Hartmut Rosa

Beschleunigung und Entfremdung

Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit

Aus dem Englischen von
Robin Celikates

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: Alienation and Acceleration. Towards a Critical Theory of Late-Modern Temporality
© Hartmut Rosa and NSU Press 2010

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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eISBN 978-3-518-73159-8

www.suhrkamp.de

INHALT

Einleitung

TEIL I
Eine Theorie der sozialen Beschleunigung

1. Was ist soziale Beschleunigung?

2. Die Motoren der sozialen Beschleunigung

3. Was ist soziale Entschleunigung?

4. Warum es Beschleunigung und nicht Entschleunigung gibt

5. Warum ist das wichtig? Beschleunigung und die Transformation unseres »In-der-Welt-Seins«

TEIL II
Soziale Beschleunigung und die gegenwärtigen Varianten der Kritischen Theorie

6. Anforderungen an eine Kritische Theorie

7. Beschleunigung und die Kritik der Verständigungsverhältnisse

8. Beschleunigung und die Kritik der Anerkennungsverhältnisse

9. Beschleunigung als neue Form des Totalitarismus

TEIL III
Entwurf einer Kritischen Theorie der sozialen Beschleunigung

10. Drei Varianten einer Kritik der Zeitverhältnisse

11. Die funktionalistische Kritik: Pathologien der Desynchronisierung

12. Die normative Kritik: Eine ideologiekritische Entlarvung sozialer Normen der Zeitlichkeit

13. Die ethische Kritik I: Das gebrochene Versprechen der Moderne

14. Die ethische Kritik II: Eine Neubestimmung von Entfremdung – Warum soziale Beschleunigung zu Entfremdung führt

Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Dieses Buch ist ein kurzer Versuch über das moderne Leben. Es strebt nicht nach vollkommener wissenschaftlicher oder philosophischer Präzision, sondern danach, die »richtige« Art von Fragen zu stellen, die es der Sozialphilosophie und der Soziologie erlauben würden, wieder an die sozialen Erfahrungen der Menschen in unseren spätmodernen Gesellschaften anzuknüpfen. Es gründet in der Überzeugung, daß die Sozialwissenschaften Fragen stellen müssen, die im Leben der Menschen einen Widerhall finden, Studierende mitreißen und empirische Forschungen antreiben. Zudem bin ich überzeugt, daß Soziologen, Philosophinnen und politische Theoretiker heutzutage allzuoft in Debatten und Forschungsprojekte verstrickt sind, die nicht einmal in ihnen selbst irgendwelche Leidenschaften entfachen. Wir ergehen uns einfach im routinierten Problemlösen im Rahmen etablierter Paradigmen im Sinne Thomas Kuhns, mit dem Ergebnis, daß Soziologie und Sozialphilosophie der breiteren Öffentlichkeit nicht mehr viel zu bieten haben. Aus diesem Grund befürchte ich, daß uns die Behauptungen, Hypothesen und Theorien auszugehen drohen, die für unsere spätmoderne Kultur, für Studierende, Künstler und all diejenigen, die am Schicksal und der Zukunft unserer Gesellschaften interessiert sind, sowohl eine Inspiration als auch eine Herausforderung darstellen.

