Dämonendämmerung – Die Auserwählte
Sabine Reiff
Sabine Reiff
Dämonendämmerung – Die Auserwählte
Copyright Sabine Reiff, Juli 2012
Version 3.0, Stand August 2012
ISBN 978-3-8450-1181-3
Titelgestaltung: Rainer Wekwerth unter Verwendung eines Fotos von Nejron Photo, fotolia.com
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
Sabine Reiff
Neue Straße 40
74369 Löchgau
www.sabine-reiff.com oder auf Facebook www.facebook.com/sabine.reiff.16
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen oder sonstigen Printmedien, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.
Dieser Text umfasst eine Länge von ca. 430 Normseiten (ca. 122.000 Wörter / ca. 786.300 Zeichen inkl. Leerzeichen).
Nachts
Es war Herbst, die Zeit des Jahres, in der sich Sommer und Winter für wenige Wochen vereinigten. Tage und Nächte beherbergten noch einen trügerisch warmen, fast zarten Hauch, doch die Kälte des Winters, die mit eisigen Klauen alles Leben umschlang, würde schon bald folgen.
Gelal witterte in das ihn umgebende Schwarz hinein; wie jede Nacht war er auf der Jagd nach Emotionen. Rastlos durchstreifte er die Träume der Menschen auf der Suche nach Gefühlen, die seine unbändige Gier nach Ekstase stillten, ihn nährten und ihm Kraft gaben. Und seit Anbeginn seiner Existenz war die Dunkelheit dabei seine stille, wohlwollende Verbündete. Nacht für Nacht offenbarte sie sich ihm als reich gedeckter Tisch, indem sie ihm die Seelenregungen der Menschen zeigte. Ihre Träume. Ihre Ängste. Ihre geheimsten Wünsche, die ihn anlockten und an denen er sich labte.
Jeder menschlichen Emotion haftete ein ureigener Geruch an und ebenso variantenreich war später der Geschmack. Angst besaß eine brennend ätzende Note und war wenig bekömmlich. Neid, Missgunst und Hass wurden von der Bitterkeit überlagert, die sie in dem jeweiligen Menschen auslösten. Diese Gefühle sättigten zwar nicht, aber sie linderten das dringlichste Verlangen. Am nahrhaftesten waren reine, unschuldige Empfindungen, wie Liebe, Glück und Zufriedenheit und ebenso verführerisch rochen sie auch. Manchmal blumig und leicht, manchmal süß und schwer, manchmal nach Sonne und Wind und ganz selten verströmten sie den unbefleckten Duft von frisch gefallenem Schnee. Er versuchte sich zu erinnern, wann dieser Wohlgeruch das letzte Mal seine Sinne berauscht hatte. Es lag Ewigkeiten zurück, denn solch reine Empfindungen waren nur sehr wenigen Menschen vorbehalten und machten sie zu außergewöhnlichen Geschöpfen.
Der Hunger nach Emotionen ergriff von seiner gestaltlosen Hülle Besitz und drängte sein Innerstes zur Vereinigung. Er ließ sich auf einer alten Eiche nieder, die majestätisch auf dem Berggipfel thronte. Von hier oben konnte er das schmale Tal zu seinen Füßen in seiner vollen Länge überblicken. Ein reißender Wildbach zerschnitt es in zwei nahezu gleiche Hälften. An seinem oberen Ende schmiegte sich ein verschlafenes Städtchen gegen die steil ansteigenden Hügel, an seinem unteren erstreckte sich eine weite Moor- und Wiesenlandschaft. Und dort, im Höllengrund, lag auch sein Versteck. Die Einheimischen mieden diesen Ort, denn seit jeher rankten sich um ihn dunkle Geschichten, für ihn hingegen war die alte Wassermühle mit der Zeit zu einem schützenden Refugium geworden. Von seinem Hochsitz beobachtete er, wie nach und nach in den Fenstern der Häuser die Lichter erloschen. Bald lag die Stadt vollständig im Dunkel der Nacht, und er durfte sich ganz nach Incubusart in die süßen Träume seiner Opfer schleichen. Nur noch ein kurzer Moment der Gefahr trennte ihn von der weiblichen Wollust, die auf ihn wartete und die er begehrte, weil sie sein Dasein rechtfertigte. Es waren die Augenblicke, in denen er der menschlichen Welt seine dämonische Gestalt offenbaren musste, um seine Sinne zu schärfen und für diese Nacht, die richtige Wahl zu treffen.
