Silvio Blatter
Vier Tage im August
Roman
LangenMüller
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2013 LangenMüller in der
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Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Schutzumschlagmotiv: mauritius-images, Mittenwald
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ISBN 978-3-7844-8146-3
Für Petra
Der erste Tag
EIN ABGELEGENES HOTEL in den ligurischen Bergen. Die Koffer schon gepackt. Iris durchwühlte die Handtasche, ein Lippenstift, ihr liebster, fehlte. Paul wartete. Er hörte ein Klopfen, eine Taube stand auf dem Fensterbrett und pickte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Er fotografierte sie, er hatte Zeit, ein weißer Ring fasste das rötliche Auge des Vogels ein. Ein noch junges Tier. Iris kippte die Handtasche auf das Bett aus. Der Lippenstift blieb unauffindbar. Die Taube bekleckerte den Sims und machte sich davon. Paul schaute die Aufnahmen auf dem Display an, die Taube hatte einen schwarzen Nackenring. Iris konnte sich das Verschwinden des Lippenstiftes nicht erklären.
An der schmucklos nüchternen Bar des Hotels saßen sie als einzige Gäste, die Tür ins Freie stand offen, es war kühl. Ihr Kellner halbierte mit einem Messer Orangen und presste die tropfenden Hälften zu frischem Saft. Iris und Paul tranken Kaffee und aßen süße Mandelkekse, dann fuhren sie los.
Gelbstichiger Himmel.
Der Schirokko trug Sandstaub von der Sahara her übers Meer nach Italien, Milliarden Partikel, flirrende Schleier. Paul schaltete das Autoradio ein, den Wetterbericht.
Der perfekte Tag wurde versprochen.
Auf nahezu leeren Straßen kamen Iris und Paul zügig voran. Bis der Verkehr sich plötzlich zu verdichten begann und langsam wurde.
DER LASTWAGEN WAR VORN eingeknickt und stand quer zur Straße. Er blockierte eine regionale Radrundfahrt. Die Fluchtgruppe war von dem Unfall gestoppt worden, und das Rennen hatte neutralisiert werden müssen. Ein Personenwagen schlitterte in den bunten Schwarm hinein, der Fahrer, ein junger Mann, hatte die Gefahr zu spät erkannt und nicht mehr rechtzeitig bremsen können.
Iris hielt an.
Es sah schlimm aus.
Iris hatte anhalten können. Was im ersten Augenblick nur ärgerlich war, eine Störung, ein dummer Zwischenfall, der Iris nicht in den Kram passte, zeigte dann seine andere Seite. Iris hatte Glück gehabt. Sie und Paul waren verschont geblieben, sie waren mit heiler Haut davongekommen.
Iris stellte den Motor ab, presste die Hände auf Augen und Stirn. Paul saß neben ihr, machte ein bekümmertes Gesicht, die Arterie an seiner Schläfe zuckte. Vor ihnen standen zehn, zwanzig Autos, sprungbereit, sie mussten sich gedulden. Familien stiegen aus, ungehalten, neugierig, auch die Gelegenheit nutzend, ein wenig die Gelenke zu lockern, die Füße zu vertreten. Kinder quengelten. Männer legten die Hände auf die knisternde Kühlerhaube, darunter kühlte der Motor ab. Man rauchte, telefonierte, was ist hier los, man fotografierte und verschickte Aufnahmen und Grüße. Ein junger Mann hob seine Freundin hoch, damit sie über alle Köpfe hinweg das Schlamassel dort vorn mit dem Handy filmen konnte.
Paul drängelte zur Unfallstelle vor, andere Neugierige befanden sich schon dort. Aus dem Laderaum des mit gebrochener Vorderachse gestrandeten Lastwagens waren Molkereiprodukte gerutscht, Milch überschwemmte die Straße. Einige der Radrennfahrer hockten zwischen aufgeplatzten Verpackungen in Pfützen. Kaputte Räder lagen herum. Paul fotografierte. Ein langer Schlacks weinte, seine rechte Schulter war ausgekugelt oder gebrochen, er umschloss das Gelenk mit der linken Hand, senkte das Gesicht auf den Kopf eines Mannschaftskameraden, der eine aufgerissene Hose hatte, Schürfungen am Hintern, und ihn stützte. Die meisten Rennfahrer standen erschrocken da, mit offenen Wunden, blutend. Sie trugen hautenge Trikots mit fetten Lettern auf der Brust und hatten farbige Helme auf dem Kopf.
