11Einleitung
Die Welt wird schwarz
Dieses Buch hätte ich gerne in der Art eines Stroms mit zahlreichen Zuflüssen geschrieben, während die Geschichte und die Dinge sich uns zuwenden und Europa nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt bildet. Das ist in der Tat das Geschehen oder jedenfalls die Grunderfahrung unseres Zeitalters. Und wenn es darum geht, sämtliche Implikationen und Folgen dieser Entwicklung zu erkunden, stehen wir gerade erst am Anfang.1 Was den Rest angeht, ob diese Entdeckung uns nun freut oder erstaunt oder Unbehagen bereitet, ist eines sicher: Diese Deklassierung eröffnet neue Möglichkeiten – aber auch Gefahren – für das kritische Denken, und genau damit möchte ich mich unter anderem in diesem Essay befassen.
Um die Tragweite dieser Gefahren und Möglichkeiten genau zu ermessen, bedarf es keineswegs des Hinweises, dass dem europäischen Denken in seiner gesamten Geschichte die Tendenz innewohnte, Identität nicht im Sinne gemeinsamer Zugehörigkeit zu ein und derselben Welt zu verstehen, sondern im Sinne eines selbstbezüglichen Verhältnisses, des Erscheinens des Seins und seiner 12Manifestation im Sein oder auch im Spiegel seiner selbst.2 Dagegen muss man sich vor Augen führen, dass als direkte Folge dieser Logik der Autofiktion, der Selbstbetrachtung, also der Abschließung, Neger und Rasse in der Vorstellungswelt der europäischen Gesellschaften stets eins sind.3 Die beiden grobschlächtigen, schweren, sperrigen und zerrütteten Bezeichnungen – Symbole drastischer Intensität und des Abscheus – kommen im modernen Wissen und Diskurs über den Menschen (und damit auch über »Humanismus« und »Menschlichkeit«) zwar nicht gleichzeitig, aber zumindest doch parallel zueinander auf; und seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bilden sie gemeinsam den (uneingestandenen und oft verleugneten) Boden oder Kern, von dem aus das moderne Projekt der Erkenntnis – aber auch des Regierens – sich entfaltet.4 Sie beide sind Zwillingsgestalten jenes Wahns, den die Moderne hervorbringen sollte (erstes und zweites Kapitel).
Worauf ist dieser Wahn zurückzuführen, und welches sind seine elementarsten Erscheinungsformen? Zunächst einmal darauf, dass der Neger der (oder auch das) ist, den 13(oder das) man sieht, wenn man nichts sieht, wenn man nichts versteht und, vor allem, wenn man nichts verstehen will. Wo immer der Neger auftritt, löst er leidenschaftliche Dynamiken und ein Übermaß an Irrationalität aus, die stets das gesamte System der Vernunft auf die Probe stellen. Sodann auf die Tatsache, dass niemand – weder jene, die diesen Namen erfunden haben, noch jene, die damit behängt werden – ein Neger sein oder in der Praxis als ein solcher behandelt werden möchte. Außerdem gilt, was Gilles Deleuze einmal gesagt hat: »Im Wahn gibt es immer einen Neger, einen Juden, einen Chinesen, einen Großmogul, einen Arier«, denn der Wahn braut unter anderem auch die Rassen zusammen.5 Indem insbesondere die europäisch-amerikanischen Welten den Körper und den Menschen auf eine Frage der äußeren Erscheinung, der Haut und der Hautfarbe, reduzierten und dabei der Haut wie auch deren Farbe den Status einer biologisch begründeten Fiktion verliehen, machten sie den Neger und die Rasse zu zwei Seiten ein und derselben Figur, des kodifizierten Wahns.6 Die Rasse, die nun als materielle und phantasierte Grundkategorie fungierte, wurde im Lauf der letzten Jahrhunderte zum Ausgangspunkt zahlreicher Katastrophen und zur Ursache unerhörter psychischer Verheerungen wie auch zahlloser Verbrechen und Massaker.7
