Kluges
Köpfchen
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BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: http://dnb.d-nb.de
2013
Alle Rechte vorbehalten
© by Verlagsanstalt Athesia AG, Bozen
Umschlagfoto: Sigrid Mahlknecht Ebner
(aufgenommen im Schulmuseum Tagusens, Kastelruth)
Design & Layout: Athesia Verlag
ISBN 978-88-8266-908-9
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
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buchverlag@athesia.it
In diesem Buch sind alle Namen frei erfunden, Namensgleichungen sind rein zufällig
Kluges Köpfchen
Bauernmädchen Anna
geb. 1912 in Südtirol
Hübsch sieht sie aus, wie sie da vorne steht. Dunkelblaues Kostüm, weiße Bluse, die kastanienbraunen Haare hochgesteckt. Schön geschminkt hat sie sich, die feuerroten Lippen stehen ihr gut. So jung. Und so selbstbewusst! Sie hält ihr Universitätsdiplom in den Händen und blickt herausfordernd ins Publikum.
Anna ist unglaublich stolz auf ihre jüngste Enkelin. Immerhin hat Martina ihr Studium der Politikwissenschaften in Rekordzeit absolviert. So eine intelligente, junge Frau! Kaum 23 Jahre alt und schon Magistra.
Der große Saal der Universität ist festlich geschmückt und hell beleuchtet. Links und rechts von den Sitzreihen stehen dezent gekleidete Platzanweiser. Leise Musik erklingt im Hintergrund, dann hält der Rektor seine Rede. Von der Verantwortung spricht er, die diese jungen Menschen als Akademiker haben, und davon, dass sie nie vergessen sollen, was sie an der Universität gelernt haben. Nicht nur bloßes Wissen, sondern der Umgang mit Quellen, Texten und Medien, das Halten von Referaten und das Abfassen von wissenschaftlichen Abhandlungen wurde vermittelt. Nicht zuletzt dürfe auch der gesellschaftliche Aspekt nicht vergessen werden, die Pflicht, sich als gebildete, intelligente Menschen für die Allgemeinheit einzusetzen.
Anna ist beeindruckt. Sie ist schon bei vielen Sponsionen und Promotionen ihrer Kinder und Enkel hier in Innsbruck dabei gewesen, so fühlt sie sich in diesen Räumen fast ein bisschen wie zu Hause. Auch wenn sie selbst nicht studiert hat, Bildung hat sie von jeher fasziniert.
Nun ist Martina an der Reihe. Sie wurde dafür ausgewählt, die Dankesrede an die Professoren vorzutragen. Deutlich und laut spricht sie, ohne irgendwelche Anzeichen von Aufregung. Alle Augen sind nun auf sie gerichtet, doch das stört sie nicht. Sie genießt es, im Mittelpunkt zu stehen, und freut sich über die Aufmerksamkeit. Die neun Kolleginnen und Kollegen, die neben ihr auf dem Podium stehen, wirken ähnlich wie sie: jung, aufgeschlossen, begabt, offen für das Leben, das nun vor ihnen liegt. Nach all den Jahren an der Universität, nach den vielen Stunden Lernen und Studieren sind sie nun an ihrem ersten Ziel angelangt.
Nach der Zeremonie werden Fotos gemacht, dann gehen alle nach vorne, um den Neoakademikern zu gratulieren. Anna sieht, wie Martina von zahlreichen Kommilitoninnen und Kommilitonen umarmt und geküsst wird. Einige von ihnen haben noch einen langen Weg an der Uni vor sich, nicht alle sind so schnell und zielstrebig wie Martina. Ein junger Mann hält sie besonders lange und innig fest, und an Martinas Blick erkennt Anna, dass es sich um jemand ganz Besonderen handeln muss. Er ist dunkelhaarig und groß, sicher fast 1,90 Meter, ungefähr wie Peter damals. Peter …
Auch Franz war hochgewachsen und sehr fesch, Anna stand immer schon auf große Männer. Sie wird ihre Enkelin später fragen, wer der junge Mann denn sei.
Dann, endlich, ist Anna an der Reihe zu gratulieren. „Oma, wie schön, dass du gekommen bist. Ich hatte schon Angst, dass es für dich zu anstrengend ist!“ Martina umarmt ihre alte Großmutter.