Iris Mund war ausgetrocknet, sie trank einen Schluck Wasser, wollte gelassen bleiben. Doch die gewünschte Gelassenheit erwies sich einmal mehr als unerreichbar. So ein Mist. Am liebsten hätte Iris laut schreien mögen. Sie ballte die Hand zur Faust und presste die Zähne in ihre Fingerknöchel.
Die Retter waren bereits vor Ort, Sanitäter in weißen Overalls versorgten wimmernde und verstörte Verletzte. Ein regloser Körper lag zugedeckt unter einer grauen Plane. Träger eilten mit Bahren zum Rettungswagen, der mit offener Hecktür bereitstand. Medizinische Geräte wurden zu den Liegen getragen, auf die man die Verletzten gebettet hatte. Auf dem Dach des Einsatzwagens blinkte ein Licht, der Fahrer bediente das Funkgerät. Polizisten in Stiefeln, die Pistole im Holster, zivile Beamte mit Klemmbrettern und Laptops, die flinken Teams der Rettungswagen: Jeder auf dem Platz schien genau zu wissen, was er zu tun hatte, was das Notwendige war. Der nassen Fahrbahn wegen war es beinahe unmöglich, Markierungen auf dem Asphalt anzubringen, Milch löschte Kreide.
Im Randbereich, alle überragend, stand ein bulliger Mann. Die Jacke des Anzugs spannte über dem Bauch, ein T-Shirt mit einem Smiley war zu sehen. Leo Zimny hatte als einer der Ersten anhalten müssen. Er war ausgestiegen, um sich umzusehen, und entdeckte nun, in der Reihe der Gaffer, einen Mann, den er zu kennen glaubte. Er beobachtete ihn, das Gesicht und wie er sich bewegte. Ja, alles kam ihm bekannt vor. Der ältere, fotografierende Mann rief Erinnerungen an einen jungen Kerl wach, von dem er einmal angenommen hatte, er wäre sein Freund. Inständig hoffte Leo, es handle sich um eine Verwechslung, eine Ähnlichkeit der Gestalt. Er würde sich gern täuschen. Doch der so harmlos wirkende Typ war Paul Fontana. Einen Steinwurf von ihm entfernt machte er Fotos von dem Unfall, der sie beide an der Weiterfahrt hinderte. Die Vergangenheit, in die Paul Fontana gehörte, hatte Leo versiegelt, und nun war das Siegel gebrochen.
Leo presste die Hände auf die Schläfen, als drohte sein Kopf zu zerspringen, als müsste er ihn zusammenhalten. Kurz pfiff er durch die Zähne, wusste sich in seiner Bestürzung nicht anders auszudrücken. Sein Körper reagierte willkürlich. Zugleich bereute er die hilflose Geste. Du sollst nicht auffallen, hörte er eine weibliche Stimme leise reden. Lenk nicht unnötig Blicke auf dich. Diese Forderung, obwohl berechtigt, war für einen Mann mit seiner Visage und Figur nicht ganz leicht zu erfüllen.
Jetzt stand er da wie ein ausgestopfter Bär.
Du hast immer zwei Möglichkeiten, erklärte die Stimme.
Noch könntest du dich verkrümeln.
Leo machte eine wegwerfende Handbewegung.
Er betrachtete die Unfallstelle. Bevor Paul dazugekommen war, hatte sein Interesse vor allem dem Fahrer des verunglückten Lastwagens gegolten, der teilnahmslos auf dem Trittbrett der Fahrerkabine hockte. Sein pausbäckiges Milchgesicht sowie das straff nach hinten gekämmte, zu einem kurzen Zopf geflochtene Haar erinnerten Leo Zimny an Buddha. Und an sein Wort, es gibt immer einen Weg, es hängt alles von dir ab. Scheiße. Die Achse war gebrochen, vorne links. Was konnte der Fahrer dafür? Materialermüdung. Leo klaubte nervös Gummibärchen aus der Packung. Mit viel Aufwand wurde das Durcheinander der Unfallstelle in eine Ordnung überführt. Es war das reale Leben, nicht ein Video. Wäre es ein Computerspiel, klickte Leo diesen Paul Fontana nun einfach weg.
Verpiss dich.