14Eine schwindelerregende Verbindung
Drei Phasen prägten die Biographie dieser schwindelerregenden Verbindung. Die erste ist die organisierte Entrechtung, als man Männer und Frauen afrikanischer Herkunft für die Zwecke des transatlantischen Sklavenhandels (15. bis 19. Jahrhundert) in menschliche Objekte, menschliche Waren, menschliches Geld verwandelte.8 Ins Gefängnis der Erscheinungen eingeschlossen, gehören sie nun anderen, die ihnen feindlich gesinnt sind, weshalb sie denn auch weder einen Namen noch eine eigene Sprache haben. Aber auch wenn ihr Leben und ihre Arbeit jetzt anderen gehören, mit denen zu leben sie verdammt sind, mit denen sie jedoch keine mitmenschlichen Beziehungen unterhalten dürfen, bleiben sie dennoch handelnde Subjekte.9 Die zweite Phase beginnt, als die Neger, diese von anderen in Besitz genommenen Wesen, Ende des 18. Jahrhunderts zum Schreiben finden, sich fortan in einer eigenen Sprache auszudrücken vermögen und den Status von vollwertigen Subjekten der Menschenwelt einfordern.10 Diese Phase, 15die von zahllosen Sklavenrevolten und der Unabhängigkeit Haitis 1804, den Kämpfen für die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels, der Dekolonisierung Afrikas und der Bürgerrechtsbewegung in den USA geprägt war, findet ihren Abschluss in der Abschaffung der Apartheid in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die dritte Phase (Anfang des 21. Jahrhunderts) ist die der Globalisierung der Märkte, der Privatisierung der Welt unter der Ägide des Neoliberalismus, der wachsenden Komplexität des Finanzsystems, des postimperialen militärischen Komplexes und der elektronischen und digitalen Technologien.
Unter Neoliberalismus ist eine Phase in der Geschichte der Menschheit zu verstehen, die von Computerindustrien und Computertechnologien beherrscht wird. Der Neoliberalismus ist das Zeitalter, in dem die kurzen Zeiten im Begriff stehen, in die Zeugungskraft der Geldform verwandelt zu werden. Da das Kapital seinen äußersten Fluchtpunkt erreicht hat, kommt es zu einer eskalierenden Entwicklung. Sie basiert auf der Vorstellung, »dass alle Ereignisse und Verhältnisse der Lebenswelt mit einem Marktwert ausgestattet werden könnten«.11 Diese Entwicklung ist außerdem gekennzeichnet durch die Produktion von Gleichgültigkeit, die erzwungene Kodierung des sozialen Lebens in Normen, Kategorien und Zahlen sowie durch diverse Abstraktionsoperationen, die den Anspruch erheben, die Welt auf der Basis der Unternehmenslogik zu rationalisieren.12 Von einem verhängnisvollen Doppelgänger verfolgt, definiert sich das Kapital und insbesondere das Finanzkapi16tal heute als grenzenlos, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Zwecke als auch hinsichtlich seiner Mittel.13 Es diktiert nicht mehr nur sein eigenes Zeitregime. Nachdem es »die Herstellung aller Filiationsbeziehungen« selbst übernommen hat, versucht es, sich in einer unendlichen Folge strukturell unauflöslicher Schulden zu vervielfachen.14
Es gibt nun keine Arbeitenden als solche mehr. Es gibt nur noch Arbeitsnomaden. Während es gestern noch die Tragödie des Subjekts war, vom Kapital ausgebeutet zu werden, ist es heute die Tragödie der Vielen, nicht mehr ausgebeutet werden zu können und einer »überflüssigen Menschheit« zugewiesen zu werden, die aufgegeben und vom Kapital für sein Funktionieren kaum noch gebraucht wird. Es entsteht ein psychisches Leben gänzlich neuer Art, das sich auf ein künstliches digitales Gedächtnis und auf kognitive Modelle aus dem Bereich der Neurowissenschaften und der Neuroökonomie stützt. Psychische und technologische Automatismen sind ein und dasselbe, und es entsteht die Fiktion eines neuen menschlichen Subjekts, »Unternehmer seiner selbst«, formbar und darauf bedacht, sich ständig unter Rückgriff auf die von seiner Zeit gebotenen Artefakte umzubilden.15
