Handbuch für die Praxis
Armin Krenz
Elementarpädagogik
aktuell
Die Entwicklung des Kindes
professionell begleiten
© 2013
Burckhardthaus-Laetare, Körner Medien UG, München
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Übernahme auf Ton-/Bildträger vorbehalten. Ausgenommen sind fotomechanische Auszüge für den eigenen wissenschaftlichen Bedarf.
Umschlaggestaltung: Patricia Fuchs, AVR, München
Umschlagfoto: Igor Yaruta –s Fotolia.com (http://Fotolia.com)
Fotos im Innenteil: Daphne Barchewitz
Produktion: Gernot Körner, Körner Medien UG, München
Digitale Aufbereitung: Alfons Schmid, ISM, München
Satz und Layout: Sigrun Borstelmann, Sibo-Medien, München
www.burckhardthaus-laetare.de
ISBN 978-3-944548-70-8
Vorwort
Wer mit Kindern lebt bzw. arbeitet, unabhängig davon, ob es nun die eigenen oder einem beruflich anvertraute Kinder sind, ist auf ganz unterschiedliche Weise von ihnen berührt. Auf der einen Seite stecken Kinder voll Fantasie und Kreativität, sind neugierig und spontan, lebendig und mit großem Engagement bemüht, ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Auf der anderen Seite sind sie aufgrund von Erlebnissen und Erfahrungen, die ihr „Kindsein“ erschweren, manchmal auch voll Traurigkeit. Trennungserlebnisse, Ohnmachtsgefühle und die Erfahrung, manchen Situationen hilflos ausgeliefert zu sein, drücken unweigerlich ihren Stempel in die Kinderseele und tragen dazu bei, dass Kinder tief verletzt sind oder resigniert die Augen vor der Zukunft verschließen. Kindsein kann schön sein, Kindsein kann auch schwer sein. Im Laufe meiner Berufspraxis hatte ich das Glück, Hunderte von Kindern kennenlernen zu dürfen, die sich offen oder zurückhaltend, interessiert oder verschlossen, fröhlich oder mit versteinerter Miene auf das Wagnis Leben eingelassen haben/einlassen mussten. Es gab wundervolle, aber auch erschreckende Begegnungen. Immer wurde eines deutlich: Kinder sind auf der Suche nach sich selbst. Das ist ein natürlicher Vorgang – Identitätssuche und Selbstexploration genannt –, der sich zu allen Zeiten und an allen Orten dieser Welt vollzieht.
Kein Kind ist von sich aus böse, vielmehr sind es eigene Gewalterfahrungen, die manche Kinder dazu bringen, andere zu verletzen, getreu dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Kein Kind ist von sich aus aggressiv, vielmehr sind es Erlebnisse, die Kinder über- beziehungsweise unterfordern. Kein Kind ist von sich aus ängstlich, vielmehr gibt es zurückliegende Eindrücke, die nun in der Angst ihren Ausdruck finden. Kinder wollen selbst werden, ihre eigene und die um sie herum existente Welt erschließen. Sie möchten sich aus der Welt der Abhängigkeiten in eine Dimension der Unabhängigkeit bringen. Sie sind auf der Suche nach Welterfahrung und wünschen nichts sehnlicher, als sich selbst zu konstruieren. Dazu brauchen sie ein Umfeld, das ihnen hilft und es ihnen ermöglicht, diese elementaren Erfahrungen machen zu können. Dabei spielt der Kindergarten – der Garten für Kinder – eine ganz besondere Rolle im Entwicklungsprozess der ersten sieben Lebensjahre. Neben der familialen Pädagogik prägen diese Einrichtungen die Kinder durch Methodik/Didaktik, besondere Merkmale der ErzieherInnen, die Raumgestaltung (Innen- und Außenräume), die erlebte Umgangs- und Kommunikationskultur sowie durch ihre gesamte Atmosphäre. Das Kind erlebt sich hier täglich in ungezählten Situationen als Subjekt oder Objekt, erfährt Wertschätzung oder Geringschätzung, Freude oder Trauer, Glück oder Unglück, Respekt oder Respektlosigkeit, Annahme oder Ablehnung, Entwicklungsanregungen von wirklicher Bedeutung oder Entwicklungsblockaden aufgrund langweiliger Tagesabläufe und Gestaltungsschablonen.