Paul bemerkte von alldem nichts. Ganz im Bann des Unglücks fotografierte er mit seiner kleinen Kamera. Dazwischen schaute er zum Himmel hoch. Mit Geknatter setzte ein Hubschrauber zur Landung an. Der Rotor trieb den von Autofahrern aus dem Fenster geworfenen Abfall über die Straße. Der Müll ähnelte einer Wanderdüne. Sie brach an der grünen Böschung und häufte buntes Strandgut auf. Die Deckel der Plastikflaschen waren farbige Knöpfe in diesem langen Saum.
Zwei Beamte führten den Fahrer des Personenwagens weg, der von hinten in die Radrennfahrer hineingerauscht war. Er trug Bermudashorts mit einem Karomuster und war barfuß. Die Beamten hatten ihn in die Mitte genommen und hielten seine Ellenbogen fest, als müsste er gestützt werden. Sein Auto stand mit eingeschalteten Scheinwerfern in einer weißen Lache. Eine Polizistin sperrte die Unfallstelle mit Plastikband ab und bereitete alles Erforderliche vor, damit die stehende Kolonne möglichst bald am sensiblen Bereich vorbeigeschleust und aufgelöst werden konnte.
Paul kehrte zu Iris zurück, stieg in den Fiat ein, erzählte aufgeregt, was er gesehen und aufgeschnappt hatte, und drehte dabei an den Knöpfen des Autoradios. Er suchte einen Sender, eine verlässliche Stimme, die das, was er selbst erlebt hatte, öffentlich bezeugte, als traute er den eigenen Augen nicht ganz.
Das Warten zog sich hin.
ALS DER VERKEHR WIEDER ROLLTE und Iris und Paul die Heimreise endlich fortsetzen konnten, war die Berichterstattung im Radio längst abgeschlossen: Ein Toter, fünf Schwerverletzte, mehr als zehn Tonnen ausgelaufene Milch, erheblicher Sachschaden.
Paul schaltete das Radio aus, die muntere Musik störte ihn. Die Informationen hatten zwar die Neugier gestillt, aber sie erklärten nichts. Katastrophale Nachrichten erreichen einen täglich, man steckt sie weg und geht zu anderen Themen über, zu den eigenen Sorgen. Diesmal waren Iris und Paul nah am Unglück vorbeigeschrammt.
Sie benötigten jetzt einen Kaffee, einen doppelten Espresso, um die Geschichte sacken zu lassen. Obwohl ihnen nichts zugestoßen war, stellten sie fest, dass tief in ihrem Innern etwas aufgestört, ja aufgewirbelt worden war, das sich noch nicht wieder hatte ablagern können. Sie unterbrachen die Fahrt, stiegen aus, parkten, merkten sich nicht einmal den Namen des Dorfes, ein paar Häuser, eine nüchterne Bar, traurige Bäume und ein über die Straße gespanntes Spruchband. Hier waren die unglücklichen Radrennfahrer erwartet worden.
Iris lehnte sich gegen den steinernen Stehtisch, schüttete sündhaft viel Zucker in den Kaffee. Sie hatte immer noch weiche Knie. Auch Pauls Kräfte waren noch nicht vollständig zurückgekehrt. Er stützte sich auf dem stabilen Tisch ab. Ihr Gespräch bewegte sich im Kreis, sie beteuerten einander zwanghaft immer wieder das Gleiche: Dass sie dankbar sein sollten, nicht mit tiefgreifenden Konsequenzen in den Unfall verwickelt worden zu sein.