Gelal glitt zu Boden, während seine Augen die Umgebung nach ungebetenen Gästen absuchten. Das leise Knistern von Tannennadeln, Blättern und Waldboden unter seinen blanken Fußsohlen verriet, dass seine Verwandlung bereits begonnen hatte. Momente, in denen er gezwungen war, sein wahres Äußeres zu zeigen, bedeuteten für ihn stets Gefahr, da seine aufragende, bläulich schimmernde Gestalt wie eine Magnesiumfackel aus der Dunkelheit hervorstach. Und seltsame Erscheinungen erweckten nun einmal die Neugier. Zwar gerieten die meisten Menschen bei seinem Anblick in Panik und flohen, doch es änderte nichts an den Tatsachen: Wer die Macht besaß, für den war es ein Leichtes, ihn in den Sekunden der Schutzlosigkeit zu bannen und von dem mächtigen Incubusfürsten Gelal blieb nichts als ein dämonischer Lakai. Eine grässliche Vorstellung, zumal er ein wirklich angenehmes Leben führte. Seine Pflichten als Incubus bestanden vornehmlich darin, Seelen für die Legionen der zweiundsiebzig Hauptdämonen zu rekrutieren, welche die Zwischenwelt – seine Welt – regierten. Das Sahnehäubchen seines Bestehens bildete allerdings der ganz persönliche Obolus, den er an die Höllische Brut zu entrichteten hatte und der ihm das Privileg verlieh, sich mit auserwählten Menschenfrauen zu paaren. Gebannt würde ihm nichts von alledem bleiben, danach war er ein Sklave des Unvollkommenen, eine wertlose Kreatur, die weder zur dunklen Seite noch in die Welt der Menschen gehörte. Von einem beschwörungskundigen Menschen verfemt, war er ein willenloses Spielzeug und zu demselben verachtungswürdigen Schicksal verdammt, das schon viele seiner Art in einem Moment der Unvorsichtigkeit ereilt hatte. Er schüttelte sein imposantes Widderhaupt, um die lästigen Gedanken aus seinem Verstand zu vertreiben. Ein unerwarteter Widerstand ließ ihn abrupt in seiner Bewegung innehalten. Instinktiv zog er die Lefzen hoch und entblößte ein mit rasiermesserscharfen Zähnen bewehrtes Gebiss. Noch immer hielt ihn Etwas gefangen. Sein Kopf schnellte mit aller Kraft nach vorn. Über ihm ertönte ein spröde splitterndes Geräusch und ein schwerer Gegenstand fiel dumpf zu Boden. Er war wieder frei. In einer rasanten Bewegung drehte er sich um die eigene Achse, bereit, sein freies Leben mit allem, was ihm zur Verfügung stand, zu verteidigen. Seine Arme schnellten in Richtung des vermeintlichen Feindes, um ihn zu packen und wenn nötig in Stücke zu reißen…
Irritiert betrachtete er den am Boden liegenden Eichenast, dann suchten seine Augen ein weiteres Mal akribisch das Gelände um ihn herum ab, aber da war niemand. Keine Menschenseele. Das einzige Geräusch im weiten Umkreis verursachte sein peitschenartiger Schwanz, der immer noch, in einem letzten Rest Anspannung, unruhig über den Boden zuckte. Seiner Kehle entwich ein verärgertes Knurren; er war wieder Herr seiner Sinne.
Gelal richtete seinen Körper zu voller Größe auf. Er blähte die schmalen Nüstern, schloss die Augen und sog den berauschenden Duft ein, den ihm die Nacht entgegen trug. Es waren Emotionen in ihrer reinsten Form, die unschuldigen Empfindungen einer sich gerade entfaltenden Liebe. Sie stammten von einem heranwachsenden Mädchen, an der Grenze zwischen Kind und Frau. Seine Sinne täuschten ihn nicht, denn an ihren Gefühlen haftete noch der typische Duft frisch erblühter Rosen. Die Unbeflecktheit ihrer Emotionen würde ihn nähren und ihm die Stärke geben, die er für die Eroberung seiner Auserwählten brauchte. Er lächelte bei der Vorstellung an das, was ihn erwartete. Die nach Rosen duftende Kleine konnte er viele Male heimsuchen, so lange bis er die Liebe aus ihren Träumen und die Zufriedenheit aus ihrem Leben gestohlen hatte. Zurück blieb am Ende eine leere menschliche Hülle, ein armes Geschöpf, das keine Ahnung hatte, wem sie ihr Leid letztlich verdankte. Und eines nicht allzu fernen Tages würde sie ihre Seele verpfänden, damit sie endlich wieder das Gefühl von Glück spüren durfte. Er empfand kein Mitleid mit seinen Opfern; alles im Leben hatte seinen Preis. Und es gab Wünsche, die kosteten die eigene Seele.
Bereits wenig später war er sich sicher, das Bild des jungen Mannes genau vor Augen zu haben, der das Herz der Kleinen erobert hatte. Sobald er neben seinem Opfer lag, würde er die Gestalt des Teenagers annehmen. Nur für den Fall, dass die Kleine bei ihrer ersten Heimsuchung plötzlich aufwachte, denn er wollte jede Form von Panik bei dem Mädchen vermeiden. So etwas verdarb nicht nur den Geschmack, sondern auch die Freude. Schließlich spiegelte eine Heimsuchung durch einen Repräsentanten der Triebwelt immer die perfekte Illusion in Sachen Liebeskunst wider. Sie war die Verführung zur Sünde der Wollust, der schöne Traum, der die körperliche Begierde weckte. Der Alptraum, der die Opfer um den Verstand brachte, stand ganz am Ende seiner nächtlichen Besuche, wenn alle Zufriedenheit aus den Herzen der Heimgesuchten verschwunden war und Hochmut, Neid, Zorn, Habgier, Maßlosigkeit oder Trägheit die Oberhand über den menschlichen Geist gewonnen hatten, dann waren ihre Seelen für die Zweiundsiebzig, die über alles Sein herrschten, bereit.
Gelal ließ seinen Körper wieder mit dem Dunkel der Nacht verschmelzen. Sekunden später stand er am Bett des Rosenmädchens. Fasziniert betrachtete er sein Spiegelbild in der vom fahlen Mondlicht beschienenen Fensterscheibe. Er trug die Gestalt eines leger gekleideten, schmächtigen Sechzehnjährigen mit fransigen, aschblonden Haaren und einem viel zu lang geratenen Gesicht. Die blassen Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Schmunzeln.
Wo die Liebe doch hinfällt, dachte er und schlüpfte unter ihre Decke, um ihr den ersten erotischen Traum ihres Lebens zu bescheren.
