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Zu Beginn des dritten Jahrtausends ist die Situation der Demokratie paradox: Einerseits sind mehr Staaten denn jemals zuvor demokratisch verfaßt, andererseits nehmen die Krisensymptome in den Staaten, die einstmals so etwas wie eine demokratische Avantgarde bildeten, zu: Der Politik scheint die Kontrolle über Märkte und Unternehmen zu entgleiten, die Wahlbeteiligung sinkt, Wahlkämpfe geraten zu schalen Marketingkampagnen. Colin Crouch hat all diese Trends in Postdemokratie (es 2540) präzise auf den Punkt gebracht.

In diesem Band setzen sich nun acht herausragende politische Denkerinnen und Denker mit dem Zustand und den Perspektiven der am wenigsten schlechten aller Regierungsformen (Winston Churchill) auseinander, die tageszeitung sprach von einem »Who’s who der internationalen linken Theorie«.

Demokratie?
Eine Debatte

 

Giorgio Agamben, Alain Badiou,
Daniel Bensaïd, Wendy Brown,
Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière,
Kristin Ross, Slavoj Žižek

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

Die französische Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel Démocratie, dans quel état? bei La fabrique éditions (Paris 2009).

Da der darin enthaltene Essay Slavoj Žižeks sich mit dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Auf verlorenem Posten (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009) überschneidet, hat der Autor für diesen Band einen neuen Text verfaßt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© La fabrique éditions 2009

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73645-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

 

Giorgio Agamben: Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie

Alain Badiou: Das demokratische Wahrzeichen

Daniel Bensaïd: Der permanente Skandal

Wendy Brown: Wir sind jetzt alle Demokraten …

Jean-Luc Nancy: Begrenzte und unendliche Demokratie

Demokratien gegen die Demokratie. Jacques Rancière im Gespräch mit Eric Hazan

Kristin Ross: Demokratie zu verkaufen

Slavoj Žižek: Das »unendliche Urteil« der Demokratie

 

Über die Autorinnen und Autoren

Vorwort

In den zwanziger Jahren veröffentlichte die Zeitschrift La Révolution surréaliste in mehreren Ausgaben Umfragen zu Themen, deren Gemeinsamkeit in der scheinbaren Unmöglichkeit bestand, noch irgend etwas Neues dazu sagen zu können: die Liebe, den Selbstmord, den Pakt mit dem Teufel. Dennoch beleuchten die Antworten von Artaud, Crevel, Naville, Ernst und Buñuel diese Gegenstände aus verschiedenen Blickwinkeln, die uns noch heute, fast ein Jahrhundert später, verblüffen. Dieses Modell stand bei der Konzeption des vorliegenden Bandes Pate. Er stellt folgende Frage:

»In bezug auf den Begriff der ›Demokratie‹ scheint heutzutage ein breiter Konsens zu herrschen. Sicher wird teilweise heftig über die Bedeutung oder die Bedeutungen dieses Wortes diskutiert, dennoch ist es in der ›Welt‹, in der wir leben, gemeinhin positiv besetzt. Daher unsere Frage: Hat es für Sie einen Sinn, sich als ›Demokraten‹ zu bezeichnen? Falls nicht, warum? Und falls ja, gemäß welchem Verständnis des Begriffs?«

Einige der befragten Philosophen sind Autoren oder Freunde des Hauses. Andere kennen wir nur durch ihre Arbeiten, die Grund zu der Annahme geben, daß sie einen Demokratie-Begriff haben, der mit dem üblichen Diskurs nicht konform geht. Ihre Antworten fallen unterschiedlich aus und widersprechen sich teilweise, was vorherzusehen und sogar erwünscht war. In diesem Buch wird man folglich weder eine Definition der Demokratie noch eine Gebrauchsanweisung und am allerwenigsten ein Verdikt dafür oder dagegen finden. Es läßt lediglich die Schlußfolgerung zu, daß man diesen Begriff nicht aufgeben darf, da er noch immer den Angelpunkt bildet, um den sich in puncto Politik die entscheidenden Kontroversen drehen.