Eine knappe Stunde folgten sie nun schon der kurvenreichen Überlandstraße. Die Sonne schien, Bussarde kreisten über der Fahrbahn. Paul hatte das Fenster geöffnet, den Ellenbogen in den Fahrtwind gestellt. Iris kam gut voran, aber die Richtung stimmte nicht mehr. Sie spürte es. Sie musste eine Abzweigung verpasst haben, und Paul, der die Straßenkarte doch stets griffbereit hielt, hatte es nicht bemerkt. Er hatte nicht aufgepasst. Iris verdrängte ihre schlimmste Vermutung. Eine Folge kleiner Fehler, deren Summe eine Irrfahrt ergab. Und weil das nicht wahr sein durfte, nutzte sie keine der Möglichkeiten zur Korrektur. Bot sich die Gelegenheit, konnte Iris sich nicht zu einer Kehrtwende entschließen. War sie entschlossen, fehlte die Gelegenheit. Bei Tempo Hundertzwanzig war es kompliziert, klar zu denken und sich sofort zu entscheiden. Sie schaffte das in ihrer momentanen Stimmung nicht. Der Kopf war nicht frei. Dabei kannte Iris die Gegend gewissermaßen auswendig, so oft schon hatte sie den Urlaub mit Paul auf der Insel Elba oder in Ligurien verbracht. An der beliebten Riviera. Im Apennin, der seine Auffaltung, laut Paul, dem Anprall der afrikanischen gegen die eurasische Platte verdankte. Solche Details beschäftigten ihren Mann. Italien, auch wenn Iris und Paul oft über seine Borniertheit lästerten, war unvergleichlich, ihr liebstes Reiseland.
Iris hatte darauf gedrängt, sie waren rechtzeitig aufgebrochen, um ihren Wohnort, in einer ländlichen Ortschaft vor Zürich, noch bei Tageslicht zu erreichen. In La Spezia hatte Paul unbedingt die älteste, zum Schutz vor islamischen Überfällen auf einer Anhöhe der Stadt errichtete Befestigungsanlage besichtigen wollen. Auch für solch steinerne Ungetüme hatte Paul eine Schwäche, für ihre dicken Mauern, schmalen Schießscharten und tiefen Brunnen; genauso begeisterten ihn moderne Wasserwerke und Viadukte aus der Römerzeit.
Nun waren sie in Rückstand geraten. Wenn Paul auf der Karte den Finger auf den Punkt legte, den sie auf der Heimreise um diese Zeit erreicht haben sollten, fehlte ein erhebliches Stück. Es war nicht mehr einzuholen. Iris machte sich nichts vor. Die Sonne stand schon tief. In Mailand erwartete sie der berüchtigte Stau an der Zahlstation. Danach drohte die Warteschlange beim Zoll von Chiasso.
Das Hadern brachte nichts. Paul sollte endlich durch die Membran stoßen, die ihn hinderte, sich einzugestehen, dass ihm alles, was er da draußen erblickte, äußerst fremd vorkam. Er kannte diese Gegend nicht, er hatte sie mit der ihm bekannten verwechselt. Die Dörfer, Kirchtürme, Bergrücken, Baumgruppen, die er, ohne sich um Himmelsrichtungen und Namen zu kümmern, durchs Fenster fotografierte, waren Neuland für ihn. Wohin fuhr Iris eigentlich? Er klickte sich nochmals durch seine Aufnahmen durch. Sie waren, zugegeben, reizvoll, ja malerisch; aber was er fotografiert hatte, gehörte definitiv nicht zu ihrer Reiseroute. Sogar die Berge erhoben sich am falschen Ort, und auch die Küste tauchte nicht dort auf, wo Iris und Paul sie vermuteten.
IN GENUA FANDEN SIE SICH WIEDER und blieben in einer Gasse der verwinkelten Altstadt stecken. Später Abend. Die Gasse schien keinen Namen zu besitzen, nirgendwo entdeckten sie ein aufklärendes Schild. Bestimmt war es nicht die Via Garibaldi, dafür war der Ort zu düster, zu schmutzig. In dieser Umgebung durfte man kein Hotel mit wanzenfreien Betten erwarten und nicht auf ein Restaurant hoffen, das mehr anbot als Gerichte aus der Mikrowelle und Rotwein aus dem Kühlschrank.
Iris begann plötzlich zu lachen.
Paul lachte zwar auch gern, in der Regel. Im Moment aber nicht. Es wäre zu viel verlangt, müsste er jetzt auch noch über sich selbst lachen können. Er schob das Kinn vor, ging schneller, als wünschte er, Iris abzuschütteln. Wenn sie bloß den Mund hielte. Wenn sie weiterplapperte, wenn Iris jetzt auch noch theatralisch Mann, oh Mann sagte, rastete er aus und giftete sie an. Paul war verärgert, und das, wie er dachte, mit Berechtigung, obwohl auch er nicht aufgepasst hatte. Es erschien ihm alles ein Missverständnis zu sein, eine verfahrene Situation.
