ORDO
Band 63
ORDO
Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft
Band 63
Begründet von |
Herausgegeben von |
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Walter Eucken |
Hans Otto Lenel |
Josef Molsberger |
und |
Thomas Apolte |
Christian Müller |
Franz Böhm |
Norbert Berthold |
Peter Oberender |
Clemens Fuest |
Ingo Pies |
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Walter Hamm |
Razeen Sally |
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Wolfgang Kerber |
Alfred Schüller |
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Martin Leschke |
Viktor Vanberg |
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Ernst-Joachim Mestmäcker |
Christian Watrin |
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Wernhard Möschel |
Hans Willgerodt |
Schriftleitung
Professor Dr. Thomas Apolte
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Ökonomische Bildung
Scharnhorststraße 100, 48151 Münster
Professor Dr. Martin Leschke
Universität Bayreuth
Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre 5, insb. Institutionenökonomik
Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth
Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger
Ammertalstraße 5, 72108 Rottenburg
Professor Dr. Christian Müller
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Ökonomische Bildung
Scharnhorststraße 100, 48151 Münster
Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender
Universität Bayreuth
Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie
Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth
Professor Dr. Ingo Pies
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Lehrstuhl für Wirtschaftsethik
Große Steinstraße 73, 06108 Halle (Saale)
Professor Dr. Alfred Schüller
Feldbergstraße 57, 35043 Marburg
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Druck und Einband: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN978-3-8282-6021-4
ISSN 0048-2129
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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Vorwort
Der vorliegende 63. Band des ORDO-Jahrbuchs behandelt im Beitragsteil drei Schwerpunkte: Gedanken zur Entwicklung der Eurozone, Probleme der (sozialen) Marktwirtschaft sowie Aspekte der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. Daneben enthält der Band verschiedene Beiträge zu Problemfeldern der Marktwirtschaft. In der (neuen) Rubrik: „Vorträge zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ findet sich eine Auswahl von Reden zu ordnungsökonomischen Themen.
Jesús Huerta de Soto plädiert in seinem Beitrag für die Beibehaltung des Euro als Gemeinschaftswährung. Er stützt sich dabei auf Gedanken der Österreichischen Schule. In seinem Kommentar befasst sich Alfred Schüller mit grundlegenden Annahmen des Beitrags, und er fragt nach der Haltbarkeit der daraus gezogenen Schlussfolgerungen für einen Übergang vom Euro zum Goldstandard. Anschließend setzt sich Markus Kerber kritisch mit der Rolle der Europäischen Zentralbank auf den Kapitalmärkten auseinander. Er sieht die EZB eher als einen Wettbewerbsverfälscher denn als einen Krisenbewältiger. Albrecht Michler und Markus Penatzer kritisieren in ihrem Beitrag die Finanztransaktionssteuer als ein ungeeignetes Instrument zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Facettenreiche Einblicke in die marktwirtschaftliche Entwicklung Chinas (Chinese Miracle) geben Xingyuan Feng, Christer Ljungwall und Sujian Guo in ihrem englischsprachigen Beitrag, der von Erich Weede durch einen Kommentar ergänzt wird. Die Autoren argumentieren und diskutieren vorwiegend aus einer Hayekianischen Perspektive.
Herausforderungen für das ordoliberale Menschenbild diskutieren Manuel Wörsdörfer und Carsten Dethlefs. Sie kritisieren, dass in der Wirtschaftstheorie und -politik der Mensch zu einer rein statistischen Größe verkümmert, statt im Zentrum der Überlegungen zu stehen. Ulrich Witt setzt sich schließlich für eine Weiterentwicklung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft ein, um für zukünftige Herausforderungen (Wachstumsrückgang, Nachhaltigkeitsprobleme, Verteilungskämpfe) besser gewappnet zu sein. Hierzu werden konkrete Vorschläge für ein Steuer- und Sozialsystem unterbreitet.
Haben Wirtschaftswissenschaftler eine andere Auffassung als die übrigen Studierenden von den Regeln der Fairness bzw. den Ergebnissen des Marktgeschehens? Dieser Frage widmen sich Johannes Suttner und René Ruske. Die Basis hierfür ist eine von den Autoren an der Universität Münster durchgeführte Studie. Michael Pickhardt entwickelt Mancur Olsons Argument weiter, dass kleine Gruppen erfolgreicher bei der Bereitstellung von Kollektivgütern sind als große Gruppen. Es wird gezeigt, dass sich die Olson-These auch unter Verwendung der Ergebnisse von „Linear Public Goods Games“ stützen lässt.