 

Aus dem Französischen von Tilman Vogt

Giorgio Agamben
Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie

Jeder Diskurs über den Begriff der »Demokratie« wird heute durch eine ihm eingeschriebene Mehrdeutigkeit verfälscht, die jeden, der dieses Wort gebraucht, dazu verdammt, mißverstanden zu werden. Wovon spricht man, wenn man von Demokratie spricht? Welcher Logik gehorcht dieser Begriff überhaupt? Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung wird deutlich, daß diejenigen, die in der Gegenwart über Demokratie reden, diese einmal als eine Verfassung des Gemeinwesens, ein anderes Mal als eine Regierungstechnik verstehen. Der Terminus verweist also zugleich auf die Konzeption des öffentlichen Rechtes und auf die der Verwaltungspraktik: Er beschreibt ebenso eine Legitimationsform der Macht wie auch die Art und Weise ihrer Ausübung. Da es innerhalb des heutigen politischen Diskurses offensichtlich für jedermann evident ist, daß sich dieser Begriff überwiegend auf eine Regierungstechnik bezieht – die per se nichts auffallend Vertrauenerweckendes an sich hat –, versteht man das Unbehagen derer, die ihn in gutem Glauben weiterhin in ersterem Sinne verwenden.

Daß die enge Verschränktheit der beiden Konzepte – juridisch-politisch das eine, verwaltungsökonomisch das andere – weit zurückreicht und dementsprechend schwer zu entwirren ist, wird an dem folgenden Beispiel deutlich. Erscheint bei den griechischen Klassikern des politischen Denkens das Wort politeia (häufig im Rahmen einer Diskussion über die verschiedenen Formen der politeia: Monarchie, Oligarchie, Demokratie, sowie ihre parekbaseis, d.h. ihre Entartungen), greifen die Übersetzer ebensooft zu dem Wort »Verfassung« wie zu dem Wort »Regierung«. So wurde die Passage aus Der Staat der Athener (Kap. XXVII), in der Aristoteles die »Demagogie« des Perikles beschreibt – »dēmotikōteran synebē genesthai tēn politeian« –, in der englischen Übersetzung folgendermaßen wiedergegeben: »[T]he constitution became still more democratic«. Direkt im Anschluß fügt Aristoteles hinzu, daß das Volk »apasan tēn politeian mallon agein eis hautous«, was derselbe Übersetzer mit »brought all the government more into their hands« wiedergibt. (Offenkundig wäre die eigentlich durch die Kohärenz gebotene Übertragung »brought all the constitution« problematisch gewesen.)

Woher kommt nun diese veritable »Amphibolie«, diese Doppeldeutigkeit jenes politischen Grundbegriffes, aufgrund welcher er mal für die Verfassung, mal für die Regierung steht? Es genügt hier, aus der Geschichte des abendländischen politischen Denkens zwei Textstellen heranzuziehen, in denen diese Ambiguität besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Die erste findet sich in der Politeia (1279a 25ff.), wo Aristoteles sich anschickt, die verschiedenen Formen der Verfassung (politeiai) aufzuzählen und zu erörtern: »Da nun politeia und politeuma ein und dasselbe bedeuten und die politeuma die oberste Gewalt [kyrion] der Stadtstaaten ist, muß diese Gewalt entweder einem oder wenigen oder der Mehrzahl des Volkes eignen.« Gängige Übersetzungen lauten hier: »Da Verfassung und Regierung dasselbe bedeuten, die Regierung das Herrschende in den Staaten ist«. Wenngleich eine getreuere Übersetzung die Nähe der beiden Begriffe politeia (die politische Handlung) und politeuma (ihr politisches Resultat) hätte bewahren müssen, wird deutlich, daß Aristoteles’ Versuch, die Amphibolie mittels der von ihm kyrion getauften Figur aufzuheben, das zentrale Problem dieses Abschnittes darstellt. In eine moderne Terminologie übertragen – wobei die Konvergenzen etwas strapaziert werden –, verbinden sich die verfassungsgebende Gewalt (politeia) und die verfaßte Gewalt (politeuma) in Form eines Souveräns (kyrion), der die beiden Ebenen der Politik zusammenzuhalten scheint. Weshalb aber ist das Politische gespalten, und weshalb drückt das kyrion, gerade im Zusammenfügen, diese Spaltung aus?

