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Handbuch für die Praxis

Armin Krenz

Elementarpädagogik
und Professionalität

Lebens- und Konfliktraum Kindergarten

Grundsätze zur Qualitätsverbesserung in

Kindertagesstätten

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© 2013, 2. Auflage

Burckhardthaus-Laetare, Körner Medien UG, München

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Übernahme auf Ton-/Bildträger vorbehalten. Ausgenommen sind fotomechanische Auszüge für den eigenen wissenschaftlichen Bedarf.

Umschlaggestaltung: Patricia Fuchs, AVR, München

Umschlagfoto: contrastwerkstatt – Fotolia.com (http://fotolia.com/)

Fotos: Daphne Barchewitz

Produktion: Gernot Körner, Körner Medien UG, München

Digitale Aufbereitung: Alfons Schmid, ISM, München

Satz und Layout: Sigrun Borstelmann, Sibo-Medien, München

www.burckhardthaus-laetare.de

ISBN 978-3-944548-71-5

Vorwort

Der Kindergarten ist ein Ort für Kinder – ausgestattet mit einem eigen­ständigen Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrag. So hat es schon 1970 und 1973 der Deutsche Bildungsrat deutlich formuliert. Schaut man in die Ausführungen der Bildungskommission, fallen folgende Merkmale einer Aufgabenstellung für Kindertageseinrichtungen auf: Sie

berücksichtigen die besonderen soziokulturellen Hintergründe der Kinder und ihrer Eltern und haben die Auf­gabe, diese bei der gesamten Arbeit zu beachten;

ermöglichen den Kindern eine „ganzheitliche Entwicklung“ und verzichten somit auf teilisolierte Förderungen einzelner Teilleistungs­bereiche von Kindern;

ermöglichen den Kindern den Einsatz ihrer gesamten geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten und gewähren ihnen gleichzeitig ausreichend Ruhepausen;

schenken den Kindern genügend Zeit, um sich frei und durch vielerlei Möglichkeiten ausdrücken zu können;

berücksichtigen die individuellen Unterschiede der Kinder in einer Kindergruppe und beachten in der pädagogischen Arbeit die besonderen (Entwicklungs-)Bedürfnisse der Kinder;

bieten den Kindern vielfältigste Möglichkeiten für individuelles und soziales Lernen;

achten auf besondere Krisenpunkte in der Entwicklung von Kindern;

legen die Grundlagen für ein späteres Lernen in den nachfolgenden Bildungseinrichtungen.

Damit wird deutlich: Der Kindergarten soll sich als Ort für Kinder verstehen, in dem tagtäglich Bildungsprozesse initiiert, auf- und ausge­baut werden. Insoweit überraschen Hektik und Aktionismus, die in vielen Kindertageseinrichtungen zu beobachten sind, ausgelöst durch die PISA-Studie 2000 und weitere Nachfolgeunter­suchungen. In den oben genannten Merkmalen wird deutlich, dass es in den Kindertageseinrichtungen primär darum geht, dafür Sorge zu tragen, dass elementarpädagogische Fachkräfte:

den Kindern vielfältigste Formen von Lernerfahrungen ermöglichen müssen;

den Kindergarten als ein Forschungsfeld – auch mit Kindern – gestalten;

gemeinsam mit Kindern tagtäglich auf „Entdeckungs­reise“ gehen;

den Kindern helfen, Lernmotivation, -freude, -interesse und -neugierde zu entdecken;

bei Kindern für emotionale Sicherheit sorgen müssen;

die Kinder darin unterstützen, ein stabiles Selbstwert­gefühl zu ent­wickeln;

alltägliche Lernangebote aus dem mittelbaren und unmittelbaren Um­feld zum sinnverbundenen Lernen ent­decken und mit Kindern als solche erleben.