Das monotone Alarmsignal des Weckers riss Doro aus dem Schlaf. Mühsam öffnete sie die Augen. Die Zahlen auf der digitalen Anzeige zeigten in einem grell leuchtenden Grün 7.00 Uhr an. Eigentlich musste sie aufstehen, doch ihr Körper verweigerte an diesem Morgen den Gehorsam. Ihre Hand tastete nach dem Druckknopf, mit dem sich der Alarm ausschalten ließ. Wenigstens noch ein paar Minuten wollte sie sich die wohlige Wärme ihres Bettes gönnen, bevor sie sich der Welt da draußen stellte. Endlich hatte sie den Schalter gefunden und augenblicklich kehrte die schläfrige Stille in ihr Schlafzimmer zurück. Einen Moment überlegte sie, in der Redaktion anzurufen und sich für den heutigen Tag krankzumelden. In diesem langweiligen Kaff passierte sowieso nichts, was einen Bericht in der Zeitung wert gewesen wäre, denn die Themen wiederholten sich in regelmäßigen Rhythmen. Sie fühlte sich elend, einsam und verlassen und das einzig Sinnvolle war, wenn sie diesen Tag komplett ignorierte. Trotzig zog sie die Daunendecke über das Gesicht und presste die Augenlider aufeinander; gleich darauf war sie wieder eingeschlafen…
Doro schreckte aus dem Schlaf hoch. Heute war der 14. Oktober und sie musste dieses verdammte Interview führen. Der Typ hieß Maar oder so ähnlich und war angeblich ein angesagter Historiker. Ihr Chef persönlich hatte ihr diesen Termin aufgehalst, somit blieb ihr gar keine Wahl, als in der Redaktion zu erscheinen. Sie raffte sich auf und schleppte sich ans Fenster, um an den schweren, dunklen Vorhängen vorbei, einen Blick ins Freie zu wagen. Über dem Tal lag dichter Nebel, anscheinend wollte die Trostlosigkeit an diesem Morgen überhaupt kein Ende nehmen.
Sie ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, legte ihre Hände unter dem Strahl zusammen und benetzte ihr Gesicht. Sie hob den Kopf, um die junge Frau im Spiegel vor ihr zu betrachten. Aus den dichten, schwarzen Wimpern lösten sich die letzten Mascarareste des gestrigen Make-ups. In wässerig dunklen Rinnsalen liefen die Tropfen über blasse Wangen, folgten einem energisch geschwungenen Kinnbogen und rollten den Hals hinab, um schließlich in ihrem grauen Schlafshirt zu versickern. Aus dem schmal geschnittenen, hellhäutigen Gesicht funkelten ihr herausfordernd große blaugrüne Augen entgegen.
„Dorothea Bergmann, reiß dich zusammen“, flüsterten ihre vollen Lippen.
Gestern hatten sie den neunundzwanzigsten Geburtstag ihrer besten Freundin Lille gefeiert und ihr übler Kater heute Früh zeugte davon, dass mit fortschreitender Stunde jedes Maß für Vernunft verloren gegangen war. Manche Dinge lernte man offenbar nie oder man behielt sie einfach nicht lange genug im Gedächtnis. Ihr Blick fiel auf die Narbe über ihrer linken Augenbraue. Im Lauf der Jahre war sie dünner und weniger auffällig geworden, aber für ihr eigenes Empfinden stach sie immer noch wie ein dilettantisch aufgeklebter roter Faden aus ihrem Gesicht hervor. Ihre Finger zogen sorgfältig und schnell die einzelnen Strähnen ihres Ponys in Form, damit der Makel bestenfalls noch zu erahnen war. Erst danach wusch sie sich ihr Gesicht.
Sie nahm ihre Armbanduhr von der weißen Keramikablage unterhalb des Spiegels. Während des Anlegens sah sie flüchtig auf das Zifferblatt; sie musste los. In einer hektischen Drehung wirbelte sie in Richtung der Tür und sofort ereilte sie ein reißender Schmerz. Aus dem Augenwinkel heraus erhaschte sie ihr Spiegelbild. Ihr hübsches Gesicht hatte sich in Sekundenbruchteil in eine greisenhafte Fratze verwandelt. Ihre Hand glitt suchend am Waschbeckenrand entlang, bis sie endlich Halt fand. Der massive Schmerz ließ nach und ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder. Sie humpelte zurück ins Schlafzimmer. Mit bedächtigen Bewegungen, die absolut nicht zu ihrem Alter passten, zog sie sich an.
Doro nahm die Tablettenschachtel von ihrem Nachttisch, drückte zwei Schmerztabletten aus der Blisterpackung, steckte sie in den Mund und warf den Kopf in den Nacken, damit die Pillen auch ohne Wasser ihren Hals hinunterglitten. Sie wiederholte den Vorgang, dann war sie bereit, das Haus zu verlassen. Im Vorbeigehen nahm sie den schwarzen Lederrucksack und ihren Schlüsselbund vom Flurtischchen. Während sie die Wohnungstür hinter sich schloss, dachte sie darüber nach, ob sie das Auto nehmen oder zu Fuß in die Redaktion gehen sollte. Als sie hinaus ins Freie trat, hatten sich bereits die ersten Sonnenstrahlen durch den Morgennebel gekämpft. Sie hob den Kopf, die Wärme auf ihrer Haut tat gut und erhellte die lichtlosen Winkel ihrer Seele. Solche Momente waren selten und deshalb galt es umso mehr, sie so lange wie möglich auszukosten. Ihre Entscheidung war gefallen. In Kürze setzte die Wirkung der Schmertabletten ein und sie beschloss, den knappen Kilometer ins Büro zu laufen.