Dieser neue Mensch, Subjekt des Marktes und der Schulden, hält sich für ein reines Produkt des natürlichen Zufalls. Diese »fertige abstrakte Form«, wie Hegel sagt, fähig, jeglichen Inhalt überzustreifen, ist typisch für die Zivilisation des Bildes und der neuen Beziehungen, die diese Form zwischen Fakten und Fiktionen herstellt.16 Als Tier 17unter Tieren besitzt der neue Mensch angeblich kein eigenes Wesen, das es zu beschützen oder zu bewahren gälte. Und es gebe a priori keinerlei Grenzen für die Veränderung seiner biologischen und genetischen Struktur.17 Vom tragischen und entfremdeten Subjekt der ersten Industrialisierung unterscheidet er sich in vielfältiger Weise. Zunächst einmal ist er ein in seinem Begehren gefangenes Individuum. Für sein Vergnügen ist er nahezu vollständig auf seine Fähigkeit angewiesen, sein inneres Leben öffentlich zu rekonstruieren und es wie eine handelbare Ware auf einem Markt anzubieten. Als neuroökonomisches Subjekt, getrieben von der zweifachen exklusiven Sorge um seine Animalität (die biologische Reproduktion seines Lebens) und seine Dinghaftigkeit (Genuss der Güter dieser Welt), versucht dieser Ding-Mensch, Maschinen-Mensch, Code-Mensch, dieser im Fluss befindliche Mensch, sein Verhalten an den Normen des Marktes auszurichten, und zögert dabei kaum, sich selbst und andere für die Optimierung seines Anteils am Vergnügen zu instrumentalisieren. Verdammt zu lebenslangem Lernen, zur Flexibilität, zur Herrschaft des Augenblicks, muss er seine Lage als auflösbares und fungibles Subjekt hinnehmen, um der Forderung zu entsprechen, die ständig an ihn gestellt wird: ein anderer zu werden.
Der Neoliberalismus steht für das Zeitalter, in dem Kapitalismus und Animismus, die man so lange unter Schwierigkeiten auseinanderzuhalten versuchte, dahin tendieren, eins zu werden. Da der Kreislauf des Kapitals jetzt vom Bild zum Bild führt, ist das Bild zu einem Beschleunigungsfak18tor der Triebenergien geworden. Aus der potenziellen Verschmelzung des Kapitalismus mit dem Animismus ergeben sich Folgen, die unser zukünftiges Verständnis der Rasse und des Rassismus bestimmen. Zunächst einmal sind die systemischen Risiken, denen zu Zeiten des Frühkapitalismus nur die Neger ausgesetzt waren, inzwischen vielleicht nicht die Norm, aber zumindest doch das Schicksal aller subalternen Menschengruppen. Sodann geht diese tendenzielle Universalisierung der conditio nigra einher mit der Entstehung bislang unbekannter imperialer Praktiken. Diese Praktiken orientieren sich am Vorbild der Sklavenlogiken des Fangens und Erbeutens, ebenso wie an den kolonialen Logiken der Besetzung und Ausbeutung, also der Bürgerkriege oder Raubzüge früherer Zeitalter.18 Bei den auf Besetzung zielenden und den der Aufstandsbekämpfung dienenden Kriegen geht es nicht nur darum, den Feind aufzuspüren und zu liquidieren, sondern auch eine Aufteilung der Zeit und eine Atomisierung des Raumes herbeizuführen. Da ein Teil der Arbeit nun darin besteht, das Reale in Fiktion und die Fiktion in Realität zu verwandeln, werden militärische Mobilmachung aus der Luft, die Zerstörung der Infrastruktur, die Schläge und Verwundungen nun von einer totalen Mobilmachung durch Bilder begleitet.19 Die Bilder sind damit nun Teil der Dispositive einer Gewalt, die sich als rein versteht.
