Stephan Porombka (Hg.)

Über 140 Zeichen

Autoren geben Einblick in ihre Twitterwerkstatt

 

Frohmann

Inhalt

Cover

Titelseite

@NeinQuarterly

@Gallenbitter

@Chouxsie

@HansHütt

@UteWeber

@Milenskaya

@MannvomBalkon

@Wondergirl

@van_Roehlek

@Anousch

@stporombka

@horsthundbrodt

@sinnundverstand

@TurmBuchOch

@vergraemer

@FrohmannVerlag

Nachwort

Twitterbiografien

Impressum

FAQ @NeinQuarterly

Man fragt.

Man fragt sich.

Man fragt sich, wie.

Man fragt sich, wie und warum.

Man fragt sich, wie und warum man twittert.

Man fragt sich, wie und warum man twittert. Ständig.

Oder nie.

 

Eric Jarosinski, @NeinQuarterly

Twitter & Tweets. Wieso & Warum. @Gallenbitter

Alles begann mit einem kleinen schwarzen Moleskine. Er forderte mich auf der ersten Seite auf, einen Geldbetrag auszuloben, den ich bereit wäre, dem ehrlichen Finder zu bezahlen, sollte ich des Büchleins verlustig gehen. 100 Euro empfand ich für meine noch nicht erdachten Gedanken für reichlich respektabel. Und setzte den Betrag ein. Andererseits, dachte ich 1 Sekunde später, könnte ich für 100 Euro ein neues Notizbuch kaufen und hätte noch Geld übrig – für zum Beispiel 30 kleine Bier. Ich korrigierte den Betrag auf 50 Euro. Das musste ja wohl bitte reichen! Eine weitere Sekunde später stellte ich leider fest, dass jetzt schon die 1. Seite, mit dem durchgestrichenen 100-Euro-Betrag, hässlich aussah. Was sollte sich ein redlicher Finder wohl denken? „Diese geizige Sau gönnt einem ehrlichen Finder keine 100 Euro! Das Notizbuch bekommt er nicht zurück; das schmeiße ich auch nicht weg. DAS ZÜNDE ICH AN!“ So denken Menschen. Der Finder meines Notizbuches hätte ganz bestimmt so gedacht!

Ich warf den überteuerten verhunzten Moleskine in den Müll und kaufte einen neuen.

 

Alles begann mit einem 2. kleinen schwarzen Moleskine. In diesem lobte ich erneut einen Betrag in Höhe von 100 Euro aus. Ich beschloss, über das bisher Geschehene nicht weiter nachzudenken. Jetzt aber, würde es losgehen, dachte ich, so richtig. Wie Hemingway, nur ohne Bart und Genie. Aber irgendwie schien mir dieses Notizbuch insgesamt zu dick und zu klein, um wirklich fröhlich längere Texte darin festzuhalten. Ich könnte mir doch das größere Format kaufen und dieses wegwerfen… Stopp! Wenn ich auf die Tour weitermachte, hätte ich – noch ehe ein Satz geschrieben sein würde – bis zum Abend Notizbücher im Wert von 100 Euro in tadelloses Altpapier verwandelt. Und überhaupt. Längere Texte liegen mir sowieso nicht. Dazu bin ich ohnehin zu faul. 1 Satz, vielleicht 2 – länger ist meine Aufmerksamkeitsspanne nicht. Von 2 Sätzen würde man beim Schreiben in diesem winzigen Buch auch bestimmt keine Krämpfe im Handgelenk bekommen. Das alles schien mir wohl überlegt. Es konnte losgehen.

 

Alles begann mit einem 2. kleinen schwarzen Moleskine, in dem außer einer ausgelobten Summe in Höhe von 100 Euro für einen redlichen Finder – nichts stand.

 

Und immer noch nichts.

 

Noch immer nichts.

 

Leere.

 

Nichts.

 

Milch.

 

Bärchenwurst.

 

Verflixt! Die 1. Seite kann ich dann ja auch mal gleich wieder herausreißen. Ach, egal. Alles begann mit einem 2. kleinen schwarzen Moleskine, in dem außer einer ausgelobten Summe für einen redlichen Finder und einer 1. herausgerissenen Seite nichts stand.

 

Aber dann:

 

Ästhetik ist objektiv.1

 

Der Bann war gebrochen. Der Moleskine sah zwar ob der herausgerissenen Seite etwas ramponiert aus; für den Adrian Monk in mir ein nahezu unerträglicher Umstand, aber da musste ich jetzt nun mal durch.

 

Es folgten viele unsinnige Gedanken. Seite für Seite. Blatt für Blatt. Kaum ein Gedanke länger als 2 Sätze. Und dann kam Twitter.