Die Beiträge des Themenbereichs „Unternehmensverantwortung“ wurden intensiv auf einem ORDO-Symposium (30./31. Mai 2012 in der Lutherstadt Wittenberg) diskutiert, das von der Ludwig-Erhard-Stiftung unterstützt wurde. Vielen Dank dafür! Diese Rubrik beginnt mit einer Arbeit von Ludger Heidbrink zur Frage, inwiefern Unternehmen als politische Akteure fungieren können. Er unterscheidet hierbei zwischen Ordnungsverantwortung und Systemverantwortung. In seiner Replik zu dem Beitrag stellt Ingo Pies die Leistungsfähigkeit des ordo-ökonomischen Ansatzes heraus. Andreas Suchanek betont in seinen Überlegungen zur Unternehmensverantwortung einen bisher wenig beleuchteten Anreizmechanismus: die Vermeidung erkennbar relevanter Inkonsistenzen im Unternehmensverhalten. Dem klassischen Thema der Beschäftigungsverantwortung der Unternehmen widmet sich Bernd Noll. Der Bogen wird von der vorindustriellen Zeit bis heute gespannt. Im Blickpunkt stehen insbesondere die institutionellen Bedingungen, die Rahmenregeln des Wirtschaftens. Das gesellschaftliche Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum analysieren schließlich Dominik H. Enste und Michael Hüther. In dem theoretisch und empirisch angelegten Beitrag zeigen die Autoren, dass Unternehmen unter angemessenen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen trotz eigennützigen Handlungsspielräumen einen Vorteil darin sehen, sich in erheblichem Umfang für die Gesellschaft zu engagieren.
Mit zwei unterschiedlichen Themen endet der Beitragsteil: Erich Gawel und Wolfgang Brettschneider diskutieren in ihrem Beitrag die Implikationen der Forderung auf ein „Recht auf Wasser“. Aus einer institutionenökonomischen Perspektive wird klar herausgearbeitet: Nur wo die Refinanzierung von Wasserdienstleistungen gesichert ist und mit den knappen Ressourcen verschwendungsfrei umgegangen wird, kann sich in der Sache ein Recht auf Wasser gleichsam von selbst nachhaltig ergeben. Anschließend zeigen Florian Drevs und Tristan Nguyen auf Basis einer empirischen Studie, dass unter deutschen Versicherten bei den guten Risiken eine Art Vollkaskomentalität vorherrscht und damit ein „Flat-Rate-Bias“ bei der Wahl von Krankenversicherungstarifen. Diese Verzerrung ließe sich bei der Tarifgestaltung berücksichtigen.
Die Rubrik „Vorträge zur Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft“ beginnt mit einem Redebeitrag von Erich Weede zu dem Thema „Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik“ (Rede am 23. Juni 2012 auf den Hayek-Tagen in Bayreuth). Weede plädiert gegen einen voreiligen wissenschaftlichen und politischen Konsens in der Klimapolitik. Er argumentiert, dass durch einen stärkeren Wettbewerb in der Wissenschaft und der Klimapolitik adäquate Diagnosen und Therapievorschläge gefunden werden könnten. Lars Feld fordert in seinem Redebeitrag „Europa in der Welt von heute: Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion“ einen klaren Ordnungsrahmen für den Umgang mit Staatsschulden. Zur Stabilisierung des Euro sieht er den Schuldentilgungspakt des Sachverständigenrats und den Weg in eine (vorsichtige) Bankenunion als wichtige Instrumente. (Es handelt sich um den Text der Wilhelm-Röpke-Vorlesung, gehalten unter dem Titel „Dezentralität im Bundesstaat und im Staatenverbund: Wilhelm Röpke, Europa und der Föderalismus“ am 9. Februar 2012 am Wilhelm-Röpke-Institut in Erfurt). Ernst-Joachim Mestmäcker beschließt diese Rubrik des Jahrbuchs mit einem Beitrag „Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt. Ein ideengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht“ (Vortrag am 18. August 2011 im Rahmen der Jahrestagung der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt am Main). Die Ausführungen schließen mit der Hoffnung, dass der imperialistische Kapitalismus entgegen Marx auch im internationalen Kontext zivilisiert werden kann. Voraussetzung hierfür ist für Mestmäcker ein adäquates Recht, das die freiheitlichen (ökonomischen) Gedanken von Adam Smith wieder aufnimmt und wettbewerbliche Handlungsfreiheit und Verantwortlichkeit sichert.