„Und wenn man mich hätte hertragen müssen, zu deiner Sponsion wäre ich aufjeden Fall gekommen.“ Wehmütig blickt die alte Frau ihre Enkelin an, die bald in die USA fliegen wird, um dort ein Jahr lang ein Aufbaustudium zu absolvieren. Auch wenn sich die alte mit der jungen Frau freut – musste es denn unbedingt so weit sein? Ein Jahr ohne Martina …
„Nun mach nicht so ein Gesicht, Oma, ein Jahr vergeht so schnell, und zu Weihnachten komme ich ja nach Hause!“ „Wer weiß, ob ich dann noch lebe“, denkt Anna, die schon weit über achtzig ist. Doch dann reißt sie sich zusammen, sie will Martina auf keinen Fall ihren schönsten Tag verderben.
Gemeinsam mit allen Verwandten und Bekannten spazieren sie ins Romantikhotel „Schwarzer Adler“. Dort wird das Sponsionsmahl eingenommen, ein eigener Saal ist dafür reserviert worden. Wenn es um seine Tochter geht, ist Walther immer sehr großzügig. Das Beste ist gerade gut genug für sie. Das Menü hat Martina selbst ausgesucht, köstliche Speisen. Sie ist eine Genießerin und isst für ihr Leben gerne. Kaum verständlich, dass sie trotzdem so schlank ist.
Anna bekommt als Älteste den Ehrenplatz neben der Neoakademikerin zugewiesen. „Komm, Oma, ohne dich säßen wir alle nicht hier. Du bist unser Familienoberhaupt und der Mittelpunkt von uns allen!“ Wie Martina schmeicheln kann, wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie stützt Anna und begleitet sie langsam zu ihrem Platz.
Bald kommen die Kellner mit den vier Gängen. Als Erstes bekommen die Gäste eine Champignoncremesuppe serviert, mit Brotcroutons. Für Anna kein Problem, die kann sie noch gut essen. Es folgen weiße Bandnudeln mit frisch gebeiztem Lachs und als Hauptgang gibt es Rindsfilet mit Selleriepüree und indischem Basmatireis. Der Blauburgunder passt gut dazu, auch den hat Martina als Weinliebhaberin und Weinkennerin selbst ausgewählt.
Vor dem Dessert–Kastanienhalbgefrorenes mit frischen Früchten der Saison – geht Martina in die Mitte des Raumes und hält vor allen Anwesenden eine kurze Rede. Zuerst bedankt sie sich bei ihren Eltern, Onkeln und Tanten für die finanzielle Unterstützung und bei ihren engsten Freunden für den emotionalen Beistand. Der große Dunkelhaarige – Lukas heißt er – wird eigens genannt, da er Martina bei einigen technischen Details ihrer Diplomarbeit helfend zur Seite gestanden ist. Etwas länger als die anderen lächelt sie ihn an; Anna weiß schon längst, wie es um die beiden steht.
Und dann wendet sich die junge Frau plötzlich an ihre Großmutter. „So, und nun komme ich zu einer der wichtigsten Personen für mich in diesem Raum, zu dir, liebe Oma. Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Du hast mir beigebracht, an meine Ziele zu glauben und dass ich mich nie unterkriegen lassen soll. Du hast mir immer wieder gesagt, dass du an mich glaubst, und wenn ich einmal mutlos war, hast du mich wieder aufgerichtet. Danke, Oma, für alles. Ich habe dich sehr, sehr lieb.“
Anna kommen vor Rührung die Tränen, als Martina sich zu ihr beugt und sie auf die Wange küsst. Eigentlich ist Anna eine sehr starke Frau, die selten ihre Gefühle zeigt, doch nun wird sie doch von ihnen übermannt. Martina ist eben ihr Liebling, nicht nur weil sie die Jüngste ist, sondern vor allem, weil sich die beiden Frauen so ähnlich sind.
Nach dem köstlichen Essen, während der langen Fahrt auf der Brennerautobahn heim in ihr schönes Südtiroler Bergdorf, denkt Anna noch lange nach. Über den heutigen Tag, über ihre Familie, über Martina und über ihr eigenes langes Leben. So schnell ist es vorbeigegangen, sie war ja selbst erst ein junges Mädchen, kaum zu glauben. Eben noch lag sie in Peters Armen und las mit ihm seine Schulbücher, eben noch spazierte sie mit Franz Hand in Hand durch den Wald und strich ihm auf der Bank unter der großen Fichte durch die Haare. Eben noch lag sie mit Walther im heißen Sommer während der Kriegsjahre in den Wehen. Konnte das wirklich wahr sein? Verging die Zeit so schnell?