In diesem Buch werde ich daher zu jener Frage zurückkehren, die uns Menschen am wichtigsten ist: der Frage nach dem guten Leben – und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben haben (denn ich gehe zunächst davon aus, daß unser persönliches und gesellschaftliches Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen dringend reformbedürftig ist). Da wir alle wissen, daß eine Antwort auf den ersten Teil dieser Frage so gut wie unmöglich ist, werde ich mit ihrem zweiten Teil beginnen. Tatsächlich bin ich der Auffassung, daß dieser Teil der Frage im Zentrum aller bisherigen Varianten und Generationen der Kritischen Theorie steht. Mit Sicherheit handelt es sich hierbei um Adornos Frage, aber auch Benjamin und Marcuse und in jüngerer Zeit Habermas und Honneth werden von ihr umgetrieben; und sie bewegt den jungen Marx in seinen frühen Pariser Manuskripten. Dieser Essay stellt daher auch den Versuch dar, die Tradition der Kritischen Theorie mit neuem Leben zu füllen. Um die im folgenden zu entwickelnde These ohne Umschweife zu formulieren: Wenn wir die Struktur und Qualität unseres Lebens untersuchen wollen, sollten wir uns seinen Zeitstrukturen zuwenden. Nicht nur lassen sich so gut wie alle Aspekte unseres Lebens aufschlußreich aus einer zeitlichen Perspektive analysieren; darüber hinaus verbinden Zeitstrukturen die Mikro- und Makro-Ebenen der Gesellschaft, da unsere Handlungen und Orientierungen mit den »systemischen Imperativen« moderner kapitalistischer Gesellschaften vermittels zeitlicher Normen, Deadlines und Regeln koordiniert und kompatibel gemacht werden. Daher behaupte ich, daß moderne Gesellschaften durch ein engmaschiges und striktes Zeitregime reguliert, koordiniert und beherrscht werden, das für gewöhnlich nicht in einer ethischen Begrifflichkeit artikuliert wird. Moderne Subjekte können mithin als kaum durch ethische Regeln und Sanktionen eingeschränkt und daher als »frei« verstanden werden, während sie doch durch weitgehend unsichtbare, entpolitisierte, nicht diskutierte, untertheoretisierte und nicht artikulierte Zeitregime rigoros reguliert, beherrscht und unterdrückt werden. Tatsächlich können diese Zeitregime mit Hilfe eines einzigen und vereinheitlichenden Begriffs analysiert werden: der Logik sozialer Beschleunigung. Daher werde ich im ersten Teil dieses Buches die These entwickeln, daß moderne Zeitstrukturen sich auf eine sehr spezifische, vorherbestimmte Weise verändern; sie unterstehen der Herrschaft und Logik eines Beschleunigungsprozesses, der auf kaum wahrnehmbare Weise mit Begriff und Wesen der Moderne verbunden ist. Da ich diese Behauptung an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (Rosa 2005a, 2003; Rosa / Scheuerman 2009), werde ich mich hier auf eine kurze Rekapitulation der Theorie der sozialen Beschleunigung beschränken. Im zweiten Teil werde ich die Auffassung vertreten, daß ein Verständnis und eine kritische Analyse der unser Leben unbemerkt bestimmenden zeitlichen Normen von größter Wichtigkeit ist, und zwar aus der Perspektive nicht nur der ursprünglichen Kritischen Theorie, sondern auch ihrer heute vorherrschenden Varianten. Akzeptieren wir die These, daß unsere Fähigkeit, ein gutes Leben zu leben, durch Verzerrungen der Anerkennungsstrukturen (wie Honneth argumentiert) einerseits und der Kommunikationsverhältnisse (wie Habermas argumentiert) andererseits eingeschränkt wird, dann können wir diese Einschränkungen sehr viel besser verstehen, wenn wir die Zeitlichkeit von Anerkennung und (politischer) Kommunikation berücksichtigen. Aus diesem Grund werde ich zu zeigen versuchen, daß und warum die Kategorie der sozialen Beschleunigung für jede Kritik an spätmodernen Strukturen sowohl der Anerkennung als auch der Kommunikation von höchster Relevanz ist. Mein weitergehendes Ziel ist jedoch die Rehabilitierung eines sehr viel älteren Begriffs der Kritischen Theorie, der von Marx und der frühen Frankfurter Schule entwickelt, dann aber sowohl von Habermas als auch von Honneth aufgegeben worden ist: des Begriffs der Entfremdung. Ich werde die These vertreten, daß soziale Beschleunigung in ihrer gegenwärtigen, »totalitären« Form zu schwerwiegenden und empirisch beobachtbaren Formen der sozialen Entfremdung führt, die als die größten Hindernisse begriffen werden können, die der Verwirklichung einer modernen Konzeption des »guten Lebens« in spätmodernen Gesellschaften entgegenstehen. Daher werde ich im dritten (und wichtigsten) Teil versuchen, das Modell einer »Kritischen Theorie der sozialen Beschleunigung« zu skizzieren, das den Begriff der Entfremdung als wichtiges begriffliches Werkzeug verwendet, aber auch die Begriffe der Ideologie und der falschen Bedürfnisse neuzufassen und wiederzubeleben versucht.

