Inhalt
Chris Vandoni
Impressum
Über den Autor
PROLOG
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EPILOG
Dank
Die Sphären-Trilogie
Chris Vandoni
Die Kolonie Tongalen
1. Teil der Sphären-Trilogie
Roman
Impressum
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Spiegelberg Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2012
2. Auflage 2015
ISBN 978-3-939043-65-2
© Spiegelberg Verlag, Schweiz 2015
Covergestaltung & Datenkonvertierung: Marktfotografen GmbH, www.marktfotografen.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung vom Spiegelberg Verlag reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Spiegelberg Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
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Sie finden uns im Internet unter www.spiegelberg-verlag.com
Über den Autor
Chris Vandoni stammt aus dem Tessin, lebt aber seit der Kindheit in der deutschen Schweiz und ist in der IT-Schulung tätig. Der langjährigen Freundschaft mit dem 2005 verstorbenen Perry-Rhodan-Autor Walter Ernsting (Clark Darlton) entsprang die Inspiration zum Schreiben. Erste unveröffentlichte Romane entstanden bereits in den 80er-Jahren.www.vandoni.ch
In Gedenken an Walter Ernsting,einem Visionär und Freund.
PROLOG
Die schwülwarme Luft im Raum ließ jeden Atemzug zu einer schweißtreibenden Qual werden. Zahlreiche Fliegen hingen lustlos an den Wänden und an den offenen Fensterscheiben. Der Deckenventilator tat seine Pflicht, ohne dabei größere Wirkung zu erzielen.
Michael O’Donovan legte seinen Füllfederhalter beiseite, wischte sich den Schweiß von der Stirn und erhob sich mühsam. Sein Sessel knarrte erleichtert, als ob er sich über die Befreiung von einer schweren Last freuen würde.
Während Michael sich an die Schreibtischkante stützte, drehte er sich um und sah aus dem Fenster. Das Sonnenlicht, das an die brüchige Fassade der gegenüberliegenden Häuser prallte, blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und nahm seine Lesebrille ab.
Die Aussicht erinnerte ihn an seine Jugendzeit im fernen Heimatland. In den letzten Jahrzehnten hatte sich hier nichts verändert. Die Technik war irgendwo außerhalb der Wüste von Nevada stehen geblieben. Es machte den Anschein, als wäre das Gebiet von Zivilisation und Fortschritt völlig vergessen worden. Doch das kümmerte die spärlichen Einwohner herzlich wenig.
Über der staubigen Straße vollführte die heiße Luft einen flimmernden Tanz. Der vom letzten Sturmwind umhergewehte Unrat sammelte sich im Rinnstein.
Michael griff nach seinem an der Fensterbank angelehnten Stock. In vorauseilenden Gedanken traf er sich gleich nebenan in der Bar, wo er sich jeden Abend mit seinen Freunden noch einen Whisky genehmigte. Eilig hatte er es nie, sich dort einzufinden. Er genoss die Zeit davor, in der er sich in bescheidener Weise darauf freuen konnte.
In Down Hill war Eile ein Fremdwort. Dafür war der winzige Ort, mitten in der Einöde, viel zu abgeschieden und zu unbedeutend. Farmer und alteingesessene Menschen mit Traditionen, die in weitem Umkreis um das Städtchen lebten, ließen sich höchst selten hier blicken. Für die wenigen, meist älteren Einwohner, war jeder Tag wie der andere.
Michael drehte sich um. Er hatte sich vorgenommen, vor dem Verlassen des Büros noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Schon den ganzen Tag hatte er versucht, daran zu denken, um es am Ende nicht zu vergessen. Bedächtig ging er zum Aktenschrank, schloss ihn auf und entnahm ihm eine digitale Datenkarte. Anschließend bewegte er sich zu einem zweiten Sessel neben dem Schreibtisch, auf dem sein Aktenkoffer geduldig wartete.
Er legte die Karte mit einer langsamen Bewegung zu den anderen Sachen, als ob er darauf achten müsste, dass nichts verloren ging. Er schloss den Deckel des Koffers, stützte sich und hob ihn auf.
Bevor er sich zur Tür drehte, blieb er einen Moment stehen und bedachte die Schreibtischoberfläche mit einem prüfenden Blick. Alles lag an seinem Platz. Ordnung war sein oberstes Gebot. Er hätte blind nach jedem Gegenstand greifen können, alles würde er auf Anhieb finden. Ähnlich eines Rituals hatte jedes Ding seit Jahren seinen angestammten Platz.
Michael O’Donovan wandte sich um und schlurfte dem Ausgang entgegen. Er war in seinen alten Tagen nicht mehr der Schnellste, konnte es sich jedoch leisten, sich Zeit zu nehmen. Der knarrende Fußboden gab seinen gewohnten Monolog von sich.
Als er die Tür erreichte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Obwohl sein Gehör nicht mehr zum allerbesten zählte, glaubte er, ein fremdes Geräusch vernommen zu haben.
Langsam drehte er den Knauf. Das Klicken des Türschlosses ließ ihn zusammenfahren. Vorsichtig zog er den Griff zu sich heran.
In der Folge ging alles sehr schnell. Während ihm die Tür entgegenknallte, zischten zwei Strahlenschüsse durch die Öffnung, die ihn mit voller Wucht in den Raum zurückschleuderten. Er fiel hart zu Boden. Unwillkürlich griff er sich an die Brust und betrachtete anschließend seine Hand. An seinen Fingern klebte Blut, sein Blut. Gleichzeitig spürte er den stechenden Schmerz in der Lunge.
Die Erkenntnis war grausam, aber niemand konnte sie ihm durch eine andere ersetzen. Keinen Whisky mehr mit seinen Freunden, keine Spaziergänge mehr mit seinem treuen Vierbeiner, keinen Sonnenuntergang mehr auf seiner gemütlichen Veranda.
Aus den Augenwinkeln sah er zwei Männer in sein Büro stürmen, die sich zuerst an seinem Schreibtisch und anschließend am Aktenschrank vergingen.
»Nichts«, sagte einer der beiden nach einer Weile mit rauer Stimme und stieß einen derben Fluch aus.
Michael hörte, wie Gegenstände zu Boden fielen, wie Papier zerknittert und Gegenstände umgestoßen wurden.
»Hier, der Aktenkoffer«, rief der andere aufgeregt. »Vielleicht ist sie da drin.«
Der Koffer wurde auf den Schreibtisch entleert und respektlos weggeworfen. Krachend fiel er von der Wand zu Boden.
»Da ist sie.«
Plötzlich war alles still. Die Einbrecher schienen ihren Fund zu kontrollieren und zu begutachten. Dann steckten sie ihn in ihre Tasche und stürmten mit polternden Schritten aus dem Raum.
