Handbuch für die Praxis
Armin Krenz
Entwicklungsorientierte
Elementarpädagogik
Kinder sehen, verstehen
und entwicklungsunterstützend handeln
© 2014
Burckhardthaus-Laetare, Körner Medien UG, München
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Produktion: Gernot Körner, Körner Medien UG, München
Digitale Aufbereitung: Alfons Schmid, ISM, München
Satz und Layout: Sigrun Borstelmann, Sibo-Medien, München
www.burckhardthaus-laetare.de
ISBN: 978-3-944548-72-2
Vorwort
Kindheitsforschungen belegen: Immer mehr Kinder reagieren gereizt, fühlen sich überfordert, besitzen wenig Belastbarkeit, sind unruhig oder inaktiv. Sie reagieren auf subjektiv erlebte Überforderungen mit Aggressivität und wenden zunehmend Gewalt gegen Dinge und andere Personen an (vgl.: Bergmann, W., 2009; Rittelmeyer, Chr., 2007; Krowatschek, D., 2009). Sie wollen Wünsche möglichst umgehend erfüllt bekommen und reagieren mit Wutausbrüchen, wenn Wunscherfüllungen versagt werden. Kinder haben vermehrt Herzrasen, Schlafstörungen, Magenbeschwerden und Kopfschmerzen; sie trauen nahezu niemandem und kritisieren jeden und alles, der bzw. was ihnen missfällt. Psychosomatische An-/Auffälligkeiten und immer frühere sowie intensivere Erfahrungen mit Suchtmitteln lassen besorgte Eltern und professionelle Fachkräfte aufhorchen und führen zu der Formulierung, dass viele Kinder in zunehmendem Maße „innerlich aussteigen“. Kinderärzte, Psychologen und (Elementar-)Pädagogen schlagen Alarm. Kindheiten und Kindsein sind heute schon lange kein Kinderspiel mehr. Offensichtlich kommt es bei einer großen Anzahl von Kindern zu „Irritationen im Bereich der personalen Identität und Stabilität“. In der aktuellen entwicklungspsychologischen Forschung gehen viele Wissenschaftler/-innen (Prof. Dr. Remo Largo/Prof. Dr. Leo Montada; Prof. Dr. Karl Heinz Brisch/Prof. Dr. Theodor/Hellbrügge; Prof. Dr. Klaus E. Grossmann/Prof. Dr. Urs Fuhrer) inzwischen davon aus, dass Kinder in zunehmendem Maße „Entwicklungsunterbrechungen durch Beziehungsstörungen“ erleben/erlebt haben, die es ihnen nahezu unmöglich machen, sogenannte Basisfähigkeiten aufzubauen. Genannt seien hier vor allem die Bereiche Selbst- und Fremdwahrnehmungsbereitschaft, Wahrnehmungsdifferenzierung, Selbstannahme, Erleben von Personstärke, Öffnungsbereitschaft für Selbstexploration, Motivation zur Selbstentwicklung neu zu entdeckender Lernbereiche, Aktivitätsmotivation zum Stressabbau, Wertigkeitssensibilität, Gefühlsexploration, intrinsische Lernmotivation, konstruktives Konfliktmanagement.
Die Entwicklungspsychologie bestätigt immer wieder, dass bei Kindern zunächst stets der Auf- und Ausbau der Ich-Kompetenz – vor der Entwicklung der Sozialkompetenz – im Vordergrund steht, geht es doch hier vor allem um das Verhältnis des Kindes zu sich selbst und um seine Möglichkeiten, sich unter dem besonderen Aspekt der eigenen Interessen und Möglichkeiten mit sich sowie seinem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen. Das heißt, sich zu entdecken, zu explorieren und bedeutsame Erfahrungen zu machen, um zwei persönlich bedeutsame Einstellungen zu gewinnen: 1.) „Ich bin wer. Ich bin wichtig und habe eine Bedeutung! Es ist gut, dass ich auf der Welt bin.“ 2.) „Ich kann was! Ich kann Dinge in Gang setzen und eigenen Interessen nachgehen! Ich kann etwas bewirken, was mich fröhlich, glücklich und entspannt werden lässt.“ Dieser Ich-Kompetenz wird eine grundlegende Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung einer Ich-Autonomie beigemessen, die dem Kind hilft, (Selbst-)Vertrauen zu sich und zu seinem Handeln zu erlangen. Doch gleichzeitig zeigen o. g. Beobachtungen, dass es offensichtlich vielen Kindern immer schwerer fällt/gemacht wird, diese basale Entwicklung zu realisieren. Die Frage nach möglichen Hintergründen wird durch vielfach belegte Untersuchungsergebnisse offenbar: Entwicklung geschieht durch eine positiv erlebte, Sicherheit-vermittelnde Bindung – und diese fehlt vielen Kindern!