All diese Merkmale deuten auf eine Abgrenzung von schulischem Lernen hin. Insofern überrascht es, wenn in manchen Kinder­tageseinrichtungen wieder „klassische Vorschularbeitsmappen“ aus vergange­nen Zeiten hervorgeholt und genutzt werden. Wichtig ist, dass der Kindergarten nur dann seine Aufgabe als Bildungsort erfüllen wird, wenn neben einer professionell gestalteten Arbeit gerade die „inneren Struktur- und Person(al)bedingungen“ dazu geeignet sind, die Kin­dertageseinrichtung zu einem solchen Bildungsort werden zu lassen. Dazu müssen vor allem folgende Grundsätze Beachtung gefunden haben bzw. finden:

  1. Kindertageseinrichtungen müssen sich als ein wirklicher Lebens­raum für Kinder verstehen: Grundsatzfragen müssen aufgeworfen, diskutiert und beantwortet werden.
  2. Elementarpädagogische Fachkräfte müssen sich selbst als Bil­dungsträger verstehen und in ihrer Person Bildungsmerkmale tra­gen, die sich entwicklungsfördernd für Kinder erweisen.
  3. Eine entwicklungsfördernde Bildungsatmosphäre für Kinder kann sich nur dort entwickeln, wo eine möglichst spannungsfreie, kollegiale Zusammenarbeit der elementarpädagogischen Fachkräfte besteht.
  4. Leitungskräfte müssen eine Bildungsoffensive in „ihren“ Einrich­tungen installieren und dafür Sorge tragen, dass eine ständige Ver­besserung der Bildungsqualität erreicht werden kann.
  5. Elementarpädagogische Fachkräfte müssen sich der Tatsache be­wusst sein, dass sie für Kinder als Resilienten wirksam werden kön­nen. Das heißt, dass sie seelische Widerstandskräfte in Kindern wecken, auf- und ausbauen können, wenn es den Fachkräften ge­lingt, sowohl durch eigene Persönlichkeitsmerkmale als auch durch ihre Umgangs- und Arbeitskultur in der Einrichtung für ein entspre­chendes Bildungsklima zu sorgen.
  6. Dreh- und Angelpunkt für eine personenorientierte Bildungsarbeit ist die personale Kompetenz der Fachkräfte. Sie bewirkt eine Innenqualität, die letztlich immer eine Person braucht, um in Ent­wicklungsprozesse zu kommen. Ohne diese innenqualitätsgeprägte Ausgangslage wird es nicht möglich sein, für wirkliche Lernmotiva­toren im Kindergarten zu sorgen.
  7. Bildungsvermittlung im Kindergarten – als Ziel und Aufgabe der Elementarpädagogik – lebt vor allem von dem Bildungsengage­ment der Fachkräfte. So heißt die Bildungsdevise unter anderem, dass die Fachkräfte neugierig, wahrnehmungsoffen, lernfreudig, lernmotiviert und innovativ die Tage mit Kindern erleben und gestal­ten. Immer wieder gilt es, neue Perspektiven für sich und
    die Arbeit zu entdecken, aufzunehmen und weiterzu-­
    ent­wickeln, damit auch der Kindergarten selbst eine
    Bildungseinrichtung mit Perspekti­ven sein wird.

Diesen Ausgangsdaten wird in dem Buch Rechnung getragen. Dazu hat der Autor aus seiner umfangreichen Sammlung vielfältigster Fachartikel aus fast 30 Jahren eine Auswahl entsprechender Fachbeiträge vorge­nommen und zusammengestellt. Alle Beiträge wurden dort, wo es nötig erschien, gegebenenfalls aktualisiert. Manche inhaltlichen Aus­führungen mögen in Einzelfällen auf den ersten Blick an anderer Stelle (z. B. im ersten Band
„Elementarpädagogik aktuell“) ähnlich erscheinen. Doch bei genauerem Lesen wird auffallen, dass zwar Ausgangsinhalte manches Mal gleich sind, diese aber dann in der weiteren Betrachtung eine andere inhaltliche Richtung einschlagen und entsprechend anders fortgesetzt werden, damit auch neue Facetten einer professionellen Elementarpädagogik schwerpunktspezifisch beleuchtet werden können.