In den letzten Jahrzehnten der Kindergartenpädagogik sind viele Forderungen an ihre Gestaltung formuliert worden. Sei es durch das „Berufsbild der ErzieherIn“, die wegweisenden Aussagen im „Kinder- und Jugendhilfegesetz“, in der UN-Charta „Rechte des Kindes“, in einigen (nicht allen!) fortschrittlichen „Kindertagesstättengesetzen der Bundesländer“ oder in den unterschiedlichen Qualitätsoffensiven, die alle das Wohl des Kindes in schöne Worte gekleidet haben. Doch wie so häufig besteht ein großer Unterschied zwischen Theorie und Praxis: Einige Kindergartenkonzeptionen lesen sich wie Auszüge aus der Beschreibung des Gartens Eden – und sind doch nur inhaltsleere Worthülsen. Manche Konzepte versprechen Qualität - und richten sich doch nur an den Wünschen der Eltern aus.
Pädagogik lebt von den Personen, die sich um die Entwicklung der Kinder kümmern. Sie sind letztlich diejenigen, die der Einrichtung und damit auch den Kindern ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken. Darüber und in Kenntnis der Grundbedürfnisse, die Kinder für ihr seelisches Wachstum haben, sowie aufgrund der Erfahrung, wie bedeutsam die elementarpädagogische Arbeit für Kinder ist, habe ich immer wieder versucht, in den verschiedenen Fachbeiträgen das Bewusstsein von ErzieherInnen für kindliche Entwicklungsvorgänge zu schärfen und gleichzeitig daran mitzuarbeiten, dass Kindergartenpädagogik fortwährend professioneller wird.
Von den über 300 Artikeln, die mittlerweile in unterschiedlichen Fachzeitschriften veröffentlicht worden sind, liegt nun eine erste Zusammenstellung vor, in der bedeutsame Aspekte einer professionellen Entwicklungsbegleitung in einer humanistisch und qualitätsgeprägten Elementarpädagogik beschrieben werden. Die Auswahl der Aufsätze wurde vor allem dadurch getroffen, indem Beiträge aufgenommen wurden, die von Kolleginnen unterschiedlicher Kindertagesstätten besonders häufig angefordert worden waren. Insofern entspricht die Auswahl der Aufsätze nicht einer subjektiven Zusammenstellung des Autors, sondern vielmehr einer Antwort auf Praxisanfragen.
Aufmerksame LeserInnen werden daher vielleicht auf zwei Fragen stoßen:
Zum einen zeigt sich in der PRAXIS, dass es immer wieder GRUNDSATZFRAGEN gibt, die schon vor fünf oder mehr Jahren heftig diskutiert und unterschiedlich beantwortet wurden, bei genauerem Betrachten aber immer noch eine hohe aktuelle Bedeutung haben. Denken wir nur an die Diskussion zum Bildungsauftrag in Kindertagesstätten, ausgelöst durch die Studie PISA 2000. Die Frage nach der Gestaltung des eigenständigen Bildungsauftrags von Kindertagesstätten beschäftigte schon vor
30 Jahren die Politik, Wissenschaft und Praxis. Oder denken wir nur an die langjährigen Auseinandersetzungen zum professionellen Berufsverständnis elementarpädagogischer Fachkräfte: eine Diskussion, die gerade in den Zeiten einer „Qualitätssicherung“ von höchster Bedeutung ist. Insofern werden diese und ähnliche Grundsatzfragen auch heute noch kontrovers in entsprechenden Fachforen und in ungezählten Kindertagesstätten aufgenommen und besprochen, in Fachzeitschriften aufgegriffen und in unterschiedlichen Fortbildungsseminaren fokussiert. Zum anderen gibt es „thematische Evergreens“, die je nach einer besonderen Schwerpunktsetzung einen ganz besonderen Aspekt eines Themas beleuchten und damit spezifische Betrachtungen ermöglichen. So kann beispielsweise eine „Psychologie des Spiels“ unter dem Aspekt „Spielen und Lernen“ oder den Begriffen „Spielfähigkeit und Schulfähigkeit“, „spielerische Intelligenz vs. kognitive Intelligenz“, „Begabung vs. Schulfähigkeit“ usw. betrachtet werden. Schon kleinste andere Schwerpunktsetzungen geben jedem Artikel einen eigenen Richtungsaspekt. Um diese Besonderheit zu wahren, wurden auch ähnlich wirkende Beiträge bewusst berücksichtigt, um möglichst vielen interessierten LeserInnen ein dezidiertes Leseinteresse zu ermöglichen.