Warum nur hatten sie sich von dem Unfall derart einschüchtern lassen? Trotz der Verspätung und ungeachtet der Abneigung, die Iris gegen lange Nachtfahrten hegte: Sie hätten durchstarten sollen, stur. Stattdessen hatten sie sich, als wären sie nicht ganz bei Sinnen, im labyrinthischen Genua festgebissen. Sie hätten es besser wissen müssen. Er hätte sich durchsetzen sollen. Sie hatten den Fiat Bravo stehen lassen, fragwürdig geparkt, und waren trotzig zu Fuß weitergegangen. Während der Hochsaison war die Suche nach einem annehmbaren Zimmer beinahe aussichtslos.
Dort, rief Iris, siehst du es, Paul?
Er sah es, natürlich, er war ja nicht blind, er sah es, obwohl ihre Stimme so schrill geklungen hatte, dass er die Augen schließen musste.
Im Dunkel eine Neonschrift.
Hotel, las er und King Fisher.
Iris steuerte geradewegs darauf zu und zog ihren widerspenstigen Mann am Ärmel mit. Zimmer frei, stand auf dem Schild neben der Tür, in schnörkeligen Buchstaben. Nach vergeblichen Anläufen, nach all dem Achselzucken und Tut-uns-leid-Getue war das endlich ein Hoffnungsfunke. Doch Paul blieb skeptisch, sein Groll auf die Umstände war stärker als die verlangte Zuversicht.
In dem schmalen, hohen Haus, nicht eben ein Palazzo, schien niemand zu wohnen, alle Fenster waren dunkel. Ein Außenlicht brannte, eine zerbeulte Laterne, in deren Schein Paul Wasserschäden an der Fassade registrierte. Einzig die Eingangstür war neu. Ein massiver Stahlrahmen, dickes Panzerglas. Dahinter erstreckte sich der kaum beleuchtete Flur zum Empfangsraum. Iris betätigte die Klingel, ein wohlklingender, elektronischer Gong war zu hören. Paul blickte zum Himmel hoch. Der schmale Streifen über der Gasse war vollkommen schwarz, opak, als bestünde der Himmel aus Tinte.
Ein Inder öffnete die Tür und bat sie herein, ein schmaler, noch junger Mann mit schwarzen Augen und schwarzem Haar und Zähnen so weiß in diesem zwielichtigen Ambiente, als reinigte er sie täglich mit Phosphor.
Sie folgten ihm auf verschlissenen Teppichen. Das Haus duftete nach erkalteten Räucherstäbchen, orientalischen Gewürzen und parfümiertem Kerzenwachs, unverkennbar mit einem Hauch Schweiß vermischt. Die Tapeten waren stockfleckig und das Muster, nur in einzelnen Partien erhalten, erinnerte an bessere Zeiten. Eine gerahmte Fotografie an der Wand zeigte die Hände einer Frau, sie hatte sich mit Henna Liebesstellungen aus dem Kamasutra daraufmalen lassen. Iris wies Paul auf die Fotografie hin, auf die Vielfalt, auf die Variationen. Die Hände der Frau bannten ihn. Und heiterten ihn auf. Paul wusste gleich, dass er sie fotografieren musste, vor der Abreise, unbedingt.
Über der Rezeption hingen an goldenen Ketten befestigte Lampen, weiße Kugeln, in denen tote Insekten wie Brösel lagen. Ein breiter Bildschirm flimmerte, Iris und Paul hatten den Mann beim Fernsehen gestört, ein Fußballspiel wurde übertragen, die eindringlichen Gesänge der Fans klangen, als fände das Spiel im Keller des Hauses statt.
Nichts in diesem Hotel entsprach ihren Vorstellungen. Nichts war so, wie Paul und Iris es gern gehabt hätten. Wenn es um Komfort ging, fiel es Paul leicht, ein paar Abstriche zu machen. Er benötigte heute nur noch zwei Dinge, eine Mahlzeit und ein Bett.
Iris nickte, einverstanden, bleiben wir hier, sie war zu erschöpft für alles andere, zu überdreht, und es erwies sich immer noch als hilfreich, ihre Odyssee als Komödie zu betrachten.
Mann, oh Mann, seufzte sie.
Paul zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. Sie waren ein eingespieltes Paar, klug genug, jetzt nicht zu streiten. Keiner hatte die Irrfahrt gewollt, weder Iris noch Paul hatten den Wunsch gehabt, in Genua in einem von Indern geführten Hotel zu landen.