19Außerdem gehen Fangen, Erbeuten, Ausbeutung und asymmetrische Kriege einher mit einer Rebalkanisierung der Welt und einer Intensivierung von Praktiken der Einteilung in Zonen – worunter man eine bislang unbekannte Komplizenschaft zwischen dem Ökonomischen und dem Biologischen zu verstehen hat. Konkret zeigt sich diese Komplizenschaft in der Militarisierung der Grenzen, in der Zerstückelung der Territorien, ihrer Aufteilung und der Schaffung mehr oder weniger autonomer Räume innerhalb eines bestehenden Staates, die sich zuweilen jeglicher Form nationaler Souveränität entziehen, aber unter dem informellen Gesetz einer Vielzahl fragmentierter Autoritäten und privater bewaffneter Mächte oder unter dem Schutz internationaler Körperschaften mit vorgeschobenen oder realen humanitären Zielsetzungen oder einfach ausländischer Armeen operieren.20 Eine derartige Schaffung von Zonen geht in der Regel einher mit einer transnationalen Vernetzung der Repression, einer ideologischen Gleichschaltung der Bevölkerung, dem Einsatz von Söldnern gegen lokale Guerillas, der Aufstellung von »Greifkommandos«, dem systematischen Einsatz von massenhafter Inhaftierung, Folter und außergesetzlichen Hinrichtungen.21 Mit Hilfe solcher Praktiken der Zonen20bildung produziert ein »Imperialismus der Desorganisation« Katastrophen und vervielfältigt nahezu überall den Ausnahmezustand, wobei er sich selbst von der Anarchie nährt.
Durch Verträge zum Zweck des Wiederaufbaus und unter dem Vorwand, Unsicherheit und Unordnung zu bekämpfen, legen ausländische Firmen, Großmächte und einheimische herrschende Klassen die Hand auf Reichtümer und Bodenschätze der solcherart zu Vasallen gemachten Länder. Massive Vermögenstransfers in Richtung privater Interessen, die Enteignung eines wachsenden Teils der durch frühere Kämpfe dem Kapital entrissenen Reichtümer, die endlose Abzahlung von Schuldentranchen – die Gewalt des Kapitals trifft nun auch Europa selbst, wo eine neue Klasse strukturell verschuldeter Männer und Frauen erscheint.22
Noch charakteristischer für die potenzielle Verschmelzung des Kapitalismus mit dem Animismus ist die deutlich erkennbare Möglichkeit einer Verwandlung der Menschen in belebte Dinge, in digitale Daten und Codes. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit verweist der Name Neger nicht mehr nur auf die Lage, in die man die Menschen afrikanischer Herkunft in der Epoche des Frühkapitalismus brachte (Enteignungen unterschiedlicher Art, Beraubung jeglicher Möglichkeit der Selbstbestimmung und vor allem der Zukunft und der Zeit, dieser beiden 21Matrizen des Möglichen). Diese neue Fungibilität, diese Löslichkeit, deren Institutionalisierung als neue Daseinsnorm und ihre Generalisierung für den gesamten Planeten meinen wir, wenn wir sagen, die Welt werde schwarz.
Die Rasse in der Zukunft
Wenn Neger und Rasse zwei zentrale (wenn auch verleugnete) Figuren des europäisch-amerikanischen Diskurses über den »Menschen« waren, müssen wir dann annehmen, dass die Deklassierung Europas und seine Rückstufung auf den Rang einer bloßen Provinz der Welt das Ende des Rassismus bedeutet? Oder müssen wir vielmehr einsehen, dass der Rassismus angesichts der fungibel gewordenen Menschheit selbst noch in den Zwischenräumen einer neuen – vergrabenen, molekularen und fragmentierten – Sprache über den »Raum« wiedererstehen wird? Wenn wir die Frage so stellen, vergessen wir durchaus nicht, dass weder der Neger noch die Rasse jemals verschwunden sind (erstes Kapitel). Im Gegenteil, sie waren immer Teil einer niemals endenden Kette von Dingen. Außerdem ist ihre Grundbedeutung existenzieller Natur. Vor allem die Bezeichnung »Neger« strahlte lange Zeit eine außergewöhnliche Energie aus, mal als Vehikel niederer Instinkte und chaotischer Mächte, mal als leuchtendes Zeichen einer in Zeiten des Wandels zu erwartenden Wiedergewinnung der Welt und des Lebens (zweites und fünftes Kapitel). Denn dieser Begriff bezeichnete nicht nur eine buntscheckige, vielgestaltige, fragmentierte Realität – immer wieder neue Fragmente von Fragmenten –, sondern auch eine Reihe erschütternder geschichtlicher Erfahrungen, die Wirklichkeit eines vakanten Lebens, das unentrinnbare Schicksal von Millionen Menschen, die dazu verurteilt sind, ihren 22Körper und ihr Denken von außen funktionieren zu sehen und in Zuschauer von etwas verwandelt zu sein, das ihre eigene Existenz war und nicht war23 (drittes und viertes Kapitel).
