Im November 2002 hat Judith Butler mit überwältigendem Erfolg die Adorno-Vorlesungen an der Universität Frankfurt gehalten, die nun in einer erweiterten Fassung als Taschenbuch erscheinen. In ihrer Kritik der ethischen Gewalt geht sie der Frage nach, wie man angesichts einer Theorie des Subjekts, dessen Entstehungsbedingungen sich nie restlos klären lassen, dennoch die Möglichkeit von Verantwortung und Rechenschaft bewahren kann. In Auseinandersetzung mit Adorno, Cavarero, Foucault, Lévinas und der Psychoanalyse zeigt Butler, dass jede dieser Theorien etwas ethisch Bedeutsames enthält, das sich aus den Grenzen ergibt, die jedem Versuch gezogen sind, Rechenschaft von sich selbst abzulegen: Noch in dem, was wir »ethisches Scheitern« nennen, steckt eine ethische Wertigkeit und Bedeutsamkeit, und die Frage der Ethik erscheint genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit.
»Mit dem Begriff der ›ethischen Gewalt‹ legt Butler den moralphilosophischen Kern von Adornos Denken frei«. Die literarische Welt
Judith Butler ist Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California in Berkeley. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Haß spricht. Zur Politik des Performativen (2006, es 2414) Gefährdetes Leben. Politische Essays (2005, es 2393); Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod (2001, es 2187); Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (2001, es 1744); Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1997, es 1737); Das Unbehagen der Geschlechter (1991, es 1722).
Kritik der ethischen Gewalt
Aus dem Englischen von
Reiner Ansén und Michael Adrian
Adorno-Vorlesungen 2002
Institut für Sozialforschung an der
Johann Wolfgang Goethe-Universität,
Frankfurt am Main
Suhrkamp
Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.
Diese Ausgabe ist gegenüber der 2003 im Hauptprogramm erschienenen Ausgabe stark erweitert. Die Übersetzung orientiert sich dabei an der amerikanischen Ausgabe: Giving an Account of Oneself, Fordham University Press, New York 2005
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003, 2007
© Judith Butler 2002
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eISBN 978-3-518-73218-2
www.suhrkamp.de
Danksagung
1. Kapitel: Rechenschaft von sich selbst
Anredeszenen
Foucault’sche Subjekte
Nachhegelianische Erkundungen
»Wer bist du?«
2. Kapitel: Gegen die ethische Gewalt
Grenzen des Urteilens
Psychoanalyse
Das ›Ich‹ und das ›Du‹
3. Kapitel: Verantwortung
Laplanche und Lévinas: Der Vorrang des Anderen
Adorno über das Menschwerden
Foucaults kritische Rechenschaft von sich selbst
Die folgenden Vorträge wurden ursprünglich im Frühjahr 2002 als Spinoza-Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät der Universität Amsterdam gehalten. Ich bin Hent de Vries für seine großzügige Einladung und die Möglichkeit, einiges von dem vorliegenden Material mit den Amsterdamer Studierenden durchzuarbeiten, überaus dankbar. Ihren Ausgang nahmen die nachstehenden Überlegungen im Herbst 2001 in einem Seminar an der Princeton University, als ich dort Fellow am Humanities Council war. Von den Diskussionen mit Fakultätsangehörigen und Studenten habe ich dabei ungemein profitiert. Schließlich wurden sie im Herbst 2002 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt in veränderter Form als vom Institut für Sozialforschung veranstaltete Adorno-Vorlesungen vorgetragen. Ich danke Axel Honneth für diese Gelegenheit, einen neuen Zugang zu Adornos Werk zu finden. Auch bin ich den zahlreichen Frankfurter Diskussionspartnern und ihrer intensiven Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Fragen zu Dank verpflichtet. In einer früheren und erheblich kürzeren Form erschien dieser Text in den Niederlanden unter dem Titel Giving an Account of Oneself im Verlag Van Gorcum Press (2003) und im selben Jahr als Kritik der ethischen Gewalt in der geschliffenen Übersetzung von Reiner Ansén bei Suhrkamp. Teile des zweiten Kapitels wurden als Aufsatz unter dem Titel »Giving an Account of Oneself« in Diacritics, Bd. 31, Nr. 4, S. 22-40 veröffentlicht.