Überanstrengt von den vielen Ereignissen und Erinnerungen schläft sie ein und wacht erst auf, als ihr Sohn sie vor ihrem Haus sanft weckt.
✶
Anna wohnt in einem netten Haus im Zentrum eines Dorfes im Schlerngebiet. Früher, als die Familie noch größer war, hatten sie auf einem großen Hof im Nachbarort gelebt. Nachdem Franz vor einigen Jahren verstorben war, hatte sie im Alter von über 80 Jahren ihren Traum wahrgemacht, gemeinsam mit ihrem Sohn Luis in ihrem Heimatdorf ein kleines Haus zu kaufen. Der alte Hof erschien ihr nämlich für sie alleine viel zu groß, ohne Franz, und da keines der Kinder den Hof übernehmen wollte, verkaufte sie ihn. Mit dem Geld des Verkaufs des großen Hofes konnte sie nicht nur ihr derzeitiges Zuhause kaufen, sondern auch den anderen Kindern etwas Geld geben.
In diesem neuen Heim gefällt es ihr sehr gut, sie wohnt in einer Wohnung im Parterre und ist für alle Kinder und Enkel immer erreichbar. Anna macht ihre Besorgungen noch ohne fremde Hilfe. Sie ist zwar schon 88 Jahre alt, fühlt sich aber noch jung und einigermaßen fit, abgesehen von einigen körperlichen Gebrechen.
Neben ihrem Schlafzimmer liegt das Gästezimmer – mit einem stets gemachten Bett, das schon vielen Enkelkindern zur Verfügung stand und immer noch steht.
Annas Tagesablauf ist immer derselbe: aufstehen, Badezimmer, Frühstück, Einkauf und dann die Tageszeitung lesen. Als Erstes sieht sie immer die Todesanzeigen an, um zu erfahren, wer gestorben ist – oder wer noch lebt, wie sie oft schmunzelnd erzählt.
Dann liest sie den Lokalteil, den Sport lässt sie immer aus, der interessiert sie nicht.
Nach dem Mittagessen hält sie ihr Mittagsschläfchen, dann erledigt sie die Hausarbeiten, die sie noch größtenteils selbst bewältigt. Der restliche Tag ist ihr Luxus. Entweder sie trifft eine Freundin oder jemand aus ihrer Familie kommt vorbei oder sie liest ein Buch. Im „Spiegel“ liest sie immer die Bestsellerlisten und freut sich, wenn sie ein Buch daraus in der örtlichen Bibliothek findet. Sonst bringen es ihr die Verwandten aus der Stadt mit. Manche Bücher scheinen ihr doch zu modern zu sein, doch sie hat immer schon fast alles gelesen, was ihr zwischen die Finger kam.
Heute ist ein wunderschöner Herbsttag, die Werbefotografen würden sich freuen. Nie ist der Himmel hier so blau wie im Oktober, wolkenlos und weit. Die meisten Leute gehen nun törggelen und genießen die Köstlichkeiten aus der bäuerlichen Küche, wie Gerstsuppe, verschiedene Knödel, Krapfen und natürlich Kastanien. Anna ist früher auch immer gerne törggelen gegangen, nun ist ihr die Kost doch etwas zu deftig.
Sie beschließt, den Roman weiterzulesen, den sie am Vortag ausgeliehen hat: „Die Glut“ von Sándor Márai. Doch ihre Pläne werden durchkreuzt, als es plötzlich an der Haustüre klingelt. Langsam geht Anna hin, öffnet und steht Martina gegenüber, strahlend jung, mit einem Strauß Herbstblumen in der einen Hand und einem roten Fotoalbum in der anderen.
„Hallo Oma, ich war in der Nähe bei Onkel Luis, da dachte ich, ich bringe dir endlich die Sponsionsfotos vorbei!“ Sie umarmen sich und Anna erhält einen dicken Kuss. Wie glücklich Martina doch aussieht, denkt sie und freut sich darüber. Gemeinsam sehen sie sich die Fotos an.