Auch dieser ORDO-Band enthält wieder eine größere Zahl von Buchbesprechungen zu wirtschafts- und gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Den Autoren sei für die Besprechungen herzlich gedankt.
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Herausgeber, Schriftleitung und Verlag trauern um Professor Dr. Hans Willgerodt, emeritierter Ordinarius der Universität zu Köln sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Träger der Alexander-Rüstow-Plakette und Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln. Er verstarb am 26. Juni 2012.
Hans Willgerodt war dem Jahrbuch ORDO seit Jahrzehnten verbunden, und er hat dieses Jahrbuch mitgeprägt wie kaum ein anderer. Von 1968 an „diente“ er zunächst fünf Jahre in der Schriftleitung, 1973 wurde er in den Kreis der Herausgeber aufgenommen. Der Schriftleitung gehörte er 17 Jahre, bis 1984, an. Mitherausgeber von ORDO blieb er bis zu seinem Tode, und sein Rat war noch bis zuletzt der Schriftleitung willkommen.
Auch als Autor hat Hans Willgerodt ORDO beinahe seit den Anfängen mitgeprägt. Seit seiner ersten Buchbesprechung in Band 5 (1953) und seinem ersten Aufsatz in Band 7 (1955) spiegeln seine zahllosen Beiträge zu diesem Jahrbuch die großen Themen der wirtschaftspolitischen und ordnungstheoretischen Diskussion in Deutschland und Europa: so etwa in den fünfziger Jahren die Lohnpolitik, die dynamische Rente und die europäische Wirtschaftsordnung, in den sechziger Jahren die Krise des Weltwährungssystems und die Frage der Planification in der EWG, in den siebziger Jahren Vermögenspolitik und die ersten Anläufe zu einer Währungsunion in der EG, in den achtziger Jahren die Krise der europäischen Agrarpolitik und die Welthandelsordnung, in den neunziger Jahren Probleme der Wiedervereinigung und des Wettbewerbs und schließlich in den letzten Jahren die multiplen Krisen. Willgerodts ORDO-Beiträge haben über den Tag hinaus Bestand und lohnen das Wiederlesen. Geradezu erschreckend aktuell ist sein Fazit in dem Aufsatz „Voraussetzungen einer europäischen Währungsunion“ (ORDO 23, 1972, S. 67, 73, 79): „Wenn demnach die Einzelstaaten der EWG ihre Konjunktur- und Finanzpolitik nicht planmäßig aufeinander abstimmen, kommt bei starren internen Wechselkursen eine Art von faktischer Gemeinsamkeit der Konjunktur- und Geldwertentwicklung zustande, wobei der Einfluss der Länder mit lockerer Geldpolitik dominieren kann. Die ehemaligen Stabilitätsländer bringen in diesem Falle ein ‘Integrationsopfer’ durch inflatorische Aufweichung ihrer Währungen. […] Es ist kaum anzunehmen, dass die Stabilitätsländer sich durchsetzen können, zumal auch bei ihnen fast alle politischen Kräfte in Verbindung mit einflussreichen, aber kurzsichtigen Wirtschaftsinteressen auf lockere Geldpolitik zusteuern. […] Die Vorstellung, man könne auf dem Umwege über die Währungsintegration zur Wirtschaftsintegration gelangen und damit auch die politische Integration fördern, erweist sich als dilettantischer Irrtum.“
In dem Beitrag „60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik“ (ORDO 60, 2009, S. 3) hat Hans Willgerodt den Standpunkt dieses Jahrbuchs als eine „Position des aufrechten Stehens zwischen allen Stühlen“ charakterisiert. Das gilt auch für ihn selbst.
Die enorme Strahlkraft seiner Arbeiten in den Bereichen der Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik wird von Hans Jörg Hennecke und Andreas Freytag in zwei Beiträgen gewürdigt, die diesen Band eröffnen.