Möge auch dieses Buch dazu beitragen, das Wesentliche der
Pädagogik in Augenschein zu nehmen, das Unwesentliche bewusst zu vernachläs­sigen und das Notwendige zu unternehmen, um die elementarpädago­gische Arbeit konstant und konsequent auch weiterhin zu professionalisieren!

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Lebensraum Kindergarten

Lebensraum Kindergarten – Grundsatzgedanken für eine kindorientierte Elementarpädagogik

Vorbemerkung

Kinder leben in zunehmendem Maße in einer Welt, in der sie immer weniger „Kind sein können bzw. dürfen“, so wie es seinerzeit der ame­rikanische Medienökologe Neil Postman, ein engagierter Streiter für die Wahrung der Kindheit, mit seinem Buch Das Verschwinden der Kindheit“ deutlich auf den Punkt gebracht hat.

Christian Büttner und Aurel Ende sprechen in der Bestandsaufnahme der Kinderleben zwischen 1740 und heute von den Begriffen Gefördert und mißhandelt (gleichnamiger Titel des Buches) und alltägliche Beob­achtungen führen dazu, sich mit veränderten Umfeldbedingungen von Kindern immer wieder auseinander­zusetzen. Diese sind gleichsam das Grundlagenmaterial für die Gestaltung und Neuorientierung der Arbeit im Kindergarten.

Das Verschwinden der Kindheit

Jeder von uns kennt sicherlich die Situation, bei der die Frage auftaucht, ob es wünschenswert sei, heute noch einmal Kind zu sein. Im Zusam­menhang mit diesen Überlegungen folgen eigene Erinnerungen, etwa an das Höhlenbauen im Wald, das Verstecken in Kornfeldern, das Erklettern von Bäumen oder das ausgelassene Spielen auf bunten Wiesen, die Fahrradtour mit den Eltern, die besonderen Wochenendfahrten zu Verwandten oder der gemeinsame Besuch des Freibades im Sommer. Daneben gibt es aber sicherlich auch weniger schöne Erinnerungen, etwa die Strenge mancher Lehrer in den Schulen, das eingeschränkte Spielmaterial zu Hause, die kleine Wohnung oder die freitägliche Gemü­sesuppe, die trotz innerer Ablehnung gegessen werden musste.

Die Kindheit hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch ver­ändert. Konsumorientierung entwickelt sich zum neuen Heil, bei dem auch Kinder vermehrt als „Konsumenten“ entdeckt werden. Viel zu be­sitzen, so wird uns versprochen, bedeutet gleichzeitig „Glück“ und der Be­sitz von bestimmten Markenprodukten verspricht schon fast „Glückselig­keit“. Neue Erziehungskonzepte und bildungspolitische Strömungen scheinen wie Pilze aus dem Boden zu schießen und erheben mehr oder weniger den Anspruch, eine optimale Kinderbetreuung zu garantieren.

Förderungsprogramme sind für viele Eltern ein Segen, weil damit un­genutzte, brachliegende Kompetenzen ihrer Kinder stärker unterstützt werden können, und Spielplatzspezialisten bieten eine Vielfalt an För­deraktivitäten an. Elternratgeber zur richtigen Erziehung überschwem­men den Markt, und Tendenzen zeigen: Je „hemdsärmeliger, knackiger“ die Ratschläge sind, desto besser kommen sie auch an.

Spielmittel werden immer mehr zu Lerngeräten, sodass in ­erster Linie weniger die Freude der Kinder im Vordergrund steht, als vielmehr die Frage, wie pädagogisch wertvoll bestimmte Spiel­sachen tatsächlich sind, wie umweltfreundlich ihre Verarbeitung ist und wie nutzbringend diese für die kindliche Entwicklung zu sein scheinen. Erfahrungen werden zuneh­mend aus dem übergroßen Angebot der Medien gezogen, Fernseh­sender buhlen primär um Einschaltquoten, und Urlaubsreisen werden nur dann als besonders attraktiv erlebt, wenn sie möglichst in den letz­ten Winkeln unserer Erde verlebt werden können. Das Straßennetz wird immer enger gezogen, sodass viele Spielflächen von Kindern dem „Moloch Verkehr“ geopfert werden, freie Grundstücke werden mit Neu­bauten oder Industriegebieten besetzt, gepflegte Grün­anlagen sind mit Regeln belegt, was an dieser Stelle verboten ist, und Familien mit mehr als zwei Kindern gelten nicht selten als verantwortungslos.