Sie folgte der Straße, die sich in mehreren sanften Kurven, bergab in Richtung der Ortsmitte schlängelte. In den Gärten blühten schon Dahlien, Astern und Herbstanemonen. Ihr Blick wanderte weiter zu dem kleinen Park am unteren Ende der Straße. Die Herbstzeitlosen übersäten die Rasenflächen mit ihren zartlila Kelchen und das Laub der Bäume hatte satte Rot- und Goldtöne angenommen. Ein sicheres Zeichen, dass der Sommer endgültig vorüber war und der Herbst sein Zwischenspiel gab, bis diesem schließlich die kalten, dunklen Monate folgten, die sie so verabscheute, denn es war die Zeit der schweren Gedanken, der Selbstzweifel, der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit, die sich in all den Jahren nicht aus ihrem Verstand vertreiben ließ.
Bald fünf Jahre lag der Unfall nun zurück, der ihr Leben radikal verändert hatte, trotzdem kam es ihr vor, als wäre es gestern gewesen. Die Länge eines Wimpernschlages hatte ihre Zukunft als Vielseitigkeitsreiterin zerstört, hatte ihren großen Traum, auf den sie seit ihrer Jugend hingearbeitet hatte, wie eine Seifenblase platzen lassen. In den Wochen und Monaten danach war Doro in ein bodenloses Loch gestürzt, aus dem ihr bis heute keine Befreiung gelang. Zu tief waren die Spuren, die der Unfall hinterlassen hatte, auf ihrem Körper als unschöne Narben und auf ihrer Seele als schwelende Wunden, die nicht verheilen wollten. Sie waren die schlimmsten. Vielleicht taten sie mittlerweile ein bisschen unterschwelliger weh, doch der Schmerz saß immer noch tief genug, damit sie weder Ruhe noch Frieden fand. Selbst nach all den Jahren, fühlte sie sich verkrüppelt, nutzlos, entstellt und wenig begehrenswert und ihr innigster und gleichzeitig absurdester Wunsch war das Nichtauffallen geworden. Sie wollte in der Anonymität versinken, die ihr nicht nur Unterschlupf gewährte, sondern auch Schutz versprach. Besonders schwer zu ertragen waren die stillen Momente, in denen sie alleine war, dann holte sie die Vergangenheit ein. Bleischwer hingen die Erinnerungen in ihrem Kopf fest, ließen sich nicht abschütteln und umhüllten sie mit der Endgültigkeit eines Leichentuchs. Nein, diese Gefühle umhüllten sie nicht, denn aus einer Umhüllung hätte sie sich befreien können, sie umschlangen Doro mit ungeahnter Kraft und formierten sich, um sie zu erdrücken. Sie nahmen ihr die Luft zum Atmen und die Lust am Leben. Sie hielten sie solange gefangen, bis sämtliche Farbe aus ihrer Welt wich. Übrig blieb Schwarz. Nichts als leeres Schwarz. Und die Frage, um die unermüdlich ihre Gedanken kreisten. Eigentlich war es keine richtige Frage, sondern nur ein einzelnes Wort: Warum?
Doro wusste genau, dass es auf dieses Warum keine vernünftige Antwort gab, denn sie war einfach nur an jenem Tag zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. So etwas nannte sich Schicksal… Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel vor Neun. Wenn sie vor Maar in der Redaktion sein wollte, musste sie sich beeilen.
Doro stürmte an den Empfangstresen im Eingangsbereich. Atemlos stützte sie die Arme auf das halbhohe Sperrholzungetüm, das dem aparten Siebziger-Jahre-Design nach zu urteilen, mindestens zehn Jahre älter war als sie selbst.
„Morgen, Doro. Alles okay mit dir?“, wollte Lille wissen, die gerade mit dem Sortieren der Hauspost beschäftigt war.
Lille hieß eigentlich Liliane Sommer und war beim Boten eine Art Mädchen für alles. Vom Empfang der Besucher über die Kleinanzeigenannahme am Schalter, bis hin zur Postverteilung schloss ihre Tätigkeit so ziemlich jede Arbeit ein, auf die andere keine Lust hatten.
„Ja, klar. Ich habe bloß total verpennt. Ist er schon da?“, fragte Doro.
„Wer?“ Lille strich sich schwungvoll eine dicke, rote Locke hinters Ohr, ohne von ihren morgendlichen Sortierarbeiten aufzusehen.
„Alexander Maar. Der Typ, mit dem ich das Interview führen soll.“
„Nein. Der hat vor ein paar Minuten angerufen. Der kommt erst gegen Zehn.“ Lille sah von ihrer Arbeit auf. „Willst du einen Kaffee?“
Doro nickte wortlos, während sie sich insgeheim wunderte, wie frisch Lille nach dem gestrigen Gelage wieder aussah und woher sie ihre unverschämt gute Laune nahm.
Lilles Kaffee war legendär. Das schwarzbraune Zeug schmeckte zwar nicht, aber es war stark und eignete sich ausgezeichnet zur Katerbekämpfung. Sie folgte Lille in die kleine Kaffeeküche am Ende des Gangs. Die Art, wie leichtfüßig sich ihre Freundin, trotz ihrer ausgeprägten Rubensformen bewegte, faszinierte sie seit jeher. Aber da war noch mehr. Nicht selten wünschte sie sich wenigstens ein bisschen von Lilles unerschütterbarer Frohnatur und ihrem Glauben daran, dass alles im Leben nicht nur seinen Sinn hatte, sondern, dass alles eines Tages auch wieder gut werden würde. Sie beobachtete Lille, wie sie den Kaffee eine Spur zu schwungvoll in die Tasse kippte und einen Teil der Brühe zum Überschwappen brachte. Die Folge waren einige unschöne Spritzer auf Lilles grün-orange-pink geblümter Baumwollbluse, die ihrem ausgeprägtem Ökolook jedoch keinen Abbruch taten. Lille grinste und hob in einer Na-was-solls-Geste die Schultern.