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Wir trauern auch um unseren Kollegen Michael Pickhardt, der am 2. Oktober 2012 verstarb. Er ist Autor eines Beitrags zum diesjährigen Jahrbuch, dessen Publikation er leider nicht mehr erleben konnte.
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Die Schriftleitung dankt Herrn Stefan Hähnel für hilfreiche redaktionelle Arbeiten sowie Herrn Gesundheitsökonom Andreas Götz und Frau Nadine Blätterlein für das Management des Rezensionsteils. Ganz besonderer Dank gilt vor allem auch den zahlreichen Gutachtern, die mit ihren Stellungnahmen wieder maßgeblich zu Verbesserungen der angenommenen Papiere beigetragen haben.
Die Schriftleitung
Inhalt
Professor Hans Willgerodt zum Gedächtnis
Hans Jörg Hennecke
Wertvolle Wissenschaft – Anmerkungen zu Hans Willgerodt, Werten und Wissen. Beiträge zur Politischen Ökonomie
Andreas Freytag
Was ist ein politischer Ökonom? – Zum Beitrag von Hans Willgerodt zur Theorie der Wirtschaftspolitik
Hauptteil
Jesús Huerta de Soto
Die Verteidigung des Euro: ein österreichischer Ansatz (Mit einer Kritik der Fehler der EZB und des Interventionismus aus Brüssel)
Alfred Schüller
Vom Euro zum Goldstandard? Eine Replik auf den Beitrag von Jesús Huerta de Soto
Markus C. Kerber
Spielmacher der Wettbewerbsverfälschung? Anmerkungen zur Rolle der EZB auf den Kapitalmärkten
Albrecht F. Michler und Markus Penatzer
Finanztransaktionssteuer: Zielsetzungen und potenzielle Auswirkungen
Xingyuan Feng, Christer Ljungwall und Sujian Guo
Re-Interpreting the “Chinese Miracle”: A Multi-Dimensional Framework
Erich Weede
Ergänzende Anmerkungen zum chinesischen Wunder
Manuel Wörsdörfer und Carsten Dethlefs
Homo oeconomicus oder Homo culturalis? – Aktuelle Herausforderungen für das ordoliberale Menschenbild
Ulrich Witt
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
René Ruske und Johannes Suttner
Wie (un-)fair sind Ökonomen? – Neue empirische Evidenz zur Marktbewertung und Rationalität
Michael Pickhardt
Pareto meets Olson – A Note on Pareto-optimality and Group Size in Linear Public Goods Games
Ludger Heidbrink
Unternehmen als politische Akteure. Eine Ortsbestimmung zwischen Ordnungsverantwortung und Systemverantwortung
Ingo Pies
Systemverantwortung versus Ordnungsverantwortung? – Eine ordonomische Replik auf den Beitrag von Ludger Heidbrink
Andreas Suchanek
Unternehmensverantwortung als Vermeidung relevanter Inkonsistenzen
Bernd Noll
Unternehmen und beschäftigungspolitische Verantwortung – eine historisch-genetische Annäherung
Dominik H. Enste und Michael Hüther
Bürgerschaftliches Engagement der Unternehmen im öffentlichen Raum
Erik Gawel und Wolfgang Bretschneider
Recht auf Wasser – eine institutionenökonomische Perspektive
Florian Drevs und Tristan Nguyen
Adverse Selektion light – Der Einfluss des Flat-Rate-Bias auf das Tarifwahlverhalten bei Krankenversicherungen
Vorträge zur Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft
Erich Weede
Wahrheit und Gewissheit; Klimaschutz und Politik
Lars P. Feld
Europa in der Welt von heute:
Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion
Ernst-Joachim Mestmäcker
Wettbewerbsfreiheit und Wohlfahrt – Ein ideengeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht
Buchbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren
[1]Professor Hans Willgerodt zum Gedächtnis
Wertvolle Wissenschaft – Anmerkungen zu Hans Willgerodt, Werten und Wissen. Beiträge zur Politischen Ökonomie
Hans Willgerodt gehört im besten Sinne des Wortes zum Urgestein dieses Jahrbuchs. Seit 1953, als er zum ersten Mal an dieser Stelle als Rezensent in Erscheinung trat, hat er ihm durch eine Fülle von Beiträgen und als langjähriger Mitherausgeber wie kein zweiter Autor seinen Stempel aufgeprägt und damit die Brücke von der Gründergeneration ordoliberalen Denkens bis in unsere Gegenwart hinein geschlagen. Seine Herkunft als Sohn eines preußischen Beamten, der tief in seiner niedersächsischen, genauer gesagt: in seiner welfisch-hannoverschen, Heimat verwurzelt war und in aufrechter Haltung den Nationalsozialismus überstanden hatte, prägt Willgerodt ebenso wie das geistige Erbe der mütterlichen Familie, in der über mehrere Generationen