Letztlich kann ich dem ersten Teil der grundlegenden Frage nach dem guten Leben jedoch nicht vollkommen aus dem Weg gehen. Auf was für einen (nichtartikulierten) Begriff des guten Lebens stützt sich die Kritische Theorie der sozialen Beschleunigung? Auf den letzten Seiten dieses Essays werde ich diese Frage sozusagen von ihrer Rückseite her angehen: Da ich »Entfremdung« als Negation des guten Lebens begreife, können wir den ersten Teil der Frage wie folgt reformulieren: Was ist das Andere der Entfremdung? Was ist ein nichtentfremdetes Leben? Die Kritiker des Entfremdungsbegriffs haben seit langem und zu Recht darauf hingewiesen, daß manche Formen der Entfremdung ein unverzichtbarer und sogar wünschenswerter Teil eines jeden menschlichen Lebens sind, so daß eine jede Theorie oder Politik, die darauf zielt, Entfremdung mit ihren Wurzeln auszurotten, regelrecht gefährlich und potentiell totalitär ist. Daher zielen die abschließenden Abschnitte dieses Buches nicht auf die Idee eines vollkommen unentfremdeten Lebens, sondern auf Momente nichtentfremdeter menschlicher Erfahrung. Meine Hoffnung ist, daß uns diese Momente einen neuen Maßstab zur Beurteilung der Lebensqualität an die Hand geben. Sollte sich dies als zu optimistisch erweisen, können wir zumindest darauf hoffen, auf diese Weise die Grundlage für eine Kritische Theorie zu legen, die jene Tendenzen und Strukturen identifiziert, die die Möglichkeit solcher Momente unterminieren.

Den folgenden Personen möchte ich für ihre große und unschätzbare Hilfe bei der Fertigstellung dieses Manuskripts danken: Jens Beljan, Robert Dietrich, Sigrid Engelhardt, Claus Krogholm, Asger Soerensen, André Stiegler, Stephan Langenhan und natürlich insbesondere meinem Freund Robin Celikates für die großartige Übersetzung.

TEIL I
Eine Theorie der sozialen Beschleunigung

KAPITEL 1
Was ist soziale Beschleunigung?

Worum geht es in der Moderne eigentlich? Soziologie und Sozialphilosophie,1 so meine These, können als Reaktionen auf Erfahrungen der Modernisierung verstanden werden. Diese Formen sozialen Denkens entstehen im Zuge der Erfahrungen, die Individuen von den dramatischen Veränderungen in der Welt machen, in der sie leben, insbesondere wenn diese das Gefüge der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Lebens selbst betreffen. In der einschlägigen Literatur über die Moderne und die Modernisierung werden diese Veränderungen meist als Prozesse der Rationalisierung (wie bei Weber und Habermas), der (funktionalen) Differenzierung (wie in den Theorien Durkheims und Luhmanns), der Individualisierung (wie bei Georg Simmel und heute bei Ulrich Beck) oder der Domestizierung und Kommodifizierung (wie bei jenen Theoretikern von Marx zu Adorno und Horkheimer, die ihr Augenmerk auf die Steigerung menschlicher Produktivität und den Aufstieg der instrumentellen Vernunft richten) interpretiert und diskutiert. Daher sind all diese Begriffe zum Gegenstand zahlloser Definitionen, Bücher und Debatten geworden.