Der Inder verlangte Vorauszahlung. Die Kreditkarte lehnte er ab. Paul zählte den Betrag ungerührt auf den Tresen. Iris füllte den Meldezettel vollständig aus. Der Inder lächelte und strich jeden einzelnen der Scheine mit dem Daumen glatt, bevor er das Geld in einen Tresor einschloss. Seine Hände waren schmal, mit sehr hellen Nägeln und rosa Innenflächen, auf denen sich die Linien dunkel abhoben.
Bekommen wir auch etwas zu essen, fragte Paul.
Der Inder zuckte mit den Schultern.
Es ist keiner mehr in der Küche.
Paul hob kurz die Brauen.
Meine Frau könnte ein indisches Gericht zubereiten, lenkte der junge Mann ein, wenn Sie das mögen.
Und wie, sagte Paul.
Der Inder übergab ihnen den Zimmerschlüssel. Er war aus billigem Metall gefertigt und gelb gefärbt, irgendeine minderwertige Legierung, und wog nichts. Paul steckte den Schlüssel ein. Er hatte Lust, die Hand in der Tasche zu belassen, um zu prüfen, ob sich das Ding verbiegen ließe.
Wir holen zuerst das Auto, sagte Iris.
Parken Sie neben dem Eingang, schlug der Inder vor.
Im Speisesaal warteten sie auf die versprochene Mahlzeit. Sie saßen an einem runden Tisch aus schwarz lackiertem Holz, unter einer Lampe mit einem blauen Seidenschirm. Aus der anliegenden Küche, man sah das Licht durch eine Luke, drangen eindeutige Geräusche, Hacken und Brutzeln, und Stimmen, das Fußballspiel lief jetzt dort. In der Mitte des Raumes drehte sich ein schmutziger Propeller und wirbelte Gerüche durcheinander.
Sesam, Koriander, Ingwer.
Paul schnupperte, kräuselte die Nase. Es half nicht. Er konnte den Duft nicht enträtseln, er atmete Aromen ein und freute sich auf das Essen, es würde ihm auch schmecken, wenn er nicht alle Gewürze erkannte.
Kardamom, Safran.
Der Inder breitete ein schweres, weißes Tuch über den Tisch aus und strich es glatt wie vorher die Geldscheine, er schien das gern zu machen, und trug bald kleine Schalen auf. Darin befanden sich mundgerecht geschnittene Stücke vom Lamm und vom Huhn, angerichtet an sämigen Saucen. Iris klatschte in die Hände. Der Beifall löste die Verspannung in ihrem Nacken.
Was haben wir es gut, erklärte sie.
Ihre Stimme tönte jetzt so, wie Paul sie liebte. Er wusste, dass das auch an ihm selbst lag, er mäkelte oft gerade dann an seiner Frau herum, wenn er mit sich selbst im Unreinen war.
Wenn du meinst, antwortete er vorsichtig.
Paul schwieg. Kleine Muskelbewegungen in seinem Gesicht verrieten mehr von dem, was er dachte, als ihm lieb sein dürfte, wenn er es wüsste. Iris durchschaute ihn, nachsichtig.
Der Inder brachte ihnen rotes und grünes Gemüse. Er tischte Reis, gebackene Bananen, Nüsse und Ananas auf. Dem angebotenen Darjeeling Tee zogen sie das indische King Fisher Bier vor.
Zum Wohl, auf uns. Auf unsere Reise.
Das Bier schmeckte Paul, er trank, ohne die Flaschen zu zählen. Iris hielt mit. An ihrem Hals zeichneten sich bald rote Flecken ab. Paul sah kaum mehr aus den Augen, so eng kniff er sie zusammen. Die Speisen und das Bier hatten ihre Gereiztheit in eine gesunde Bettschwere verwandelt; der süße Likör, destilliert aus Mangos und Litschis, den der Inder ihnen zuletzt anbot, versöhnte sie vollends mit dem missglückten Tag.