Die zweite Passage stammt aus dem Gesellschaftsvertrag. Schon Foucault hatte 1977/1978 in seiner Vorlesung »Sicherheit, Territorium, Bevölkerung« gezeigt, daß sich Rousseau genau dem Problem einer Versöhnung der verfassungsjuridischen Terminologie (»Vertrag«, »Gemeinwille«, »Souveränität«) mit der »Kunst des Regierens« widmete. Für unsere Fragestellung ist jedoch der Komplex der Unterscheidung und Verknüpfung von Souveränität und Regierung, der zu den Grundlagen des politischen Denkens von Rousseau gehört, entscheidend. »Ich bitte meine Leser«, schreibt er in seiner »Abhandlung über die Politische Ökonomie«, »sehr genau zwischen der Politischen Ökonomie, von der ich spreche und die ich Regierung nenne, und der höchsten Autorität, die ich Souveränität nenne, zu unterscheiden. Der Unterschied besteht darin, daß die eine die Legislative innehat […], während die andere nur die Vollstreckungsgewalt innehat.« Im Gesellschaftsvertrag wird diese Unterscheidung in Form einer Koppelung von Gemeinwille und Legislative auf der einen und von Regierung und Exekutive auf der anderen Seite bestätigt. So geht es Rousseau genau darum, beide Elemente gleichzeitig zu unterscheiden und zu verknüpfen, weshalb er sogar noch im Zuge der Feststellung ihrer Verschiedenheit nachdrücklich verneinen muß, daß es sich um eine Spaltung des Souveräns handelt. Wie bei Aristoteles ist die Souveränität, das kyrion, ein Begriff zur Unterscheidung und gleichzeitig das, was die Verfassung und die Regierung in einem unauflösbaren Knoten miteinander verbindet.

Wenn wir heute Zeugen einer überwältigenden Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine sukzessive entleerte Volkssouveränität werden, dann möglicherweise deshalb, weil die westlichen Demokratien jetzt den Preis für ein philosophisches Erbe bezahlen, das sie unbesehen angetreten haben. Das Mißverständnis, die Regierung lediglich als Exekutive zu begreifen, gehört zu den folgenreichsten Fehlern in der Geschichte der westlichen Politik. Er führte zu einer politischen Reflexion der Moderne, die sich durch leere Abstraktionen wie das Gesetz, den Gemeinwillen und die Volkssouveränität irreleiten läßt und darüber das in jeglicher Hinsicht entscheidende Problem der Regierung und ihrer Verbindung mit dem Souverän aus den Augen verliert. In einem meiner letzten Bücher1 habe ich zu zeigen versucht, daß das zentrale Rätsel der Politik nicht in der Souveränität, sondern in der Regierung, nicht in Gott, sondern im Engel, nicht im König, sondern im Minister, nicht im Gesetz, sondern in der Polizei besteht – oder präziser, in der doppelköpfigen gouvernementalen Maschine, die sie konstituieren und am Laufen halten.

Das westliche politische System ist das Ergebnis einer Verschränkung zweier heterogener Elemente, die sich gegenseitig legitimieren und stützen: eine politisch-juridische und eine ökonomisch-gouvernementale Rationalität, eine »Verfassungsform« und eine »Regierungsform«. Warum bleibt die politeia in dieser Zweideutigkeit befangen? Was verschafft dem Souverän (dem kyrion) die Macht, ihre rechtmäßige Einheit zu sichern und zu garantieren? Handelt es sich dabei nicht vielleicht um eine Fiktion, die darauf abzielt, die Tatsache zu verschleiern, daß das Zentrum der Maschine leer ist und daß zwischen den beiden Elementen und ihren Rationalitäten keinerlei Vermittlung möglich ist? Und geht es nicht genau darum, in ihrer Unvermittelbarkeit jene Unregierbarkeit zutage zu fördern, die den Ursprung und Fluchtpunkt aller Politik markiert?

Solange das Denken sich nicht dazu entschließen kann, es mit diesem Knoten und seiner Amphibolie aufzunehmen, ist es wahrscheinlich, daß jede Diskussion über Demokratie – als Verfassungsform wie als Regierungstechnik – wieder zum Geschwätz zu verkommen droht.

 

Aus dem Französischen von Tilman Vogt


1

  

Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. Homo Sacer II.2, Berlin: Suhrkamp 2010.