Michael spürte einen weiteren Stich. Das Atmen bereitete ihm große Schwierigkeiten. Er wusste, dass die Begegnung mit dem Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Er fühlte den Schmerz kaum noch.
Seine letzten Gedanken rasten zurück in seine Jugendzeit, in seine Heimat nach Clonakilty an der irischen Südküste, wo sein Vater und er oft mit dem Fischerboot aufs Meer hinausgefahren waren. Obwohl er selbst nie viel für den Anglerberuf übrig gehabt hatte, bescherten ihm die Erinnerungen daran ein Quäntchen Trost auf seinem bitteren Weg.
Er spürte ein leichtes Bedauern, dem Handwerk seines Vaters nicht mehr Interesse entgegengebracht zu haben. Damals hatte er die meiste Zeit hinter Büchern verbracht. Seine Faszination von Recht und Gesetz zog ihn nach der Schule nach Dublin, um dort das Jurastudium zu absolvieren.
Nach dem Tod seiner Mutter wanderte sein Vater mit ihm nach Amerika aus. Er erwarb dort von seinem Bruder ein Stück Land, um eine neue Existenz zu gründen. Mit der neuen Heimat hatte sich sein Vater jedoch nie richtig anfreunden können. Und so starb er ein paar Jahre später.
Michael verkaufte die Farm und übernahm die Anwaltspraxis seines Onkels, der sich in der Zwischenzeit zur Ruhe gesetzt hatte.
Mit seinen neunundneunzig Jahren würde nun hier und jetzt seine Anwaltskarriere, die eigentlich gar nie eine gewesen war, zu Ende gehen. Er würde seiner geliebten Frau folgen, die den Weg in die Ewigkeit schon vor langer Zeit angetreten hatte, ohne ihm Nachkommen geschenkt zu haben.
Ein weiterer schmerzhafter Stich ließ ihn zusammenzucken und holte ihn aus seiner Rückblende. Sein Herz schlug nur noch schwach. Ein letztes Mal ließ er den mittlerweile getrübten Blick durch den Raum kreisen. Er konnte keine Einzelheiten mehr erkennen.
Dann senkte sich die Dunkelheit über ihn.
1.
Ernest Walton saß im Cockpit seines Raumgleiters Space Hopper und ärgerte sich über die lange Wartezeit, die ihm von der Raumhafenkontrolle von Geneva aufgebrummt worden war. Es war jedes Mal dasselbe, wenn er hierher kam. Obwohl Geneva mittlerweile der wichtigste Raumhafen Europas war, schaffte man hier immer noch keinen flüssigen Ablauf von Starts und Landungen. Wenn Ernest zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass es nie und nirgendwo anders gewesen war. In Cork, dem regionalen Raumhafen an der irischen Südküste, keine Stunde von seinem mittlerweile selten besuchten Wohnort entfernt, war es noch schlimmer. Nur dank gelegentlichen Sondergenehmigungen, vermittelt von seinem langjährigen Freund Rick Blattning, dem Inhaber eines der größten Technologiekonzerne und gleichzeitig Mitglied des Diplomatischen Rats der Erde, wurden ihm ab und zu schnelle und unbürokratische Starts erlaubt.
Beim Anblick der Erde aus dem Orbit wurden Ernests Erinnerungen an das düstere Bild, welches die Menschheit in den letzten Jahrhunderten ereilt hatte, jedes Mal von Neuem offenbart. Nach der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blütezeit gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in welcher der Kapitalismus geprägt war von Gier, Korruption, Neid und Missgunst, in der das Wirtschaftssystem den Höhepunkt an Ausbeutung erreichte, und das Drittweltländer mit einem perfiden Finanzsystem derart ausbluten ließ, dass diese sich nur noch mit Gewalt und Terror dagegen wehren konnten, stürzten auch die industriestarken Nationen in eine weltweite Krise. Der Drang nach immer mehr führte irgendwann zu einem Ende. Nach dem Motto Man nehme es von den Armen und gebe es den Reichen war irgendwann nichts mehr zu holen. Dies führte weltweit zu Flüchtlingsströmen, meist aus jenen Entwicklungsländern, die von Despoten und Diktatoren beherrscht wurden. Es entwickelten sich immer mehr Flüchtlingsdramen, bei denen Großteile der Asylsuchenden auf der Strecke blieben.
Damit begann die Zeit der großen Krisen. Verschiedene Faktoren, alle miteinander verflochten und sich gegenseitig beeinflussend, führten die Menschheit an den Rand des Abgrunds. Seuchen und Pandemien, meist hervorgerufen durch neuartige oder durch den Klimawandel mutierte Viren, führten zu Notständen in vielen Regionen der Erde, vorwiegend in jenen, die sonst schon durch eine hohe Bevölkerungsdichte gezeichnet waren. Durch die bereits schon seit einiger Zeit existierenden Völkerwanderungen verbreiteten sich die Viren und die Seuchen innerhalb kurzer Zeit auf der ganzen Erde. Es kam zu drastischen Ausgrenzungen von ganzen Völkergruppen, nachdem in den Jahrzehnten zuvor eine nicht ganz unproblematische multikulturelle Vermischung stattgefunden hatte. Nach dem Ausbruch der Seuchen, durch mangelnde sanitäre Versorgung vorwiegend in ärmeren Gebieten, stieg das konservativ-nationalistische Denken in vielen Ländern massiv an. Die Integration von Ausländern wurde in den ehemals wirtschaftsstarken Nationen massiv reduziert und begrenzt. Die bereits integrierten erlebten die wahre Hölle in Form von Diskriminierung und Verfolgung. Eine der instinktiven Eigenschaften des Menschen entfaltete sich zur vollsten Blüte: Für alles, was ihm widerfuhr, brauchte er einen Sündenbock, dem die Schuld für all sein Elend auferlegt werden konnte.
Diese dramatische Entwicklung erfolgte in einer Geschwindigkeit, die Regierungen und administrative Verwaltungen völlig überforderten. Immer häufiger kam es zu Aufständen und kriegerischen Übergriffen, ja sogar zu regelrechten Völkermorden. Und die Vereinten Nationen, ein Abklatsch dessen, was sie einmal darstellten, standen dem Ganzen hilflos gegenüber. Andere humanitäre Institutionen hatten sich entweder aufgelöst oder waren zerstritten, sodass ihr Wirkungspotenzial im Nichts verpuffte.