Mein Dank gilt auch all denen, die verschiedene der hier vorgestellten Ideen gemeinsam mit mir durchgearbeitet haben: Frances Bartkowski, Jay Bernstein, Wendy Brown, Michel Feher, Barbara Johnson, Debra Keates, Paola Marrati, Biddy Martin, Jeff Nunokawa, Denise Riley, Joan W. Scott, Annika Thiem und Niza Yanay. Überaus dankbar bin ich den Studentinnen und Studenten, die im Herbst 2003 die meisten der 8hier erörterten Texte zusammen mit mir in meinem Seminar in Vergleichender Literaturwissenschaft gelesen haben: Sie haben meine Sichtweise herausgefordert und intensive Diskussionen zu vielen der hier betrachteten Gegenstände ausgelöst. Ich danke Jill Stauffer dafür, mir die Bedeutung von Lévinas für die philosophische Ethik deutlich gemacht zu haben, sowie Colleen Pearl, Amy Jamgochian, Stuart Murray, James Salazar, Amy Huber und Annika Thiem für ihre Unterstützung bei der Textredaktion und Anregungen in verschiedenen Phasen des Schreibens. Und schließlich möchte ich mich bei Helen Tatar bedanken, die sich darauf einlässt, mit meinen Sätzen zu ringen, und für die dieses Buch wie ein Bumerang zurückzukehren scheint. Es ist meiner Freundin und Gesprächspartnerin Barbara Johnson gewidmet.
… der Wert eines Gedankens mißt sich an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
Beginnen möchte ich mit folgender Überlegung: Wie ließe sich die Frage der Moralphilosophie, eine Frage, die mit dem Verhalten, also mit dem Handeln zu tun hat, im heutigen gesellschaftlichen Rahmen stellen? Formuliert man die Frage auf diese Weise, so hat man bereits eine These vorausgesetzt, die These nämlich, dass sich moralische Fragen nicht nur immer schon im Kontext sozialer Beziehungen stellen, sondern dass sich die Form solcher Fragen je nach Kontext ändert, ja, dass der Kontext der Form der Frage in gewisser Weise innewohnt. In seinen Problemen der Moralphilosophie, einer Vorlesung vom Sommer 1963, schreibt Adorno: »Man kann nämlich wohl sagen, daß so etwas wie die moralische Problematik überhaupt immer dann entsteht, wenn jene fraglose und selbstverständliche Vorgegebenheit von sittlichen Normen des Verhaltens im Leben einer Gemeinschaft nicht mehr vorhanden ist.«[2] Diese Behauptung scheint in gewisser Weise die Bedingungen zu beschreiben, unter denen moralische Fragen entstehen, aber Adorno führt seine These noch genauer aus. Er grenzt sich kritisch von Max Scheler ab, der die Zersetzung der ethischen 10Ideen beklagt, worunter er die Zerstörung eines gemeinsamen und gemeinschaftlichen moralischen Ethos versteht. Adorno weigert sich, diesen Verlust zu betrauern, da das kollektive Ethos seiner Befürchtung nach unausweichlich ein konservatives ist und eine falsche Einheit setzt, welche die Schwierigkeiten und Diskontinuitäten jedes zeitgenössischen Ethos zu unterdrücken sucht. Nicht dass es je eine Einheit gegeben hätte, die später zerfallen wäre – vielmehr hat es eine Idealisierung, faktisch einen Nationalismus gegeben, der seine Glaubwürdigkeit eingebüßt hat und dem auch kein Glaube mehr geschenkt werden sollte. Daher warnt Adorno vor dem Rückgriff auf die Ethik, der ein Rückgriff auf eine bestimmte Art der Repression und der Gewalt ist. Er schreibt, daß wahrscheinlich nichts zersetzter ist als die Art von Ethik oder von Moral, die fortlebt in Gestalt von kollektiven Vorstellungen, nachdem – wenn ich es hegelianisch und einmal sehr abgekürzt ausdrücken darf: der Weltgeist nicht mehr mit ihnen ist. Wenn der Stand des Bewußtseins der Menschen und auch der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte sich von diesen kollektiven Vorstellungen entfernt hat, dann nehmen diese Vorstellungen etwas Gewalttätiges und Repressives an; und genau dieser Zwang, der dann in den Sitten liegt, dieses Gewalttätige und Böse in den Sitten, das sie selber in Gegensatz zur Sittlichkeit bringt – und nicht etwa der bloße Verfall der Sitten, wie etwa die Dekadenztheoretiker ihn beklagen –, das nötigt dann allerdings die Philosophie zu solchen Besinnungen, wie die es sind, die wir hier anstellen wollen.«[3]
Zunächst, so Adorno, entstehen moralische Fragen überhaupt erst, wenn der Bann des kollektiven Ethos gebrochen ist. Daher müssen moralische Fragen gar nicht auf der Grundlage eines gemeinsamen Ethos entstehen, um als moralische Fragen gelten zu können; tatsächlich scheint es sogar ein Spannungsverhältnis zwischen Ethos und Moral zu geben, so dass das 11Schwinden des Ethos Voraussetzung für die Zunahme moralischer Fragen ist. Im zweiten Schritt verdeutlicht Adorno: Obgleich das kollektive Ethos nicht mehr allgemein geteilt wird, ja gerade weil es nicht mehr allgemein geteilt wird und in Anführungszeichen zu setzen ist, kann es seine Ansprüche auf allgemeine Verbindlichkeit nur noch gewaltsam durchsetzen. In diesem Sinne bedient sich das kollektive Ethos der Gewalt, um den Schein seiner Allgemeinverbindlichkeit aufrechtzuerhalten. Überdies wird dieses Ethos zu Gewalt erst dort, wo das Ethos überhaupt zum Anachronismus geworden ist. Historisch – und zeitlich – merkwürdig an dieser Form ethischer Gewalt ist, dass das kollektive Ethos, obzwar anachronistisch geworden, nicht vergangen ist; als Anachronismus drängt es sich der Gegenwart auf. Das Ethos weigert sich, Vergangenheit zu werden, und Gewalt ist der Weg, auf dem es sich der Gegenwart aufzwingt. Und es zwingt sich nicht nur der Gegenwart auf, sondern sucht diese Gegenwart zu verfinstern, worin eben eine seiner gewaltsamen Auswirkungen liegt.