hinweg Doktoren und Pastoren stilbildend waren. Wie sein Onkel Wilhelm Röpke ist Willgerodt als Ökonom aus dieser Familientradition nur scheinbar ausgebrochen. Das Medizinstudium gab er nach erfolgreichem Physikum zwar zugunsten der Nationalökonomie auf, aber das Berufsethos nahm er beim Fakultätswechsel mit. Aus seiner Warte ist der gesunde menschliche Körper noch mehr als ein liberales Wirtschaftssystem „ein sich selbst steuerndes anpassungsfähiges System mit zahllosen Wechselwirkungen“ (S. 219). Eine solche Gesamtordnung verfügt im Normalzustand über Kontrollen und Selbstheilungskräfte. Ab und an gerät sie aber in Krisen, in denen therapeutische Maßnahmen durch jemanden geboten sind, dessen Sachkunde sich nicht in der Kenntnis aller Details erschöpft, sondern vor allem im Verständnis des Ordnungszusammenhangs besteht. Der Ökonom, der Wissen über diesen Ordnungszusammenhang anzubieten hat, der im konkreten Entscheidungsfall, welcher vom gesunden Normalzustand abweicht, Diagnosen zu erstellen weiß und der dem Politiker oder dem Beamten geeignete Therapiemaßnahmen empfehlen kann, befindet sich also durchaus in einer Rolle, die derjenigen eines praktischen Arztes vergleichbar ist. Beide horten kein zweckfreies Wissen im Elfenbeinturm, sondern stehen in der praktischen Verantwortung, ihr Wissen in aktuelle Entscheidungssituationen einzubringen. Beide sind dabei von dem Grundgedanken geleitet, die Selbstregulierungsfähigkeit der Ordnung, soweit es eben geht, wiederherzustellen und sich aller unnötigen oder gar schädlichen Interventionen zu enthalten. Ein Unterschied mag insofern bestehen, als der Arzt zumeist die Rollen des Diagnostikers und des Therapeuten in sich vereint, während der Ökonom zwar durchaus Therapievorschläge anbieten kann, aber immer wieder die Erfahrung macht, dass die für die Therapie verantwortlichen Politiker und Beamten die Annahme und Umsetzung seiner Vorschläge verweigern. Sie lassen sich allzu gerne von den erhofften kurzfristigen Effekten ihres Tuns leiten, im Sinne Claude-Frédéric Bastiats von dem, „was man sieht“, aber nicht von dem, „was man nicht sieht“, also von den langfristigen und oftmals unbeabsichtigten, aber unvermeidlichen Folgen ihres Tuns.
[4]Das ist für den Ökonomen bisweilen eine frustrierende Erfahrung, allerdings hat Willgerodt darüber nie resigniert oder sein Heil in Defaitismus gesucht. Auch wenn die Politik oft genug die „geistige Nahrungsaufnahme“ (S. 221) verweigert, setzt er darauf, dass Aufklärung über Tatsachen und Zusammenhänge grundsätzlich möglich ist, und hat sich deshalb stets eine beneidenswert kämpferische und hartnäckige Haltung bewahrt. Anders als viele Liberale und Konservative, die sich nach etlichen Enttäuschungen durch die Politik in eine Art innerer Emigration zurückziehen, über Idealwelten fernab der politischen Realität nachsinnen oder in bestenfalls unterhaltsamen Zynismus versinken, ist Willgerodt dezidiert der Auffassung, dass man den Staat nicht kampflos den anderen überlassen darf. Seine ausdrückliche Bewunderung gilt daher denjenigen Liberalen, die Reformen von Staat und Verwaltung nicht nur vom gepolsterten Katheder herab oder in elitären Magazinen gefordert haben, sondern konkrete politische Verantwortung wahrgenommen haben. Das Vorbild des eigenen Vaters steht ihm dabei wohl ebenso vor Augen wie die historischen Leistungen Wilhelm von Humboldts und des Freiherrn vom Stein für Preußen und die freiheitlichen Reformen eines Ludwig Erhard, eines Luigi Einaudi oder eines Jacques Rueff nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nun liegt ein Sammelband mit einundzwanzig Aufsätzen aus Willgerodts Feder vor, der die beeindruckende Bandbreite der Themen vor Augen führt, mit denen dieser sich in seiner rund sechs Jahrzehnte umspannenden Forschungs- und Lehrtätigkeit befasst hat. Die hier versammelten Texte, von denen einige ursprünglich in diesem Jahrbuch erschienen sind, geben in der Gesamtschau auch viel von der inneren Haltung und dem Selbstverständnis preis, mit dem er das Fach Wirtschaftspolitik in der Tradition Wilhelm Röpkes, Fritz Meyers und Alfred Müller-Armacks vertritt und als Gelehrtenpersönlichkeit eigenen Ranges maßgeblich prägt.