Doro nahm ihr den Becher ab. „Danke, Lille. Was würde ich bloß ohne dich machen?“
„Kläglich untergehen“, scherzte Lille zurück, doch Doro wusste, dass sie recht hatte.
Mit dem randvollen Becher in der Hand machte sie sich auf den Weg zu ihrem Büro. Wenn sich Maar schon verspätete, wollte sie die restliche Zeit nutzen, um noch einmal ihre Notizen durchzugehen.
Sie packte ihr Notebook aus dem Rucksack und legte es auf den Schreibtisch. Das moderne Gerät wirkte auf der abgegriffenen Holzplatte wie ein Gegenstand aus einer anderen Welt. Denn ihr Büro war, wie alle anderen Räume auch, vor ungefähr vierzig Jahren das letzte Mal neu eingerichtet worden. Lille tröstete sie immer damit, dass die Siebziger momentan wieder voll im Trend lagen…
Doro setzte sich an ihren Schreibtisch und seufzte leise. Das Interview mit Alexander Maar lag ihr tonnenschwer im Magen. Maar war nicht nur Historiker, sondern auch ein passionierter Sammler alter Beschwörungsbücher und sein Spezialgebiet war die Dämonologie. Sie hatte sich bei ihren Recherchen intensiv bemüht, aber leider keinen finalen Zugang zu diesem Thema gefunden. In ihrem tiefsten Innern hielt sie Dämonenforschung für ausgemachten Quatsch. Genauso wenig, wie es in ihren Augen einen gütigen, Gerechtigkeit liebenden Gott oder Engel, gleich welcher Form gab, genauso wenig glaubte sie an die Existenz von Teufel, Fegefeuer, höllischen Legionen, Dämonen oder irgendwelchen Mischwesen, die aus den Verbindungen zwischen Mensch und Dämon hervorgehen konnten. Das war Blödsinn. Geister, Dämonen, Vampire, Werwölfe oder sonstige Fabelwesen existierten nicht und als logische Schlussfolgerung konnte sich somit auch kein Mensch mit ihnen paaren.
Sie nippte an ihrem Kaffee, verzog angewidert das Gesicht, kippte den restlichen Inhalt des Bechers in den nahezu blattlosen Benjamini auf der Fensterbank und schob den Kaffeepott bei Seite. Sie nahm ihren erbarmungswürdig kurzen Fragenkatalog zur Hand. Offensichtlich gab es nicht viel, was sie von Alexander Maar wissen wollte und noch immer konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, was einen erwachsenen Mann dazu brachte, sich beruflich mit solch abgedrehtem Kram zu beschäftigten.
Das Läuten des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm den Hörer ab. „Bergmann.“
„Dein Besuch ist da“, flötete Lilles fröhliche Stimme am anderen Ende in die Leitung.
„Führst du ihn bitte ins Besprechungszimmer? Ich komme gleich.“
„Klar doch.“
„Danke, Lille“, gab sie zurück und legte auf; sie packte ihre Unterlagen zusammen und ging ins Erdgeschoss.
Doro stand vor der Tür des Besprechungszimmers. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal vor einem Termin derart nervös gewesen war. Zögernd legte sie ihre Hand auf die Türklinke, in der Hoffnung, dass sich ihre momentane Aufregung in den nächsten Sekunden doch noch legte. Maar wartete jetzt schon über fünf Minuten. Ob es ihr passte oder nicht, sie musste da rein.
Alexander Maar stand am Fenster. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und machte keine Anstalten, sich nach ihr umzudrehen. Leise schloss sie die Tür und ging die wenigen Schritte zum Konferenztisch herüber, um ihre Sachen abzulegen; Doro ließ Maar dabei nicht aus den Augen. Er war normal groß, hatte halblanges, dunkles Haar; seine Figur wirkte schlank und insgesamt wohl proportioniert.
„Alexander Maar?“, fragte sie.
Ihr Gesprächspartner drehte sich in ihre Richtung. „Ja.“
Doro umrundete den Konferenztisch und hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen. „Dorothea Bergmann. Ich werde mit Ihnen das Interview führen. Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen. Ich habe bei meinen Recherchen viel über Sie gelesen…“
„Was Sie nicht sagen, Fräulein Bergmann.“
Alexander ergriff ihre Hand. Sein Händedruck war fest und angenehm warm, und obwohl in seiner Stimme keine erkennbare Gefühlsregung lag, hatte sie einen samtigen Klang.
„Frau Bergmann, bitte“, korrigierte sie ihn.
Alexander ließ ihre Hand los. „Gut, Frau Bergmann, dann lassen Sie uns anfangen.“ Er wies mit einer lustlos wirkenden Geste auf den Stuhl rechts neben ihm.