Spielplätze (mit ihrer besonderen Unattraktivität) geben bestimmte Spielfunktionen vor, Veränderungen werden geahndet oder sofort auf ihre TÜV-Tauglichkeit hin untersucht, Kurse bestimmen für viele Kinder neben der Kindergarten- oder Schulzeit den Tagesrhythmus, und das Handy wird zum verlängerten Sprachrohr in einer zunehmend anonymi­sierten Welt, in der lebendige Beziehungen immer seltener werden. Der normale Gang in den Wald, in dem Kinder spielen möchten, wird als gefährlich eingestuft, weil etwas passieren könnte, sodass er nicht selten von Eltern verboten wird, und der Aufenthalt vor dem Haus ist aufgrund der Zunahme des Straßenverkehrs inzwischen nicht weniger problematisch.

Auf den Punkt gebracht bedeutet eine Betrachtung heutiger Kindheit, dass das Kinderleben immer mehr zerrissen, die Kinderzeiten in zu­nehmendem Maße zerteilt und Kinderwelten immer stärker eingeengt werden. Zwar mag es auf den ersten Blick so wirken, als hätten es Kin­der der heutigen Generation besser bzw. leichter, weil sie mehr Spielmit­tel, größere Bildungschancen, bessere Förderungsmöglichkeiten oder vielschichtigere Kommunikationswege nutzen können. Ein genaueres Betrachten macht aber deutlich, dass es vor allem um eines geht: Kinder müssen eine ständige Zunahme an Erfahrungsverlusten hinnehmen.

Aus entwicklungspädagogischer Sicht muss diese Tatsache sowohl Eltern als auch pädagogische Fachkräfte aufrütteln, weil bekannt ist, dass Kinder vor allem über das Handeln lernen – erinnert sei an die Lernfolge der Kinder bis zum siebten Lebensjahr: 1. handeln, 2. fühlen, 3. denken, 4. nachdenken. So entwickeln sich alle kognitiven Prozesse aus dem Tun, dem Aktiv-Sein, der Tätigkeit und motorischen Aktivität. Nicht umsonst heißt es in dem bekannten Spruch: „Aus Erfahrung wird man klug.“

Wenn Kinder in zunehmendem Maße Erfahrungsverlusten ausgesetzt sind, es aber gleichzeitig ihrer Bestimmung entspricht, sich als Akteure in dieser Weit zu begreifen, gibt es nur ganz bestimmte Auswege: Ent­weder resignieren die Kinder, ziehen sich zurück und klagen darüber, dass ihnen „soooo langweilig sei“, oder sie suchen sich vielfältige Chancen, die Welt dennoch zu entdecken, etwa durch Regel- und Gren­züberschreitungen, Bewegungsüberschüsse oder Aktionismen, indem sie auf sich aufmerksam machen (müssen), nach dem Motto: „Seht her, hier bin ich.“

Kindergarten – ein Garten für Kinder

Wer einmal durch einen großen Garten mit altem Baumbestand und einer reichhaltigen Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt gegangen ist, lässt sich gern in ein „Reich der Sinne“ entführen. Einerseits gibt es vielfäl­tige Farben und Formen der unterschiedlichen Pflanzen zu bewundern, andererseits betören die unterschiedlichen Düfte. Die Blumen und Sträucher entwickeln ihre Pracht zu unterschiedlichen Zeiten, sodass eine Blütezeit die andere ablöst. Hecken dienen Kleintieren zum Schutz, bieten Nistgelegenheiten, und große Bäume spenden Schatten; so hel­fen sie, dass der Boden in den heißen Sommermonaten nicht gänzlich austrocknet. Ein Garten zeichnet sich durch seine Vielfältigkeit aus im Ge­gensatz zu angelegten Monokulturen mit ihrer besonderen Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und Unwettern.