 

Ich habe keine Erinnerung mehr, warum Twitter kam, woher es kam, und wie es zu mir kam. Mein 1. Account hatte eine Lebensdauer von 30 Tagen. Ich folgte ausschließlich Nachrichtenquellen und war extrem am Puls der Zeit. Allerdings hasse ich Nachrichten, weil ich mich dann immer sehr aufregen muss; und das bringt einem nichts außer grauen Haaren und Gallensteinen. Und dann – kurz bevor ich Twitter wieder aus meinem Leben verbannen wollte – klickte ich aus nicht nachvollziehbarer Motivation auf eine Socke mit Augen und Ohren. Diese Socke schickte sich aus ebenfalls nicht nachvollziehbarer Motivation an, ein Taubenvergrämer zu sein. So nannte sich der Autor. Ein gleißend weiß’ Licht traf mein Haupt, und ein sachter Triangelklang, wie nur Engel und Ministranten ihn zu spielen in der Lage sind, durchdrang den Raum. 15 Minuten später konnte er loslegen, um forthin die Welt mit wahllos Erdachtem zu beglücken: Gallenbitter.

 

Seither sind 4 Jahre vergangen. Über 25.000 Tweets haben meinen Kopf verlassen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Gleich nach der Anmeldung des neuen Accounts musste Gallenbitter sofort einen 1. Tweet in die Welt schicken. Unter Zeitdruck kann ich aber weder twittern noch Lulu machen. Nachdem mir gerade kein Gedanke zufliegen wollte, streifte ich mit dem Blick durch das Wohnzimmer, wo dieser an 2 geistig weggetretenen Kindern hängenblieb. Zeit für den 1. Tweet. Zeit, die eigenen Kinder für einen billigen Klamauk zu missbrauchen. Nun ja. Bei 0 (in Worten: null) Lesern konnte mein Karma davon kaum in Mitleidenschaft gezogen werden:

 

Vor dem Fernseher sehen alle Kinder hirntot aus.2

 

Bereits bei meinem 2. Tweet war mir bewusst, dass Twitter alles ändern würde. Nichts würde mehr so sein wie zuvor. Eine Ära war beendet:

 

Mein Moleskine hat sich mit einem Gummiband stranguliert.3

 

Aber wo, wann und warum schreibt man in 4 Jahren 25.000 Tweets? Der Umfang ist – für meine Begriffe – enorm; mehr als 3 Millionen Zeichen. Das wäre dann ein Buch mit über 2.000 Seiten. Die Entstehung ist naturgemäß unterschiedlich. Nachdem mein Account aber keinen bestimmten Stil verfolgt – Planlosigkeit ist mein Lebenskonzept –, habe ich einige meiner „Lieblingskategorien“ herausgegriffen. Mal sehen, wo, wann und warum das alles passiert.

1. Kategorie: Tweets, die das Leben schreibt

Über Gott gelacht.

Jetzt kein Klopapier.

Keiner reagiert schneller.4

 

Wo: Auf der Bürotoilette

Wann: Während der Arbeitszeit

Warum: Shit happens

 

Was immer ich gerade aus meiner Lunge gehustet habe. Sigourney Weaver würde ohne zu zögern darauf schießen.5

 

Wo: In einem Hotelzimmer in München

Wann: 12 Stunden vor dem Start des München Marathons

Warum: Weil ich immer schon einen Marathon mit Bronchitis unter 3 Stunden beenden wollte

 

500 Gramm HARIBO Lakritz-Schnecken intus. Morgen kack’ ich mir einen Satz Sommerreifen.6

 

Wo: In meinem Büro

Wann: Beim Naschen

Warum: Weil ich es kann

 

Ich mag diese Tweetkategorie besonders, weshalb ich sie auch als 1. anführe. Man braucht im Grunde keine großen Anstrengungen. Ein zweifelhaft normales Leben ist natürlich von Vorteil – aber keine conditio sine qua non. Diese Tweets sind (mehr oder weniger) passiert; und passieren jeden Tag aufs Neue. Es genügt daher völlig, sich selbst zu beobachten und das Beobachtete leicht überzeichnet in 140 Zeichen zu gießen.