„Weißt du, meine liebe Martina, ich bin so unendlich stolz und glücklich darüber, dass du es geschafft hast – ich finde es großartig, dass du dich beruflich weiterentwickeln willst. Und das mit Amerika … ich bin ein bisschen traurig, aber die Hauptsache ist doch, dass du dich verwirklichen kannst. Ich bin sicher, du weißt, was richtig für dich ist.“ – „Danke, Oma. Mit Mama war das nicht so einfach, sie ist immer noch ein wenig beleidigt.“
Die beiden Frauen sitzen am Kaffeetisch. „Ja Oma, alle freuen sich mit mir über meinen Abschluss, aber eigentlich fängt jetzt alles erst an!“ – „Da hast du recht. Aber trotzdem macht es mich glücklich, dass heutzutage ein Mädchen die Möglichkeit hat, die Universität zu besuchen und etwas aus sich zu machen. Bei mir war das anders.“ „Oma, wir sehen uns in letzter Zeit leider so selten, aber etwas wollte ich dich schon oft fragen: Warum erzählst du eigentlich nie von deiner Kindheit? Es würde mich interessieren, wie du früher gelebt hast. Du warst immer so beschäftigt und wenn du mal Zeit hattest, hast du mir von Papas Kindheit erzählt. Aber wie war das eigentlich früher bei dir? Kannst du mir Fotos zeigen?“ Da muss Anna lachen: „Fotos? Wir hatten kein Geld, wir waren eine kinderreiche Familie und mussten schauen, wie wir über die Runden kommen! Und erzählen … jeder alte Mensch hat sehr viel erlebt und viele Geheimnisse ruhen in ihm. Doch von früher erzählen, das habe ich schon lange nicht mehr getan. Die Zeit saust ja vorbei, heute ist heute, und ich freue mich, dass ich noch lebe und dass ich miterleben kann, wie aus euch etwas Anständiges wird.“ Martina lacht. „Nein, Oma, du weißt, ich bin hartnäckig, lenk jetzt bitte nicht ab. Wie war das denn bei dir damals, Oma, als du ein kleines Kind warst? Mit so vielen Geschwistern … was habt ihr denn immer gemacht? Was habt ihr denn in der Schule gelernt? Und warum bist du nicht in die höhere Schule gegangen, meine schlaue Oma?“
Anna lächelt ihre Enkelin an. „Das ist eine lange Geschichte und du stellst sehr viele Fragen … die alten Zeiten waren so hart und ich mag mich gar nicht mehr daran erinnern.“–„Es interessiert mich aber wirklich!“
Anna lacht. Auch ihre Kinder wollten oft Geschichten von früher hören, aus ihrer Kindheit und Jugend. Doch sie schaffte es immer, diese Themen zu vermeiden, weil sie nicht gerne zurückschaute. Doch mit Martina ist das etwas anderes. Sie ist so willensstark und gleichzeitig so liebenswürdig. Anna kann sich selbst nicht erklären, warum, aber vielleicht könnte sie wirklich einmal wieder an früher denken und ihre Enkelin daran teilhaben lassen. Wo sie nun bald so weit wegfliegt.
Anna beginnt zu erzählen …
✶
Trotz des Krieges, an den ich kaum Erinnerungen habe, erlebte ich eine unbeschwerte frühe Kindheit. Wir hatten immer nur das Nötigste zum Leben, aber das war zu jener Zeit normal. Das alte Haus, in dem ich mit meinen fünf Geschwistern aufwuchs, befand sich in einem kleinen Weiler oberhalb des Dorfes. Es wurde vor vielen Jahren abgerissen und existiert nur mehr in meinen Erinnerungen: Eine knarrende Holztreppe führte zur Wohnung im ersten Stock hinauf. Das Treppenholz war fast schwarz und schon etwas morsch. Vier Räume gab es in der Wohnung insgesamt: zwei Schlafzimmer, die Stube und die Küche. Das Plumpsklo befand sich außerhalb des Hauses.
In einem Schlafzimmer schliefen die Eltern, im anderen insgesamt vier Kinder. Es war sehr eng, aber eigentlich gemütlich. Ich schlief gemeinsam mit meiner älteren Schwester in der Stube. In der Ecke der Stube befand sich ein alter so genannter „Bruggenofen“, also ein Ofen mit Holzbrettern darüber. Dort konnte man die Wäsche zum Trocknen hinlegen, und im Winter konnte man sich wunderbar aufwärmen, indem man sich dort hinauflegte. Auf diesem Ofen war es am gemütlichsten. Aber auch sonst fühlte ich mich daheim sehr wohl. Geld war keines vorhanden, aber ich war nie alleine und hatte immer jemanden zum Spielen.