Der Kindergarten kann – ausgehend von diesem Bild – auf dreierlei Arten seine Aufgaben wahrnehmen. Einerseits kann er alles laufen las­sen und dazu beitragen, dass sich der Garten „irgendwie“ entwickelt (gemäß eines antiautoritären Erziehungsstils). ­Andererseits kann er einem „vorzeigbaren, gepflegten und jederzeit gesteuerten Vorstadt­garten“ entsprechen, in dem die Beete unkrautfrei gehalten werden und der Gärtner es jederzeit in der Hand hat, was, wo, wie, neben wem und in welcher Höhe wächst (entsprechend einem autoritären Stil). Drittens können sich Gartenfachleute ein profundes Wissen über be­stimmte Pflanzen aneignen und dafür Sorge tragen, dass sich diese op­timal entwickeln, wobei den Pflanzen selbstverständlich auch ihre Aus­breitung/Ausweitung zugestanden wird und die Gartenfachleute vor allem für eine gute Bodenbeschaffenheit sorgen, nach dem Motto: „Nicht die Pflanze ist krank, sondern der Boden für das Wachstum (un-)geeignet.“ Diese Sichtweise entspricht einem demokratischen Stil, weil die elementaren Bedürfnisse der Pflanzen beachtet und wert­geschätzt werden.

Nun kann sich jeder Kindergarten das Bild vornehmen und einmal darüber reflektieren, ob die eigene Einrichtung auch tatsächlich einen Garten für Kinder darstellt, in dem sie wachsen und sich zur vollen Entfaltung ihrer Farbenpracht entwickeln können.

Das Ende des „Bullerbü-Effekts“

Kinder stehen heute in vielerlei Verpflichtungen und Erwartungen, weil einerseits das Leben immer unübersichtlicher für Kinder (und Erwach­sene) wird, andererseits ihnen tatsächlich die Möglichkeit fehlt, das Leben in all seinen Facetten mit Zeit und Ruhe wahrzunehmen, Handlungen auszuprobieren und den eigenen Entwicklungszeitraum „Kindheit“ zu genießen.

Immer weniger haben Kinder die Möglichkeit, sich mit Freundinnen und Freunden „auf der Straße“ zu verabreden - stattdessen müssen Fahr­gemeinschaften von den Eltern organisiert werden. Immer seltener können sich Kinder nach eigenen Zeitwünschen treffen, weil Kurse oder Trainingsstunden ihren Tagesablauf bestimmen. Immer öfter re­agieren Kinder bei Enttäuschungen mit der Aussage: „Du bist nicht mehr mein(e) Freund(in)“, weil sie in einem Umfeld leben, das es ihnen schwer macht, innere Stabilität aufzubauen und Konflikte gemein­schaftlich zu klären.

Dort, wo sich Kinder in (noch vorhandenen) Büschen verstecken, wer­den sie aufgefordert, wieder hervorzukommen, weil Dinge geschehen könnten, die Erwachsene nicht wünschen. Matschen Kinder in Pfützen oder Schlammlöchern, werden sie dazu angehalten, sich nicht schmut­zig zu machen, und wenn sie einmal plötzlich verschwunden sind, wird sofort nach ihnen gesucht. Bilden Kinder „Banden“, wird ihnen vorge­halten, mit anderen unfreundlich umzugehen, klettern sie auf irgendwelche Bäume, wird auf die Gefahr des Herunterfallens hingewiesen, Dächer von Gartenhütten sollen nicht erklommen werden – dabei hat man von dort eine bessere Aussicht auf die kleine Welt – und interes­sante Dinge auf dem Weg können kaum noch betrachtet werden, weil irgendeine Eile zum Weitergehen mahnt.