Diese sichere Bindung bzw. Beziehungsqualität kann als die basisbildende Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen betrachtet werden und scheint daher von immer weniger Kindern in ihrer ganzen Tiefe erlebt zu werden.
Die elementarpädagogische Arbeit vollzieht sich im gesamten Alltag nur in Form eines sehr engen Bindungsgeschehens zwischen Menschen! Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit muss für Kinder ein Bindungserleben möglich machen, getragen von Nähe, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Interesse, Staunen, Neugierde und Zutrauen.
So ist es immer wieder und hauptsächlich der positiv erlebte, zwischenmenschliche Kontakt, der Kinder wiederum motiviert, Kontakt zu sich selbst zu suchen, herzustellen und sich über die eigene Existenz zu freuen. Nur wenn dies gelingt, ist der erste – und gleichzeitig entscheidende – Schritt zur Aktivierung und zum Aufbau einer Selbstbildung des Menschen getan.
Jedes Kind, das eine elementarpädagogische Einrichtung besucht, muss die Möglichkeit haben,
•gegenwärtige, positive Erlebnisse in all ihrer Vielschichtigkeit genießen zu können;
•immer wieder über eigene Entwicklungen und Stärken staunen zu können;
•mit Offenheit, Interesse und Neugierde die Herausforderungen des Alltags suchen und aufnehmen zu können und sich ihnen mit Engagement zu stellen;
•alte, lebenseinengende Fühl-, Denk- und Handlungsmuster zu erkennen und sich von diesen lösen zu können;
•Zusammenhänge von Ereignissen erkennen und herstellen zu können, um aus der Erkenntnis heraus neue Handlungsstrategien zur Lösung von Problemen zu entdecken;
•neue, unbekannte Spielräume im Rahmen eigener Verhaltensvielfalten zu entwickeln;
•alte, bis weit in die Vergangenheit zurückliegende „Geschichten“ zu klären, um aus belastenden Verstrickungen herauszufinden;
•in möglichst vielen bedeutsamen Situationen identisch mit sich umgehen zu können und sich selbst zu sagen: „Wie schön, dass ich geboren bin, dem Leben schenk’ ich einen Sinn. Das Glück ist hier im Kindergarten, ich muss nicht auf ein ,Später‘ warten.“
In Anbetracht dieser für die Elementarpädagogik besonders bedeutsamen Ausgangssituation ist es für die elementarpädagogischen Fachkräfte mit ihrem entwicklungsprägenden Einfluss unumgänglich, sich diesem hohen Bedeutungswert zuzuwenden. Einfach ausgedrückt heißt das: Eine liebevolle, vertrauensvolle und verlässliche Bindung, die Kinder in ihren ersten (und auch weiteren) Lebensjahren mit ihren Eltern sowie anderen Erwachsenen erfahren, ist die Grundlage für die Entstehung der „Lebenskunst des Menschen“ und gleichzeitig die Basis für ein tiefes Selbstvertrauen, die eigene Unabhängigkeit und zunehmende Selbstständigkeit. Um mit den Worten der renommierten Erziehungsstilforscherin Diana Baumrind zu sprechen: Kinder brauchen erst Wurzeln, dann Flügel. Nur durch eine tief erlebte Geborgenheit und Annahme sind Kinder in der Lage, ihre „Lebenswurzeln“ in Form von Sicherheit und Lebensfreude zu entwickeln und gleichzeitig vor einer Reihe seelischer Irritationen und lebenseinschränkender Ängste geschützt. So vielfältig die Verhaltensirritationen bei Kinder ausgeprägt sind – vor allem Ängste, gewaltbereites Handeln, aggressives Verhalten, Anstrengungsvermeidungsverhalten, oppositionelles Widerstandsverhalten gegenüber Anforderungen oder eine generelle Antriebslosigkeit –,
so deutlich haben unterschiedliche, epidemiologische Studien unter Beweis gestellt, dass diese und weitere problematischen Verhaltensweisen häufig direkt oder indirekt auf fehlende Bindungserfahrungen zurückgeführt werden können (vgl. Grossmann, K. und Grossmann, K. E., 2004). So kommt immer wieder zum Ausdruck, dass eine als sicher erlebte Bindung ein wesentlicher Schutzfaktor gegen seelische Irritationen ist. Dieses Buch möchte entscheidend dazu beitragen, dass jedes Kind in seiner Kindertagesstätte die Grundlagen findet, die es braucht, um sich mithilfe der elementarpädagogischen Fachkräfte – in einer guten Fortsetzung der elterlichen Pädagogik – und ihren humanistisch geprägten Persönlichkeitsmerkmalen förderlich zu entwickeln.
Kindheiten heute: veränderte Kindheiten und neue Herausforderungen