Als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, schlug einige Jahrzehnte später auch das Klima immer erbarmungsloser zu. Naturkatastrophen häuften und übertrafen sich in ihrer Intensität mehr und mehr. Zu lange hatte die Menschheit den Klimawandel nicht ernst genommen. Zu lange hatte man politisiert, intrigiert und sich darüber gestritten, ob der Mensch dafür verantwortlich war oder ob es sich nur um eine Laune der Natur handelte. Zu lange hatte man nur halbherzige Maßnahmen ergriffen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Und wenn, dann wurde nur etwas unternommen, wenn man daraus Profit schlagen konnte. Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, an dem der Vorgang nicht mehr oder nur zum Teil rückgängig gemacht werden konnte.
Die Menschheit, am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts ohnehin schon durch Seuchen, wirtschaftliche Instabilität, Terror und Kriege auf eine harte Probe gestellt und dezimiert, wurde nun gänzlich in ein neues Zeitalter gedrängt. Viele Inselstaaten verschwanden, große Küstenregionen bekamen ein völlig neues Aussehen. Die Menschheit, die vor Beginn der großen Krisen auf knapp zehn Milliarden angewachsen war, wurde innerhalb weniger Jahrzehnte auf ein Drittel reduziert. Und in vielen Fällen traf es nicht diejenigen, die für die Krisen verantwortlich waren.
Nach dem Zusammenbruch des Finanz- und Weltwirtschaftssystems stürzte auch die Industrie in eine große Krise. Viele Betriebe mussten schließen, technische Entwicklungen wurden eingestellt und die Fabrikation von alltäglichen Gütern auf ein Minimum beschränkt. Luxus verschwand gänzlich von der Bildfläche. Mehr und mehr wurde die Gesellschaft von einem harten Überlebenskampf geprägt. Die Kinder der neuen Menschheit wurden in eine Epoche geboren, in der man von den florierenden Zeiten nur noch in Büchern lesen konnte, ein Medium, das durch den technischen Fortschritt vor den Krisen schon fast nicht mehr existierte.
Während der technische Fortschritt, kurz vor den Krisen wegen der damals drohenden Überbevölkerung und Ressourcenknappheit, vor allem in der Raumfahrt große Anstrengungen erfahren hatte, sodass sich in fremden Sonnensystemen Kolonien bilden konnten, kam er in den Krisenjahren gänzlich zum Erliegen. Die Kolonisation von neuen Planeten geriet dabei in Vergessenheit. Zeitweise unterhielt man mit den bestehenden Kolonien keinen Kontakt mehr. Digitaltechnik und Virtualität wurden mehr und mehr zu einem Mythos. Es machte zeitweise sogar den Anschein, als würde sich die Menschheit in mittelalterliche Zustände zurückentwickeln.
In diesen schwierigen Zeiten konnten religiöse Institutionen und Sekten verschiedener Glaubensrichtungen expandieren und ihre Positionen massiv stärken. Die Menschheit suchte wieder vermehrt Halt im Glauben. Traditionelle kirchliche Werte gewannen an Bedeutung. Und die Prediger trugen das ihre zum Wandel bei. Vielerorts verkündeten sie in größter Polemik, der lockere Lebenswandel aus früheren Zeiten hätte das Teuflische heraufbeschworen und sei für die Krisen verantwortlich. Der größte Teil der Menschheit huldigte ihnen Respekt und besann sich wieder auf Sitte und Moral. Doch auch Glaubensstreitigkeiten und Intoleranz nahmen zu und erzeugten neue Konflikte und weitere Krisen. Wieder begann man sich gegenseitig zu bekämpfen.
Ein kleiner Teil von Menschen konnte sich mit religiösen Rechtfertigungen zu den Geschehnissen und entsprechenden Trostspenden nicht zufriedengeben und versuchte, die wahren Ursachen zu ergründen. Doch jene Minderheiten wurden wegen ihres Denkens und Handelns ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Mordanschläge, oft sogar von Sekten und religiösen Institutionen selbst in Auftrag gegeben, waren keine Seltenheit.
Zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts wurden neue technische Anstrengungen unternommen. Man erinnerte sich an die alten Errungenschaften und versuchte, sie neu zu beleben. Die digitale Nanotechnik, die vor den Krisenjahren noch in den Kinderschuhen steckte, konnte sich zur dominierenden Innovation entwickeln und fand in jedem noch so winzigen Gerät Einzug.
Man versuchte, zu den Kolonien wieder diplomatische Beziehungen aufzubauen und mit ihnen Handel zu treiben. So konnten diese einen neuen Zustrom von irdischen Einwanderern verzeichnen, was für sie nicht nur Vorteile brachte. Ohne Kontakt zur Erde während der Zeit der großen Krisen hatten sich hier neue Gesellschaftsformen und Kulturen entwickelt.
Ein kurzes Signal aus den Lautsprechern riss Ernest aus den Gedanken. Auf dem Display erschien die Landeerlaubnis zusammen mit der Bezeichnung des Gates und dem dazugehörigen Code, der automatisch ins Bordsystem übertragen wurde. Ernest brauchte nur noch die Bestätigungstaste zu drücken, worauf sich die Space Hopper automatisch in Bewegung setzte und die Landung einleitete.
»Na endlich! Wurde auch Zeit«, brummte er ärgerlich, lehnte sich zurück und beobachtete den Landevorgang.
2.
Nachdem das mehrere Jahrzehnte lang andauernde Terraforming abgeschlossen war, trafen vor dem Beginn der irdischen großen Krisen die ersten Siedler auf dem zweiten Planeten des TONGA-Systems ein. Sie landeten in der nördlichen Hemisphäre an der Westküste des einzigen Kontinents.
Ein mehrere Hundert Kilometer breiter Gürtel, der von einer Meeresströmung mit mildem Klima versorgt wurde, erstreckte sich die Küste entlang von Norden nach Süden, wo er in einen üppigen Urwald überging und jenseits des Äquators in einer Sandwüste endete, in der nur Hitze und Dürre herrschten. Südlich dieser Wüste existierte ein weiteres bewohnbares Gebiet, jedoch wesentlich kleiner als jenes im Norden.
Durch immerwährende gewaltige Stürme und Orkane war die Ostküste des Festlandes nicht bewohnbar. Zudem gab es im Innern des Kontinents ebenfalls nur Wüsten und Trockenheit.
Durch das Terraforming war es dem Planeten nicht möglich gewesen, in einem natürlichen Evolutionsprozess eigenes Leben hervorzubringen. Man hatte ihn zu schnell aus seinem Urzustand herausgeführt. Eine Fauna existierte daher nur im Anfangsstadium in Form von Insekten und Mikroorganismen, Letztere vorwiegend in Gewässern. Die Pflanzenwelt hingegen konnte sich in den gemäßigten Breitengraden schnell entwickeln und brachte, dank nahezu irdischen Verhältnissen bezüglich Klima und Luftzusammensetzung, mit einigen Ausnahmen ähnliche Gattungen hervor wie die Erde.