Wenn wir die Standardsoziologie jedoch für einen Moment beiseite lassen und die zahlreichen kulturellen Selbstbeobachtungen der Moderne etwas genauer betrachten, entdecken wir, daß in den soziologischen Theorien etwas fehlt: Autoren und Denker von Shakespeare bis Rousseau, von Marx bis Marinetti und von Charles Baudelaire bis Goethe, Proust und Thomas Mann2 beobachten beinahe unisono (immer mit Erstaunen und oft mit großer Sorge) eine Beschleunigung des sozialen Lebens oder – genauer – eine beschleunigte Transformation der materiellen, sozialen und geistigen Welt. Diese Erfahrung der Beschleunigung der uns umgebenden Welt ist in Wahrheit ein ständiger Begleiter des modernen Menschen. So diagnostiziert James Gleick 1999 in seinem Buch Faster (bereits im Untertitel) »the acceleration of just about everything«, während Douglas Coupland sein gefeiertes Buch Generation X (ebenfalls bereits im Untertitel) als »Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur« präsentiert. Und Peter Conrad (1999: 9) beginnt sein kulturgeschichtliches Mammutwerk mit der Feststellung »Modernity is about the acceleration of time«, während Thomas H. Eriksen (2001: 159) pointiert formuliert »Modernity is speed«.

Was haben die Sozialwissenschaften hierzu zu sagen? Tatsächlich ist dieses Gefühl gewichtiger Veränderungen in der gesellschaftlichen Zeitstruktur in den »klassischen« soziologischen Theorien durchaus präsent, etwa wenn Marx und Engels im Kommunistischen Manifest behaupten: »Alles Ständische und Stehende verdampft«, wenn Simmel die Steigerung des Nervenlebens und die Geschwindigkeit sich verändernder sozialer Erfahrungen als die zentralen Merkmale des großstädtischen Lebens (und damit der Moderne) identifiziert, wenn Durkheim Anomie definiert als wahrscheinliche Folge sozialer Veränderungen, die so schnell vor sich gehen, daß neue Formen der Moral und der Solidarität nicht nachwachsen können, oder wenn Weber Benjamin Franklin darin folgt, die protestantische Ethik als Ethik rigoroser Zeitdisziplin zu begreifen, die das Verschwenden von Zeit für »die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden« hält (Weber 2004: 183). Die Klassiker waren also zumindest teilweise angetrieben durch ein ausgeprägtes Gespür für die Prozesse der Beschleunigung, die sie in modernen Gesellschaften beobachteten. Nach ihnen wurde die Soziologie jedoch ziemlich atemporal; sie verließ sich auf statische Begriffe, die vormoderne und moderne Gesellschaften sehr häufig einfach einander gegenüberstellten, als würden Gesellschaften irgendwann von einem Tag auf den anderen modern werden und dies in der Folge schlicht bleiben.

Was wir demnach unbedingt nötig haben, ist eine systematische Theorie und einen überzeugenden Begriff sozialer Beschleunigung. Im folgenden werde ich versuchen, diese Lücke zu füllen.

Die offensichtlichste Frage, die eine solche Theorie beantworten können muß, erweist sich bereits als erstaunlich schwierig. Sichten wir die entsprechende soziologische Literatur, so läßt sich der Eindruck eines vollkommenen Durcheinanders tatsächlich kaum vermeiden: Was wird in modernen Gesellschaften überhaupt beschleunigt? Wir finden Bezüge auf eine Beschleunigung der Geschwindigkeit des Lebens, der Geschichte, der Kultur, des politischen Lebens, der Gesellschaft oder sogar der Zeit selbst (vgl. etwa Gurvitch 1963; Schmied 1985: 86-90). Manche Beobachter stellen ohne weitere Umschweife fest, daß in der Moderne einfach alles beschleunigt zu werden scheint. Aber ganz offensichtlich kann Zeit nicht im strengen Sinn beschleunigt werden, und nicht alle Prozesse des sozialen Lebens beschleunigen sich. Eine Stunde ist eine Stunde, und ein Tag ist ein Tag – unabhängig davon, ob wir den Eindruck haben, daß sie schnell vergangen sind oder nicht; und auch Schwangerschaften, Erkältungen, Jahreszeiten und die für Erziehung benötigte Zeit beschleunigen sich allem Anschein nach nicht. Zudem ist es unklar, ob wir tatsächlich von einem Prozeß der sozialen Beschleunigung im Singular sprechen können, wenn wir doch nur eine Reihe möglicherweise unverbundener Phänomene der Beschleunigung beobachten können, etwa in Sport, Mode, Videoschnitt, Transport und dem immer kurzfristigeren Arbeitsmarkt, aber ebenso einige Phänomene der sozialen Entschleunigung und Sklerose. Eine letzte begriffliche Schwierigkeit bezüglich der sozialen Beschleunigung liegt in der kategorialen Beziehung zur Gesellschaft selbst: Können wir von einer Beschleunigung der Gesellschaft selbst sprechen oder nur von einer Beschleunigung von Prozessen innerhalb einer (mehr oder weniger stabilen) sozialen Ordnung?