Im unteren Stock lebte mein alter Großvater in einem größeren Zimmer. Die restlichen unteren Räume wurden von zwei alten ledigen Tanten bewohnt, die sonst nirgends eine Bleibe hatten und sozusagen übrig geblieben waren. Sie waren nicht besonders gut angesehen, da sie mit durchgefüttert werden mussten, aber es gab ja noch keine richtigen Altersheime wie heute. Die beiden Tanten halfen mit, den bescheidenen Acker zu bestellen, auf dem ein paar Kartoffeln angebaut wurden. Auch halfen sie bei der Versorgung der paar Kühe und Hennen mit, wichtigste Quelle für das tägliche Essen auf dem Tisch unserer Familie.
Wie du wahrscheinlich weißt, war ich das vierte Kind, nach meiner ältesten Schwester Rosa und zwei Brüdern, Anton und Josef. Nach mir folgten noch mein Bruder Franz und meine Schwester Maria. Franz hast du ja leider nie gekannt, er ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Das hat mein Vater nie ganz überwunden, es war für uns alle ein Schock. Aber es war so, dass von fast jedem Hof jemand im Krieg das Leben lassen musste. Es waren eben sehr harte Zeiten.
Unser Bauernhof war nur sehr klein, viel zu klein für so viele Leute. So mussten wir immer mit allem sehr sparsam umgehen. Neue Kleider gab es eigentlich nie für uns, wir mussten immer die alten Sachen unserer älteren Geschwister tragen. Auch Lebensmittel kauften wir fast keine. Wir hatten ja Eier, Milch, Kartoffeln und Getreide. Auch Aprikosenbäume und Himbeerstauden besaßen wir. Da wir nur wenig Geld hatten, gab meine Mutter jede Woche einer so genannten „Gråmp“ Milch, Butter und Eier mit, die sie mit ihrer großen Kraxe, also einem Korb, in die Stadt brachte, um sie dort zu verkaufen. Diese Gråmpen waren bäuerliche Kleinhändlerinnen, die ihre Waren in den Städten verkauften. Meist hatten sie fixe Abnehmer, sonst gingen sie einfach mit ihren bäuerlichen Produkten von Tür zu Tür. So verdienten sowohl die Gråmp als auch meine Mutter etwas Geld. Vor allem Eier, die damals Mangelware waren, wurden gut bezahlt. Deshalb bekamen wir nur sehr selten selber ein Ei auf den Speiseplan.
Die Mutter hatte mit dem Haushalt, dem Hof und den Kindern alle Hände voll zu tun. Es gab ja damals noch keine technischen Hilfsmittel. Heutzutage leben die Menschen sehr bequem, mit der Waschmaschine und der Spülmaschine und dem Staubsauger. Früher mussten wir die Holzböden auf den Knien spülen. Alles war mit großer Arbeit verbunden. Im Winter war es so kalt draußen, alle Frauen hatten rote abgearbeitete Hände. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sich meine Mutter irgendwann ausgeruht hätte. Sie war immer beschäftigt und am Rande der Erschöpfung. Sie sah immer gleich alt aus, war sehr streng und hatte kaum einmal ein Lächeln auf den Lippen. Auch mein Vater war ein ernster Mann, der wenig sprach und sehr streng war. Sie hatten es ja auch wirklich schwer – kein Geld und so viele Kinder.
Dabei schienen sechs Kinder gar nicht auszureichen: Einmal kam der alte Pfarrer den weiten Weg zu uns herauf und unterhielt sich mit meinen Eltern. Nach dem Gespräch war mein Vater sehr ernst und machte ein böses Gesicht und meine Mutter weinte. Erst viel später habe ich erfahren, dass der Pfarrer sie gefragt hatte, warum sie denn keine weiteren Kinder hätten. „Wo a Hasl, då a Grasl“, lautete damals ein allgemein bekannter Spruch – wenn Kinder erst da sind, wird man schon Mittel und Wege finden, sie zu ernähren. Die meisten Frauen waren fast jedes Jahr schwanger und waren rund um die Uhr beschäftigt.