Adorno gebraucht den Begriff der Gewalt in Bezug auf die Ethik im Kontext von Universalitätsansprüchen. In diesem Zusammenhang charakterisiert er das Erscheinen der Moral, das immer ein Erscheinen bestimmter Arten moralischer Reflexion, moralischer Hinterfragungen ist, noch einmal anders. »Was das Zentralproblem jeder Moralphilosophie ausmachen muß«, so schreibt er, »ist das Verhältnis zwischen dem Besonderen, den besonderen Interessen, den Verhaltensweisen des einzelnen, besonderen Menschen und dem Allgemeinen, das dem gegenübersteht«.[4] Unter welchen Bedingungen ereignet sich also dieses Auseinanderklaffen? Adorno bezieht sich auf die Situation, in der »das Allgemeine« das Einzelne nicht nur unberücksichtigt lässt oder nicht mit in sich aufnimmt, sondern in der schon der Anspruch auf Allgemeinheit die »Rechte« des Einzelnen ignoriert. Wir können uns beispielsweise vorstellen, 12dass man im Namen universeller demokratischer Prinzipien einem anderen Land eine Regierung aufnötigt und damit der fraglichen Bevölkerung faktisch das Recht zur Wahl ihrer eigenen Vertreter vorenthält. In diesem Zusammenhang wäre etwa an die Vorschläge von Präsident Bush bezüglich der palästinensischen Autonomiebehörde oder an seine Bemühungen zu denken, im Irak einen Regierungswechsel herbeizuführen. Mit Adorno wäre das ein Fall, in dem das Allgemeine »sich darstellt als ein Gewaltsames und Äußerliches, das für die Menschen selber eigentlich keine Substantialität hat«.[5] Obgleich Adorno hier und da unvermittelt von der Ethik zur Moral übergeht, bevorzugt er für sein Anliegen – wie in den Minima Moralia – doch den Begriff der Moral, und er beharrt darauf, dass alle Maximen oder Regeln so beschaffen sein müssen, dass sie von den Individuen »lebendig« angeeignet werden können.[6] Man könnte den Begriff der Ethik den großen Konturen dieser Regeln und Maximen oder der Beziehung zwischen Selbsten vorbehalten, die in diesen Regeln impliziert ist, aber Adorno beharrt darauf, dass eine ethische Norm, die keine Lebensweise anzubieten vermag oder die sich unter bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht aneignen lässt, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen ist.[7] Lässt dieses Ethos die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen außer Acht, jene Bedingungen also, unter denen jegliche Ethik anzueignen wäre, so schlägt es in Gewalt um.
In diesem ersten von drei Kapiteln zu diesem Thema möchte ich unterstreichen, was mir an Adornos Konzeption der ethischen Gewalt wichtig scheint; die systematischere Untersuchung will ich mir für das dritte Kapitel aufheben. Auf den folgenden Seiten will ich nur die Bedeutung von Adornos Problemstellung für die gegenwärtigen Debatten über den moralischen Nihilismus herausarbeiten, aber auch zeigen, inwiefern 13der sich wandelnde historische Charakter der moralischen Reflexion selbst eine Abwendung von seinem theoretischen Rahmen erforderlich gemacht hat. In gewissem Sinne hätte Adorno dieses Hinausgehen über Adorno vielleicht verziehen, war er doch selbst der Untersuchung der Moral im Rahmen der wechselnden gesellschaftlichen Kontexte verpflichtet, in denen das Bedürfnis nach moralischen Untersuchungen überhaupt erst aufkommt. Der Kontext ist der Frage nicht äußerlich, sondern bedingt vielmehr die Form, die die Frage annimmt; in diesem Sinn bestimmt der geschichtliche Stand der Dinge, der die für moralische Untersuchungen charakteristischen Fragen aufwirft, den Inhalt und die Form dieser Fragen.
