Die Andersnacht 3 - Band 3 - Apokalypse
Texte: (C) Dr. Andreas Fischer
Fassung 1.1
Sämtliche in diesem Buch enthaltene Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichttig.
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Diese Geschichte ist nicht so, wie Du es erwartest; sie ist anders. Du kannst sie nur verstehen, wenn Du Dein Herz für die Nacht öffnest, wenn Du die abgrundtiefe Finsternis in Dein Leben lässt und die Angst zu Deiner treuen Begleiterin wird. Erst dann kannst Du erahnen, was ich Dir berichte.
Mein Name ist Anders und ich erzähle Dir diese Geschichte. Sie ist wunderbar und grausam zugleich, fröhlich und furchterregend, vertraut und befremdlich. Sie handelt von der Nacht, die zu meiner Welt geworden ist. Sie ist meine Geschichte; doch vielleicht ist sie auch die Deine ...
Unzählige Blätter auf verwirbelten Wegen, bunt knisternd, schwebend und kringelnd mit Herbstwind im Nacken, der so anders war und warm von Osten her wehte, ohne zu verstummen; in den verschwimmenden Nächten erklangen die klagenden Laute und die Luft erbebte und zerfiel in verwirrte Fetzen, die ins kühle Schwarz entwischten, noch bevor man sie sah; was sie zurückließen, waren die erstarrten Schreie, die durch die heiße Dunkelheit hindurch an den Rand des Lichtes drangen, wo sie ihre Augen verhüllten, um nur noch dem Jammern des Windes zu folgen, der sie so verunsicherte.
Und so starb jeden Morgen die Welt in den ersten Strahlen der Sonne, die sich mühsam auf den Himmel quälten, in dem der Atem der Nacht alltäglich verbrannte; es rührten sich nur die vielen Blätter, die in verwaschen bunt schillernden Farben über den Boden krauchten und hüpfend tanzten, ohne ein Ziel zu haben, denn vor ihnen staute sich die Zeit in jener matt hellen Hitze, die den Weg nicht mehr freigeben wollte.
Und so zog es weiter, immer und immer weiter, jeden Tag, auf der Reise, die kein Ende hatte, ein Wandern und Welken vom Wind getrieben; und es wünschte sich nichts so sehnsüchtig, wie endlich sterben zu können, die grauen Schachen zu verlassen, aus denen es kam, und zu Staub zu zerfallen, das Laub.
»Ich friere so!«
Zedt umfasste kurz mit beiden Händen einen dünnen Birkenstamm, der sich zwischen ihm und dem Wasser befand, bis er auf ein paar trockenen Steinen wieder Halt fand.
»Ich auch;«
Ypsilonne bog einen verdorrten Strauch zur Seite, worauf sie sich ganz dicht an das Ufer setzte.
»Warum ist der Wind so kalt?«
»Er war noch nie so kalt wie in diesem Herbst ...«
Der wilde Bach plätscherte vor sich hin, und erst nachdem die beiden einen Augenblick dem Wasser zugehört hatten, wussten sie wieder, warum sie hierhergekommen waren ...
»Wo ist nur der letzte Sommer hin?«
»Er ist bestimmt erfroren ...«
Ihre Augen glitten durch das Dunkel und verfingen sich in den dürren Zweigen der niedrigen Bäume, die sich auf der anderen Seite der Senke befanden.
Zedt lehnte sich langsam zurück und betrachtete den Himmel.
»Es hat mal wieder Wolken!«
»Es wird Zeit, dass es regnet ...«
Wahrscheinlich waren sie hier, um der Stille zu entkommen, die sie überall sonst eingeholt hätte. Nur hierher traute sie sich nicht und blieb deshalb in sicherer Entfernung.
Zedt begann die Sterne zu zählen ...
»Wir werden nie wissen, wie viele es sind!«
»Und ein jeder von ihnen hat seinen eigenen Namen ...«
Ypsilonne beugte sich zum Wasser hinab und versuchte, einige Schlucke zu trinken, als beide durch das plötzliche Aufheulen des Windes erschraken. Die Luft, die durch die unzähligen, leeren Äste und Zweige hindurchblies, verursachte ein vielstimmiges Säuseln und Wimmern, das mit einem Male um die beiden herumhuschte, ohne dass sie es sehen konnten. Zedt stand wieder auf, und nachdem er die Arme ausgebreitet hatte, begann er, sich ganz langsam zu drehen.
»Wenn wir nur verstehen würden, was er sagt!«
Hin und wieder tat Zedt einen Schritt nach vorn oder hinten, bis er einen Baum erreichte, an dem er sich festhielt, um seine Bewegungen enden zu lassen.
»Dann würden wir wie zwei Vögel in ihm treiben ...«
Ypsilonne fasste mit der offenen Hand durch das Wasser, das sie mit seiner quellenden Frische umfing ...
»Mir ist so kalt;«
»Mir auch!«
Jetzt vergaßen sie wieder den Himmel und was sich in ihm tat; sie spürten nur noch den Wind und fühlten, dass sie gehen wollten.
Zedt roch den Qualm, der auf einmal durch das finstere Geäst gekrochen kam und sie umwickelte, bis die beiden schneller gingen. Es dauerte nicht lange, bis sie vor sich irgendwo im Wald jenes hell matte Schimmern erblickten, das sie so verunsicherte. Sie gingen noch näher heran.
»Warum machst du schon wieder Feuer?«
»Du weißt doch genau, dass das gefährlich ist ...«
Gwendolyn blieb stehen.
»Warum müsst ihr mich so erschrecken?«, wollte sie vorwurfsvoll wissen, bis sie sich wieder den Flammen zuwandte, die innerhalb eines Kreises aus Steinen loderten.