Die Kolonisten von TONGA-II stammten aus verschiedenen Ländern der Erde, setzten sich jedoch vorwiegend aus gesellschaftlichen Minderheiten, politisch Andersdenkenden oder ärmeren Schichten zusammen. Viele fühlten sich von Regierungen, Behörden, sozialen und kirchlichen Institutionen benachteiligt oder von Mitmenschen unterdrückt und verfolgt. Die Anzahl derer, die sogar abgeschoben worden waren, machte einen nicht unwesentlichen Anteil aus. Sie wussten denn auch einiges über die Machenschaften von Regierung und Behörden in ihren ehemaligen Heimatländern zu berichten.
Anhand dieser Berichte wurden Andersdenkende und Dissidenten als psychisch Kranke oder geistig Verwirrte eingestuft. Man setzte sie so lange verschiedenen Repressalien aus, bis sie irgendwelche Geständnisse ablegten und somit den Beweis für ihre „Geisteskrankheit“ erbrachten. Folter, die von Gesetzes wegen weltweit verboten war, durfte nun unter dem Deckmantel einer psychischen Behandlung eingesetzt werden. Auch medikamentöse Behandlungen, um die Patienten wieder auf den leuchtenden Weg geistiger Klarheit zurückzuführen, waren an der Tagesordnung.
Die anfänglich kleineren Siedlungen auf TONGA-II wuchsen durch den permanenten Zustrom weiterer Einwanderer schnell zu größeren Orten und Städten heran, sodass die irdische Kolonialverwaltung ihre Aufgabe sehr bald als erfüllt betrachtete und TONGA-II zu einer sich selbstverwalteten Kolonie ausrufen konnte.
Man gab dem Kolonialgebiet den Namen Tongalen und nannte die Hauptstadt Tongala.
Der Administrative Rat von Tongalen wurde von der Bevölkerung in regelmäßigen Abständen neu gewählt. Bisherige Amtsinhaber konnten wiedergewählt werden. Jeder Bürger hatte das Recht, sich für ein Amt zu bewerben.
Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen wurden bewusst einfach gehalten. Verschiedene Ämter sorgten für das Funktionieren des öffentlichen Lebens und die Erfüllung sozialer Aufgaben. Die Wirtschaft diente ausschließlich der Selbstversorgung. Religionen und kirchliche Institutionen existierten offiziell keine.
So gedieh eine Gesellschaft ohne die dogmatischen und ausbeuterischen Strukturen, wie sie auf der Erde vielerorts noch herrschten oder bis vor kurzem noch geherrscht hatten, und mit denen die allerersten Einwanderer in ihrem alten Leben noch konfrontiert gewesen waren.
Das völlig andersartige Wertebewusstsein der Tongaler verhinderte die Entstehung jeglicher kapitalistischer Systeme. Nicht Masse und Besitztümer spielten im Leben die dominierende Rolle, sondern gesellschaftliche Integration, Kreativität und soziale Kompetenz. Kunst im kulturellen Sinn hatte in allen Situationen des Alltags großen Einfluss, besaß jedoch ausschließlich geistigen und metaphysischen Wert und stellte keinerlei wirtschaftliche Bedeutung dar.
In ihrem persönlichen Charakterbild entwickelten sich die Tongaler zu sehr offenen Wesen, die sich bezüglich ihres Denkens aufrichtig und ohne einschränkende Konventionen äußerten. Um dies korrekt und ohne Irrtümer interpretieren zu können, brauchte man als Außenstehender gute Kenntnisse über Eigenschaften und Charakteristiken der Kolonisten. Zu Beginn der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Erde und Tongalen kam es des Öfteren zu Missverständnissen sowie zu kuriosen und peinlichen Situationen.
In zwischenmenschlicher und sexueller Hinsicht entwickelten die Tongaler ebenfalls eigene Formen. Sie unterwarfen sich nicht den stark regulierten Systemen, die auf der Erde in verschiedenen Kulturen seit jeher existierten. So gab es keine amtlich oder kirchlich abgesegnete Heirat und keinen Besitzanspruch an Partner. Tongaler lebten äußerst selten paarweise, sondern meist in Kommunen und Wohngemeinschaften.
Körperliche Liebe gehörte zum Leben wie das Atmen und war weder gesetzlich eingeschränkt noch durch irgendwelche Tabus belegt. Zudem besaßen Frauen eine stark erhöhte Sensibilität bezüglich ihrer Empfängnisbereitschaft. Dadurch war es Partnerschaften möglich, ihren Nachwuchs ziemlich genau zu planen.
Das konventionelle Familiensystem, wie es auf der Erde in vielen Kulturkreisen existierte, gab es in Tongalen nicht. Es kam selten vor, dass eine Partnerschaft mehrere Kinder hervorbrachte. Viel eher wurden Partner gewechselt, sodass die weiteren Nachkommen einen anderen Elternteil besaßen. Oftmals lebten ehemalige und neue Partner in derselben Kommune, was das Aufziehen von Kindern vereinfachte.
Trennungen gingen unkompliziert und unbürokratisch über die Bühne. Man entschloss sich dazu und ging entweder seiner Wege oder lebte weiter in derselben Gemeinschaft. Auch polygame Beziehungen waren keine Seltenheit. Durch das Fehlen von Besitzansprüchen war Eifersucht eine ziemlich unbekannte Eigenschaft.
Obwohl die Tongaler ursprünglich von irdischen Menschen abstammten, hatte sich ihr Organismus über die Generationen den planetarischen Verhältnissen abgepasst. Durch den leicht geringeren Sauerstoffgehalt besaßen sie eine höhere Dichte von Lungenbläschen und eine leicht größere Anzahl roter Blutkörperchen. Die etwas geringere Gravitation gegenüber der Erde hatte auch Veränderungen ihrer Anatomie zur Folge. So waren Tongaler von größerer Statur und schmaler gebaut als irdische Menschen. Durch eine völlig andere Ernährungskultur war Fettleibigkeit eher eine Seltenheit.
Tongaler besaßen auch Schwächen. So hatten sie sehr große Schwierigkeiten mit dem Alleinsein. Auch mit psychischem Stress und Druck konnten sie sehr schlecht umgehen.
Um nicht dieselben Gesellschaftsformen entstehen zu lassen, wie sie die Erde hervorgebracht hatte, schützten sich die ersten irdischen Auswanderer mit entsprechenden Gesetzen. Doch über die Generationen hinweg entwickelte sich die tongalische Gesellschaftsform zur Selbstverständlichkeit und Tradition.