Meiner Ansicht nach lässt sich Adornos Kritik der abstrakten Allgemeinheit als Gewalt vor dem Hintergrund von Hegels Kritik jener Art abstrakter Allgemeinheit verstehen, die für den Terror charakteristisch ist. Ich habe mich andernorts dazu geäußert,[8] möchte aber hier darauf hinweisen, dass das Problem nicht in der Allgemeinheit als solcher, sondern vielmehr in Anwendungen des Universalitätsgrundsatzes liegt, die kulturelle Besonderheiten außer Acht lassen und keiner Umformulierung in Reaktion auf ebenjene gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zugänglich sind, die dieser Universalitätsgrundsatz in seinen Anwendungsbereich mit einschließt. Wenn sich eine allgemeine Regel aus gesellschaftlichen Gründen nicht aneignen lässt oder wenn sie aus gesellschaftlichen Gründen sogar verworfen werden muss, dann wird sich um diese allgemeine Regel selbst eine Kontroverse entwickeln, dann wird sie selbst zum Gegenstand einer demokratischen Debatte. Sie büßt ihre Stellung als Vorbedingung der demokratischen Debatte ein. Würde sie als unabdingbare Voraussetzung, als conditio sine qua non der Teilhabe selbst fungieren, so würde sie dieser Debatte ihre Gewalt in Form ausschließender Verbote aufzwingen. Das heißt nicht, dass Universalität per 14definitionem gewaltsam ist. Das ist sie nicht. Es gibt aber Bedingungen, unter denen Gewalt von ihr ausgehen kann. Mit Adorno verstehen wir besser, dass ihre Gewalt zum Teil in ihrer Indifferenz gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen besteht, unter denen eine lebendige Aneignung vielleicht möglich würde. Ist eine solche lebendige Aneignung nicht möglich, dann scheint daraus zu folgen, dass sich die Regel als totes Ding lediglich ertragen lässt, dass sie nichts als ein Leiden ist, das von einem indifferenten Außen auf Kosten von Freiheit und Besonderheit verhängt wird.
Adorno scheint beinahe kierkegaardianisch, wenn er auf dem Ort und der Bedeutung des existierenden Einzelnen und der Notwendigkeit der Aneignung beharrt und gegen Formen ethischer Gewalt opponiert. Aber selbstverständlich warnt er zugleich vor dem Irrtum der Gegenposition, sofern das ›Ich‹ dort abgetrennt von seinen gesellschaftlichen Bedingungen und als reine Unmittelbarkeit verstanden wird, als willkürlich oder zufällig, losgelöst von seinen gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen, in denen schließlich die allgemeinen Bedingungen seiner eigenen Entstehung liegen. Adorno lässt keinen Zweifel daran, dass es keine Moral ohne ein ›Ich‹ geben kann, doch bleiben bohrende Fragen offen: Worin besteht dieses ›Ich‹? Auf welche Weise kann es eine angemessene Moral vermitteln, ja überhaupt Rechenschaft von sich selbst ablegen? So schreibt er etwa, »daß alle Vorstellungen der Sittlichkeit oder der Moral sich beziehen auf ein Ich, welches da handelt, das ist wohl ohne weiteres verständlich«.[9] Und dennoch gibt es kein ›Ich‹, das sich ganz und gar von seinen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen lösen lässt, kein ›Ich‹, das nicht schon von moralischen Normen bedingt ist, die als solche einen gesellschaftlichen Charakter haben, der über eine rein persönliche oder idiosynkratische Bedeutung hinausgeht.
Das ›Ich‹ steht nicht außerhalb der herrschenden Matrix 15ethischer Normen und widerstreitender moralischer Rahmenbedingungen. Ja, diese Matrix ist auch die Entstehungsbedingung des ›Ich‹, selbst wenn es aus diesen Normen nicht kausal ableitbar ist, selbst wenn wir nicht schließen können, dass das ›Ich‹ ganz einfach die Wirkung oder das Werkzeug eines vorhergehenden Ethos oder eines zugrunde liegenden Feldes widerstreitender oder diskontinuierlicher Normen ist. Wenn das ›Ich‹ versucht, über sich selbst Rechenschaft abzulegen, kann es sehr wohl bei sich beginnen, aber es wird feststellen, dass dieses Selbst bereits in eine gesellschaftliche Zeitlichkeit eingelassen ist, die seine eigenen narrativen Möglichkeiten überschreitet. Ja, wenn das ›Ich‹ Rechenschaft von sich zu geben sucht, Rechenschaft oder eine Erklärung seiner selbst, die seine eigenen Entstehungsbedingungen einschließen muss, dann muss es notwendig zum Gesellschaftstheoretiker werden.