Im folgenden entwickle ich einen analytischen Rahmen, der es uns zumindest im Prinzip erlauben wird, zu einer theoretisch gründlichen und empirisch rechtfertigbaren (oder zumindest bestreitbaren) Antwort auf die Frage zu kommen, was es für eine Gesellschaft bedeuten könnte, sich zu beschleunigen, und in welchen Hinsichten sich westliche Gesellschaften als Beschleunigungsgesellschaften begreifen lassen.

Ziemlich offensichtlich gibt es kein einheitliches und universelles Muster der Beschleunigung, das alles beschleunigen würde. Ganz im Gegenteil, manche Prozesse werden langsamer, wie etwa der Verkehr in einem Stau, während andere hartnäckig Widerstand leisten gegen alle Versuche, sie zu beschleunigen, wie etwa die gewöhnliche Erkältung. Dennoch gibt es ohne Zweifel viele soziale Phänomene, auf die sich der Begriff der Beschleunigung legitimerweise anwenden läßt. Athleten scheinen immer schneller zu rennen und zu schwimmen; fast food, speed dating, power naps und drive-through funerals demonstrieren unsere Entschlossenheit, das Tempo alltäglicher Handlungen zu beschleunigen; Computer rechnen mit immer höherer Geschwindigkeit, Transport und Kommunikation benötigen nur noch einen Bruchteil der Zeit, die noch vor einem Jahrhundert nötig war, die Menschen scheinen immer weniger zu schlafen (Wissenschaftler haben herausgefunden, daß die durchschnittliche Schlafdauer seit dem 19. Jahrhundert um zwei Stunden und seit den 1970er Jahren um 30 Minuten abgenommen hat; vgl. Garhammer 1999: 378), und selbst unsere Nachbarn scheinen immer öfter umzuziehen.

Aber auch wenn wir zeigen könnten, daß diese Veränderungen nicht zufällig sind, sondern einem systematischen Muster folgen, läßt sich dann irgend etwas identifizieren, was alle diese sehr unterschiedlichen Prozesse gemeinsam haben, so daß wir sie unter dem einen Begriff der sozialen Beschleunigung fassen können? Ich möchte behaupten, daß die Antwort hierauf jedenfalls kein direktes Ja sein kann. Wenn wir uns die angedeutete Bandbreite an Phänomenen genauer ansehen, wird jedoch deutlich, daß wir sie in drei sowohl analytisch als auch empirisch zu unterscheidende Kategorien einteilen können, nämlich technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Im folgenden werde ich zunächst diese drei Kategorien der Beschleunigung präsentieren. Im darauf folgenden Abschnitt werde ich dann den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sphären der Beschleunigung und den ihnen zugrundeliegenden Mechanismen bzw. Motoren untersuchen. Die Kapitel 2 und 3 diskutieren einige Probleme einer soziologischen Analyse von »Beschleunigungsgesellschaften«, die sich aus der Tatsache ergeben, daß wir eine Reihe von sozialen Phänomenen berücksichtigen müssen, deren Geschwindigkeit konstant bleibt oder sogar entschleunigt wird.