Nach der Wiederaufnahme der Beziehungen wurde man auf der Erde irgendwann auf die neuartigen Lebensqualitäten in der Kolonie Tongalen aufmerksam. Nach einem mehrere Generationen dauernden Unterbruch entwickelte sich ein neuer Zustrom. Tongalen begann wieder zu wachsen.
Aber nicht alle neuen Einwanderer konnten sich mit dieser Art von Gesellschaftsform anfreunden. Viele brachten die irdische Denkweise mit und versuchten diese in ihrer neuen Lebensumgebung weiterzupflegen. Zwischenfälle begannen sich zu häufen, in denen andersdenkende Einwanderer und traditionelle Kolonisten aneinandergerieten oder Einwanderer versuchten, das System zu verändern.
Nach einiger Zeit bildete sich unter den neuen Kolonisten eine religiöse Gemeinschaft namens Curaner, eine Ableitung von lateinischen Wort ‚Cura‘. Der Sinn dieser Gemeinschaft bestand darin, den Glauben an einen Gott, wie man ihn auf der Erde pflegte, weiterzuführen und Sitte und Moral nach irdischen Maßstäben zu bewahren.
Zwei Lebenskulturen prallten aufeinander.
Das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaftsform, das sich mittlerweile seit mehreren Generationen bewährt und gefestigt hatte, wurde empfindlich gestört. Es bildeten sich zwei Parteien, und es drohte eine Spaltung.
Durch den stetigen Zustrom neuer Einwanderer gewann die Partei der Curaner immer mehr an Einfluss.
Doch bevor es zur dramatischen Eskalation kam, entschlossen sich beide Parteien, gemeinsam einen Weg für eine friedliche Lösung zu suchen. Auch in dieser Hinsicht wollte man nicht dem Beispiel der Erde folgen und bei unterschiedlichen Ansichten und Lebensauffassungen einen Krieg beginnen.
Nach vielen Verhandlungen und Gesprächen einigte man sich, für die Curaner in einem bisher unbewohnten Gebiet südlich des Äquators, ebenfalls an der Westküste des Kontinents, einen neuen Staat zu gründen, in dem sie ihre eigene Kultur und Gesellschaftsform pflegen konnten.
Die Kolonisten beider Parteien atmeten auf, da sie einen drohenden Bürgerkrieg auf diplomatischem Weg verhindert hatten.
Bei den Feierlichkeiten der Staatsgründung wurde der neue Staat Curanien ausgerufen. Seine Hauptstadt sollte den Namen Curania tragen.
Grenzstreitigkeiten zwischen den Curanern und den Tongalern waren aufgrund des lebensfeindlichen Äquatorialbereichs zwischen ihnen so gut wie ausgeschlossen.
Auch wenn die beiden Staaten von sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensauffassungen geprägt und voneinander unabhängig waren, entwickelte sich doch bald reger Handel.
Die Konflikte gerieten in Vergessenheit, und man akzeptierte sich gegenseitig.
3.
Marac Kresnan war ein gewöhnlicher Bürger von Curanien und lebte mit Frau, Tochter und Sohn etwas außerhalb der Hauptstadt Curania.
Seine Eltern hatten die Gründung des Staats noch miterlebt, waren jedoch einige Jahre später gestorben. Nachdem sie auf der Erde unter größter Armut ein kümmerliches Dasein gefristet hatten, bauten sie sich in Curanien eine neue Existenz auf.
Marac und seine Familie waren, wie schon seine Eltern und alle Curaner, sehr gläubige Menschen, die streng auf Sitte und Moral achteten. Sie glaubten an ein Leben nach dem Tod und an die Heilige Dreifaltigkeit.
Marac, der einzige Sohn, hatte nach dem Tod seiner Eltern das Haus übernommen. Er verdiente seinen Unterhalt mit dem Verkauf von Nahrungsmitteln, die in den ländlichen Gebieten produziert wurden. Daher hatte er meist in den Städten zu tun, wo er seine Erzeugnisse anbot.
Sein Unternehmen wuchs zusehends, denn er hatte ein feines Gespür für die Bedürfnisse der Menschen. Diese Eigenschaft verhalf ihm sogar zu einer kleinen Niederlassung auf der Erde, da man auch dort auf die Qualität seiner Produkte aufmerksam geworden war.
Das Unglück, welches sein ganzes Leben in eine völlig andere Bahn lenken sollte, geschah zu einem Zeitpunkt, als er sich geschäftlich auf der Erde aufhielt.
Ein gewaltiges Seebeben erschütterte die südliche Hemisphäre des großen Ozeans von TONGA-II. Auf dem Meeresgrund schoben sich zwei tektonische Platten übereinander und hoben sich gegenseitig mehrere Dutzend Meter an. Die dadurch entstandene Wasserverdrängung löste einen gigantischen Tsunami aus.
Eine Flutwelle von fast hundert Metern Höhe breitete sich mit über eintausend Kilometern pro Stunde als konzentrischer Ring vom Epizentrum des Bebens aus.
Kurz bevor die Welle auf den Kontinent traf, zog sich das Meer mehrere Hundert Meter zurück, bevor die gewaltige Wasserwand einige Minuten später herangebraust kam.
Nichts konnte dieser Urgewalt standhalten. Häuser, Fabriken, Brücken und Bauten jeglicher Art sowie Pflanzen und Wälder wurden innerhalb weniger Sekunden dem Erdboden gleichgemacht, Menschen auf der Stelle erschlagen. Die Wassermassen drangen mehrere Hunderte Kilometer weit ins Landesinnere ein und verschonten nichts und niemanden.
Als Marac Kresnan von seiner Geschäftsreise von der Erde nach TONGA-II zurückkehrte, existierte Curanien nicht mehr. Der Tsunami hatte das gesamte Land und sämtliche Einwohner vernichtet. Eine riesige Schneise der Verwüstung, mehrere Hundert Kilometer in Breite und ebenfalls mehrere Hundert Kilometer weit ins Landesinnere reichend, war das Einzige, was übrig geblieben war.
Tongalen hingegen war bei dieser Katastrophe relativ glimpflich davongekommen. Die Ausläufer der Flutwelle hatten zwar auch die Nordküste des Kontinents erreicht, jedoch bereits in so abgeschwächter Form, dass außer einigen harmlosen Überschwemmungen keine nennenswerten Schäden entstanden waren.
Für Marac Kresnan brach die Welt zusammen. Er, der bisher das perfekte Leben gelebt, eine glückliche Familie und ein erfolgreiches Geschäft besessen, der bisher nie mit großen Rückschlägen, geschweige denn mit Katastrophen zu tun gehabt hatte, stand plötzlich vor dem Nichts.
