Georges Perec
Träume von Räumen
Aus dem Französischen von
Eugen Helmlé
diaphanes
Inhalt
Die Seite
Das Bett
Noch ein paar Banalitäten
Das Schlafzimmer
Fragmente einer im Entstehen befindlichen Arbeit – Kleines Rätsel – Kleiner friedlicher Gedanke Nr. 1 – Kleiner friedlicher Gedanke Nr. 2
Die Wohnung
Über einen überflüssigen Raum – Ausziehen – Einziehen – Türen – Treppen – Wände
Das Mietshaus
Romanentwurf
Die Straße
Praktische Übungen – Briefentwurf – Die Örtlichkeiten
Das Viertel
Das Leben im Viertel – Der Tod des Viertels
Die Stadt
Meine Stadt – Fremde Städte – Vom Tourismus – Übungen
Das flache Land
Die Dorfutopie – Nostalgische (und falsche) Alternative – Über die Bewegung
Das Land
Grenzen – Mein Land
Europa
Die Welt
Über die geraden Linien – Maße
Der Raum
Über die geraden Linien – Maße – Mit dem Raum spielen – Die Eroberung des Raums (Das fahrbare Haus des Monsieur Raymond Roussel – Der heilige Hieronymus in seinem Studierzimmer – Der Entflohene – Die Begegnung) – Das Unbewohnbare – Der Raum (Fortsetzung und Ende)
Verzeichnis einiger der in diesem Werk benutzten Wörter
für Pierre Getzler
Figur 1: Seekarte (Auszug aus »Die Jagd nach dem Schnark« von Lewis Carroll)
RAUM
RAUMINHALT
FREIER RAUM
GESCHLOSSENER RAUM
BEGOSSENER RAUM
RAUMMANGEL
ÜBERDACHTER RAUM
HOHLRAUM
RAUMSCHRANKE
LEBENSRAUM
KRITISCHER RAUM
RAUMPFLEGERIN
RAUMAKUSTIK
RAUMDECKUNG
STELLUNG IM RAUM
WIRTSCHAFTSRAUM
RAUMAUSSTATTER
ENTDECKUNG DES RAUMS
OFFENER RAUM
EUKLIDISCHER RAUM
LUFTRAUM
RAUM DES TRAUMS
GRAURAUM
EPIDURALRAUM
SPAZIERGANG IM RAUM
GEOMETRIE IM RAUM
RAUMÜBERGREIFEND
ZEITRAUM
GEMESSENER RAUM
DIE EROBERUNG DES WELTRAUMS
TOTER RAUM
RAUMBILD
UNENDLICHER RAUM
RAUMFÄHRE
HIMMLISCHER RAUM
IMAGINÄRER RAUM
SCHÄDLICHER RAUM
METRISCHER RAUM
INNENRAUM
FUSSGÄNGER DES WELTRAUMS
ZERBROCHENER RAUM
GEORDNETER RAUM
RAUMGITTER
ERLEBTER RAUM
TOPOLOGISCHER RAUM
SEHRAUM
VERFÜGBARER RAUM
DURCHLAUFENER RAUM
EBENER RAUM
RAUMTYP
URRAUM
NEBENRAUM
RAUMRÄNDER
KLANGRAUM
RAUM EINES MORGENS
LITERARISCHER RAUM
DIE ODYSSEE DES WELTRAUMS
Vorwort
Das Thema dieses Buches ist nicht eigentlich die Leere, sondern vielmehr das, was drum herum oder darin ist (siehe Figur 1). Zu Anfang allerdings ist da nicht viel: so gut wie nichts, nichts Greifbares, praktisch nur Unstoffliches: Ausdehnung, Außenwelt, das, was außerhalb von uns ist, das, in dessen Mitte wir uns bewegen, die Umwelt, der Raum ringsum.
Der Raum. Nicht sosehr die unterschiedlichen Räume, deren Schweigen, weil es anhält, am Ende etwas auslöst, das einer Art Angst ähnelt, auch nicht die fast schon domestizierten interplanetaren, interstellaren oder intergalaktischen Räume, sondern viel näher liegende Räume, im Prinzip jedenfalls: die Städte zum Beispiel oder das flache Land oder die Schächte der Untergrundbahn oder eine öffentliche Parkanlage.