Mögen die Inhalte der Artikel dazu beitragen, dass Kinder wieder zu ihren hundert Sprachen zurückfinden, ihre hundert Hände nutzen können/wollen, ihre hundert Gedanken ins Spiel bringen und dabei auf ErzieherInnen stoßen, die ihnen dabei helfen, ihr Leben neu zu entdecken, reichhaltig zu erfahren und damit ihr Kindsein zusammen mit den großen Menschenkindern genießen zu können, getreu den wirklichen Grundsätzen des Lebens: „Wer nicht genießt, ist ungenießbar“ oder „Wer mit Kindern wirklich lebt, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus“.
Prof. Dr. Armin Krenz
Unsere Kinder –
unsere Zukunft
Wie wertvoll sind uns unsere Kinder?
Was wir dazu beitragen können, damit Kinder sich angenommen und verstanden fühlen
Jedes Kind möchte beachtet, anerkannt und geliebt werden. Eltern und ErzieherInnen haben tagtäglich die Möglichkeit, ihren Kindern auf irgendeine Weise die Aufmerksamkeit und Achtung entgegenzubringen, die diese brauchen, um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Immer mehr Kinder und Jugendliche fallen in ihrem Verhalten „aus der Rolle“, sei es durch plötzliche Wutanfälle, aggressive Unmutsäußerungen, tiefe Resignation oder lautes Schreien. Desgleichen nässen Kinder plötzlich wieder ein, obwohl sie schon trocken waren. Andere Kinder zeigen Sprachauffälligkeiten, ohne dass eine körperliche Ursache festzustellen ist, oder verhalten sich planlos und hektisch, obgleich ärztliche Untersuchungen keinen Befund erbringen. Aber auch Kinder, die starken Stimmungsschwankungen ausgeliefert sind, geben ihren Eltern, Geschwistern, ErzieherInnen und Lehrerinnen Rätsel auf.
Auffällig ist, dass es bei all diesen Kindern und Jugendlichen häufig etwas Gemeinsames gibt: bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen, die dazu geführt haben, dass sie sich in ihrer Persönlichkeit nicht angenommen fühl(t)en oder Geringschätzung erfahren mussten.
Was Kinder heute brauchen
Viele Kinder und Jugendliche erleben heutzutage, dass ihr Tagesablauf, ja selbst ihre Zukunft bezüglich Schule und Beruf schon „programmiert“ und ihre Freizeit mit Kursen oder Trainingsstunden verplant ist. Nicht selten werden Kinder damit in ihrem Kindsein beschnitten. Was Kinder und Jugendliche heute brauchen, ist einerseits ein Gefühl von Sicherheit, andererseits aber auch die Möglichkeit, selbst Erfahrungen zu sammeln und in erster Linie freie, unverplante Zeit zu er leben. Sicherheit erfahren Kinder und Jugendliche, indem sie spüren, dass sie etwas können, stolz auf sich sein dürfen und dass vor allem Erwachsene zu ihnen halten, auch wenn mal etwas danebengeht. Sicherheit ist von herausragender Bedeutung für das eigene Selbstwertgefühl, welches wiederum der Motor dafür ist, sich mit der eigenen Person und mit anderen Menschen konstruktiv auseinanderzusetzen.
Eigene Erfahrungen ermöglichen es, aktiv zu lernen, eigene Gedanken zu entwickeln und Neues auszuprobieren, ohne die Verantwortung für ein Gelingen beziehungsweise Misslingen auf andere abzuschieben. Die Sorge vieler Erwachsener, dass Kinder bestimmte Aufgaben noch nicht bewältigen könn(t)en, führt zu einem überbehütenden, überfürsorglichen Verhalten. Die Folge ist häufig, dass Kinder die Lust verlieren, sich und ihr Können auf die Probe zu stellen, wertvolle eigene Erfahrungen zu sammeln und selbstständig zu handeln.
Um aber überhaupt Sicherheit zu erlangen und eigene Erfahrungen sammeln zu können, brauchen Kinder auch und vor allem Zeit. Sie ist notwendig, um im individuellen Rhythmus – mal langsamer, mal schneller – Vorhaben zu meistern, ohne gehetzt oder ermahnt zu werden. Dadurch wird es beispielsweise erst möglich, dass ein Kind seinen Wunsch, einen hohen Baum zu erklettern, ohne Druck in die Realität umsetzen kann. Auch kann es auf diese Weise seine persönlichen Vorstellungen von gut und böse, richtig und falsch in der Praxis erproben. Mit dem Gefühl von Sicherheit, der Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu sammeln und ausreichend Zeit zu haben, um den Alltag zu erleben, spüren die Kinder und Jugendlichen, dass es für sie einen Platz auf dieser Welt gibt.
