in der Arbeit an Filmen niederschlagen, später nicht erneut erläutern zu müssen:

Seinem älteren Bruder Tilbert war und ist Werner Herzog in großer Innigkeit verbunden. Auch auf seinen Halbbruder Lucki Stipetić kann er sich verlassen, seit Anfang der Siebzigerjahre leitet dieser die Geschäfte der Firma Werner Herzog Film GmbH.

Mit seiner Halbschwester Sigrid Herzog pflegt er einen engen künstlerischen Austausch. Das Verhältnis zu seinem Vater war von Ablehnung geprägt, die Mutter wurde, neben der bereits erwähnten Lotte Eisner, zu einer der bewunderten Frauenpersönlichkeiten seines Lebens, zu einer großen, wichtigen Identifikationsfigur.

Werner Herzogs Eltern hatten sich in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts während des Studiums an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität kennengelernt.

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2/3 Die Eltern

Elisabeth Herzog (geborene Stipetić), Jahrgang 1912, war gebürtige Wienerin, sie stammte aus einem kroatischen Offiziersgeschlecht, das der k. u. k. Monarchie diente; sie wuchs in Wien und Temeschwar auf, studierte zuerst in Wien und dann in München Sport sowie Biologie. Sie promovierte bei dem bedeutenden Verhaltensforscher Karl von Frisch über die Konditionierung von Fischen.

Dietrich Herzog, Jahrgang 1910, kam in Tübingen zur Welt, als Sohn einer Familie, die bereits über Generationen hinweg angesehene Akademiker in ihren Reihen hatte. Dietrichs Vater Rudolf Herzog promovierte in klassischer Philologie und leitete Anfang des 20. Jahrhunderts umfangreiche archäologische Ausgrabungen auf der Insel Kos. Dessen Vater Ernst Herzog (Dietrichs Großvater) war ebenfalls Professor für Philologie und Archäologie an der Universität Tübingen gewesen, außerdem Mitglied der Reichs-Limes-Kommission.

Dietrich Herzog promovierte, ebenso wie seine Frau Elisabeth, in den Dreißigerjahren als Biologe in München. Er wurde später zur Wehrmacht eingezogen und organisierte als Offizier während des Zweiten Weltkrieges den Nachschub der deutschen Truppen. Nach der Kapitulation sattelte er um und beschäftigte sich intensiv mit der Grafologie. In den Fünfzigerjahren wurde er zu einem der wenigen Sachverständigen für außereuropäische Schriftvergleiche bei deutschen Gerichten.

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4 Werner, Lucki und Tilbert

Nach ihrer Heirat bekamen Dietrich und Elisabeth Herzog zwei Söhne: Tilbert Herzog, der am 26. Juni 1941 geboren wurde, sowie Werner Herzog, der am 5. September 1942 auf die Welt kam und damit knapp fünfzehn Monate jünger ist als sein Bruder.

Elisabeth schenkte im Mai 1947 einem weiteren Kind das Leben, Werners und Tilberts Halbbruder Lucki, dessen Vater aus dem Priental stammte. Aufgrund der kriegsbedingt langen Zeit der Trennung hatten sich Dietrich und Elisabeth Herzog auseinandergelebt und ließen sich 1948 scheiden. Dietrich heiratete noch zweimal, aus seiner zweiten Ehe stammt Werners Halbschwester Sigrid, die im November 1949 auf die Welt kam und als Theaterregisseurin tätig ist, u. a. seit den Neunzigerjahren auch als Vizedirektorin der Otto-Falckenberg-Schule in München.

Elisabeth Herzog starb 1984, Dietrich Herzog 1989.

Werner Herzog selbst heiratete insgesamt dreimal: Seine erste Ehe mit der Filmkritikerin, Autorin und späteren Heilpraktikerin Martje Grohmann dauerte von 1967 bis 1987, der gemeinsame Sohn Rudolph Amos Achmed wurde 1973 geboren.

In den Jahren von 1976 bis 1980 lebte Werner Herzog in einer Beziehung mit der Schauspielerin Eva Mattes, die gemeinsame Tochter Hanna kam 1980 auf die Welt.

Zwischen 1987 und 1994 war Werner Herzog mit der Regieassistentin Christine Ebenberger verheiratet, aus der Ehe stammt der Sohn Simon.