Doro lächelte kurz und hoffte, auf diese Weise das Eis zwischen ihnen zu brechen. Bevor sie sich setzte, legte sie Notizbuch, Kugelschreiber und die Mappe mit ihren Recherchen zurecht. Alexander hatte sie die ganze Zeit beobachtet, aber sein teilnahmsloses Gesicht verriet weiterhin nichts über sein Innerstes. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig, vielleicht war er auch älter. Maar schien weiter abzuwarten, er räkelte sich in dem weißen Lederfreischwinger, bis er eine bequeme Sitzposition gefunden hatte, dann schlug er seine Beine übereinander und nahm eine fast statuenhafte Haltung ein. Ihr Blick war jeder seiner geschmeidigen Bewegungen gefolgt und es stand außer Frage, ihr Gesprächpartner war ebenso unnahbar wie attraktiv.
„Frau Bergmann, können wir jetzt bitte anfangen? Meine Zeit ist begrenzt“, sagte er höflich, aber bestimmt.
„Ja, natürlich.“ Doro blickte auf und sah Alexander ins Gesicht. Seine Züge waren männlich, aber nicht ausgesprochen markant. Die Wangenknochen sprangen leicht hervor. Seine Nase war gerade, wenn auch einen Tick zu breit und auf seinem scharf gezeichneten Kinn und seinen Wangen lag der erste Anflug eines dunklen Bartschattens. Die ebenmäßig geschwungenen Lippen seines Mundes formten ein amüsiertes Lächeln.
„Geht es Ihnen heute gut, Frau Bergmann?“, fragte Alexander. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
„Ja, und vielen Dank, dass Sie für dieses Gespräch Zeit gefunden haben“, antwortete Doro und wunderte sich, wieso er das Wort heute in seiner Frage benutzte.
„Gerne“, gab Alexander mit einem leichten Unterton der Eile zurück.
Sie schlug ihr Notizbuch auf und nahm den Kugelschreiber zur Hand, damit ihre Finger beschäftigt waren. „Herr Maar, Sie haben einen ungewöhnlichen Beruf.“
„Was ist am Beruf des Historikers ungewöhnlich?“
„Ich meine damit mehr das Thema, mit dem Sie sich beschäftigen. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet die Beschwörung von Dämonen zu erforschen?“
„Ich hatte schon immer eine Schwäche für die Aktivitäten der dunklen Seite. Außerdem sind Dämonen faszinierende Geschöpfe.“
Alexander lehnte sich zurück. Seine langgliederigen Finger durchfuhren sein volles Haar und verschränkten sich schließlich in seinem Nacken. Unter dem dünnen Stoff seines hellen Hemdes zeichnete sich ein durchtrainierter Oberkörper ab.
Doro widmete sich ihren Notizen, bevor sie wieder anfing, ihn anzustarren. „Und was ist das Faszinierende an ihnen?“, fragte sie.
„Sie verfügen über Wissen, Macht und Fähigkeiten, die der Menschheit verwehrt sind. Man könnte diese Wesen durchaus als vollkommen bezeichnen.“
Stichwortartig schrieb sie mit. „Vorausgesetzt es gibt sie. Gelten Dämonen nicht von alters her als Urheber von Krankheiten?“
Alexander machte eine abfällige Handbewegung. “Frau Bergmann, Ratten sind Überträger von Krankheiten!“
„Aber Sie stimmen mir zu, dass Dämonen Diener des Bösen sind.“
Er grinste selbstverliebt. „Sehen Sie, Gut und Böse sind beides Extreme, die sehr nah beieinander liegen. Meinen Beobachtungen zu Folge, sind die Grenzen dazwischen fließend.“
„Können Sie mir das näher erläutern?“, fragte Doro. Zu ihrer eigenen Überraschung, war ihre anfängliche Aufregung komplett verflogen.
„Sicher“, entgegnete Alexander, auch er schien nicht mehr ganz so leidenschaftslos wie zu Beginn ihres Gespräches, „Sagt Ihnen der Name Gilles de Rais etwas?“
„Natürlich. Rais war ein französischer Feldherr des fünfzehnten Jahrhunderts und zudem ein brutaler Massenmörder. Ihm wird nachgesagt, er hätte vor jeder Schlacht die zweiundsiebzig Hauptdämonen der Ars Goetia um Beistand gebeten. Belial war übrigens sein Favorit.“
„Beliar.“
„Belial, Beliar. Das ist ein und derselbe Dämon. Im Mittelalter war er wohl recht populär. In vielen Berichten wird sogar behauptet, Beliar wäre der Teufel persönlich.“
„Bravo, wie ich sehe, haben Sie sich vorbereitet. Aber was Rais betrifft, so weisen Ihre Recherchen leider Lücken auf.“
Sie blickte ihn fragend an.
Alexander fuhr fort: „Wussten Sie etwa nicht, dass der ehrenwerte Gille auch mit dem Schutz Jeanne d´Arcs beauftragt war? Und wenn ich mich recht erinnere, stand die Dame auf der Seite der Guten. Zumindest aus französischer Sicht.“
„Herr Maar, Sie wollen nicht ernsthaft Rais als Heilsbringer glorifizieren. Nicht nach den Verbrechen, die er begangen hat.“
„So, welche denn?“
„Immerhin hat er einhundertvierzig Kinder auf grausamste Weise getötet!“, erwiderte Doro aufgebracht.
Alexanders Gesicht hatte wieder diesen unnahbaren Ausdruck angenommen. „Und durch seine militärischen Siege hat er abertausende Franzosen vor Repressalien durch die Engländer bewahrt. Ich missbillige, genau wie Sie, Rais Abartigkeiten, aber sehen Sie es von einer höheren Warte aus. Objektiv betrachtet war der Stellenwert seiner Vergehen gering, im Vergleich zu seinen Verdiensten für sein Volk, sonst hätte man ihn nicht Jahre lang gewähren lassen.“
Es kostete sie Überwindung, Alexanders Gedanken zu folgen. Emotionslos betrachtet hatte er im Kern der Sache vielleicht Recht, trotzdem wollte sie nicht seine Meinung teilen.