Kindern mit Respekt begegnen
Ist es nicht gerade das, was wir den Kindern wünschen: einen Platz auf dieser Welt zu finden, sich wertvoll zu fühlen und glücklich zu sein?
Wer Kinder fragt, was ihnen an Erwachsenen gefällt und sie glücklich macht, kann aus ihren Antworten heraushören, wie sensibel Kinder ihr Umfeld wahrnehmen und beurteilen. Sie würden unter anderem sagen: „Erwachsene hören mir zu. Sie spielen und lachen mit mir, und dann ist es auch gar nicht so schlimm, wenn sie mal schimpfen. Erwachsene nehmen mich ernst und machen sich nicht über meine Sorgen lächerlich, nur weil sie meinen, sie hätten mehr Erfahrung. Sie halten auch zu mir, wenn mal etwas danebengeht oder ich mit einer schlechten Note nach Hause komme. Ihnen kann ich alles erzählen, und sie behalten es für sich. Meine Eltern sind zwar nicht gerade glücklich, wenn ich völlig verschmutzt vom Spielen komme, können aber nachempfinden, dass es mir Spaß gemacht hat, im Matsch zu graben. Sie zwingen mir kein Essen auf, sondern können damit leben, dass ich später oder weniger frühstücke. Sie lassen mich mitbestimmen und haben keinen Befehlston.“
Wer Kindern mit Respekt begegnet und ihre Einmaligkeit begreift, sieht sie als das, was sie sind: Schätze dieser Welt! Kinder möchten verstanden und angenommen werden – so einzigartig und individuell, wie sie sind!
Ich bin einmalig!
Kinder wollen Neues ausprobieren, das eigene Können auf die Probe stellen und damit Sicherheit erlangen. Erwachsene müssen ihnen ihre Wertschätzung entgegenbringen. „Wertschätzung“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als den einmaligen Wert eines Kindes beziehungsweise Jugendlichen zu schätzen.
Kinder müssen zunächst die Möglichkeit haben, ihre Einmaligkeit zu spüren. Bedenkt man dies genauer, darf man sicher einmal kritisch fragen, ob denn ein zwei- oder dreijähriges Kind wirklich schon in Spielgruppen von 15 oder mehr Kindern soziale Erfahrungen sammeln muss, anstatt genügend Zeit und Ruhe zu haben, erst einmal sich selbst und sein näheres Umfeld intensiv kennenzulernen. Der Anspruch der Erwachsenen, Kinder möglichst früh „sozial zu machen“, überfordert Kinder häufig.
Wertschätzung bringen wir Kindern dann entgegen, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, sich individuell zu entfalten, und zwar in einer Atmosphäre, in der sie sich aufgehoben und geborgen fühlen und sie eine feste Ansprechpartnerin beziehungsweise einen festen Ansprechpartner finden, wenn sie ihn brauchen und nicht erst, wenn irgendjemand Zeit für sie hat. Kinder erfahren Wertschätzung dadurch, dass Erwachsene mit ihnen gemeinsam nach Antworten suchen und nicht durch Besserwisserei ihre Macht unter Beweis stellen, dass sie nicht durch Ironie verletzt werden, sondern echte Anteilnahme ihr Leben begleitet, dass ihre individuellen Fähigkeiten und Schwächen erkannt werden und nicht ein ständiger Geschwister- oder Freundesvergleich ihre Einmaligkeit herabwürdigt.
Erwachsene zeigen Kindern ihre Wertschätzung auch dadurch, dass die Freude an der Entstehung eines Werks oder Vorhabens mehr zählt als die Makellosigkeit eines fertigen Produkts, dass sie sich auf das magische Denken von Kindern – etwa beim Vorlesen von Märchen – einlassen und nicht alles durch das Nadelöhr einer rationalen, verkopften Erwachsenenvernunft muss, dass sie in Stresssituationen dem ungestümen Bewegungsdrang der Kinder wohlwollende Beachtung schenken und sie eben nicht immer „still sitzen“ müssen. Sie akzeptieren die natürliche Wissbegier der Kinder und gehen offen und ohne auf schulische Leistungen zu schielen auf sie ein. Sie blocken neugierige Fragen nicht als unwichtig oder störend ab. Sie verstehen auffällige Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zuallererst als Hilferuf, anstatt diese Kinder vorschnell zu verurteilen.
Bedürfnisse und Interessen verstehen
Dort, wo Erwachsene Kindern und Jugendlichen mit Respekt und Achtung als einer Form gelebter Wertschätzung begegnen, versteht es sich von selbst, dass dieses Merkmal einer guten Beziehung keine Methode darstellt, um bestimmte Ziele zu erreichen. Eine natürliche Wertschätzung zeigen diejenigen Erwachsenen, die Kinder einfach mögen, ungestüme oder ängstliche Verhaltensweisen verstehen, Zurückhaltung oder Lebendigkeit lieben und sich dabei an ihr eigenes Kindsein erinnern.