Am allerliebsten hatte ich immer meinen alten Großvater. Auch er war eher wortkarg, wie die meisten Männer in den Bergen, aber von Anfang an kamen wir gut miteinander aus. Ich wusste genau, dass ich sein Liebling unter den Enkelkindern war. Immer, wenn wir Kinder stritten, war er auf meiner Seite und hielt zu mir. Das war nicht zu übersehen. Wir waren einfach ein Herz und eine Seele, immer schon. Ich wurde oft zu ihm geschickt, um ihm bei kleinen Arbeiten zu helfen oder ihm zwischendurch etwas zu essen zu bringen. Er lächelte mich immer dankbar an, mit seinen klugen, alten blauen Augen. Seine Augen waren wunderschön, und ich dachte immer, dass der liebe Gott wahrscheinlich auch genauso aussieht, mit weißem Bart und von der Sonne gebräunter Haut.
Manchmal las mir mein Großvater als Belohnung für meine Dienste etwas aus dem dicken Märchenbuch vor, das er vor vielen Jahren, in besseren Zeiten, für seine älteste Tochter gekauft hatte. Diese hatte sich aber nie dafür interessiert. Deshalb freute es ihn zu sehen, wie sehr ich es liebte, wenn er mir vorlas. Die Geschichten vom Schneewittchen, das ganz allein in den dunklen Wald geführt wurde, und vom Aschenputtel, das man zuerst so schlecht behandelte, das jedoch zu guter Letzt einen schönen Prinzen heiraten durfte, faszinierten mich besonders. Es gab damals natürlich noch keinen Fernseher und wir hatten keine anderen Bücher außer Bibel und Gebetsbuch, so war dieses Märchenbuch eine willkommene Abwechslung für mich. Mein Großvater las die Geschichten immer sehr langsam vor, und wenn es sehr spannend wurde, verstellte er gekonnt seine ansonsten tiefe Stimme. Ich genoss es sehr, mit meinem Großvater zusammen zu sein.
Da mir der Großvater immer aus demselben Buch vorlas, kannte ich mittlerweile fast alle Geschichten auswendig. Trotzdem genoss ich es, wenn mein „Nen“, wie wir ihn nannten, mit seiner spannenden Stimme las.
Ich war keine fünf-Jahre alt, als ich meinen Großvater zum ersten Mal fragte, was die seltsamen Zeichen im dicken Buch bedeuten. Große und kleine Buchstaben waren da zu sehen, dicke und dünne. Das Buch war, wie in meiner Kindheit üblich, in der alten Frakturschrift geschrieben. Die vielen schwarzen Buchstaben auf dem vergilbten Papier gefielen mir. Bilder waren im alten Märchenbuch keine, die gab es nur in meiner Fantasie.
Mein Großvater antwortete auf alle meine Fragen ruhig und sehr genau und erklärte mir, wie die einzelnen Wörter und Buchstaben lauteten. Bald konnte ich kurze Wörter selbst buchstabieren, und es dauerte nicht lange, da konnte ich richtig lesen. Ich las die Geschichten wieder und wieder und ich hatte das Gefühl, dass sich eine ganz neue Welt vor mir auftat. Alle Handlungen waren mir bis ins Detail bekannt, aber es war etwas ganz anderes, seit ich selber buchstabieren konnte. Die Handlungen erschienen mir nun viel lebendiger als vorher. Großvater bemerkte bald, dass ich nun das Lesen beherrschte, aber es sollte zwischen uns beiden ein Geheimnis bleiben. Es hätte wahrscheinlich auch niemanden sonderlich interessiert.
Inzwischen schrieb man das Jahr 1918, der Krieg ging zu Ende, und die älteren Familienmitglieder versuchten, irgendwie über die Runden zu kommen und die kinderreiche Familie zu ernähren. Obwohl ich zu Hause schon etwas mithalf, blieb mir noch genug Zeit für meine Lektüre. Meine älteren drei Geschwister gingen schon zur Schule, doch sie waren dort keine besonderen Leuchten und verfolgten den Unterricht mehr schlecht als recht. In Klassen mit oft über fünfzig Schülern konnten die Lehrpersonen kaum auf die einzelnen Schüler eingehen. Manche Kinder wurden sogar als Erstklässler ausgeschult. Ein bisschen Rechnen, ein bisschen Lesen, mehr wurde nicht gelehrt, da die Kinder unseres Bergdorfes sowieso kaum eine weiterführende Schule besuchen würden. Falls doch einmal ein gescheiter Bub dabei war, sollte er Lehrer oder Pfarrer werden. Kluge Mädchen waren nicht vorgesehen.