Alain Badiou
Das demokratische Wahrzeichen1

All dem zum Trotz, was Tag für Tag das Ansehen der Demokratie beschädigt, bleibt das Wort »Demokratie« doch zweifellos das Wahrzeichen der gegenwärtigen politischen Gesellschaft. Ein Wahrzeichen ist das Unantastbare eines Symbolsystems. Das heißt, Sie können über das politische System sagen, was Sie wollen, Sie können ihm gegenüber eine »kritische« Haltung von beispielloser Schärfe einnehmen und etwa »den Terror der Ökonomie« verdammen – man wird es Ihnen nicht übelnehmen, solange Sie es nur im Namen der Demokratie tun (nach dem Muster: »Wie kann eine Gesellschaft, die vorgibt, demokratisch zu sein, dieses oder jenes tun?«). Denn letztlich haben Sie versucht, die Gesellschaft im Namen ihres Wahrzeichens und damit in ihrem eigenen Namen zu verurteilen. Sie haben sich nicht außerhalb ihrer gestellt, sind, wie man so schön sagt, kein Schurke geworden, sondern Staatsbürger geblieben, einer, den man auf seinem demokratischen Posten weiß und den man, keine Frage, bei den nächsten Wahlen sehen wird.

Daher behaupte ich: Um überhaupt an das Reale unserer Gesellschaft heranzukommen, muß man sich – gleichsam als apriorisches Manöver – von ihrem Wahrzeichen verabschieden. Man wird der Welt, in der wir leben, nur dann gerecht, wenn man das Wort »Demokratie« einmal beiseite läßt und das Risiko eingeht, kein Demokrat zu sein und damit tatsächlich von »aller Welt« mißbilligt zu werden. Denn »alle Welt« ist – bei uns – ohne jenes Wahrzeichen nicht zu denken: »Alle Welt« ist demokratisch. Man könnte dies das Axiom des Wahrzeichens nennen.

Für uns geht es jedoch um die Welt, nicht um »alle Welt«. Gerade die Welt, wie sie dem Anschein nach existiert, ist nicht die Welt von »aller Welt«. Die Demokraten, Menschen des Wahrzeichens, Menschen des Westens, gehören einer besseren Welt an, während die anderen von einer anderen Welt sind, die in ihrer Andersheit keine Welt im eigentlichen Sinne ist: Es handelt sich, genau besehen, um eine Zone für Kriege, Elend, Mauern und Chimären. In dieser Art »Welt« oder Zone verbringt man seine Zeit damit, seine Siebensachen zu packen, um dem Grauen zu entfliehen, um wegzukommen. Und wohin? Zu den Demokraten natürlich, zu denen, die die Weltherrschaft beanspruchen und Leute brauchen, die für sie arbeiten. Hier machen diese anderen nun die Erfahrung, daß die Demokraten, die es sich unter ihrem Wahrzeichen bequem gemacht haben, nicht wirklich etwas von ihnen wissen wollen, ja daß die Demokraten sie nicht mögen. Im Grunde genommen handelt es sich hier um politische Endogamie: Demokraten mögen nur Demokraten. Was die anderen anbelangt, jene aus den Hunger- und Todeszonen, da geht es vor allem um Papiere, Grenzen, Gefangenenlager, Polizeiüberwachung, die Ablehnung von Familienzusammenführung … Man soll »integriert« werden. In was? In die Demokratie natürlich. Um aber aufgenommen, ja eines fernen Tages vielleicht sogar anerkannt zu werden, muß man sich erst einmal bei sich zu Hause zum Demokraten ausbilden – viele Stunden lang, in harter Arbeit, eben bevor man sich die Hoffnung gestatten darf, in die wahre Welt zu dürfen. Zwischen Gewehrsalven und den Landungen humanitärer Fallschirmjäger, zwischen Hungersnot und Epidemie studiere man den Leitfaden für Integrationswillige, das Handbuch des kleinen Demokraten! Eine furchtbare Prüfung steht an! Ja, von der falschen in die »echte« Welt führt eine schmale Gasse – eine Sackgasse. Demokratie? Gewiß, aber nur für Demokraten, nicht wahr? Globale Globalisierung? Sicher, aber nur, wenn die nicht integrierte Welt den Beweis erbringt, daß sie es verdient hat, integriert zu werden.