Das ist noch nicht alles. Als Produkt einer sozialen und technischen Maschine, die untrennbar mit dem Kapitalismus, seiner Entstehung und Globalisierung verbunden war, wurde diese Bezeichnung als Ausdruck für Ausschluss, Verdummung und Erniedrigung erfunden, also für eine Grenze, die ständig beschworen und verabscheut wird. Verachtet und entehrt, ist der Neger in der Moderne der einzige Mensch, dessen Haut zum Ding und dessen Geist zur Ware – zur lebendigen Krypta des Kapitals – gemacht wurde. Aber in einer spektakulären Verkehrung – das ist seine offenkundige Dualität – wird er zum Symbol eines bewussten Lebenstriebs, einer überbordenden, fließenden und formbaren Kraft, ganz dem Schöpfungsakt hingegeben und fähig, in mehreren Zeiten und mehreren Geschichten zugleich zu leben. Seine Zauberkraft und sein Betörungsvermögen wurden dadurch nur noch verstärkt. Manche zögern nicht, im Neger den Erdboden und die Lebensader zu erblicken, durch die der Traum einer Versöhnung mit der Natur, also der Totalität des Seins, erneut Gesicht, Stimme und Bewegung erhielte.24
Die europäische Dämmerung kündigt sich zu einer Zeit an, da die europäisch-amerikanische Welt immer noch nicht weiß, was sie vom Neger wissen (oder aus ihm ma23chen) wollte. In vielen Ländern grassiert seither ein »Rassismus ohne Rassen«.25 Um weiterhin Diskriminierung betreiben zu können und zugleich begrifflich undenkbar zu machen, mobilisiert man statt der »Biologie« nun »Kultur« und »Religion«. Man gibt vor, der republikanische Universalismus sei blind für die Rasse, schließt aber die Nichtweißen in ihre angebliche Herkunft ein und vermehrt unablässig die in Wirklichkeit rassifizierten Kategorien, die in der Mehrzahl die alltägliche Islamphobie nähren. Aber wer von uns könnte leugnen, dass es an der Zeit ist, endlich bei sich selbst anzufangen und – während Europa sich verirrt, gefangen in dem Unbehagen, nicht zu wissen, wo es in der Welt und mit der Welt steht – von Grund auf etwas vollkommen Neues zu schaffen? Müssen wir zu diesem Zweck zuallererst den Neger vergessen oder ihm vielmehr seine trügerische Macht, seinen leuchtenden, fließenden und kristallinen Charakter erhalten – jenes schwer zu fassende, serielle, formbare, stets maskierte Subjekt, das sich ständig auf beiden Seiten des Spiegels aufhält, an einer Grenze, an der es unablässig entlangstreift? Wenn der Neger inmitten dieser Wirren tatsächlich seine Erfinder überlebte und wenn in einer dieser Wendungen, deren Geheimnis die Geschichte kennt, die ganze subalterne Menschheit tatsächlich schwarz würde, welche Gefahren brächte solch ein Schwarzwerden der Welt für das Versprechen universeller Freiheit und Gleichheit mit sich, dessen manifestes Zeichen der Name Neger in der gesamten Moderne gewesen ist? (Sechstes Kapitel.)
Außerdem ist etwas zurückgeblieben von den verbissenen kolonialen Bemühungen, zu teilen, zu klassifizieren, 24zu hierarchisieren und zu differenzieren, nämlich Wunden und Verletzungen. Schlimmer noch, eine bleibende Kluft ist aufgerissen worden. Ist es sicher, dass wir heute ein anderes Verhältnis zum Neger einnehmen können als das zwischen Herr und Knecht? Ist er nicht selbst überzeugt davon, dass ein Doppelgänger in ihm wohnt? Ein fremdes Wesen, das ihn hindert, zum Selbstbewusstsein zu finden? Erlebt er seine Welt nicht als eine des Verlusts und der Spaltung, und träumt er nicht von der Rückkehr zu einer Identität mit sich selbst im Sinne reiner Wesenhaftigkeit und damit oft der Ungleichheit? Ab wann verwandelt sich das Projekt radikaler Aufhebung und einer Autonomie im Namen der Differenz in eine simple mimetische Umkehrung dessen, was man stets verwünscht hat?