Der Grund dafür ist folgender: Das ›Ich‹ hat gar keine Geschichte von sich selbst, die nicht zugleich die Geschichte seiner Beziehung – oder seiner Beziehungen – zu bestimmten Normen ist. Nun fürchten viele zeitgenössische Kritiker, dies bedeute, es gebe keinen Begriff eines Subjekts, das als Grundlage der moralischen Handlungsfähigkeit und der moralischen Zurechenbarkeit dienen könnte; aber dieser Schluss ist keineswegs zwingend. In gewissem Maße ist das ›Ich‹ sich immer durch seine gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen enteignet.[10] Aber diese Unverfügbarkeit bedeutet nicht, dass wir die subjektive Basis der Ethik verloren haben. Ganz im Gegenteil könnte diese Unverfügbarkeit gerade die Voraussetzung moralischer Fragestellungen sein, die Bedingung, unter welcher die Moral selbst erst entsteht. Wenn das ›Ich‹ nicht mit den moralischen Normen zusammenfällt, die es aushan16delt, so heißt das nur, dass es über diese Normen nachdenken muss und dass diese Überlegungen auch zu einer kritischen Einsicht in deren gesellschaftliche Genese und Bedeutung führen werden. In diesem Sinne sind ethische Überlegung und Kritik miteinander verknüpft. Und die Kritik stellt fest, dass sie nicht vorankommt, wenn sie nicht berücksichtigt, wie das überlegende Subjekt überhaupt entsteht und wie ein reflektierendes Subjekt bestimmte Normen tatsächlich leben oder sich aneignen kann. Die Ethik findet sich nicht nur in die Aufgabe der Gesellschaftstheorie verwickelt, sondern die Gesellschaftstheorie muss, soll sie zu nicht-gewaltsamen Ergebnissen führen, auch einen lebendigen Ort für dieses ›Ich‹ finden.
Wie das ›Ich‹ aus der Matrix gesellschaftlicher Institutionen hervorgeht, lässt sich auf verschiedene Weisen erklären, die jeweils die Moral im Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedingungen verorten. Adorno neigt dazu, eine negative Dialektik am Werk zu sehen, wenn Kollektivitätsansprüche sich als gar nicht kollektiv erweisen, wenn Behauptungen abstrakter Allgemeinheit sich in Wahrheit als nicht allgemein erweisen. Die Kluft ist immer die zwischen Allgemeinem und Besonderem, und hier liegt auch die Bedingung der moralischen Infragestellung. Nicht nur ist das Allgemeine vom Besonderen durch eine Kluft getrennt, sondern es ist gerade diese Kluft, die das Individuum erfährt, die für das Individuum zur Ausgangserfahrung der Moral schlechthin wird. In diesem Sinne klingt in Adornos Theorie Nietzsche nach, der die Gewaltsamkeit des »schlechten Gewissens« unterstrich, welches das ›Ich‹ durch eine potentiell vernichtende Grausamkeit hervorbringt. Das ›Ich‹ wendet sich gegen sich selbst, entlädt seine moralisch geächteten Aggressionen gegen sich selbst, und Reflexivität ist die Folge. Dies ist zumindest Nietzsches Sicht des schlechten Gewissens. Meiner Meinung nach spielt Adorno auf eine solche Negativauffassung des schlechten Gewissens an, wenn er feststellt, dass eine Ethik, die sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedin17gungen nicht auf lebendige Weise von Einzelnen aneignen lässt, »das schlechte Gewissen des Gewissens« ist.
Wir müssen uns jedoch fragen, ob das ›Ich‹, das moralische Normen auf lebendige Weise anzueignen hat, nicht selbst durch Normen bedingt ist, Normen, die das Subjekt erst lebensfähig machen. Es ist eines, zu sagen, dass ein Subjekt in der Lage sein muss, Normen anzueignen, aber es ist etwas anderes, zu sagen, dass es Normen geben muss, die dem Subjekt innerhalb des ontologischen Feldes einen Raum eröffnen. Im ersten Fall sind die Normen in einer äußeren Distanz da, und die Aufgabe liegt darin, einen Weg zu finden, sie sich anzueignen, sie anzunehmen, eine lebendige Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Der epistemologische Rahmen wird in dieser Begegnung schon vorausgesetzt, ein Rahmen, in dem ein Subjekt auf moralische Normen trifft und mit ihnen umzugehen lernen muss. Hat Adorno aber erwogen, dass Normen auch im Voraus darüber entscheiden, wer Subjekt wird und wer nicht? Hat er die Wirkung der Normen in der Konstitution des Subjekts selbst bedacht, in der Stilisierung seiner Ontologie und in der Schaffung eines legitimen Ortes innerhalb der Sphäre der gesellschaftlichen Ontologie?