Kurzum, die »Welt« der Demokraten ist keineswegs die Welt von »aller Welt«. Das aber bedeutet, daß die Demokratie – verstanden als Wahrzeichen und Wächterin der Mauern, innerhalb deren eine kleine Welt ihren Spaß hat und zu leben glaubt – eine konservative Oligarchie versammelt, die – oft mit den Mitteln des Krieges – nur ein Amt versieht: im Namen der »Welt«, den sie sich widerrechtlich angeeignet hat, das aufrechtzuerhalten, was letztlich nur das Territorium ihres animalischen Lebens ist. Hat man aber erst einmal das Wahrzeichen außer Kraft gesetzt, um wissenschaftlich zu untersuchen, was das eigentlich für ein Territorium ist – jenes, auf dem die Demokraten sich tummeln und vermehren –, dann kommt man zu der entscheidenden Frage: Welche Bedingungen muß ein Territorium erfüllen, um sich irreführenderweise als eine Welt im Zeichen der Demokratie präsentieren zu können? Oder anders gefragt: Welcher objektive Raum und welche Sozialordnung machen die Demokratie zur Demokratie?

Lesen wir also noch einmal die Stelle, die in der Philosophie als erste Herabsetzung des demokratischen Wahrzeichens gilt, sie findet sich im achten Buch von Der Staat. Für Platon ist »Demokratie« eine Herrschaftsform, ein bestimmter Verfassungstypus. Viel später wird auch Lenin sagen, die Demokratie sei nur eine Staatsform. Beiden kommt es jedoch darauf an, daß weniger das Objektive dieser Form gedacht wird als vielmehr ihr Einfluß auf das Subjekt. Das Denken muß von der Sphäre des Rechts zum Charakter des Wahrzeichens übergehen beziehungsweise von der Demokratie zum Demokraten: Die zerstörerische Kraft des demokratischen Wahrzeichens konzentriert sich in dem von ihm geprägten Subjekt-Typus, dessen wesentliche Eigenschaft – um es mit einem Wort zu sagen – der Egoismus, das Begehren des kleinen Genusses ist.

In diesem Sinne Platoniker – das sei hier nebenbei erwähnt – war Lin Biao, als er auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution meinte, das Wesen des falschen Kommunismus (jener, der sich in Rußland durchgesetzt hatte) sei die Ichsucht, und auch den reaktionären »Demokraten« beherrsche schlicht die Angst vor dem Tod.

Natürlich hat Platons Ansatz etwas Reaktives. Denn seiner Überzeugung nach wird die Demokratie die griechische Polis nicht retten. Und in der Tat, sie hat sie nicht gerettet. Soll das nun heißen, daß die Demokratie unseren großartigen Westen genausowenig retten wird? Ja, das soll es heißen, mit dem Zusatz, daß wir also wieder beim antiken Dilemma angekommen sind: entweder Kommunismus (auf neu zu erfindenden Wegen) oder die Barbarei der Faschismen (die sich bereits neu erfunden haben). Die Griechen haben erst die Makedonier, später die Römer erlebt – in jedem Fall Knechtschaft statt Emanzipation.

Platon, als alter Aristokrat, wendet sich Gestalten aus einer philosophisch gebildeten Militäraristokratie zu, von denen er glaubt, daß sie existiert haben, die er aber in Wirklichkeit selbst erfindet. Seine aristokratische Reaktion begründet einen politischen Mythos. Varianten einer solchen Reaktion mit nostalgischem Anstrich kennen wir auch aus unserer Zeit. Am auffälligsten tut sich heute die republikanische Idolatrie hervor, zumal in unserem intellektuellen Kleinbürgertum, wo die bloße Anrufung »unserer republikanischen Werte« allzeit Beifall findet. Nur: Auf welche »Republik« beruft man sich eigentlich bei diesen Beschwörungen? Auf jene, die aus dem Massaker der Pariser Kommune hervorging? Jene, die durch Einverleibung von Kolonien stark wurde? Jene des Streikbrechers Clemenceau? Jene, die es sich nicht nehmen ließ, die Schlächterei von 1914-1918 zu veranstalten? Jene, die alle Macht Pétain gab? Nein, diese »Republik« mit all ihren Werten und Vorzügen ist eine Erfindung, die einer bestimmten Sache dient: der Verteidigung ihres Wahrzeichens, das, wie alle wissen, immer blasser wird (ganz wie Platon mit seinen philosophischen Wächtern glaubte, die Fahne einer Aristokratie hochzuhalten, an der bereits die Motten nagten). Sie ist der Beweis, daß alle Sehnsucht die Sehnsucht nach etwas ist, das nie existiert hat.