Eingestimmt wird der Leser nicht nur durch ein instruktives Vorwort von Joachim Starbatty und Rolf Hasse, sondern auch durch pointierte Vorbemerkungen von Willgerodt selbst, mit denen er heutige Leser auf die Aktualität und die Kernanliegen des jeweiligen Aufsatzes hinweist. Vielen der Aufsätze, deren frühester 1964 und deren jüngster 2007 erschienen sind, merkt man an ihren ideenhistorischen Ort leicht an – etwa dem Beitrag über „Demokratisierung der Wirtschaft und der Freiheit des einzelnen“, in dem sich wie in einem Brennglas vieles von dem wirren und naiven Zeitgeist spiegelt, mit dem um 1970 herum in der Bundesrepublik einer Expansion der kollektivistischen Entscheidungsfindung zulasten der individuellen Freiheit und Verantwortung das Wort geredet wurde. Andere Aufsätze wie derjenige über die preispolitische Interpretation der Währungs- und Wirtschaftsreform von 1948 oder über die Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitischen und als juristischen Begriff sind selbst wichtige Quellen für die Ideengeschichte der Sozialen Marktwirtschaft.
Jedem Leser werden je nach Geschmack und Motivation andere Beiträge ins Auge fallen, und an dieser Stelle lassen sich nur wenige Aspekte herausgreifen, um zu eigener Lektüre zu ermuntern. Die Beiträge, die als erster von zwei Teilen unter der Überschrift „Werte, Freiheit und Ordnung“ zusammengefasst sind, sind der Darstellung der Wirtschaftspolitik als einer praktisch orientierten Moralwissenschaft gewidmet. Die Wirtschaftswissenschaften bestehen für Willgerodt im Aufzeigen der Konsequenzen, die Wertentscheidungen für die persönliche Freiheit einerseits oder für die Bevormundung des Individuums durch kollektivierte Entscheidungen andererseits mit sich bringen. Sie [5]stellen daher für den Bereich der Wirtschaft das Wissen bereit, das notwendig ist, um die Folgen von Werturteilen abzuschätzen. Das „Wissen“ sollte dabei dem „Werten“ vorausgehen: „Mindestens müssen Tatsachen und Zusammenhänge soweit aufbereitet werden, dass der Moralist seine Wertungen in voller Kenntnis dessen vollzieht, worüber er urteilt“ (S. 29). Die Marktwirtschaft ist in diesem Lichte keineswegs eine amoralische Veranstaltung. Sie wirkt – so Willgerodts Tenor – sozial, weil private Wirtschaftstätigkeit positive externe Effekte hat und sie Wohlstand für alle weit besser ermöglicht als eine zentral gelenkte Wirtschaft. Wirtschaftliche Freiheit sei auch weit besser als andere Wirtschaftsordnungsprinzipien dazu geeignet, die etwa von der christlichen Sozialethik geforderte Würde der Arbeit zu gewährleisten. Und die Marktwirtschaft sei keineswegs diejenige Wirtschaftsordnung, welche die Menschen am ehesten dafür belohnt, sich an der moralischen Untergrenze zu bewegen. Unter der plausiblen Annahme, dass die Menschen moralisch unvollkommene Wesen sind, funktioniert die Marktwirtschaft besser als eine zentral gelenkte Wirtschaft oder als hybride Zwischenformen. Vor diesem Hintergrund sucht Willgerodt auch den streitbaren Dialog mit denjenigen Disziplinen wie der Theologie und der Philosophie, die sich zum Nachdenken über Moral besonders berufen fühlen. Dabei ist er darum bemüht, die Verbindungen zwischen Ordoliberalismus und christlicher Sozialethik zu stärken und sie zur gemeinsamen Arbeit an einer belastbaren Ordnungsethik einzuladen.