Mitte der Neunzigerjahre zog Werner Herzog in die USA, dort lernte er die russische Fotografin Lena Pisetski kennen und heiratete sie 1999. Seitdem leben die beiden gemeinsam in Los Angeles.

Annäherung zwei – Riedering

Soeben habe ich die erste Lehrerin von Tilbert und Werner Herzog ausfindig gemacht, die inzwischen 88-jährige Thea Hupfauer (heute: Staudacher). Die Frau, die 1948 den damals sechsjährigen Werner Herzog eingeschult hat, lebt noch! Sie wohnt südlich des oberbayerischen Simssees in Riedering. Am Telefon wirkt sie frisch und fidel, sie lacht, als ich ihr mein Vorhaben erkläre, und meint, natürlich erinnere sie sich an die Herzog-Buben. Sie habe sogar noch ein Klassenfoto, auf dem die beiden abgebildet seien. Die ehemalige Grundschullehrerin spricht mit überraschend junger Stimme: Sie wolle das alte Foto zwar nicht hergeben, aber ich könne gerne vorbeikommen und es mir anschauen.

Bereits ein paar Tage später stehe ich vor ihr, einer kleinen, dynamischen Person, die wirkt, als wäre sie erst siebzig. Nur anfangs ist sie etwas verwirrt, weil sie glaubt, wir hätten uns für das nächste Wochenende verabredet. Mit Verwandten sitzt sie draußen auf der Terrasse, eilt aber gleich ins Haus und die Treppe hoch, um das Klassenfoto aus ihrem Zimmer zu holen. Sie legt es auf den Tisch in der Stube und fordert dazu auf, die beiden Herzog-Buben zu finden. Immerhin 47 Kinder sind auf dem Foto abgebildet, die Jungen vorne, die Mädchen hinten – und links die Lehrerin. Ich solle ganz unten schauen, meint Thea Staudacher. Ich gehe die untere Reihe der sitzenden Jungs durch, alle barfuß – da sind sie, unzweifelhaft, Tilbert sitzt ganz rechts außen, für Werner brauche ich ein wenig länger, er sitzt ganz links außen, also keineswegs zusammen mit seinem Bruder. Die beiden rahmen das Bild. Thea Staudacher erzählt, sie habe die Klasse damals übernommen, sie ab dem Schuljahr 1948/49 unterrichtet – ja, und einmal habe sie es so eilig gehabt, dass sie mit ihrem Zündapp-Moped zu schnell gefahren und beim Sigl-Hof von der Straße abgekommen sei, einfach in den Graben gefahren. An dem Tag sei die Schule ausgefallen, daran könne sie sich noch erinnern. Sie lacht. Ich sage, ich würde in dem Buch auch ein wenig über ihr Leben schreiben. Sie antwortet, sie habe doch nicht viel erlebt, im Gegensatz zum Werner. Sie sei doch von Sachrang aus nur bis Riedering gekommen, was für eine Frau aus dem Priental schon ziemlich weit wäre, immerhin so um die zwanzig Kilometer.

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5 Die Grundschullehrerin Thea Hupfauer (heute Staudacher) mit ihrer Klassengemeinschaft vor dem Sachranger Schulhaus im Spätsommer 1948. Sitzend ganz links: Werner Herzog. Sitzend ganz rechts: Tilbert Herzog.

Warum sie denn Sachrang bzw. ihren etwas weiter vorne im Tal liegenden Wohnort Stein überhaupt verlassen habe, frage ich Thea Staudacher. Sie schaut mich an, lächelt ein wenig – und meint: der Liebe wegen. Ihr Mann sei aber schon vor ein paar Jahren gestorben. Ein Moment von Traurigkeit huscht über ihr Gesicht, dann kommt sie noch einmal auf Werner Herzog zu sprechen: Sie kenne zwar keinen Film von ihm, aber sie habe ihn selbst einmal im Fernsehen gesehen, habe ihn ganz genau angeschaut, bis sie sicher gewesen sei, dass es sich auch wirklich um ihn gehandelt habe.

Schließlich erlaubt sie mir, das alte Klassenfoto doch mitzunehmen, aber ich müsse es auf alle Fälle wiederbringen. Großes Ehrenwort!