SPÄT VERLIESSEN SIE DEN SPEISESAAL des Hotels. Sie hörten die Glockenschläge verschiedener Kirchen, nicht ganz synchron: ungefähr elf Uhr. Jede Treppe schien nun eine andere Tritthöhe zu haben, so fühlte es sich für die Füße jedenfalls an. Die Türen hatten goldene und silberne Nummern, ein System ließ sich nicht erkennen. In den Fluren standen vielarmige Skulpturen von indischen Gottheiten. Im ersten Stock hatte ein Künstler Figuren aus Disneys Dschungelbuch auf die Wände gesprüht. Den nächsten Stock schmückten Porträts von Seefahrern und Seeräubern, die wohl aus einer Zeit stammten, in der das Hotel noch nicht von Indern geführt wurde. Und zwischen den Finsterlingen, als wäre sie deren Träumen entsprungen, war das farbige Bild einer Yogini platziert, einer schönen Tempeldienerin.
Iris ließ die Lampe im Zimmer brennen. Der Raum war sparsam ausgestattet, kein Bild, keine Dekoration. Weder Telefon noch Fernseher. Dafür von Motten zerfressene Vorhänge. Und Kampfergeruch im Schrank. Das Bett war ganz in Rot gehalten, als Füße dienten vier aus Jade geschnitzte Elefanten, sie trugen den Lattenrost auf ihren Rücken.
Das Bett, dachte Paul, sei viel zu schmal für ein am Ende des Sommerurlaubs doch etwas abgekämpftes Paar. Die Matratze hatte eine Delle. Iris rutschte auf ihn zu. In der Mitte trafen sich ihre warmen Körper. Er mochte das, liebte es, wenn sie im Schlaf einen Arm um ihn schlang. Er war die Berührung und unausweichliche Nähe eines Paares gewohnt, es störte ihn bloß heute, dass sich die kleinste Regung des einen auf den anderen übertrug und keine Gelegenheit bestand, frei dazuliegen, bequem ausgestreckt, ohne Hautkontakt, er auf dem Rücken, seine Frau auf dem Bauch.
Beim Einschlafen, kurz bevor sie in das Höhlensystem schlüpfte, erschien Iris die Yogini vor Augen. Ihr erotisches Porträt im Flur, neben der Zimmertür. Die Tempeldienerin tanzte, sie ließ den Bauch kreisen und regte Iris an, ihrem Mann ein stimulierendes Zeichen zu geben. Iris stellte sich vor, nun mit Paul zu schlafen. Doch ihr Begehren war zu schwach. Bevor es richtig aufflammte, wurde es vom lustfeindlichen Gedanken erstickt, dass sie das bestimmt schon mehr als zweitausend Mal getan hatte. Und es jetzt nicht unbedingt haben musste.
Paul war gleich eingeschlafen. Lag da, bewegungslos, ein Baumstamm, der nachts geflößt wurde, getragen vom dunkel dahinziehenden Strom. Paul war unerreichbar und blieb es bis zum Morgengrauen. Sie legte eine Hand auf seinen warmen Körper.
Paul träumte nie. Er mochte auch keine Träume erzählt bekommen. Von niemandem. Wenn Iris von ihren Traumverstrickungen berichtete, winkte er ab; obwohl sie insistierte, er sei doch immer mit dabei. Doch sie hatte ihn auch schon gerügt, weil er sich an Bord eines Raddampfers auf dem Mississippi völlig daneben benommen hatte. Da konnte er nur lachen. Durch ihre Träume reiste seine Frau letztlich allein, durch diese rumplige Geisterbahn. Warum sollte sich Paul um Träume scheren? War es nicht lauter Zinnober, was Iris da alles zusammenträumte?
Vielleicht weil sein Schlaf nicht von Träumen mit Bleifüßen und Zeitlupe ungebührlich in die Länge gezogen wurde, musste Paul am Morgen vor seiner Frau aus dem Bett. Es war keine Strafe. Paul, der begeisterte Frühaufsteher, wachte vor dem ersten Hahn auf und freute sich auf den neuen Tag, auf das frühe Licht, das die letzten Pixel der Nacht aufrieb.