2. Kategorie: Der (fast) nicht erfundene Dialogtweet

„Ist dieser Sitzplatz noch frei?“ – „Nein.“ – „Aber da sitzt doch niemand!“ – „Sie haben mit dem Unsinn angefangen!“7

 

„Was sagst Du zu meinem neuen Kleid?“ – „Hallo, Kleid.“8

 

„Man darf bei Scrabble keine Wörter erfinden.“ – „So einen Übsindel habe ich ja noch nie gehört.“9

 

Auf ein wo, wann und warum kann bei dieser Kategorie verzichtet werden. Der (fast) nicht erfundene Dialogtweet hat zwar einen wahren Kern und daher auch tatsächlich stattgefunden. Allerdings nur zu 50 Prozent. Der (fast) nicht erfundene Dialogtweet ist die geniale, schlagfertige Antwort, die uns… die uns immer 5 Minuten zu spät einfällt. Um dieser Misslichkeit zu begegnen, hat auf Twitter eine Heerschar von Twitterern begonnen, die besten Antworten auf die sinnlosesten Fragen des täglichen Lebens festzuhalten, so dass wir beim nächsten Mal – und diese Fragen begegnen uns täglich – entsprechend und vor allem spontan antworten können. So gesehen ist der (fast) nicht erfundene Dialogtweet eine kostenlose Serviceeinrichtung. Der Leser muss es sich halt merken, damit er die Antwort im Ernstfall blitzschnell zurückschleudern kann.

3. Kategorie: Der total erfundene Dialogtweet

„Bei Deichmann gibt’s Ballerinas mit Fesselriemchen!“ – „Den Puff kenn’ ich nicht.“10

 

„Geboren?“

„Ja.“

„Wann!“

„1978.“

„Und?“

„April.“

„TAG!!!“

„Mittwoch.“

„Stellen Sie sich blöd?“

„Entschuldigung. Freitag.“11

 

„Spieglein, Spieglein, an der…“ – „Du nicht.“12

 

Der total erfundene Dialogtweet ist eine Notwendigkeit. Denn beim total erfundenen Dialogtweet hat man eine wunderbare Erwiderung parat. Weil das Leben aber total gemein ist, fällt der ihr vorausgehende Satz nie. Darum schreiben wir ihn einfach selber. Nicht selten könnte man den total erfundenen Dialogtweet auch ohne total erfundenen Dialogtweet twittern. Als Feststellung. Aber ich mag den total erfundenen Dialogtweet, denn diese total erfundene Zwischenmenschlichkeit macht den total erfundenen Dialogtweet einfach netter.

4. Kategorie: Der Tweet aus Dingen, die meine Kinder erzählen

Ein Meerschweinchen gibt den Löffel ab. Unsere Große weint. Die Kleine etwas pragmatischer: „Jeder muss sterben. Außerdem haben wir ja zwei.“13

 

Meine 5-Jährige hat sich in ihrem Kinderzimmer eine „Schönheitsecke“ mit Spiegel eingerichtet. Sie sagt, ich darf sie trotzdem (?) benützen.14

 

Sie merken schon. Meine bisherige Laufbahn auf Twitter war ein Kinderspiel. Während sich die halbe Welt um die armen Kinder, die unsere Smartphones zusammenbasteln, sorgt, beute ich im Schatten der Berichterstattung meine Kinder aus. So gesehen auch kein Wunder, dass meine Kinder bereits in meinem ersten Tweet (siehe ganz oben) die Hauptrolle spielten. Manchmal werfe ich ihnen natürlich ein Stöckchen zu; oder ein totes Meerschweinchen. Die Reaktionen fallen stets prächtig aus. Dennoch: Auch wenn man die besten Antworten von 3- bis 6-jährigen Kindern erhält, darf man die Erhaltungs- und Folgekosten nicht unterschätzen. Ein Modell ist mir zwischenzeitig aus dem Zeitfenster entwachsen und ein 2. musste nachbestellt werden. Geht ins Geld. Geht echt ins Geld.

5. Kategorie: Der Wortbilder-Ringelspiel-Tweet

Letzter Gedanke eines unverbesserlich optimistischen Fischs am Fischmarkt: Ich bin in der Zeitung!15

 

Wenn Du das nächste Mal ein Selfie schießt, nimm bitte eine Pistole.16

 

Gehe jetzt mit meinen Indern kindisch essen.17

 

Die Königsdisziplin. Diese Tweets fallen mir nicht ständig in den Schoß, sie sind aber definitiv meine persönlichen Lieblinge. An ihnen bastele ich gelegentlich auch. Wenn es mir gelingt. Der Wortbilder-Ringelspiel-Tweet fasziniert mich selbst so sehr, dass ich ihn keine Sekunde zurückhalten kann. Jeder kennt das. Aber in dieser Situation muss der Autor ganz kühl bleiben. Flach atmen. Bloß nicht durch einen unüberlegten Schnellschuss die weltbeste Pointe versauen. Also ganz schnell in eine Stoffdecke beißen und den Tweet im Entwurfsordner ablegen. Warten. Warten. Umschreiben. Warten. Noch einmal umschreiben. Aufpassen: Beim Umschreiben schleichen sich immer die hässlichsten Grammatikfehler ein. Noch einmal durchlesen. Noch einmal. Absenden. Voilà!