„In meinen Augen hinkt Ihr Vergleich“, entgegnete sie mit einem spürbaren Anflug von Zorn in der Stimme.
Alexander verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich ihr entgegen. „Eigentlich geht es mir gar nicht um Rais, sondern um die Position des scheinbar Guten im Allgemeinen. Warum hat das Gute die Perversion gegen die Kinder überhaupt zugelassen? Wo ist das Gute, wenn es darum geht, die Menschen vor Kriegen, Krankheit und Selbstzerstörung zu bewahren?“
Alexanders Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Obwohl sie kein gläubiger Mensch war, hatte sie sich nach dem Unfall oft ähnliche Fragen gestellt.
„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht“, gab Doro zurück. Sie konnte nicht leugnen, dass sie auf seine Erklärung gespannt war, doch Alexander blieb ihr die Antwort schuldig. Sie legte den Kugelschreiber bei Seite und sah zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich.
„Wie sieht für Sie das Paradies aus?“, fragte er leise, ohne seine Augen von ihr zu nehmen. Trotz der augenblicklichen Sanftheit seiner Stimme, hatten seine Worte etwas Herausforderndes.
„Auch darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, erwiderte sie halblaut. Eine unterschwellige Unruhe breitete sich in ihrem Körper aus. Die Unterhaltung lief eindeutig in die falsche Richtung und Doro fürchtete, endgültig die Kontrolle zu verlieren.
Alexander Maar lehnte sich zurück. „Das ist seltsam, oder? Im Gegenzug möchte ich wetten, dass Sie eine ziemlich genaue Vorstellung von der Hölle haben. Eine lebensfeindliche Einöde, die aus Trostlosigkeit, Feuer und gequälten Kreaturen besteht.“
Stück für Stück übernahm er die Gesprächsführung. Doros Herz hämmerte vor Aufregung heftig gegen ihre Rippen, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
„Ich denke, die meisten Menschen haben dieses Bild der Hölle vor Augen“, sagte Doro, während die von Alexander beschriebene Szenerie auf unerklärliche Weise in ihrem Kopf zum Leben erwachte.
Maar lächelte in sich gekehrt. In Doro begann eine eigenwillige Mischung aus Unbehagen und Faszination zu keimen. Sie spürte, wie sein Einfluss auf sie immer stärker wurde. Irgendetwas passierte mit ihr, für das sie keine Erklärung fand.
„Wenn Sie mich fragen, Frau Bergmann, liegt es daran, weil jeder Mensch seine ganz eigene Hölle durchlebt. Nehmen wir nur Ihren Reitunfall.“
Der Satz traf sie wie ein Faustschlag. „Woher wissen Sie davon?“
„Oh, auch ich habe ein wenig recherchiert. Sie haben immerhin knapp eine Woche lang den Sportteil der Zeitungen im ganzen Land beherrscht. Das tragische Ereignis ist am 13. November vor fünf Jahren passiert. Nicht wahr?“
„Mein Unfall hat mit diesem Interview nicht das Geringste zu tun!“, rief sie.
Alexander musterte sie. „Machen Sie sich nichts vor, unser nettes Plauderstündchen ist weit von einem professionellen Interview entfernt.“
Doro hatte Mühe, weiterhin ruhig zu bleiben. „In jedem Fall schweifen wir gerade vom Thema ab“, versuchte sie sowohl ihn als auch ihre aufsteigende Angst abzublocken. Etwas Starkes tastete plötzlich nach ihrem Innersten und sie war außer Stande, es zu stoppen.
„Keineswegs“, fuhr Alexander ruhig fort, „Beschreiben Sie mir bitte Ihre Gefühle, als Sie erfuhren, dass sich alle Ihre Zukunftspläne plötzlich in Luft aufgelöst hatten.“
Die Erinnerung an diesen Tag schmerzte und Maar hatte kein Recht dazu, sie mit seinen Fragen zu quälen. Doros Angst drohte in Panik umzuschlagen und sie verspürte den Drang aus dem Zimmer zu flüchten, doch eine unsichtbare Kraft hielt sie zurück.
„Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was ich empfunden habe. Also, hören Sie auf in etwas herumzustochern, was Sie nichts angeht!“, entgegnete sie und wunderte sich gleichzeitig über die Bestimmtheit, mit der die Worte über ihre Lippen kamen.
Alexander legte überrascht den Kopf schief, anscheinend ging es ihm ähnlich. Dann stand er mit einem Mal hinter ihr. Seine Hände ruhten auf ihren bebenden Schultern. Seine Daumen fuhren in kreisenden Bewegungen ihren Nacken entlang.
„Beruhigen Sie sich, Frau Bergmann. Ich will Ihnen nur helfen“, sagte er dicht neben ihrem Ohr.
Seine Stimme floss wie ein warmer Strom aus Ruhe und Sanftheit durch ihren Körper. Ihre Anspannung ließ nach; ihre Angst zog sich in einen entlegenen Winkel ihres Ichs zurück. Sie fühlte sich von allem befreit, was sie bis dahin belastet hatte. So unglaublich es auch klang, genau in diesem Moment war sie glücklich und sie genoss die Berührungen, die von seinen warmen, weichen Händen ausgingen.