Ich freute mich sehr auf die Schule. Mein Großvater hatte mir schon sehr viel davon erzählt. Gerne wäre er in seiner Jugend selbst Pfarrer geworden. Wohlhabende Verwandte, die selbst keine Kinder hatten, hatten sich damals dazu bereit erklärt, das teure Schulgeld für ihn zu bezahlen. Einen Pfarrer in der Familie wollte jeder haben. Leider wurde er dann aber wegen eines Disziplinvergehens aus dem Gymnasium geworfen. Er hatte nämlich einen Lehrer mit dem Nachnamen Kaswalder, der eine sehr lange Nase hatte und deshalb den Übernamen „Naswalder“ trug. Alle nannten ihn hinter seinem Rücken so, aber natürlich waren die Kinder ihm gegenüber stets höflich und nannten ihn beim richtigen Namen. Mein Großvater schrieb einmal auf einen Zettel – absichtlich oder unabsichtlich, das wusste er später selbst nicht mehr genau – „Herr Naswalder“. Als der Lehrer diesen fand, regte er sich ungeheuerlich auf und verlangte, dass der Schuldige hart bestraft würde. Mein Großvater, auch sonst als Elfjähriger nicht ein Vorbild an Disziplin, war ehrlich genug, sich zu melden. Doch zu seinem Entsetzen wurde er daraufhin der Schule verwiesen. Das Lehrerkollegium fürchtete wohl, dass bei zu geringer Strafe vermehrt solche Vorfälle passieren könnten.
Daraufhin weigerten sich die Geldgeber meines Großvaters, weiterhin für seine Schullaufbahn aufzukommen, und so musste er sich wie seine Geschwister irgendwo als Knecht verdingen. Diese Jahre waren sehr hart für ihn. Er war so ein kluger Mensch und wurde zudem auch noch als verschmähter Pfarrer verspottet. Seine Schulkarriere war endgültig vorbei. Später heiratete er dann und wurde ein kleiner Bauer hier oben auf dem Hof seiner Frau. Von seinen Kindern glänzte in der Schule keines durch besonderen Eifer. Umso mehr freute er sich, als er sah, wie wissbegierig ich als kleines Mädchen war. Manchmal bedauerte er seufzend, dass ich nur ein Mädchen sei, so würde ich meinen Verstand wohl kaum je gebrauchen können. Es war eine Zeit, als ein Mädchen dazu bestimmt war, irgendwann als Ehefrau möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen und sich um die Familie zu kümmern. Aber dass ein Mädchen studieren könnte, das war in unserer dörflichen Welt nicht einmal denkbar.
Mir war das alles egal, ich erfreute mich an den Buchstaben und an dem dicken Märchenbuch und an Opas Lächeln, wenn ich besonders schön vorlas. Ich spürte seine Aufmerksamkeit und seinen Stolz auf mich, und das war für mich sehr viel wert. Leider hatten wir außer diesem Buch nichts Lesbares, aber auch das war für mich nicht so wichtig. Das Märchenbuch war ja sehr dick, das reichte für mich völlig aus.
Meine Brüder hatten bald bemerkt, dass mir das dicke alte Buch sehr wichtig war, und um mich zu ärgern, versteckten sie es manchmal. Ich weinte dann bittere Tränen, und den Großvater habe ich sonst nie so schimpfen gehört, wie in diesen Momenten mit meinen Brüdern. Deshalb gaben sie mir mein Buch immer wieder zurück, nicht jedoch, ohne mich lachend an den Zöpfen zu zupfen. Sie waren nicht bösartig, aber auch nicht gerade das, was man liebevoll nennen könnte. Ich aber war glückselig, wenn ich das Buch wieder hatte und, an meinen Großvater gekuschelt, darin lesen durfte.
So verging mein letzter Sommer vor der Schulzeit, der Sommer 1918. Ich war wissbegierig, fühlte mich bei einem Menschen geborgen und war voller Vorfreude auf das, was kommen würde. Ich konnte damals ja auch noch nicht ahnen, was mich in den folgenden Jahren alles erwartete. Hätte ich es gewusst, wäre ich sicher nicht so voll Begeisterung und Zuversicht gewesen.
✶
Anna blickt nun zum Fenster hinaus und schaut sich den Abendhimmel an. Die Wolken ziehen über den Schlern hinweg, fast wie ein Säbel. „Hat der Schlern einen Sabel, wird’s Wetter miserabel“, heißt der alte Wetterspruch. Mal sehen, ob er diesmal, wie so oft, recht behält. Man kann sich kaum vorstellen, dass es bald regnen soll. Schön ist es hier, denkt sie wie so oft, wirklich schön, meine Heimat.