Seine Botschaft ist dabei unmissverständlich: „[W]er nicht Arzt ist, sollte keine Blinddarmoperationen vornehmen, und wer nicht nationalökonomische Kenntnisse erworben hat, sollte keine wirtschaftspolitischen Vorschläge machen“ (S. 39). Nicht nur gegen Moralisten, die eine Scheu vor wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen haben und ihre Urteile stattdessen aus Naivität oder mit dem Gestus der guten Gesinnung fällen, wendet sich Willgerodt. Auch Juristen, die sich mit ihren Definitionen über die Wirklichkeit hinwegzusetzen versuchen, konfrontiert Willgerodt mit der Existenz wirtschaftlicher Tatsachen und Zusammenhänge. Vor allem Ernst Forsthoff, der in den 1930er Jahren mit dem Begriff der „Daseinsvorsorge“ einen bis heute nachwirkenden Beitrag zum nationalsozialistischen Staatsverständnis leistete, kommt dabei – zu Recht, muss man sagen – nicht gut weg. Willgerodts Werk kann auch als Appell verstanden werden, den inneren Zusammenhang der Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften als „Staatswissenschaften“ nicht aufzugeben.
Aber auch für manche, die sich dem liberalen Lager zugehörig fühlen, hat Willgerodt unbequeme Botschaften. Für irrig erachtet er beispielsweise Versuche, wirtschaftswissenschaftliche Erklärungsansätze in einer Art expansivem Ökonomismus auf andere Lebensbereiche auszudehnen. Wenig hält er auch von einem Liberalismus, der in anarchistische Staatsverachtung umschlägt und notwendige und nützliche Staatsaufgaben leugnet. Wenig überzeugend ist es aus seiner Sicht auch, wenn die berechtigte Skepsis der Liberalen gegenüber der Verfügbarkeit und Zentralisierbarkeit von Wissen zu einer realitätsfremden und dogmatischen „Anmaßung von Unwissen“ (S. 415) gerät. Ideologisch bedingte Fehlsichtigkeiten sind Willgerodt in jedem Falle suspekt. Dazu passt auch, dass er das unter vielen seiner Fachkollegen verbreitete „Streben nach reinen Formen“ (S. 319) ablehnt. Bei aller Bedeutung, die er Regeln und Regelmäßigkeiten für das Funktionieren einer wirtschaftlichen Ordnung zumisst, denkt Willgerodt auch in der Kategorie der wirtschaftspolitischen „Ausnahme“: ungewöhnliche, an sich regelwidrige [6]Maßnahmen der Wirtschaftspolitik dürfen nicht zum Regelfall werden, aber in manchen krisenhaften Situationen können sie Teil der Therapie sein – allerdings immer mit dem Ziel, den regelhaften Normalzustand wiederherzustellen.