Die Kindheit von heute ist grundsätzlich anders als vor zwanzig Jahren. Schnell gerät man mit einer solchen Aussage allerdings in den Ruf, eine nostalgische Verklärung zu stilisieren. Unbestritten gab es zu jeder Zeit auch einschränkende, verletzende, zerstörende und belastende Erfah­rungen für Kinder. Allerdings – und das ist das Wesentliche – hatten Kin­der eine weitaus größere Chance, sich in einem selbst organisierten Maße zu entwickeln, selbst gewählte Freundschaften in selbstbestimm­ter Art zu gestalten und räumliche sowie persönliche Schwerpunkte neben alltäglichen Verpflichtungen zu realisieren.

Kindergarten – Ort einer unbeschwerten Entwicklung

Wenn Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in dem ihnen lebensbe­deutsame Erfahrungen genommen, Zeitstrukturen vorgegeben und or­ganisatorische Vorgaben übergestülpt werden, sind sie mehr denn je auf ein Entwicklungsfeld angewiesen, in dem sie vielfältige Handlungs­schritte unternehmen können, die ihrer Entwicklung dienen. Insoweit bietet der Kindergarten die Chance, dieses Entwicklungsfeld zu sein.

Kinder brauchen dringender denn je einen Ort, an dem sie zunächst ihre eigene Identität auf- und ausbauen können, an dem sie sich von Span­nungen freispielen und erfahren können, dass es sich lohnt, auf der Welt zu sein. Kinder sind auf der Suche, Stolz zu spüren („das bin ich, das kann ich, das schaffe ich, und das traue ich mir zu“). Indem sie aktiv und initiativ etwas unternehmen, gelingt es ihnen, eine Beziehung zu ihrem Können aufzubauen und zu bemerken, dass sie sehr wohl in der Lage sind, für sich (und andere) zu sorgen. Warum versuchen Kinder auf Bäume oder Dächer zu klettern, sich auf waghalsige kleine Abenteuer einzulassen, von irgendwelchen Höhen herunterzuspringen oder so schnell wie nur möglich zu rennen? Weil sie auf der Suche sind, Stolz zu empfinden und eigenes Handeln anzuerkennen.

Kinder brauchen Rückzugsmöglichkeiten – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kindergartens – um dem allgegenwärtigen Blick von Er­wachsenen zu entkommen, um sich allein (oder mit anderen) Be­schäftigungen hinzugeben, die nur ihnen bekannt sind. Kinder brauchen Freiräume, um sich zu bewegen, zu laufen und zu toben, zu springen und zu hüpfen, zu rollen oder sich hinzulegen, um ganzheitliche Körper­erfahrungen zu machen. Sie brauchen ungeteilte Zeiten, in denen sie mit Ausdauer und nach eigenem Zeitempfinden Dinge in Ruhe zu Ende führen können, und sie brauchen vor allem Erwachsene, die ihre Aus­drucksformen wirklich verstehen, die Symbole ihres Handelns und Er­zählens begreifen.

Kinder brauchen den Kindergarten als einen Ort, an dem sie ein aktives Mitspracherecht haben: von der Gestaltung des Tages-ablaufs bis hin zur Kinderkonferenz. Kinder brauchen offene Ohren, die hören, was Kin­der zurzeit beschäftigt. Und sie suchen vielfältige Möglichkeiten, das wirkliche Leben – und keine heile Welt – kennenzulernen. Kinder brauchen eine Umgebung, in der sie sich in ihrer Individualität ent­wickeln können, bevor die sogenannte Sozialentwicklung einsetzt, und sie brauchen Menschen, die ihnen einen Raum zugestehen, in dem sie durch Versuch und Irrtum das Weltgeschehen um sich herum begrei­fen lernen. Sie brauchen Erwachsene (und ein entsprechendes Um­feld), die der Prozesshaftigkeit eine höhere Beachtung schenken als dem Herstellen von irgendwelchen „ästhetischen Produkten“, und sie brauchen diese Erwachsenen als Bündnispartner für ihre ureigenen In­teressen.