1. Technische Beschleunigung

Die erste, offensichtlichste und am einfachsten zu messende Form der Beschleunigung ist die intentionale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Transport-, Kommunikations- und Produktionsprozesse, die sich als technische Beschleunigung definieren läßt. Auch neue Formen der Organisation und der Verwaltung, die darauf abzielen, Verfahrensweisen zu beschleunigen, zählen als Formen der technischen Beschleunigung im hier zugrundegelegten Sinn, also als Formen absichtlicher zielgerichteter Beschleunigung. Auch wenn es nicht immer ohne weiteres möglich ist, die Durchschnittsgeschwindigkeit dieser Prozesse zu messen (die für die Analyse der sozialen Folgen der Beschleunigung viel wichtiger ist als die Höchstgeschwindigkeit), läßt sich die allgemeine Tendenz in diesem Bereich kaum bestreiten. So wird etwa behauptet, die Geschwindigkeit der Kommunikation sei um den Faktor 107, die des Personentransports um 102 und die der Datenverarbeitung um 106 gestiegen (vgl. Geißler 1999: 89).

Vor allem dieser Aspekt der Beschleunigung steht im Zentrum von Paul Virilios »Dromologie«, also seinem theoretischen Narrativ der historischen Beschleunigung, das von der Revolution des Transports zu jener der Übertragung und schließlich zu jener der »Transplantation« führt, die dank der sich entwickelnden Möglichkeiten der Biotechnologie kurz bevorzustehen scheint (Virilio 2002: 9-19). Die Auswirkungen der technischen Beschleunigung auf die soziale Realität sind ohne Zweifel enorm. Insbesondere hat sie das »Raum-Zeit-Regime« der Gesellschaft, also die Wahrnehmung und Organisation von Raum und Zeit im sozialen Leben, vollkommen verändert. Der »natürliche« (sprich: anthropologische) Vorrang des Raumes über die Zeit in der menschlichen Wahrnehmung, der in unseren Sinnesorganen und den Effekten der Schwerkraft verankert ist und der es uns erlaubt, unmittelbar zwischen »oben« und »unten« sowie »vorne« und »hinten«, nicht aber zwischen »früher« und »später« zu unterscheiden, wird scheinbar umgekehrt: Im Zeitalter der Globalisierung und der Ortlosigkeit des Internets wird Zeit mehr und mehr so verstanden, daß sie den Raum komprimiert oder gar vernichtet (vgl. etwa Harvey 1990: 201-210). Der Raum scheint sich dank der Geschwindigkeit von Transport und Kommunikation geradezu »zusammenzuziehen«. So ist der Raum, gemessen an der Zeit, die man braucht, um etwa von London nach New York zu reisen, zwischen dem vorindustriellen Zeitalter der Segelschiffe und der Zeit der Passagierflugzeuge auf ein Sechzigstel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft – die Reise dauert nicht mehr etwa drei Wochen, sondern acht Stunden.

In diesem Prozeß verliert der Raum in vielen Hinsichten an Bedeutung für unsere Orientierung in der spätmodernen Welt. Abläufe und Prozesse sind nicht länger lokalisiert, und tatsächliche Orte wie Hotels, Banken, Universitäten und Industrieanlagen tendieren dazu, »Nicht-Orte« zu werden, also Orte ohne Geschichte, Identität oder Beziehung (vgl. Augé 1994).3

2. Die Beschleunigung des sozialen Wandels

Wenn Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und gewöhnliche Männer und Frauen seit dem 18. Jahrhundert die Dynamisierung der westlichen Kultur, Gesellschaft oder Geschichte beobachtet haben, ging es ihnen meist jedoch nicht so sehr um spektakuläre technische Fortschritte. Vielmehr schienen sie sich über die beschleunigten Prozesse sozialen Wandels Gedanken zu machen, die soziale Konstellationen und Strukturen ebenso wie Handlungs- und Orientierungsmuster instabil und kurzlebig werden lassen. Genau diese gesteigerte Veränderungsrate der sozialen Beziehungsmuster, Praxisformen und Substanz praktisch relevanten Wissens bestimmt die zweite Kategorie sozialer Beschleunigung, nämlich die Beschleunigung des sozialen Wandels.

Während die Phänomene der ersten Kategorie als Prozesse der Beschleunigung innerhalb der Gesellschaft beschrieben werden können, handelt es sich bei den Phänomenen dieser zweiten Kategorie um Beschleunigungen der