Da, wo vor kurzem sein Haus gestanden, wo sich seine Firma befunden hatte, wo seine Kinder zur Schule gegangen waren, wo sich eine ganze Stadt erstreckt hatte, gab es nur noch Trümmer.
Eine Rückkehr war unmöglich.
Er flog zur Erde zurück. Seinen einzigen Besitz trug er am Körper und in seinem Gepäck. Die guten Geschäftsbeziehungen halfen ihm, hier Fuß zu fassen und so gut es ging zu überleben. Mit seinen dreiunddreißig Jahren hatte er sein Leben praktisch noch vor sich. Die neue Umgebung sollte es ihm einfacher machen, über den schmerzlichen Verlust hinwegzukommen.
In den nächsten Jahren schaffte er es, dank seinen guten Fähigkeiten als Vermittler, für sich alleine eine neue Existenz aufzubauen. Auch wenn ihm die von wirtschaftlicher Korruption und heuchlerischer Bigotterie geprägte Gesellschaft der Erde nicht behagte, hatte er TONGA-II nie wieder aufgesucht.
Curanien wurde nicht wieder aufgebaut. Man hielt das Risiko für zu groß, dass es noch einmal zu einer ähnlichen Katastrophe kommen könnte.
Tongalen hingegen blühte weiter auf. Es wurde ein Frühwarnsystem für unterseeische Beben und Tsunamis eingerichtet. Es blieb weiterhin ein religionsloses Land, geprägt von offener Meinungsäußerung und Freizügigkeit ohne falsche Tabus. Neue Kolonisten, die sich diesem Lebensstil nicht unterordnen konnten, bildeten eine kleine Minderheit.
Langsam geriet die Tatsache, dass Curanien je existiert hatte, in Vergessenheit.
4.
Ernest Walton saß in seiner Lieblingsbar im Raumhafen von Geneva und nippte an einem Glas Four Roses. Zum wiederholten Mal sah er auf seine Uhr, obwohl jedes Mal nicht mehr als ein paar wenige Minuten verstrichen waren, und stieß einen leisen Fluch aus.
»Pünktlichkeit scheint heute aus der Mode gekommen zu sein«, brummte er vor sich hin, doch niemand beachtete ihn.
Ernest Walton war ein Phänomen. Mit seinen hundertneunundzwanzig Jahren und dem Aussehen eines knapp Siebzigjährigen stellte er die Fachwelt vor ein Rätsel. Ärzte und Wissenschaftler vermuteten, er sei bei einem seiner Raumflüge in den Einflussbereich einer fremdartigen Strahlung geraten.
Mit seiner schlanken, eins achtzig großen Figur und dem silbergrauen Haar, das er im Nacken zu einem Zöpfchen zusammengebunden trug, hinterließ er einen kräftigen und drahtigen Eindruck. Doch in seinem Gesicht widerspiegelte sich ein sympathisches Wesen. Seine Augen strahlten Güte und Wärme aus. Seine Nase erinnerte an die eines stolzen Indianerhäuptlings.
Bis vor knapp dreißig Jahren hatte er Abenteuerromane geschrieben, die sich zu der damaligen Zeit in Form von digitalen Hörbüchern sehr gut verkauften. Dieses Medium war zwar ein Relikt aus der Zeit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, hatte sich jedoch erstaunlich lange halten können.
Ernest Walton hatte sich mit den Einnahmen seiner Romane eine beträchtliche Summe auf die Seite legen können, von der er bis heute nur einen kleinen Teil verbraucht hatte. Er benötigte im Leben nicht viel, um glücklich zu sein. Seine Bescheidenheit wurde allgemein geschätzt.
Als der Konsum von digitaler Hörliteratur unter den Menschen aus der Mode kam, vor allem jüngere Generationen immer mehr Interesse an technischen Spielzeugen zeigten, die man für alles Mögliche verwenden konnte, hatte er mit dem Schreiben aufgehört und beschlossen, selbst Abenteuer zu erleben. Dazu kaufte er sich von seinen Ersparnissen einen kleinen Raumgleiter und gründete das interstellare Transportunternehmen Space Hoppers Limited.
Sein Unternehmen hatte sich auf Aufträge spezialisiert, für die sich andere Transportunternehmen nicht interessierten oder sich wegen bestimmter Umstände oder mangelnder finanzieller Lukrativität zu schade waren.
Doch bald merkte Ernest, dass er sein Unternehmen nicht mehr alleine führen konnte, und bot seinem langjährigen Freund Eric Daniels an einzusteigen. Eric ließ sich nicht zweimal bitten.
Ernest leerte sein Glas, worauf der androide Barkeeper ihn fragte, ob er nachschenken dürfe. Ernest nickte und legte die Finger seiner rechten Hand auf den Zahlscanner, von denen es direkt in den Tresen integriert an jedem Sitzplatz einen gab. Mit dem kurzen Aufleuchten eines kleinen grünen Quadrats auf dem Display bestätigte das Gerät das Erkennen des Fingermusters. Ernest tippte seinen Geheimcode ein. Ein weiteres grünes Quadrat besagte, dass der Betrag für das Getränk von seinem Konto abgebucht worden war.
In dem Moment, als er das Glas an seine Lippen führte, setzte sich ein Mann in einer schäbigen Kunststoffjacke neben ihn, klappte sein Hoverboard zusammen und legte es unter den Sessel. Er war völlig außer Atem.
»Na endlich!« Ernest zeigte sich verstimmt. »Dachte schon, du kreuzt heute gar nicht mehr auf.«
Mark Henderson atmete ein paar Mal tief durch, bevor er antwortete. »Die ließen mich mit meinem Gleiter in der Luft hängen, konnte nicht landen. Anscheinend gab es irgendein technisches Problem.«
Kaum hatte Mark zu Sprechen begonnen, tänzelte auch schon der Barkeeper heran und fragte ihn mit seiner übertrieben freundlich klingenden Stimme: »Was darf ich Ihnen servieren?«
»Ein kaltes Bier, bitte«, antwortete Mark, worauf sich die synthetischen Hände des Roboters sogleich daran machten, ein Glas voll aus dem Hahn zu zapfen.
Als Ernest den Drink bezahlen wollte, winkte Henderson ab und erledigte dies mit seinen eigenen Fingerabdrücken. »Kommt nicht in Frage. Wenn ich schon zu spät komme, kann ich wenigstens meinen Drink selbst begleichen.« Dann hob er das Kunststoffglas und sagte: »Zum Wohl.«
Ernest hob ebenfalls sein noch halb volles Whiskyglas und murmelte: »Ich verstehe nicht, wie du dieses synthetische Zeugs trinken kannst.«
»Mir schmeckt’s. Du solltest dir lieber mal Gedanken über einen neuen Raumgleiter machen«, nuschelte Henderson, nachdem er das Glas zur Hälfte geleert und sich den Schaumstreifen an der Oberlippe mit dem Jackenärmel abgewischt hatte.