Wir leben im Raum, in diesen Räumen, in diesen Städten, auf diesem flachen Land, in diesen Schächten, in diesen Parkanlagen. Das kommt uns selbstverständlich vor. Vielleicht sollte es tatsächlich auch selbstverständlich sein. Doch es ist nicht selbstverständlich, es versteht sich nicht von selbst. Selbstverständlich ist es real und wahrscheinlich ist es deshalb auch rational. Es läßt sich berühren. Man kann sich sogar gehen lassen und träumen. Nichts hindert uns zum Beispiel daran, Dinge auszudenken, die weder Städte noch Dörfer (noch Vororte) wären, oder auch Schächte von Untergrundbahnen, die gleichzeitig Parkanlagen wären. Auch verbietet uns nichts, uns eine Untergrundbahn auf dem flachen Land vorzustellen (ich habe dazu sogar eine Werbung gesehen, aber das war, wie soll ich sagen, eine Werbekampagne). Sicher ist jedenfalls, daß es in einer Zeit, die wahrscheinlich viel zu weit zurückliegt, als daß sich irgendjemand von uns eine auch nur annähernd genaue Erinnerung an sie bewahrt hätte, nichts von alledem gab: weder Schächte noch Parkanlagen noch Städte noch flaches Land. Das Problem besteht nicht so sehr darin, herauszufinden, wie wir dahin gelangt sind, sondern einfach anzuerkennen, daß wir dahin gelangt sind, daß wir es geschafft haben: es gibt keinen Raum, keinen schönen Raum, keinen schönen Raum ringsum, keinen schönen Raum rings um uns herum – es gibt eine ganze Menge kleiner Raumzipfel, und einer dieser Raumzipfel ist ein Untergrundbahnschacht, und ein anderer ist eine Parkanlage; ein anderer (hier kommt man sofort in weitaus unterschiedlichere Räume), von ursprünglich bescheidener Größe, hat kolossale Ausmaße angenommen und ist zu Paris geworden, während ein benachbarter Raum, der zu Anfang nicht weniger Talent besaß, sich damit begnügt hat, Pontoise zu bleiben. Und um wieder einen anderen, sehr viel größer und ungefähr sechseckig, ist eine dicke gestrichelte Linie gezogen worden (zahllose Ereignisse, darunter einige besonders schwerwiegende, hatten keinen anderen Grund als den Verlauf eben dieser gestrichelten Linie), und es ist beschlossen worden, daß alles, was sich innerhalb der gestrichelten Linie befand, violett koloriert werden und Frankreich heißen sollte, während alles, was sich außerhalb der gestrichelten Linie befand, anders eingefärbt werden (aber außerhalb des besagten Sechsecks legte man überhaupt keinen Wert darauf, gleichförmig koloriert zu werden: dieser Raumzipfel wollte seine Farbe und ein anderer wollte eine andere, daher das berühmte topologische Problem der vier Farben, das bis zum heutigen Tag noch nicht gelöst ist) und einen anderen Namen tragen sollte (tatsächlich hat man jahrelang vehement darauf bestanden, Raumstücke violett einzufärben – und sie nun Frankreich zu nennen –, die nicht zu dem besagten Sechseck gehörten und häufig sogar sehr weit von ihm entfernt lagen).
Kurzum, die Räume haben sich vermehrt, geteilt und aufgelockert. Es gibt heute Räume in allen Größen und von allen Sorten, für jeden Gebrauch und für alle Funktionen. Leben heißt, von einem Raum zum anderen gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stoßen.
oder, falls man das vorzieht:
erster akt
Eine Stimme (im off): Im Norden, nichts. Im Süden,
nichts.
Im Osten, nichts. Im Westen,
nichts.
Im Zentrum, nichts.
Der Vorhang fällt. Ende des ersten Aktes
zweiter akt
Eine Stimme (im off): Im Norden, nichts. Im Süden,
nichts.
Im Osten, nichts. Im Westen,
nichts.
Im Zentrum, ein Zelt.
Der Vorhang fällt. Ende des zweiten Aktes.
dritter und letzter akt
Eine Stimme (im off): Im Norden, nichts. Im Süden,
nichts.
Im Osten, nichts. Im Westen,
nichts.
Im Zentrum, ein Zelt
und,
vor dem Zelt,
ein Offiziersbursche, der gerade
ein paar Stiefel wichst
mit Schuhkrem der Marke
»Schwarzer Löwe«!
Der Vorhang fällt.
Ende des dritten und letzten Aktes.
(Autor unbekannt. Gelernt um 1947,
wiedererinnert 1973.)
oder auch:
In Paris ist eine Straße;
in dieser Straße ist ein Haus;
in diesem Haus ist eine Treppe;
an dieser Treppe ist ein Zimmer;
in diesem Zimmer ist ein Tisch;
auf diesem Tisch ist eine Decke;
auf dieser Decke ist ein Käfig;
in diesem Käfig ist ein Nest;
in diesem Nest ist ein Ei;
in diesem Ei ist ein Vogel.
Der Vogel warf das Ei um;
das Ei warf das Nest um;
das Nest warf den Käfig um;
der Käfig warf die Decke um;
die Decke warf den Tisch um;
der Tisch warf das Zimmer um;
das Zimmer warf die Treppe um;
die Treppe warf das Haus um;
das Haus warf die Straße um;
die Straße warf Paris um.
Kinderlied aus Deux-Sèvres
(Paul Eluard, Unfreiwillige Poesie
und absichtliche Poesie)
Die Seite
Ich schreibe, um durch mich hindurchzustreifen.
Henri Michaux
1
Ich schreibe …
Ich schreibe: ich schreibe …
Ich schreibe: »Ich schreibe …«
Ich schreibe, daß ich schreibe …
usw.
Ich schreibe: ich zeichne Wörter auf eine Seite.
Buchstabe um Buchstabe bildet sich ein Text, behauptet sich, verfestigt sich, stabilisiert sich, erstarrt:
eine einigermaßen
horizontale
Linie wird auf das weiße Blatt gesetzt, schwärzt den jungfräulichen Raum ein, gibt ihm einen Sinn, vektorisiert ihn:
von links
nach rechts