Wir beginnen mit einer Erwiderung, einer Frage, die auf ein Geräusch antwortet, und wir tun es im Dunkeln – tun es, ohne genau Bescheid zu wissen begnügen uns mit Sprechen. Wer ist da, wer ist hier, und wer ist weggegangen?
Thomas Keenan, Fables of Responsibility
Ich möchte diese Fragen an Adorno für den Moment beiseite lassen und später auf sie zurückkommen, um mich hier nicht der Beziehung des Subjekts zur Moral, sondern einer früheren 18Beziehung zuzuwenden: der Rolle der Moral bei der Hervorbringung des Subjekts. Die erste Frage ist entscheidend, und sie erübrigt sich durch die folgenden Überlegungen keineswegs. Denn ein von der Moral hervorgebrachtes Subjekt muss sich immer noch mit der Moral ins Benehmen setzen, und kein Weg führt um diese paradoxe Bedingung der moralischen Überlegung und der Aufgabe herum, Rechenschaft von sich selbst zu geben. Auch wenn die Moral ein Bündel an Normen zur Verfügung stellt, die ein sich selbst verständliches Subjekt hervorbringen, bleibt es doch ein Bündel von Normen und Regeln, zu denen das Subjekt ein lebendiges und reflektierendes Verhältnis gewinnen muss.
In der Genealogie der Moral bietet Nietzsche eine umstrittene Darstellung des Prozesses, durch den wir überhaupt zum Nachdenken über unsere eigenen Handlungen kommen und in die Lage versetzt werden, Rechenschaft von dem abzulegen, was wir getan haben. Für Nietzsche gehen dem Bewusstsein unserer selbst bestimmte Verletzungen voraus. Jemand leidet infolge einer solchen Verletzung, und die leidende Person oder vielmehr ihr Vertreter in einem Rechtssystem versucht, die Ursache dieses Leids ausfindig zu machen – und fragt uns, ob nicht wir diese Ursache sein könnten. Dem für eine schädigende Handlung Verantwortlichen eine gerechte Strafe zu erteilen, ist genau der Grund, aus dem die Frage gestellt wird und das fragliche Subjekt sich selbst zu befragen beginnt. Strafe, sagt Nietzsche, ist »ein Gedächtnissmachen«.[11] Die Frage setzt das Selbst als kausale Macht, und sie impliziert eine bestimmte Form von Verantwortung. Wenn wir danach gefragt werden, ob wir jenes Leid verursacht haben, dann sinnt uns eine bestehende Amtsgewalt nicht nur an, eine kausale Verbindung zwischen unseren Handlungen und dem sich anschließenden Leid herzustellen, sondern auch, Verantwortung für diese Handlungen und ihre Folgen zu übernehmen. Dies 19ist der Hintergrund, vor dem man von uns verlangt, Rechenschaft von uns abzulegen.
Wir beginnen nur damit, Rechenschaft abzulegen, weil wir als Wesen befragt sind, die in einem Rechts- und Strafsystem Rede und Antwort stehen müssen. Dieses System ist nicht immer schon da, sondern wird im Lauf der Zeit und mit hohen Kosten für die menschlichen Instinkte etabliert. Nietzsche zufolge fühlten sich die Menschen unter diesen Umständen »zu den einfachsten Verrichtungen […] ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combinieren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr ›Bewusstsein‹, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ!«.[12]
Also fange ich Nietzsche zufolge an zu erklären, weil jemand mich gefragt hat und dieser Jemand im Rahmen eines bestehenden Rechtssystems mit Machtbefugnissen ausgestattet ist. Man hat sich an mich gewendet, mir ist vielleicht sogar eine Tat zugeschrieben worden, und eine gewisse Strafandrohung verleiht der Befragung Gewicht. Und so biete ich mich in ängstlicher Reaktion darauf als ein ›Ich‹ an und versuche, meine Taten zu rekonstruieren und zu zeigen, dass die mir zugeschriebene Tat darunter oder auch nicht darunter war. Entweder bekenne ich mich zu mir selbst als der Ursache einer solchen Handlung und erläutere meinen kausalen Beitrag, oder ich wehre mich gegen die Zuschreibung der Tat und mache deren Ursache vielleicht anderswo aus. Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen ich Rechenschaft von mir gebe. Zurechenbarkeit setzt für Nietzsche immer schon eine Beschuldigung oder zumindest eine mutmaßende Behauptung voraus, und zwar von jemandem, der in der Position ist, eine Strafe zu verhängen, wenn der kausale Zusammenhang nach20gewiesen werden kann. Reflexiv werden wir also durch Angst und Schrecken. Ja, infolge von Angst und Schrecken werden wir moralisch.