Kinder brauchen und suchen einen Ort, an dem sie ihr eigenes Zeitmaß leben können, an dem wenig gedrängelt wird und an dem ihr magi­sches Denken einen Platz findet, um ausgedrückt zu werden. Sie brau­chen Mitspieler und keine Dirigenten, die wirklich auf der Ebene von Kindern – im wahrsten Sinne des Wortes – sind, und sie brauchen Er­wachsene, die mit ihnen sprechen anstatt zu ihnen oder über sie. Kinder brauchen Menschen, die ihre Stärken sehen und nicht gegen ihre vermeintlichen Schwächen kämpfen; sie suchen Erwachsene, die statt eines Pessimismus Optimismus ausstrahlen. Sie suchen Mitmen­schen, die sich auf Erfahrungen einlassen und keine Dogmen (Lehrsät­ze) verbreiten; sie brauchen Erwachsene, die statt „moralisierender Ratschläge für andere Werte“ auf der Grundlage einer hohen Moral leben. Sie wünschen sich Menschen, die loslassen können, statt sich auf bestimmte Rollen und Vorhaben/Ziele zu fixieren, und sie suchen Erwachsene, die sie statt erziehen zu wollen ganzheitlich begleiten. Kin­der brauchen Menschen, die Selbsterfahrung auf sich nehmen, statt ei­gene Gedanken, Gefühle und Muster zu projizieren, und sie suchen Er­wachsene, die mit ihnen auf die Suche nach Wahrheiten gehen, statt im Sinne von Recht oder Unrecht zu debattieren und eigene Stand­punkte auf die Kinder übertragen.

Wenn diese (und sicherlich viele weitere) Merkmale für den Kindergar­ten zutreffen sollen, bedarf es einer kritischen Reflexion traditioneller Normen und eingefahrener Muster – im Interesse von Kindern und Er­wachsenen.

Lebensraum Kindergarten – mehr als nur ein Schlagwort

Um den Kindergarten zu einem Ort unbeschwerter Entwicklung für Kin­der werden bzw. bleiben zu lassen, gilt es, die oben genannten ele­mentaren Kinderbedürfnisse zu beachten und im Kindergarten für eine Atmosphäre zu sorgen, in der sich Kinder wohlfühlen. Dabei kann es allerdings vorkommen, dass die Erwachsenen die Aufgaben und Schwerpunkte, Arbeitsweisen und Methoden neu überdenken müssen.

Der Kindergarten als Lebensraum unterliegt immer der großen Gefahr, sich durch verschiedene Programme/Ansätze bildungspolitischer Strö­mungen allzu schnell von einem Lebensraum zu entfernen. Dabei gibt das Wort Lebensraum schon die Grund­lage vor:

L wie Lust und Lebendigkeit

E wie Eigenständigkeit und ernstnehmend

B wie bunt und begreifen

E wie einfühlend und erfrischend

N wie neugierig und normal

S wie spannend und sorgsam

R wie reich an Erfahrungen und raumnutzend

A wie ausdauernd und akzeptierend

U wie umfassend und ursachenorientiert

M wie menschenorientiert und marginal

l.

Erzieherinnen gestalten die Arbeit im Kindergarten vor allem durch drei Erfahrungshorizonte:

ihrer eigenen Biografie (mit den erlebten Werten und Normen),

ihrer erfahrenen Ausbildung (mit den größtenteils immer noch traditionellen Vorstellungen von Erziehung),

ihrer aktuellen Spontaneität, die ihnen schon in der Vergangenheit hilfreich erschien und zu einer Veränderung von Situationen beigetragen hat.