Wertschätzung verlangt von Eltern und ErzieherInnen Verständnis für die Bedürfnisse und Interessen ihrer Kinder, ein regelrechtes Eintauchen in die Kinderwelten und ein tiefes Begreifen der Bedeutung von Kinderwünschen. Dabei geht es nicht an erster Stelle darum, materielle Wünsche zu befriedigen, sondern vielmehr um Bedürfnisse zwischenmenschlicher Beziehungen: den Kindern zuzuhören, ihre Äußerungen ernst zu nehmen und auch in Gesprächen „zwischen den Zeilen lesen“ zu können.
Kindern Wertschätzung entgegenzubringen sollte mit Freude und Selbstverständlichkeit zu unserer Umgangskultur gehören, genauso wie wir es für selbstverständlich halten, guten Freunden herzlich zu begegnen.
Wie du mir, so ich dir
Es ist allgemein bekannt, dass ein geringschätziger Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht selten dazu führt, dass diese ihre bitteren Erfahrungen an andere Weitergeben nach dem Motto: „Wie du mir, so ich dir.“ Oder: „Wenn man mich schlecht behandelt, behandle ich andere bzw. mich selbst eben genauso schlecht!“ Richtig ist, dass es meist unbeabsichtigt und unüberlegt und sicher nicht mit böser Absicht geschieht, dass Erwachsene und Eltern geringschätzig mit Kindern umgehen. So kennen wir alle aus dem Alltag Situationen, in denen Eltern ein Kind vor anderen bloßstellen und damit seine Würde verletzen und seine Intimität zerstören. Wer sich einmal die Zeit nimmt zu zählen, wie oft wir Kinder kritisieren und wie oft wir sie loben, wird über das Unverhältnis erstaunt sein. Wertschätzung ist kein kurzes Entflammen einer „Goodwilltour“, sondern ein grundsätzliches Merkmal im gemeinsamen Leben und Lernen mit Kindern und Jugendlichen.
Die Welt der Kinder und Erwachsenen – diese eine Welt – wie sie sich uns heute mit ihrer Umweltzerstörung und Gewalttätigkeit, ihrer Überheblichkeit Schwächeren gegenüber und ihrem zunehmenden Desinteresse am Nächsten darstellt, würde sicher anders aussehen, wenn wir den Begriff der WERTschätzung stärker achten und umsetzen würden. Doch auch hier darf in der Konsequenz nicht auf globale Zusammenhänge hingewiesen und die Verantwortung abgegeben werden: WERTschätzung beginnt im Umgang mit uns selbst und im Leben mit unseren Kindern: jeden Tag und jede Stunde.
Was brauchen Kinder?
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich Alltag, Lebenssituation und Lebensraum für die Kinder in unserer Gesellschaft stark verändert:
Kinder müssen eine ständige Zunahme an Erfahrungsverlusten hinnehmen
Wer mit Kindern arbeitet, wird sich sicher manchmal fragen, ob es wünschenswert wäre, heute noch einmal Kind zu sein. Da ist es naheliegend, zunächst nachzuspüren, wie es einem in der eigenen Kindheit ergangen ist, was gute und was schlechte Erinnerungen ausmachen. An was erinnern wir uns? Ans Höhlenbauen im Wald, an Versteckspiele in Kornfeldern, ans Bäumeklettern, an ausgelassene Spiele auf bunten Wiesen, an Fahrradtouren mit den Eltern, an die Wochenendfahrten zu Verwandten …
In der Erinnerung verklärt sich vieles, und schnell ist man versucht, einschränkende, verletzende, zerstörende und belastende Erfahrungen außen vor zu lassen. War da nicht auch die Strenge mancher Lehrer in der Schule, das eingeschränkte Spielmaterial zu Hause, die kleine Wohnung oder die leidige Gemüsesuppe, die trotz innerer Ablehnung gegessen werden musste?
Ungeachtet persönlicher Erfahrungen hat sich die Kindheit – das bestätigt die Forschung – in den vergangenen beiden Jahrzehnten drastisch verändert. Das Leben in unserer Gesellschaft wird für Kinder (und nicht nur für diese) immer unübersichtlicher. Sie können das Leben in all seinen Facetten nicht mehr in Ruhe und mit ausreichend Zeit wahrnehmen oder bestimmte Verhaltensmuster durchspielen und ausprobieren.