Nun könnte es aber sein, dass neben Angst noch andere Wertigkeiten damit einhergehen, befragt zu werden. Es könnte sehr wohl einen Wunsch nach Wissen und Verständnis geben, der sich nicht aus dem Wunsch nach Bestrafung speist, und einen Wunsch, zu erklären und zu erzählen, der nicht durch die schrecklich drohende Strafe verursacht ist. Nietzsche hat ganz richtig gesehen, dass ich mit meiner Geschichte von mir erst angesichts eines ›Du‹ beginne, das mich auffordert, Rechenschaft abzulegen. Erst angesichts einer solchen Frage oder Zuschreibung durch einen Anderen – »Warst du es?« – erzählt sich überhaupt jemand selbst oder stellen wir fest, dass wir aus dringenden Gründen zu Wesen werden müssen, die sich selbst erzählen. Natürlich ist es immer möglich, angesichts einer solchen Frage zu schweigen, wobei das Schweigen dann einen Widerstand gegen die Frage ausdrückt: »Sie haben kein Recht, mir eine solche Frage zu stellen«, oder »Ich werde diese Mutmaßungen keiner Antwort würdigen«, oder auch »Selbst wenn ich es war, geht Sie das nichts an«. In diesen Fällen zieht das Schweigen entweder die Legitimität der durch die Frage und den Fragenden evozierten Autorität in Zweifel, oder es versucht einen autonomen Bereich abzugrenzen, in den der Fragende nicht eindringen kann oder sollte. Die Weigerung, zu erzählen, bleibt ein Verhältnis zum Erzählen und zur Anredeszene. Als vorenthaltene Erzählung verweigert sie entweder die Beziehung, die der Fragende unterstellt, oder sie verändert sie dahingehend, dass der Befragte den Fragesteller zurückweist.
Eine Geschichte über sich selbst zu erzählen ist nicht dasselbe, wie Rechenschaft von sich selbst abzulegen. Und doch können wir an unserem Beispiel sehen, dass die für eine Rechtfertigung in eigener Sache erforderliche Art von Erzählung von der Annahme ausgehen muss, dass das Selbst eine kausale 21Beziehung zum Leiden anderer hat (und letztlich, vermittelt durch das schlechte Gewissen, auch zu sich selbst). Natürlich nimmt nicht jede Erzählung diese Form an. Die Erzählung jedoch, die auf eine mutmaßende Behauptung antwortet, muss von vornherein die Möglichkeit der kausalen Kraft des Selbst akzeptieren, auch wenn dieses in einem bestimmten Fall nicht die Ursache des fraglichen Leidens war.
Die Rechenschaft nimmt also narrative Form an; sie hängt nicht nur von der Fähigkeit ab, eine Abfolge von Ereignissen mit plausiblen Übergängen wiederzugeben, sondern auch von der narrativen Stimme und Autorität, und sie richtet sich an ein Publikum mit dem Ziel, dieses zu überzeugen. Die Erzählung muss im Folgenden geltend machen, dass das Selbst Ursache jenes Leidens war oder eben nicht, also ein überzeugendes Medium anbieten, in dem sich die kausale Kraft des Selbst verstehen lässt. Die Erzählung entsteht nicht, nachdem ein Selbst kausal Ursache geworden ist, sondern sie bildet die Grundvoraussetzung einer jeden Erklärung moralischen Handelns, die wir uns denken können. In diesem Sinne ist die Fähigkeit, zu erzählen die Voraussetzung dafür, Rechenschaft von sich selbst ablegen und mit diesem Mittel Verantwortung für die eigenen Handlungen übernehmen zu können. Natürlich kann man auch einfach nicken oder mittels einer anderen expressiven Geste eingestehen, dass man sehr wohl der Urheber der fraglichen Tat ist. Das Nicken fungiert dann als expressive Voraussetzung des Eingeständnisses. Eine vergleichbare expressive Kraft ist am Werk, wenn man die Frage »Haben Sie irgend etwas zu Ihrer Rechtfertigung vorzubringen?« mit Schweigen beantwortet. In beiden Fällen jedoch ist die Geste des Eingeständnisses nur sinnvoll vor dem Hintergrund eines implizierten Handlungsverlaufs: »Ja, ich habe tatsächlich in der von Ihnen angesprochenen Ereignisfolge die Rolle des kausalen Verursachers gespielt.«