Der zweite Tag
PAUL WACHTE AUCH IN GENUA in aller Frühe auf. Er stand am Fenster, das Bett im Rücken, auf dem seine Frau, halb abgedeckt, noch träumte, und spähte die frühe Gasse aus. Die Sonne erreichte das Kopfsteinpflaster wohl nur an wenigen Tagen im Jahr. Das Dach des Fiats Bravo schimmerte dort unten, als wäre es schwarz. Eine verwilderte Katze fraß aus einem aufgerissenen Beutel und erinnerte ihn an die eigene, den verhätschelten Kater. Er sah ihn mit angelegten Ohren vor Emilys Laptop stehen. Die Tochter war zu Hause geblieben. Hoffentlich vergaß sie nicht, dem Kater die Tabletten gegen sein Asthma zu geben. Vielleicht fürchtete sich der Kater vor dem Laptop, weil er warme Luft ausblies und schnurrte. Emily machte sich über den Kater lustig. Sie war Sportlerin, eine ehrgeizige Kunstspringerin. Ligurien, hatte sie aufbegehrt, passt überhaupt nicht in meinen Terminkalender. Fahrt allein. Das Training lässt es nicht zu. Und die Eifersucht ihres Freundes, dachte Paul. Manchmal sah er sie im freien Fall, in einer blauen Leere, in einer Folge perfekt ausgeführter Sprungfiguren. Jedes Mal zerschellte das Bild, bevor sie ins Wasser eintauchte. Er bewunderte seine Tochter. Emily wusste punktgenau, was sie wollte. Selbstvergessen schaute Paul auf die Gasse hinunter. Gewiss stank sie nach Frittieröl, Fischköpfen und modrigem Abfall, der wegen eines Streiks der Müllabfuhr verrottete.
Italien, Desorganisation, Selbstüberschätzung. Die italienischen Verhältnisse beschäftigten Paul, denn er liebte dieses angezählte Land. Iris beurteilte das alles mit mehr Verbundenheit. Sie würde nicht ausschließen, dass sich gleich um die Ecke ein herrlicher Bäckerladen befand und es nicht eklig war und stank, vielmehr der leckere Duft von frischem Brot die Gasse erfüllte. So war sie halt. Darum liebte er seine Frau. Auch wenn er ihren Optimismus nicht teilte. Italien, dachte er, wäre erträglicher, wenn man die Sprache nicht so gut verstehen und sprechen würde.
Paul betrat das Bad.
Er schenkte seinem Körper viel Beachtung. Die Utensilien, die er für die tägliche Wartung benötigte, besorgte Iris für ihn. Duschgel, Deodorant, Shampoo; sie liebte die Duftnote Rosenholz-Leder. Nur um sein Rasierzeug kümmerte sich Paul selbst.
Insgesamt war Paul mit sich im Reinen. Alles bestens, witzelte er gern, alles noch gut im Schuss. Der alternde Körper wies leider schadhafte Stellen auf, Abnützungen und Fehlfarben, die nicht zu übersehen waren. Stolz war Paul auf seine Fertigkeiten als Klempnermeister. Er war geschickt und kompetent, in seinem Beruf machte ihm keiner etwas vor.
Da Wohlgeruch nicht unbedingt zu den treuesten Begleitern der Männer seiner Altersgruppe zählte, rasierte er seit einiger Zeit die Achselhöhlen. Seiner Frau schien das nicht aufzufallen oder sie fand den richtigen Ton nicht für ihren Kommentar.
Paul begutachtete sich nicht ohne Vorbehalte im Spiegel. Du hast dich gut gehalten, bestätigte ihm Iris wohlwollend; und Emily, die erbarmungslos aufrichtige Tochter ergänzte: für dein Alter. Paul wog fast gleich viel wie vor dreißig Jahren, hatte kaum Falten im Gesicht, sein Haar war immer noch voll und nicht ergraut, nur unter dem Kinn hing zu viel leere Haut, er sah es im Spiegel, brutal, er konnte das Gewebe mit der Hand greifen. Ein hässlicher Sack. Das könnte man richten. Emily, die menschliche Körper ganz sachlich betrachtete, man konnte sie trimmen und tunen, hatte ihn auf diese Idee gebracht. Blödsinn, hatte er abgewiegelt; doch es ließ ihn nicht kalt. Letztlich war der Körper eine Art Maschine. Paul wusste das, er hatte als junger Mann in einem erfolgreichen Ruderboot gesessen, und so wie er Organtransplantationen guthieß oder sich den Grauen Star hatte lasern lassen, könnte er sich auch mit einer Schönheitsoperation anfreunden. Nicht nur das Herz wurde bei Bedarf ersetzt, man stellte auch die schiefe Nase gerade, nicht nur die Leber wurde getauscht, auch das schlaffe Gewebe unter dem Kinn konnte entfernt werden: wenn einen das glücklicher machte.