„Deine Kindheit war so ganz anders als meine“, durchbricht Martina das Schweigen, „ihr habt viel mehr körperlich gearbeitet als wir heute. Als Kind habe ich nie daheim geholfen, höchstens mal den Tisch gedeckt oder so. Wir wurden sehr verwöhnt.“
„Ja, die Arbeit hörte nie auf und es waren vor allem die Frauen, die den Hauptteil geleistet haben. Die Männer haben mittags nach der Arbeit oft gerastet oder zusammen Karten gespielt. Ich erinnere mich daran, wie die Männer nach der Heuarbeit auf der Wiese lagen und sich entspannten. Die Frauen aber haben abgespült und sind nie zur Ruhe gekommen! Das war ihr Schicksal. Es galt als wenig tugendhaft, wenn jemand nichts tat. Abends wurde der Rosenkranz gebetet, und wenn dann noch alle gemütlich zusammensaßen, strickten die Frauen meistens. Und wenn es sonst nichts mehr für sie zu tun gab, sollten sie eben wieder beten. Ora et labora! Das wurde früher vor allem bei den Frauen wörtlich genommen.“
„Ich finde es traurig, dass dein Großvater enttäuscht darüber war, dass du kein Junge warst. Unvorstellbar, so eine Aussage!“ Martina schüttelt den Kopf.
Anna sieht sie lächelnd an. „Weißt du, Martina, das hat er gar nicht böse gemeint, aber dass ein Mädchen länger zur Schule gehen oder gar studieren sollte – das wäre als reine Verschwendung angesehen worden. Früher war es sogar üblich, dass Frauen sofort aus dem Schuldienst entlassen wurden, wenn sie heirateten, weil eine Doppelrolle nicht vorgesehen war.“
Empört schaut nun auch Martina in die Ferne. Das leuchtende Abendrot scheint sie gar nicht mehr wahrzunehmen. „Das waren wohl harte Zeiten für die intelligenten Frauen! Heutzutage sind solche Aussagen unvorstellbar, zum Glück!“
„Ja, das kann man wohl sagen. Stell dir vor, früher waren viele Männer – auch gebildete! – der Auffassung, dass Frauen nicht so intelligent sein konnten wie sie, sonst hätten sie sich in der Geschichte der Wissenschaft und Technik mehr hervorgetan. Aber wie hätten sie das tun sollen, zwischen einer Schwangerschaft und der nächsten, zwischen Windeln, Wäschewaschen und Kochen? Nein, es war nicht leicht für uns, und umso mehr freue ich mich, wenn ich dich heute sehe, meine liebe Martina. Als du bei deiner Sponsion da vorne gestanden bist, war ich so unendlich stolz auf dich. Heute habt ihr die Möglichkeit, jeden Beruf zu ergreifen und eure Begabungen zu entfalten. Ihr lebt in einer glücklichen Zeit, meine Liebe, vergiss das nie. Du kannst arbeiten und Kinder bekommen, nichts bleibt dir verwehrt! Und heute traut sich wohl keiner mehr zu behaupten, dass Frauen weniger intelligent seien als Männer.“
Martina muss nun lachen. „Weißt du, Oma, so kenne ich dich ja gar nicht. Du redest ja wie eine Feministin! Du hättest Anfang unseres Jahrhunderts mit den ersten Frauenrechtlerinnen aufdie Straße gehen sollen!“
Nun muss auch Anna lachen. „Feministin? Ich? Nur, weil ich die Wahrheit sage? Nein, nein, ich bin nur eine, die sagt, was sie denkt. An uns Mädchen hat früher niemand so richtig geglaubt. Wenn du wüsstest, was ich in meiner Schulzeit alles mitgemacht habe…“
„Erzähl mir davon, Oma! Wie war das damals bei dir, als du in die Schule gekommen bist? Bist du gerne dorthin gegangen?“
„Willst du wirklich noch etwas hören? Es ist schon bald dunkel, fahr doch nach Hause, ich erzähle dir das nächste Mal davon.“
„Nein, Oma, spann mich nicht aufdie Folter.“
Anna freut sich über die Anwesenheit ihrer Lieblingsenkelin und über ihr großes Interesse an ihrer fast schon vergessenen Vergangenheit. So erzählt sie weiter …