Die Entwicklungsphase Kindheit droht verloren zu gehen. Zu den einschneidendsten Veränderungen gehören:
•Kinder sind als Konsumenten entdeckt worden. Konsum, so wird ihnen versprochen, bedeutet Glück, und der Besitz bestimmter Markenprodukte ist zu seinem Gradmesser geworden. Dies betrifft inzwischen bereits die Kinder im Kindergartenalter. Das Habenmüssen und diesbezügliche Vergleichen verdrängt zunehmend andere elementare Bedürfnisse.
•Erfahrungen werden zunehmend aus zweiter Hand, aus dem übergroßen Angebot der Medien gewonnen. Für viele Kinder erschließt sich die Welt nur noch zum kleinen Teil über die eigene Aktivität. Fernsehen, Videospiele, Computer und Internet haben den Kinderalltag mittlerweile fest im Griff. Nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich hinterlassen diese Medien ihre Spuren im Erleben der Kinder.
•Der Urlaub unterliegt zunehmend einem Anspruch, der sich nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Für Kinder reicht es in der Regel völlig aus, gemeinsam mit den Eltern und anderen Kindern (Geschwistern) spielerisch ihre Umwelt zu entdecken. Die Reiseveranstalter und die Werbung suggerieren aber schon den Kindern, dass Urlaubsreisen in die entferntesten Winkel unserer Erde besonders attraktiv seien.
•Die hohe Bevölkerungsdichte Deutschlands hat zur Folge, dass der Einzelne immer weniger Platz hat. Das Straßennetz wird enger gezogen. Brachliegende Grundstücke, auf denen es sich ins unserer Kindheit herrlich spielen ließ und die zum Treffpunkt aller Kinder der Wohngegend wurden, gibt es immer seltener. Gepflegte Grünanlagen sind mit Regeln belegt, und öffentliche Spielplätze lassen wenig Raum für freies Spielen, da sie bestimmte Spielfunktionen vorgeben. Selbst dort, wo es noch Wald oder Wiesen gibt, ist es meist nicht mehr möglich, „mal eben“ rauszugehen und andere Kinder zu treffen. Bedenkt man, dass es immer mehr Einzelkinder gibt, ist diese Entwicklung umso problematischer.
•Eltern versuchen, auf eingeschränkte Spielmöglichkeiten ihrer Kinder zu reagieren, indem sie deren Tagesrhythmus durch Kurse wie Judo-, Ballett- oder Klavierunterricht neben Kindergarten- oder Schulzeit strukturieren.
•Die Angst vor Gefahren, allein durch den Straßenverkehr, verhindert, dass sich die Kinder in der ihnen verbleibenden freien Zeit informell mit ihren Freunden treffen können. Wieder muss alles arrangiert und geregelt werden. Das Mobiltelefon ist für viele Kinder zum verlängerten Sprachrohr in einer anonymisierten Welt geworden. Spontane, lebendige Beziehungen der Kinder untereinander werden immer seltener.
Soziale Kompetenz lässt sich nur dadurch erlernen, indem man sich auf andere Menschen und deren Erfahrungen einlässt
Kinder hatten früher viel größere Chancen, sich in selbst organisiertem Maße zu entwickeln, selbst gewählte Freundschaften in selbstbestimmter Art zu gestalten und räumliche sowie persönliche Schwerpunkte neben alltäglichen Verpflichtungen zu realisieren. Auf den Punkt gebracht bedeutet diese Entwicklung, dass das Kinderleben heute immer zerrissener, Kindertagesabläufe in zunehmendem Maße zerteilt und Kinderwelten immer stärker eingeengt werden.
Dem mag man entgegenhalten, dass Kinder heutzutage mehr Spielmaterial, größere Bildungschancen, eine bessere Förderung und vielschichtigere Kommunikationswege nutzen können. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Kinder trotz dieser Chancen eine ständige Abnahme an Erfahrung hinnehmen müssen! Aus entwicklungspädagogischer Sicht muss diese Tatsache sowohl Eltern als auch pädagogische Fachkräfte aufrütteln, weil Kinder vor allem über das eigene Handeln lernen. Nicht umsonst heißt es: „Aus Erfahrung wird man klug.“ Wenn Kinder zunehmend Erfahrungsverlusten ausgesetzt sind, können sie sich nicht gleichzeitig als Akteure ihrer eigenen Entwicklung begreifen.