Beklemmend wird die Lektüre an solchen Stellen, wo sichtbar wird, wie verblüffend aktuell jahrzehntealte Warnungen Willgerodts noch immer oder schon wieder sind. Vor allem bei europapolitischen Fragen wird dies deutlich: In einem ohnehin bemerkenswerten Aufsatz, der August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und dessen Trias von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ gewidmet ist, setzt sich Willgerodt mit den deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts auseinander, die anfänglich für die deutsche Einigung plädiert hatten, um der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen, die dann aber als Nationalliberale der wilhelminischen Ära die nationale Einheit zum Selbstzweck erhoben und darüber die Idee der Freiheit aus dem Auge verloren. Willgerodts Hinweis, dass sich diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Debatte um die europäische Einigung in gewandelter Form wieder zeigt, hat viel für sich. Der freiheitsstiftende und freiheitssichernde Impuls der europäischen Integration ist heute in der Tat ziemlich verkümmert. Statt dessen dominiert die Doktrin einer Integration um jeden Preis, die im Falle politischer Opportunität – wie jedenfalls die jüngste Geschichte der europäischen Gemeinschaftswährung erweist – auch zulasten einer Ordnung von Freiheit und Verantwortung vorangetrieben wird. Von trauriger Aktualität sind angesichts der Staatsschulden- und Währungskrise in Europa auch die Beiträge, in denen sich Willgerodt mit der Politisierung von Währungen und mit dem Verteilen ungedeckter Rechte durch demokratische Wohlfahrtsstaaten auseinandersetzt. Was hier auf wenigen Seiten geboten wird, ist eine intellektuelle und moralische Abrechnung mit der verlockenden Ethik des Kettenbriefs, nach der zur Ermöglichung von Konsum in der Gegenwart eine immer weiter steigende explizite und implizite Staatsverschuldung aufgetürmt werden darf, weil spätere Generationen die Zeche dafür schon irgendwie – am elegantesten durch Geldentwertung – bezahlen werden.
Zugegeben, Willgerodts Aufsätze sind keine leichte und bequeme Lektüre und lassen sich nicht durch bloßes Querlesen oder rasches Überfliegen in ihrer Substanz erschließen. Sie verlangen dem Leser Sorgfalt und Aufmerksamkeit ab. Dieser muss sich auf die für Willgerodt charakteristische Präzision der Argumentation einlassen und wird so zum Mitdenken erzogen. Die strenge, nach allen Seiten schonungslose Gedankenführung ist in eine schnörkellose Sprache gekleidet, die durch ihre Prägnanz und Dichte an vielen Stellen geradezu aphoristische Qualität besitzt: Ein origineller Aufsatz, in dessen Mittelpunkt die Bedeutung von Verlust und Risiko für die Unternehmerfunktion steht, wird beispielsweise durch folgenden Satz anmoderiert: „Die Kenntnis darüber, welche Pilze giftig sind und welche essbar, ist wohl nicht zuletzt durch Vergiftungen erlangt worden“ (S. 281). Für die Lektüre des erwähnten Aufsatzes über Währungspolitik wird man als Leser gleich mit dem ersten Satz ohne Umschweife aufs richtige Gleis gesetzt: „Die Geschichte des Geldes ist nicht zuletzt eine Geschichte seines bewussten oder unbewussten Missbrauchs durch die Politik“ (S. 323). Sein moralisches Rüstzeug und all die existenziellen Grenzerfahrungen, die er selbst während seiner formativen Jahre erlebt hat, werden in diesen dürren Satz gefasst: „In der Familie meiner Eltern war man schon Gegner des Nationalsozialismus, als das noch gefährlich war“ (S. 215).
[7]In diesem letzten Satz steckt vielleicht auch der Schlüssel zu der Persönlichkeit, die hinter dem Wissenschaftler steht. Es versteht sich von selbst, dass Willgerodt für Scheinheilige und Moralapostel vom Schlage des ein paar Jahre jüngeren Günter Grass nichts übrig hat. Aber auch das „selbstmörderische […] Heldentum“ seiner berühmten Altersgenossen, der Geschwister Scholl, steht ihm fern. Willgerodt hat sich weder von den totalitären Ideologien korrumpieren lassen und sich erst nachträglich als moralischer Athlet inszeniert, noch sich ihnen um eines bloßen Zeichen willens hingeopfert. Ihn trieb vielmehr eine Verantwortungsethik an, die ihn nicht nur im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne zu einem der großen Vordenker und kritischen Wegbegleiter der Sozialen Marktwirtschaft werden ließ, sondern in einem weiteren Sinne zu einem jener dünn gesäten „Bundesrepublikaner“ – zu einem jener Wissenschaftler und Intellektuellen, die nach 1945 nicht gegen, sondern für diesen Staat und für dessen freiheitliche, antitotalitäre Grundausrichtung gestritten haben und ihn gegen Feinde und falsche Freunde aller Schattierungen und Moden über Jahrzehnte hinweg nach Kräften verteidigt haben. Auch von diesem wertvollen und vorbildhaften Stück bundesrepublikanischer Geistesgeschichte legt dieser Sammelband jenseits aller wirtschaftswissenschaftlichen Substanz Zeugnis ab.