Solange allerdings Vorstellungen über die Gestaltung der Zukunft von Kindern ein Schwergewicht vor der Beachtung heutiger Kindheit (und ihrer Folgen für die Entwicklung) besitzen, solange werden Methoden und Zukunftsorientierung vor einer Neuorientierung der Elementar­pädagogik Schranken setzen. Was Kinder brauchen:

keine Moral für gesunde Ernährung, sondern ein normales, aus­gewogenes Essen;

keinen speziellen Bewegungsraum, sondern einen Kindergarten, in dem drinnen und draußen Bewegung erwünscht und möglich ist;

keinen zeitbegrenzten spielzeugfreien Kindergarten, sondern einen Ort, an dem grundsätzlich eher weniger Spielzeug ist und Platz für Kreativität besteht;

keinen durchgestylten Kindergarten mit hypermoderner Einrichtung, sondern einen Ort, an dem sich Kinder
wohlfühlen;

keinen zusätzlichen Intensivraum für besondere Arbeiten, sondern Räume, in denen es überall „intensiv“ zugeht;

kein Vorschulüben, sondern ein Leben und Lernen mit Kindern in sinnzusammenhängenden, ganzheitlichen Vorhaben;

keinen Ort, an dem Kinder gesagt bekommen, was sie ma­chen können/sollen/müssen, sondern an dem die ­Themen der Kinder verstanden und aufgegriffen werden;

eine Atmosphäre, in der sich Kinder angenommen und wertschätzend behandelt fühlen;

einen Ort, an dem sie sich selbst fordern und eigenmotiviert fördern;

einen Kindergarten, in dem das Leben pulsiert, in
dem Reali­täten erfahren werden können und der jede aufgesetzte Künstlichkeit aufgibt;

eine Möglichkeit, unverarbeitete Erfahrungen aufzuar­beiten, um sich von Belastungen und Druck zu befreien;

einen Ort, an dem der Fantasiereichtum von Kindern jede Arbeitsschablone überflüssig macht und Erzieherinnen ein von Kindern geliebter Teil der Gruppe sind;

einen Kindergarten, in dem irgendwelche Therapieprogramme durch das gemeinsame, ganzheitliche Leben immer über­flüssiger werden;

einen Ort, an dem mit Kindern zusammen gekocht und gelacht wird, Freude regiert und Regeln gemeinsam ausgehandelt werden, Kinder noch Kinder sein können und nicht als „unfertige Erwachsene“ betrachtet werden;

einen Ort, an dem geachtete Rückzugsecken bestehen und Kinder selbstverständlich jeden Tag ihr Spielzeug mitbringen können, Jungen ebenso wie Mädchen zu ihren besonderen Rechten kommen und Gewalt von einer natürlichen Aggression unterschieden wird;

einen Ort, an dem es ebenso Ablehnung, Abgrenzung und Auseinandersetzungen gibt wie unter den Erwachsenen, an dem jedes Kind das verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung besitzt und das Kind vor allem in Erwachsenen ein Modell für das Gesagte erlebt.

Neuorientierung tut Not

Dort, wo der Kindergarten zu einem beziehungsorientierten und leben­digen Lebensraum geworden ist, fühlen sich Kinder angenommen und verstanden. Dies schafft die notwendige Sicherheit für Kinder, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, alte Muster zu verändern und mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren.

Der Kindergarten ist in Gefahr, sich allzu schnell auf wieder neue Pro­gramme und Richtungen einzulassen – ein Beweis für eine oftmals zu beobachtende Orientierungslosigkeit in der gegenwärtigen Elementar­pädagogik. Wenn Kinder diesen „Bullerbü-Effekt“ nicht mehr im Kin­dergarten erleben können, dann müssen sie auch hier resignieren und entwickeln bzw. verfestigen auffällige Verhaltensweisen, die sich folge­notwendig weiter in die Schulzeit verlagern bzw. Kinder dazu zwingen, ihre Erfahrungen „auf der Straße“ zu suchen. Das ist – auf die Gegen­wart bezogen – dramatisch und im Hinblick auf die Zukunft fatal. Kinder brauchen nötiger denn je einen Lebensraum – der Kindergarten kann ihn bieten und Kindern nutzbar machen.