Platons Kritik der Demokratie ist jedoch weit davon entfernt, nur reaktiv oder aristokratisch zu sein. Sie zielt sowohl auf das Wesen einer Wirklichkeit, die im Staat von der demokratischen Form geprägt ist, als auch auf das Subjekt, das von einer derart geprägten Wirklichkeit hervorgebracht wird – ein Subjekt, das Platon den »demokratischen Menschen« nennt.

Die beiden Thesen Platons lauten:

1.) Die demokratische Welt ist nicht wirklich eine Welt.

2.) Das demokratische Subjekt konstituiert sich ausschließlich im Sinne des Genusses.

Diese zwei Thesen sind meiner Ansicht nach wohlbegründet, und ich werde sie hier ein wenig entwickeln.

Inwiefern läßt die Demokratie allein das dem Genuß verschriebene Subjekt zu? Platon beschreibt zwei Formen des Verhältnisses zum Genuß, die von der falschen demokratischen Welt erzeugt werden. Die erste ist die dionysische Zügellosigkeit, die in der Jugend auftritt. Die zweite ist die Nichtunterscheidung zwischen den Genüssen, die das Alter kennzeichnet. Die Formung des demokratischen Subjekts durch das herrschende gesellschaftliche Leben beginnt im Grunde mit der Illusion, alles sei frei verfügbar: »Genuß ohne Grenzen«, sagt der Anarcho-Achtundsechziger. »Klamotten, Schuhe von Nike, dazu mein Hasch«, sagt der Pseudorebell aus der »Vorstadt«. Aber ein derart demokratisches Leben geht zu Ende, wenn dem Bewußtsein dämmert, daß alles und jeder gleich ist und daß in einer solchen Egalität nichts und niemand Wert hat – bis auf das Urmaß aller Werte: das Geld, sowie die Apparatur, die das Eigentum an Geld schützt: Polizei, Justiz, Gefängnisse. Von der verschwenderischen Gier, die sich mit Freiheit verwechselt, hin zum Geiz kleinlichsten Haushalts- und Sicherheitsdenkens – voilà, der Lauf der Zeit.

Doch was hat das mit der Welt zu tun? Alle Welt – darin stimme ich mit Platon überein – scheint nur durch Differenzen auf, die sich in ihr herstellen. Zumal durch jene, die nicht nur einen Unterschied zwischen Wahrheit und Meinung macht, sondern auch zwischen zwei verschiedenen Typen von Wahrheit (zum Beispiel der Kunst und der Wissenschaft oder der Liebe und der Politik). Wenn nun aber die Gleichheit aller Dinge postuliert wird, hat man zwar Oberflächen, Konstruktionen, Erscheinungen ohne Ende – aber eine Welt kann nicht zutage treten. Eben das ist der Gedanke Platons, wenn er erklärt, die Demokratie sei eine »anmutige und regierungslose und buntscheckige Verfassung, welche gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt« [558c]. Genau das freut eine Jugend, die nichts kennt als die Befriedigung ihrer Wünsche oder ihr Recht auf eine solche. Die institutionalisierte Gleichheit von Gleichem und Ungleichem ist in unseren Augen keine andere als jene, die im Prinzip des Geldes zum Ausdruck kommt: Als allgemeines Äquivalent versperrt sie jeglichen Zugang zu tatsächlichen Unterschieden, zum Heterogenen als solchem, für das die Unterscheidung zwischen einem Verfahren zur Wahrheitsgewinnung und Meinungsfreiheit paradigmatisch ist. Es ist diese abstrakte, dem Numerischen unterworfene Gleichheit, die die Entstehung einer konsistenten Welt verhindert und die die Herrschaft dessen durchsetzt, was Platon »Anarchie« nennt. Diese Anarchie ist nichts anderes als der Wert, der mechanisch Dingen zugeschrieben wird, die keinen Wert haben. Eine Welt aber, in der alles substituierbar ist, ist eine Welt ohne Eigenlogik und folglich keine Welt, sondern nur ein »anarchisches« Reich des Scheins.