Viele Möglichkeiten haben die Kinder dann nicht mehr: Entweder sie resignieren, ziehen sich zurück und klagen darüber, dass ihnen „sooo langweilig“ sei, oder sie suchen sich Mittel und Wege, die Welt trotzdem zu entdecken, etwa durch Regel- und Grenzüberschreitungen oder den Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, nach dem Motto „Seht her, hier bin ICH!“
Gesucht: Orte und Menschen, die vielfältige Erfahrungen und Entwicklung ermöglichen
Wenn Kinder in einer Weise aufwachsen, in der ihnen bedeutsame Erfahrungen vorenthalten und Zeitstrukturierungen sowie organisatorische Vorgaben übergestülpt werden, sind sie mehr denn je darauf angewiesen, noch Handlungsschritte unternehmen zu können, die ihrer Entwicklung dienen. Wie aber müssen Orte sein, die Kindern das bieten, was sie brauchen?
•Kinder brauchen einen Ort, an dem sie ihre eigene Identität auf- und ausbauen, sich von Spannungen freispielen und erfahren können. Sie sind auf der Suche nach sich selbst: „Das bin ich, das kann ich, das schaffe ich, und das traue ich mir zu.“ Indem sie aktiv werden und Eigeninitiative zeigen, entwickeln sie eine Beziehung zu ihrem Können und erwerben das notwendige Selbstbewusstsein. Warum klettern Kinder auf Bäume oder Dächer, lassen sich auf verschiedene kleine und große Abenteuer ein, hüpfen von Mauern und laufen um die Wette? Weil Kinder ihre Kraft erfahren und erproben möchten!
•Kinder brauchen Gelegenheiten, ausgiebig und immer wieder mit anderen Kindern zusammenzutreffen und den Umgang mit ihnen zu erfahren und zu erleben. Soziale Kompetenz lässt sich nur durch ein Einlassen auf andere Menschen, durch Erfahrungen mit anderen erlernen. Kinder suchen das Miteinander, sie brauchen die Erfahrung, gemeinsam etwas auszuhecken und solidarisch zusammenzuhalten. In spielerischen Gefahrensituationen erleben sie, wie stark und stützend Gemeinschaft sein kann.
•Sie brauchen die Erfahrung von der Verlässlichkeit menschlicher Beziehungen, besonders dann, wenn es darum geht, Erlebnisse einzuordnen oder unverständliches Verhalten (zum Beispiel der Eltern/ErzieherInnen) auszuhalten.
•Kinder brauchen Rückzugsmöglichkeiten, um dem allgegenwärtigen Blick von Erwachsenen zu entrinnen und sich allein (oder mit anderen) Beschäftigungen hinzugeben, die nur ihnen bekannt sind.
•Kinder brauchen Freiräume, um sich zu bewegen, zu laufen, zu toben, zu rollen, zu springen und zu hüpfen, kurz: um ganzheitliche Körper- und Sinneserfahrungen machen zu können.
•Kinder brauchen genügend Zeit, in der sie mit Ausdauer und nach eigenem Zeitempfinden Dinge in Ruhe zu Ende führen können. Sie benötigen und suchen Orte, an denen sie ihr eigenes Zeitmaß leben können, wo wenig gedrängelt wird und ihre geistigen Fähigkeiten Entfaltungsmöglichkeiten erhalten.
•Kinder brauchen einen Ort, an dem sie ein aktives Mitspracherecht haben. Dies beginnt bei der täglichen Kommunikation und endet bei fest eingeplanten Kinderkonferenzen. Sie haben zudem das Recht auf Versuch und Irrtum, ohne dafür bestraft oder ausgelacht zu werden.
•Kinder brauchen eine Umgebung, in der sie sich in ihrer Individualität entwickeln können, und sie brauchen Menschen, die ihnen einen Freiraum zugestehen, in dem sie durch Ausprobieren und auch Irrtümer die Vorgänge in ihrer Umgebung, ihrer Umwelt begreifen können.
•Kinder brauchen Erwachsene (und ein entsprechendes Umfeld), die der Prozesshaftigkeit eine höhere Beachtung schenken als dem Herstellen von „ästhetischen Produkten“, und sie brauchen diese Erwachsenen als Bündnispartnerinnen ihrer ureigenen Interessen.