Nietzsches Position wird der Anredeszene, in der nach der Verantwortung gefragt und diese dann übernommen oder ver22weigert wird, nicht ganz gerecht. Er geht von einer Frage aus, die innerhalb eines rechtlichen Rahmens gestellt wird, in dem eine der ursprünglichen Verletzung äquivalente Strafe droht. Aber nicht alle Formen der Anrede verdanken sich diesem System und diesem Grund. Das Strafsystem, das Nietzsche beschreibt, ist auf der Idee der Rache aufgebaut, auch wenn es für seine »Gerechtigkeit« gepriesen wird. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass das Leben ein bestimmtes Maß an Leid und Verletzungen mit sich bringt, dem sich nicht mit Rückgriff auf die kausale Dimension des Subjekts Rechnung tragen lässt. Tatsächlich fällt für Nietzsche die Aggression schlechterdings mit dem Leben zusammen, und wollten wir die Aggression ächten, liefe das in Wirklichkeit auf den Versuch hinaus, das Leben selbst zu ächten. Er schreibt, dass »das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter«. Er fährt fort, dass »Rechtszustände immer nur […] theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist«, sein dürfen. Für Nietzsche wäre der Versuch, mit rechtlichen Mitteln allen Kampf überhaupt abzuschaffen, »ein Attentat auf die Zukunft des Menschen«.[13]
Nietzsche geht es nicht einfach nur um die Vormachtstellung einer Moral und einer Rechtsordnung, gegen die er opponiert, sondern um die Zwangserschaffung des ›Menschen‹ im Gegensatz zum Leben selbst. Seinem Verständnis vom Leben liegt die Annahme zugrunde, dass Aggression ursprünglicher ist als Großmut und das Streben nach Gerechtigkeit einer Ethik der Vergeltung entspringt. Was er dabei jedoch nicht genügend berücksichtigt, ist die Gesprächsszene, in der man gefragt wird, was man getan hat, oder in der man sich gegenüber jemandem zu erklären versucht, der darauf wartet zu erfahren, was man getan hat und aus welchem Grund.
23Für Nietzsche wird das Selbst immer erst durch eine rückwirkende Zuschreibung zur ›Ursache‹ einer schädlichen Handlung – erst nachträglich wird der Täter mit der Tat verbunden. Zum kausalen Verursacher der Tat wird der Täter nur durch eine rückblickende Zuschreibung unter Anleitung einer moralischen Ontologie, die einem Rechtssystem entspringt, welches Verantwortlichkeit und strafbare Vergehen identifiziert, indem es ein in Frage kommendes Selbst als kausale Ursache von Leid ausmacht. Für Nietzsche aber übersteigt Leiden jegliche Wirkung, die von diesem oder jenem Selbst verursacht wird; und wenn es auch eindeutige Fälle gibt, in denen man seine Aggressionen an einem anderen auslässt und eine Verletzung oder Zerstörung verursacht, ist doch etwas an diesem Leiden zu ›rechtfertigen‹, insofern es ein Teil des Lebens ist, ein Teil der dem Leben innewohnenden ›Verführung‹ und ›Vitalität‹. Es gibt viele Gründe, mit dieser Konzeption nicht einverstanden zu sein, und einige meiner eigenen Einwände werde ich noch verdeutlichen.
Zunächst sollte man jedoch festhalten, dass Nietzsches Verständnis von Rechenschaft auf diese juridisch vermittelte und verspätete Zuschreibung beschränkt ist und er die sonstigen Umstände der Gesprächssituation, in der man Rechenschaft von sich selbst ablegen soll, nicht zu sehen scheint. Stattdessen konzentriert er sich auf eine ursprüngliche Aggression, die Teil eines jeden Menschen sei und letztlich deckungsgleich mit dem Leben selbst. Diese Wahrheit über das Leben geht in Nietzsches Augen verloren, sobald man die ursprüngliche Aggression im Rahmen eines Strafsystems verfolgt. Eine solche Rechtsinstitution zwingt einen ursprünglich aggressiven Menschen, seine Aggression nach ›innen‹ zu richten, eine innere Welt aus einem schlechten Gewissen zu erschaffen und die Aggression im Namen der Moral an sich selbst abzureagieren: »dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur 24Unsühnbarkeit«.[14] Die in Nietzsches Augen jedem Menschentier, ja dem Leben selbst eingeborene Aggression wird gegen den Willen gerichtet und gewinnt damit ein zweites Leben, sie implodiert und erzeugt ein Gewissen und mit ihm eine Reflexivität, deren Muster das Hadern mit sich selbst ist. Diese Reflexivität ist die Sturzgeburt des Subjekts, sofern man hierbei an ein reflexives Wesen denkt, eines, das sich selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens machen kann und macht.