»Bei jedem neuen Auftrag nervst du mich damit. Der Kahn tut‘s noch allemal für mich. Mit den neuartigen Dingern komm ich sowieso nicht mehr klar. Die haben zu viel technischen Schnickschnack.«
»Ach, das ist gar nicht so schlimm. Du hättest es auf jeden Fall einfacher, und es wäre wesentlich sicherer. Ich mache mir jedes Mal Gedanken darüber, ob du von den Aufträgen überhaupt wieder zurückkehrst.«
»Bis jetzt hab ich es immer ohne Probleme geschafft.«
»So ganz ohne Probleme auch wieder nicht. Ich möchte dich nur ungern an deinen vorletzten Auftrag erinnern.«
»Meinst du etwa den Schlamassel mit den exotischen Viechern?«
»Ja, genau den.«
»Da konnte ich doch nichts dafür. Mit meinem Gleiter hatte das auch nichts zu tun. Diese Dinger waren ausgebüxt und hatten mein Schiff verwüstet. Was glaubst du, warum keine andere Gesellschaft diesen Auftrag übernehmen wollte.«
»Du warst praktisch manövrierunfähig. Nicht auszudenken, wenn du nicht zufällig den Weg einer Patrouille gekreuzt hättest.«
»Ich wäre auch ohne die zurechtgekommen«, winkte Ernest ab.
»Das bezweifle ich, aber reden wir nicht mehr darüber.«
»Dann lass mal die Katze aus dem Sack. Warum bewegst du deinen Hintern höchstpersönlich hierher? Geht‘s um einen neuen Auftrag? Bisher ging das doch reibungslos über den Kommunikator.«
Mark Henderson war seit Jahrzehnten mit Ernest befreundet. Sein schütteres, hellgraues Haar unterstrich seine zweiundsechzig Jahre. Sein erweiterter Bauchumfang zeugte nicht von ausgesprochen sportlichen Aktivitäten. Als eingefleischter Fan von Elvis Presley, der noch immer als Legende verehrt wurde, trug er an seinen Wangen dieselben Koteletten, die jedoch in den letzten Jahren ziemlich ergraut waren.
Mark leitete früher eine Agentur für Autoren jeglicher Art und war Ernests Vermittler gewesen, als dieser noch Abenteuerromane geschrieben hatte.
Als Ernest mit dem Schreiben aufhörte, verkaufte Henderson seine Agentur und eröffnete ein Transportvermittlungsunternehmen. Zur damaligen Zeit war das eine zukunftsträchtige Branche, da die Transporte in den erforschten Bereichen der Galaxie immer mehr zunahmen.
Ernest wiederum bekam all seine Aufträge von Mark Henderson und kam damit sehr schnell ins Geschäft mit lukrativen Auftraggebern.
Henderson nahm einen weiteren Schluck Bier, stellte das Glas auf die Theke und dachte eine Weile nach. Dann kramte er eine digitale Datenkarte aus seiner Tasche und schob sie Ernest zu, der sogleich seine Hand darauf legte und sie in seiner Jackentasche verschwinden ließ.
»Daten für einen neuen Auftrag?«, fragte Ernest nicht überrascht.
»Genau. Eigentlich sind es zwei.«
»Gibt‘s dafür doppelte Prämien?«
»Hör erst mal zu. Der eigentliche Auftrag kommt vom Astronomical Museum of London. Die haben Gesteinsproben und Mineralien bestellt, die vom zweiten Planeten des TONGA-Systems zur Erde transportiert werden müssen. Und wenn ihr schon dahin fliegt, könnt ihr auf dem Hinweg etwas mitnehmen.«
»Und das wäre?«
»Ein paar chemische Substanzen, die dort zu einem neuen Medikament verarbeitet werden. Der Pharmakonzern Norris & Roach Labs Inc. betreibt in der Kolonie Tongalen eine Forschungsniederlassung.«
»Was ist an den beiden Aufträgen so besonders, dass du persönlich hierherkommst?«
»Einerseits war ich zufällig in der Gegend, und andererseits wollte ich sicher gehen, dass unser Gespräch nicht abgehört wird.«
»Gibt‘s irgendwelche Probleme mit einem der beiden Aufträge?«
»Sagen wir es mal so: Der Konzern möchte nicht, dass die Konkurrenz mitbekommt, was ihr transportiert. Du weißt ja, es gibt immer Möglichkeiten, ein digitales Gespräch abzuhören.«
»Das Ganze ist doch legal, oder?« Ernest sah seinen Vermittler skeptisch an.
»Was denkst du denn.« Henderson lachte spontan. »Habe ich dir jemals einen unseriösen Auftrag vermittelt? Mal im Ernst. Es geht eigentlich nur darum, dass euch nicht irgendein Auftragspirat die Fracht abknöpft. Du weißt doch, dass so was immer wieder vorkommt.«
»Wir hatten bisher Glück. Die bisherigen Begegnungen mit Piraten sind jeweils glimpflich ausgegangen. Aber wir waren ja auch erst ein paar wenige Male außerhalb des Sonnensystems, wo das bekanntlich öfter vorkommt.«
»Da hast du recht.«
»Warum wird dieses Medikament in Tongalen produziert und nicht hier auf der Erde?«
»Auf dem Planeten existiert ein pflanzlicher Rohstoff, den es auf der Erde nicht gibt.«
»Das klingt einleuchtend. Aber warum sagt mir mein Gefühl, dass da noch irgendetwas anderes ist?«
»Du kannst beruhigt sein. Es ist alles in Ordnung. Auf der Karte befinden sich die Auftragsdaten für beide Aufträge sowie die Kommunikationscodes für die Kontaktaufnahme mit den entsprechenden Leuten vor Ort.«
»Wie gefährlich sind diese chemischen Substanzen?«
»Solange man sie nicht zu sich nimmt, richten sie keinen Schaden an. Sie sind in bruchsicheren Behältern luftdicht verpackt und sollten sogar einen Absturz überstehen. Wenn ihr sie also nicht mit Gewalt öffnet, sollte nichts passieren. Eine genaue Dokumentation für das Vorgehen in einem Schadensfall befindet sich ebenfalls auf der Datenkarte.«
Ernests Miene verfinsterte sich erneut. »Dann geht der Pharmakonzern davon aus, dass unter Umständen etwas passieren könnte?«
»Eigentlich ist es so gut wie unmöglich, dass die Behälter während des Transportes zerstört werden können. Aber mit dieser Dokumentation erfüllt der Konzern lediglich die Sorgfaltspflicht, die von der Versicherungsgesellschaft gefordert wird.«
Ernest gab sich mit dieser Erklärung zufrieden, hob sein Glas und nahm einen weiteren Schluck. »Wann müssen wir aufbrechen?«
»Es wäre gut, wenn ihr möglichst schnell starten könntet.«
Ernest überlegte kurz. »Meine Leute befinden sich gerade nicht in der Nähe. Eric macht Urlaub, und Christopher befindet auf einer Fotosafari.«
»Wie schnell können sie hier sein?«
»Theoretisch innerhalb eines Tages. Die Frage ist nur, ob sie darüber begeistert sein werden, ihre momentane Tätigkeit abzubrechen.«
»Eure Reise wird gut bezahlt. Es sind ja zwei Aufträge.«
»Damit kannst du sie nicht ködern. Geld ist ihnen nicht wichtig.«
»Dir wird schon etwas einfallen. Ich würde den Auftrag ungern jemand anderem geben.«
»Ich bin überzeugt, das brauchst du auch nicht.« Ernest lächelte versöhnlich.