Wenn es Kindern nicht mehr möglich ist, grundsätzliche und entwicklungsrelevante Erfahrungen zu Hause oder im häuslichen Umfeld zu machen, so muss es einmal mehr die Aufgabe des Kindergartens beziehungsweise der Kita sein, hier ausgleichend einzugreifen. Wer sich dieser Herausforderung bewusst stellt, kommt nicht darum herum, seine bisherigen Aufgaben hinsichtlich Schwerpunkten, Arbeitsweisen und Methoden neu zu überdenken. ErzieherInnen gestalten die Arbeit in Kindergarten und Kita vor allem vor dem Hintergrund von drei Erfahrungshorizonten: ihrer eigenen Biografie (mit den erlebten Werten und Normen), ihrer Ausbildung (mit den teilweise immer noch herrschenden traditionellen pädagogischen Vorstellungen) und ihrer konkreten individuellen Erfahrung, die sie während ihrer Arbeit als Erzieherin bisher gemacht haben. Gespräche mit den Kolleginnen bieten die Chance, gesellschaftliche und lokale Veränderungen wahrzunehmen und in der Einrichtung entsprechend zu reagieren.
Kindergarten und Kita als pädagogische Institutionen unterliegen immer auch der Gefahr, sich von bildungspolitischen Strömungen beeinflussen zu lassen und die tatsächlichen Gegebenheiten nicht ausreichend zu berücksichtigen. Gegen eine vorbehaltlose Übernahme dieser Strömungen sollten sich die Fachkräfte vor Ort solidarisieren. Denn theoretische oder politische Vorstellungen und Betrachtungen über die „Gestaltung der Zukunft von Kindern“ haben nicht unbedingt etwas mit der Realität heutiger Kindheit (und ihren entwicklungsbezogenen Folgen für die Kinder) zu tun. Gerade weil soziale Erfahrungen in der „natürlichen“ Lebenswelt der Kinder gegenwärtig nur noch eingeschränkt möglich, zum Teil sogar unmöglich geworden sind, müssen Kindergarten und Kita diesen Aspekt in ihrer Einrichtung gezielt berücksichtigen: So dramatisch der Verlust sozialer Beziehungen der Kinder untereinander in ihrem Lebensumfeld ist, desto bedeutsamer wird für viele Kinder ihre Zeit im Kindergarten/in der Kita.
Anregungen zur Reflexion im Team:
Kindergarten – ein Garten für Kinder
Ein großer Garten mit altem Baumbestand und einer reichen Tier- und Pflanzenwelt entführt uns in ein wahres „Reich der Sinne“. Es gibt allerlei Farben, Formen und Düfte zu entdecken. Blumen und Sträucher entwickeln ihre Pracht zu unterschiedlichen Jahreszeiten, sodass eine Blütezeit die andere ablöst. Hecken dienen Kleintieren zum Schutz und bieten Nistgelegenheiten für verschiedene Vogelarten. Große Bäume spenden Schatten, sodass der Boden in regenarmen Zeiten nicht gänzlich austrocknet. Ein solcher Garten zeichnet sich durch seine Vielfalt und Widerstandsfähigkeit aus, im Gegensatz zu Monokulturen mit ihrer besonderen Anfälligkeit für Krankheiten und gegenüber ungünstigen Witterungsbedingungen.
Die ErzieherInnen im Kindergarten beziehungsweise in der Kita können ihre Aufgaben entsprechend eines Gärtners/einer Gärtnerin nun auf dreierlei Arten verstehen: Es gäbe die Möglichkeit, alles einfach wachsen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sich der Garten „irgendwie“ von selbst entwickeln wird (Laisser-faire-Stil). Eine zweite Möglichkeit bestünde darin, das Gelände in einen gepflegten Vorstadtgarten verwandeln zu wollen, in dem die Beete „unkrautfrei“ gehalten werden und der Gärtner/die Gärtnerin nach eigenem Geschmack und Gutdünken entscheidet, was, wo, wie, neben wem und in welcher Höhe wächst (autoritärer Stil). Drittens könnten aber auch Gartenfachleute, die über ein profundes Wissen verfügen, dafür Sorge tragen, dass sich alle Pflanzenarten optimal entwickeln, wobei ihnen selbstverständlich auch ihre Ausbreitung und Ausweitung zugestanden wird. Solche GärtnerInnen sorgen vor allem für eine gute Bodenbeschaffenheit nach dem Motto: „Nicht die Pflanze ist krank, wenn sie nicht gedeiht, sondern der Boden ist für ihr Wachstum ungeeignet.“ Diese Sichtweise entspricht einem demokratischen Stil, weil die elementaren Bedürfnisse der einzelnen Pflanzen berücksichtigt und wertgeschätzt werden. Dieses Bild von einem Garten soll dazu anregen, allein oder im Team darüber zu reflektieren, ob die eigene Einrichtung einem solchen Garten für Kinder entspricht, in dem sie sich individuell entwickeln und entfalten können.