»Du weißt doch, dass es gefährlich ist ...«
Blitzschnell hatte sich Gwendolyn wieder umgedreht und die beiden sahen und fühlten das Funkeln in ihrem Auge.
»Und was wisst ihr?«, begann sie. »Die Welt war nicht immer so, wie sie jetzt ist.«
Sie fing an, um das Feuer herumzuschreiten.
»Es war alles einmal ganz anders«, sagte sie leise.
Ypsilonne empfand auf einmal wieder das Stärkerwerden des Windes, worauf sie die Augen zusammenkniff, um Gwendolyn hinter dem wilden Flackern wahrzunehmen.
»Der Wind«, fuhr diese fort, »war auch anders; alles war anders, aber das interessiert euch ja nicht. Ich jedoch weiß, uns wird früher oder später alle die Sonne holen.«
»Das darfst du nicht sagen!«
Die beiden waren verängstigt.
»Sag so was nicht;«
Gwendolyn blieb stehen.
»Also gut«, meinte sie dann, »ich mach es wieder aus, aber erst, wenn ihr weg seid.«
Ypsilonne und Zedt drehten sich von ihr und dem Feuer weg und gingen.
Eigentlich war der Wald jede Nacht so, doch heute roch er anders und der Wind war viel stärker als sonst. Die kahlen Zweige und Äste zitterten in ihm und hin und wieder wurde Staub aufgewirbelt, der den beiden in den Gesichtern biss. Manchmal umfassten vertrocknete Flechten ihre Füße, sodass sie sich erschrocken umdrehten oder stolperten; doch schließlich erreichten sie die erste Lichtung, die am Rande des Dorfes lag.
»Hey ihr zwei«, hörten sie da eine Jungenstimme rufen, »könnt ihr mir mal helfen?«
Die beiden entdeckten Gistan, wie er in einem angelegenen Wäldchen ein Stück Stoff zusammenfaltete, worauf die beiden sich daran machten, durch das dichte Unterholz hindurch zu ihm zu gelangen.
»Sie hat wieder Fieber«, erklärte er.
Fonja saß ganz schweißbedeckt an einen Baum gekauert und sie vernahmen ihren überstürzt hastigen Atem. Gistan wischte ihr mit dem Tuch die Stirne ab.
»Wir müssen sie heimbringen;«, sagte er, worauf er aufstand und einen ihrer Arme ergriff, »wie gut, dass ihr vorbeigekommen seid.«
Ypsilonne und Zedt stützten sie.
»Ist mir heiß!«, stöhnte Fonja, als die kleine Gruppe ihre ersten Schritte tat.
»Wo ihr schon mal da seid«, meinte nun Gistan, »da kann ich euch gleich sagen, dass wir uns nachher alle treffen sollen; es gibt wieder etwas zu bereden.«
»Warum;«
»Wegen des Windes«, war die Antwort.
Das unrhythmische Knistern des Blätterdaches begleitete sie, bis sie zu den ersten Häusern gelangt waren.
»Wir haben`s ja gleich geschafft«, rief Gistan, während er nach der Türklinke griff und sie in die muffelige Finsternis des Gebäudes traten, in dem Fonja mit ihrer Freundin Gwendolyn zusammen wohnte. Es war jedoch nicht so einfach, das hoch aufgeschossene Mädchen die Treppe hinaufzubringen, da sie nun nicht mehr von alleine ging und deshalb getragen werden musste. Doch schließlich hatten sie ihr Bett erreicht, wo sie sogleich sorgsam zugedeckt wurde.
»Ich mache einen kalten Umschlag!«
Zedt eilte aus dem Zimmer.
»Wir bleiben noch ein bisschen bei ihr;«
»Ist gut«, antwortete Gistan, »aber vergesst nicht, nachher noch rüberzukommen; es ist wirklich wichtig.«
Der Junge schloss die Tür hinter sich und Ypsilonne hörte ihn die Stufen hinuntergehen.
»Hast du etwas gesehen;«
»Mir ist so heiß!«, entgegnete Fonja aber nur und wälzte sich auf ihrem Kissen hin und her, bis Zedt mit einem befeuchteten Taschentuch zurückkam, das er nun vorsichtig auf ihre Stirn legte.
»Hast du etwas gesehen;«
Ypsilonne nahm Fonjas Hand, worauf sich diese ein wenig beruhigte.
»Sag uns doch, ob du etwas gesehen hast!«
»Ich«, stammelte Fonja da wild drauf los, »habe den Wind gesehen!«
Ein tiefes, offenes Lächeln trat nun auf ihr Gesicht, und froh, dass sie ihre Erinnerungen wiedergefunden hatte, erzählte sie mit wirrer Betonung und Abgehacktheit weiter: »Ich habe den Wind gesehen! Ganz deutlich! Er war auf einmal rings um mich herum und ich habe ihn so gesehen!«
Die Fetzen eines erfreuten Lachens überkamen Fonja.
»Es war auf einmal alles ganz kühl und frisch«, fuhr sie strahlend fort, »und irgendwie auch bunt! Die ganze Luft war voll von ihm! Er sah aus wie...«
Ihr Gesicht verdunkelte sich mit einem Schlag und ihr Lachen wurde zu einem hastigen Ringen nach Kälte.
»Wie sah er aus;«
Fonja drehte ihren Kopf zur Seite und atmete schwer.
»Sag uns doch, wie er ausgesehen hat!«
»Mir ist so schrecklich heiß!«, waren jedoch ihre Worte, ehe sie in einen unruhigen Halbschlaf zu versinken schien.
Ypsilonne ließ ihre Hand wieder los, und nachdem sie kurz zu Zedt hinübergeschaut hatte, machten sich die beiden daran, aus dem Zimmer zu schleichen.