»Wo steht euer Raumgleiter?«
»In einem Hangar hier in Geneva. Eigentlich hätte er mal wieder eine Generalüberholung nötig.«
»Solltet ihr technische Probleme haben, im Gelände des Raumhafens von Tongala befindet sich eine Zweigstelle einer irdischen Wartungsgesellschaft, in der ihr euren Raumgleiter vor dem Rückflug kontrollieren und überholen lassen könnt.«
»Ich hoffe nicht, dass wir Probleme haben werden.«
»Man kann nie wissen. Wart ihr schon einmal im TONGA-System?«
»Nein, bisher nicht. Was weißt du über den Planeten und die Kolonisten?«
»Ihre Sozialstruktur ist ziemlich einfach. Ursprünglich waren es Auswanderer aus den verschiedensten Ecken der Erde. Ihre Technik hat sich jedoch seit der Besiedlung des Planeten nur in bestimmten Bereichen weiterentwickelt. Die Leute pflegen einen sehr einfachen Lebensstil. Es gab nie Probleme mit ihnen. Aber wenn alles nach Plan verläuft, werdet ihr mit der Bevölkerung kaum Kontakt haben.«
»Wie sind die klimatischen Bedingungen?«
»Der Sauerstoffgehalt und die Gravitation sind etwas geringer als auf der Erde. Es gibt nur einen einzigen großen Kontinent. Der Rest besteht aus einem riesigen Ozean.«
»Temperaturen?«
»Kommt drauf an, wo ihr landet. Die Polkappen sind vereist, am Äquator ist es zu heiß und zu trocken. Unmittelbar nördlich davon befindet sich eine feuchtwarme Tropengegend. Tongalen selbst befindet sich an der Westküste in gemäßigten Breitengraden der nördlichen Hemisphäre. In den äquatorialen Trockengebieten und im Inneren des Kontinents gibt es riesige Sandstürme, die sich kilometerweit auftürmen, während es in den tropischen Gegenden heftige Unwetter mit sintflutartigen Regenfällen und Überschwemmungen geben kann.«
»Keine Gegend für Urlaub.«
»Definitiv nicht. Kannst du mir bis morgen Abend Bescheid geben?«
»Kein Problem Ich werde sofort mit Eric und Christopher Kontakt aufnehmen.«
5.
Eric Daniels saß in der Lobby des Concorde El Salam Hotels in Kairo und blätterte auf seinem Kommunikator in einem digitalen Reiseprospekt. Er hatte jedoch nicht vor, eine Rundreise zu den Pyramiden zu buchen, sondern betrachtete die Bilder lediglich aus Langeweile, da sich sein persönlicher Touristenführer wieder einmal verspätete.
Das Concorde El Salam lag im modischen Heliopolis auf der Ostseite Kairos, nur wenige Kilometer vom internationalen Raumhafen und etwa fünfundzwanzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Trotz seiner fünfundsechzig Jahre war Erics Tatendrang und seine Abenteuerlust noch lange nicht verblasst. Er hatte das Schreiben aufgegeben, weil es seiner Ansicht nach nichts mehr über die Erde zu schreiben gab. Seine Bücher hatten vorwiegend grenzwissenschaftliche Bereiche thematisiert. Zu Beginn seiner Karriere wurden seine Thesen von der Fachwelt nur belächelt. Man hatte ihn sogar als Scharlatan bezeichnet, schrieb er doch vorwiegend von Außerirdischen, die in der Frühzeit der menschlichen Evolution die Erde besucht und sich mit den damaligen Urmenschen vermischt hätten.
Als sich die Menschheit in jüngster Zeit anschickte, den Weltraum zu erobern und eines Tages auf einem fernen Planeten eines anderen Sonnensystems Spuren von humanoiden Wesen entdeckte, wurde Eric als Visionär gefeiert. Doch sein Ruhm verblasste schnell, und es dauerte nicht lange, da ging der Erfolg seiner Veröffentlichungen massiv zurück. Nachdem seine Thesen nicht mehr kontrovers genug waren, interessierte sich praktisch kein Mensch mehr dafür.
Eric hatte in den letzten Jahren an Leibesfülle etwas zugelegt, was ihm mit seiner Größe von einem Meter siebzig nicht zum Vorteil gedieh. Sein dunkelgraues, kurzes Haar trug er meist nach hinten gekämmt.
Seine Hektik aus früheren Zeiten hatte sich etwas gelegt, doch auch heute hielt er es nur schwer an einem Ort aus. Andererseits war er immer bereit für ein ausgelassenes Fest, bei dem es stets die allerbesten Weine zu trinken gab. Als ehemaliger Hotelier war er ein exzellenter Fachmann.
Mit seinem Beitritt zu Ernests Transportunternehmen begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Nachdem er auf der Erde genug geforscht hatte, nahm er sich vor, die Tiefen der Galaxis zu ergründen.
Das Summen des Kommunikators riss ihn aus den Gedanken. Im Hörer des Headsets vernahm er Ernest Waltons Stimme. »Hallo Eric, immer noch im Urlaub?«
»Klar, was denkst du denn? Wenn ich schon mal auf der Erde bin. Ist ja in letzter Zeit selten genug vorgekommen.«
»Dann schwing deinen Hintern nach Geneva. Es gibt Arbeit. Ich wohne im Intercontinental an der Chemin Du Petit Saconnex.«
»Ich weiß, wo das ist. Ist es denn so dringend?«