6. Kategorie: Der Klugscheißertweet

Menschen, die beim Italiener auf Italienisch bestellen, sind entweder Italiener oder Idioten.18

 

„Wollen Sie wirklich einen Lottoschein mit den Nummern 1 2 3 4 5 6 spielen? Das ist total unwahrscheinlich!“ – „Unwahrscheinlicher als was?“19

 

Männer, die im Fitnessstudio beim Betreten der Waage das Handtuch abnehmen, aber weiter in der Hand behalten. Physiker vor dem Herrn.20

 

„Du liebst Dein Auto mehr wie mich?“ – „Als und ja.“21

 

Ich mag diese Tweets. In meiner Twitterbio findet sich daher – quasi als Karmablitzschutz – seit dem 1. Tag folgender ehrlich gemeinte Hinweis:

 

Ich entschuldige mich ausdrücklich für meinen letzten Tweet. Ich bin unfassbar empört über meine mangelnde Sensibilität.22

 

Nachdem ich exemplarisch in den Fachgebieten Humanbiologie, Quantenmechanik und Atomphysik sattelfest bin, kann ich hier natürlich viel beitragen und nur hoffen, dass ich nie zu „Wer wird Millionär?“ eingeladen werde – zumindest nicht ohne Zugriff auf Wikipedia. An dieser Stelle haben Sie sicher schon bemerkt, dass mir in Wahrheit die Kategorien längst ausgegangen sind. Diese Kategorie ist doch nur mehr eine Subvariante von „Tweets, die das Leben schrieb“ und „Der total erfundene Dialogtweet“. Dazu sage ich Ihnen nur eines: Blau und gelb macht grün!

7. Kategorie: Der Nonsenstweet

„Aßest Du den Kuchen, den ich buk?“ – „Der Hund boll, ich erschrak, der Kuchen fiel, der Hund ihn fraß.“ – „Eheu, eheu, bedauerlich.“23

 

Ich wollte Zwietracht säen. Jetzt wächst hier überall Zwieback. Verdammte Autokorrektur.24

 

In Deutschland werden pro Jahr 35 neue Fußballfelder errichtet. Das entspricht einer Fläche von 35 Fußballfeldern!25

 

Ohne Worte.26

8. Kategorie: Der „normale“ Tweet

Schreibt Gallenbitter nie. Außerdem wird diese Kategorie ständig kopiert, wiederholt und geklaut. Die Klassiker sind: „Guten Morgen!“, „Ich muss aufs Klo.“ und „Ich geh im Bett.“ Dafür habe ich einen Zweitaccount. Der twittert so Zeugs. Ständig.

9. Kategorie: Der Ein-bisschen-Aphorismus-Tweet

Die Grenze des guten Geschmacks ist leider unbewacht.27

 

Ich war schon Pessimist als die Welt noch gut war.28

 

Meine Unfehlbarkeit wird oft mit Arroganz verwechselt.29

 

Ich habe meine Jugend mit Erwachsenwerden vergeudet.30

 

Von der Zukunft erhoffe ich mir eine glückliche Vergangenheit.31

 

Und kaum findet der Topf seinen Deckel steigt der Druck.32

 

Gelegentlich schreibe ich auch mal etwas Vernünftiges – oder besser: keinen kompletten Unsinn. Fakt ist jedenfalls, dass dies die einzigen Tweets sind, denen eine gewisse nachvollziehbare Gedankenarbeit vorausgegangen ist. Nachdenken und reflektieren über die Welt, über die Menschen und ein bisschen über sich selbst. Diese intellektuelleren Tweets waren, als sie noch aphoristische Gedanken waren, der Grund für die Anschaffung der kleinen schwarzen Notizbücher. Inspiriert waren sie von den Herren Jean Paul, Ambrose Bierce und natürlich Emile Cioran. Ich empfehle alle drei wärmstens. Wunderbare Aphoristen.

 

Und mein Moleskine? Den habe ich noch immer. Und nicht selten schlage ich ihn auf und mache Notizen. Über mein ganz privates Ich, meine Wünsche, meine Fehler, Begierden, Hoffnungen und Sorgen. Denn außerhalb der 140-Zeichen-Öffentlichkeit gibt es noch ein weites Feld, das nicht zum Teilen bestimmt ist. Gedanken, die die Grenze dort hinüber überschritten haben, landen nicht auf Twitter, sondern in meinem kleinen, geheimen Notizbuch. Falls Sie meinen Moleskine finden sollten – Sie wissen schon – gibt’s 100 Euro Finderlohn. Und Bier und Hartwurst obendrauf.

 

Herzlichst, Ihr Gallenbitter