„Es stimmt, dass diese Zeit eine Art Hölle für mich war“, erwiderte sie leise, „Aber das liegt Jahre zurück und mittlerweile habe ich mich mit meinem neuen Leben arrangiert.“
Alexander Maar war auf seinen Platz zurückgekehrt. „Verzeihung, aber Ihre Beschreibung klingt alles andere, als zufrieden.“
Seine Worte zerrissen Doros Wohlgefühl. Auf Alexanders Gesicht lag ein eigentümlicher Ausdruck. Er schien von abwartend über besorgt bis hin zu einer tiefen, innerlichen Befriedigung so ziemlich jede Gefühlsregung zu umfassen.
„Träumen Sie nicht manchmal davon, dass Ihre körperliche Beeinträchtigung reparabel wäre?“, fragte er.
„Eine verlockende Vorstellung, aber leider völlig illusorisch“, antwortete sie.
Alexander lächelte verständnisvoll. „Das ganze Leben besteht aus Verlockungen. Na los, gönnen Sie sich ein paar Minuten Träumereien.“
Doro erwiderte sein Lächeln. „Und was wird aus unserem… Interview?“
„Das ist jetzt Nebensache. Ich werde Ihnen die entsprechende Information geben, die Sie für Ihren Artikel brauchen.“
Sie legte ungläubig ihre Stirn in Falten. „Und Sie lassen mich auch bestimmt nicht hängen?“
Alexanders Lippen bogen sich zu einen breiten Grinsen nach oben. „Nein. Das verspreche ich Ihnen.“
„Also, gut. Ich habe mir mehr als einmal Gedanken darüber gemacht, wie eine zweite Karriere für mich aussehen könnte. Um im Profireitsport noch einmal von vorn anzufangen, bin ich zu alt, aber ich könnte als Trainerin arbeiten. Mein Ziehvater besitzt in der Nähe sogar einen Reitstall und ich glaube, er könnte tatkräftige Unterstützung gut gebrauchen. Ich hätte auch einige Ideen, was wir verändern könnten…“ Sie machte eine Pause. Alexander nahm mit erschreckender Leichtigkeit ihren Gedankenfaden auf und führte ihn fort.
„Mit den richtigen Sponsoren könnten Sie mit etwas Glück ein richtiges Reitsportzentrum aufbauen. Dazu noch ein paar lukrative Beraterverträge. Sie hätten ein sorgenfreies Leben“, sagte er.
Doro nickte, während sich die angenehmen Gefühle aus ihrem Körper zurückzogen, um einer abgrundtiefen Unzufriedenheit zu weichen.
„Hören Sie auf damit, Maar! Sie wissen genau, das sind nichts weiter, als Hirngespinste“, rief sie unbeherrscht.
Alexanders geheimnisvolle Augen fixierten sie. Sein Gesicht hatte eine Ernsthaftigkeit angenommen, die es ihr unmöglich machte, seinem Blick auszuweichen. Ihre Hände ballten sich unter der Tischplatte zu Fäusten. Sie fühlte, wie sich ihre Fingernägel in die Haut ihrer Handflächen gruben. Auf unerklärliche Weise schien Dank Alexander Maar ihr verlorengeglaubtes Leben wieder in greifbare Nähe zu rücken. Ein Strudel aus Gedanken wirbelte in ihrem Kopf herum. Was, wenn ihr tatsächlich jemand helfen konnte. Wenn es Spezialisten gab, die über neuartige Behandlungsmethoden verfügten, von denen sie bislang nichts gehört hatte? Wieso sollte sie diese Chance ausschlagen? Sie wollte doch nichts Verwerfliches. Sie wollte nur endlich wieder sie selbst sein, und das war ein legitimer Wunsch.
Alexander betrachtete sie abwartend. „Ich sehe es Ihnen genau an, Sie ziehen in Betracht, dass ihre Träume nicht nur bloße Hirngespinste sind. Lassen Sie uns noch einen Schritt weiter gehen. Welcher Preis erschiene Ihnen dafür angemessen, wenn Sie wieder in Ihrem alten Beruf arbeiten könnten? Und seien Sie ehrlich mit sich selbst, das hier…“, er machte eine Handbewegung, deren Bestimmtheit alles im Umkreis von einem Kilometer einschloss, „…ist nicht die Zukunft, die Sie sich vorstellen.“ Alexanders seidenweiche Stimme nährte die maßlose Gier, die in Doro aufkeimte und betäubte den kritischen Teil ihres Verstands. Sie wog ab, was es kosten konnte. Schlimmstenfalls eine Beteiligung an ihrem zukünftigen Erfolg. Ein akzeptabler Preis.
„Jeder, der nötig ist“, sagte sie mit fester Stimme.
„Sind Sie sich da auch ganz sicher?“
„Ja.“ Ihr Blick streifte eine Randbemerkung auf ihrem Notizblock, der sie bisher keine Bedeutung beigemessen hatte. Bedenke gut, welchen Dämon du um Beistand ersehnst. Jeder von ihnen hat seinen Preis und der könnte deine Seele sein.
Doro sprang auf. Schlagartig lichtete sich der gedankliche Nebel in ihrem Kopf. Was hatte sie getan? Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Alexander Maar in Wirklichkeit war. Wie war es ihm gelungen, derart leicht in ihren Verstand vorzudringen?
„Wer zum Teufel sind Sie, Maar?“, fragte sie.
Alexander ging lächelnd auf sie zu. Dicht vor ihr blieb er stehen, dann legte er seine Lippen nahe an ihr Gesicht und flüsterte: „Ich kann Sie beruhigen, liebe Dorothea, der bin ich nicht.“
Ein kalter Schauer lief über Doros Rücken. Regungslos sah sie zu, wie er den Raum verließ.