Was den demokratischen Menschen definiert, ist die Anarchie, in deren Geist er aufgewachsen und deren Prinzip er verinnerlicht hat: das Prinzip der Austauschbarkeit von allem und jedem. So hat man eine freie Zirkulation der Wünsche, der Objekte, an die sich diese Wünsche heften, und der flüchtigen Genüsse, die jene Objekte verschaffen. In genau dieser Zirkulation konstituiert sich das Subjekt, das dann, wie gesagt, mit Erreichen eines bestimmten Alters im Namen des Primats der Zirkulation (der »Modernisierung«) eine gewisse Unbestimmtheit der Objekte akzeptiert. Es sieht nur noch das Symbol der Zirkulation: das Geld als solches. Doch einzig jenes ursprüngliche Verlangen, das der potentiellen Unendlichkeit der Vergnügungen nachjagt, kann die Zirkulation am Laufen halten. Während also die Weisheit über die Zirkulation bei den Alten liegt (die durchschaut haben, daß die Essenz aller Dinge die Nichtigkeit des Geldes ist), machen die Existenz der Zirkulation und die fortwährende Perpetuierung ihrer Betriebsamkeit es erforderlich, daß die Jugend zu einem privilegierten Akteur wird. Die Demokratie pfropft dem gierigen Halbwüchsigen einen geizigen Greis auf. Der Junge schmiert die Maschinerie, der Alte sahnt ab.

Platon sieht sehr klar, daß die falsche demokratische Welt letztlich dazu gezwungen ist, die Jugend zu verherrlichen, nicht ohne ihrer vorschnellen Begeisterung auch zu mißtrauen. Im Demokratischen liegt etwas wesensmäßig Juveniles, etwas, das mit einer universalen Infantilisierung zu tun hat. In einer solchen Pseudowelt, schreibt Platon, setzen »die Alten […] sich unter die Jugend und suchen es ihr gleichzutun an Fülle des Witzes und lustiger Einfälle, damit es nämlich nicht das Ansehen gewinne, als seien sie mürrisch oder herrschsüchtig« (563ab). Um die Dividenden seiner zynischen Skepsis zu kassieren, muß also auch noch der alte Demokrat den jugendlichen Draufgänger geben und jeden Tag noch ein bißchen mehr »Modernität«, »Wandel«, »Tempo« und »Dynamik« fordern. Vorbild ist hier der unverwüstliche Rockopa und Milliardär, der – faltig und fertig, wie man nur sein kann – immer weiter seine morschen Knochen verrenkt und ins Mikro röhrt.

Was wird aus dem menschlichen Zusammenleben, wenn es im Zeichen ewiger Jugend steht? Wenn die Bedeutung des Alters verlorengeht? Es gibt ohne Frage zwei Möglichkeiten. Die eine ist der Terrorismus, nämlich überall dort, wo das (kapitalistische) System der Geldzirkulation unterentwickelt ist und somit etwas anderes ungebremst hoch im Kurs steht: besinnungslose Jugendgewalt. Die revolutionäre Variante dieses kläglichen »Jugendkultes« zeitigte so entsetzliche Folgen wie die Roten Garden der Kulturrevolution oder die Roten Khmer. Seine entideologisierte Variante sind bewaffnete Jugendbanden, die, manipuliert von Warlords oder ausländischen Mächten, Angst und Schrecken in weiten Teilen Afrikas verbreiten. Irgendwo dort verlaufen die finsteren Grenzen eines Demokratismus der Halbwüchsigen, die von jedem Geldumlauf abgeschnitten sind, außer dem für mörderische Waffen, die man ihnen im Überfluß liefert. Wie aber sieht es bei uns aus? Wir sind aufgrund des Primats der Jugend gezwungen, uns dem Amüsement als sozialem Gesetz zu unterwerfen. »Have fun!« lautet die Maxime für alle, selbst für jene, die kaum noch mitkommen. Daher die grenzenlose Einfalt der Demokratien unserer Zeit.

Jedenfalls läßt uns Platon unsere Gesellschaft als ein Ineinander von drei Motiven verstehen: der Abwesenheit der Welt; einer von der Zirkulation beherrschten Subjektivität als Wirklichkeit des demokratischen Wahrzeichens; und des Spaß-Imperativs als universeller Adoleszenz. Platons These ist, daß eine Gesellschaft, die sich von diesen Motiven bestimmen läßt, notwendig der totalen Katastrophe entgegensteuert, da ihr die Fähigkeit abgeht, eine Disziplin der Zeit zu entwickeln.