Mit solchen Fragen befasst sich dieses Buch, das sich, obwohl weder eine Ideengeschichte noch eine historisch-soziologische Studie, dennoch der Geschichte bedient, um einen Stil kritischer Reflexion über die Welt unserer Zeit vorzustellen. Es bevorzugt eine halb der Sonne und halb dem Mond, halb dem Tag und halb der Nacht zugehörige Form von Erinnerung, hat dabei aber letztlich stets nur eine Frage im Sinn: Wie können wir Differenz und Leben, Gleiches und Ungleiches, Überschießendes und Gemeinsames denken? Diese Frage findet sich in der schwarzen Erfahrung gut zusammengefasst, weiß sie doch im heutigen Bewusstsein so gut den Platz einer zurückweichenden Grenze, gleichsam eines beweglichen Spiegels einzunehmen. Allerdings muss man sich fragen, warum dieser bewegliche Spiegel nicht endlich aufhört, sich um sich selbst zu drehen. Was hindert ihn, zu einem Ergebnis zu gelangen? Wie erklärt sich diese endlose Wiederaufnahme immer sterilerer Spaltungen?
Johannesburg, 2. August 2013
25Diesen Essay habe ich während meines langen Aufenthalts am Witwatersrand Institute for Social and Economic Research (WISER) an der Universität Witwatersrand in Johannesburg geschrieben. Er ist Teil eines Reflexionszyklus, der mit De la postcolonie (2000) begann, mit Sortir de la grande nuit (2010) fortgesetzt wurde und mit der vorliegenden Arbeit über den Afropolitanismus seinen Abschluss findet.
Im Verlaufe dieses Zyklus habe ich mich bemüht, mich in mehreren Welten zugleich zu bewegen, nicht durch eine willkürliche Aufteilung, sondern in einem Hin und Her, das es möglich machen sollte, von Afrika aus ein Denken der Zirkulation und des Durchquerens zu artikulieren. Auf diesem Wege war es kaum sinnvoll, die europäischen Denktraditionen zu »provinzialisieren«. Im Übrigen sind sie uns keineswegs fremd. Wenn es darum geht, der Welt in der Sprache aller Ausdruck zu verleihen, finden sich innerhalb dieser Traditionen vielmehr Kräftebeziehungen, und ein Teil unserer Bemühungen besteht darin, auf diese inneren Reibungen einzuwirken und sie zu dezentrieren, nicht um den Abstand zwischen Afrika und der Welt zu vergrößern, sondern um die Möglichkeit zu schaffen, dass die neuen Anforderungen einer möglichen Universalität relativ klar hervortreten.
Während meines Aufenthalts am WISER genoss ich die Unterstützung meiner Kollegen und Kolleginnen Deborah Posel, Sarah Nuttall, John Hyslop, Ashlee Neeser, Pamila Gupta und in jüngster Zeit Cathy Burns und Keith Breckenridge. Das Buch verdankt sehr viel der Freundschaft mit David Theo Goldberg, Arjun Appadurai, Ackbar Abbas, Françoise Vergès, Pascal Blanchard, Laurent Dubois, Éric Fassin, Ian Baucom, Srinivas Aravamudan, Charlie Piot und Jean-Pierre Chrétien. Paul Gilroy, Jean Comaroff, John Comaroff und die verstorbene Carol Breckenridge 26waren für mich unermessliche Quelle der Inspiration. Ich danke auch meinen Kolleginnen und Kollegen Kelly Gillespie, Julia Hornberger, Leigh-Ann Naidoo und Zen Marie vom Johannesburg Workshop in Theory and Criticism (JWTC) an der Universität Witwatersrand.
Mein Verleger François Gèze und sein Team (insbesondere Pascale Iltis und Thomas Deltombe) waren wie stets eine ausgezeichnete Hilfe.
Ich danke den Zeitschriften Le Débat, Politique africaine, Cahiers d’études africaines, Research in African Literatures, Africulture und Le Monde diplomatique für die Veröffentlichung explorierender Texte, die diesem Essay als Grundlage dienen.
Aus Gründen, die hier nicht erneut genannt zu werden brauchen, widme ich dieses Buch Sarah, Léa und Aniel sowie Jolyon und Jean.