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Karen Sandler, Anne McAllister, Victoria Pade

BIANCA EXKLUSIV BAND 252

IMPRESSUM

BIANCA EXKLUSIV erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

Erste Neuauflage by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,
in der Reihe: BIANCA EXKLUSIV, Band 252 – 2014

© 2004 by Karen Sandler
Originaltitel: „A Father’s Sacrifice“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Juni Meyer
Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1473

© 2002 by Barbara Schenck
Originaltitel: „The Cowboy’s Christmas Miracle“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Meike Stewen
Deutsche Erstausgabe 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1442

© 2007 by Victoria Pade
Originaltitel: „Hometown Cinderella“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Meike Stewen
Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1616

Abbildungen: kristian sekulic / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733730147

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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KAREN SANDLER

Wenn du nur glücklich bist

Warum nur gibt Nina ihm keine zweite Chance? Vor Jahren wendete sich die bezaubernde Mutter ihres gemeinsamen Kindes tief enttäuscht von ihm ab – und stimmt auch jetzt nur einer Vernunftehe zu, weil sie es für den Kleinen als richtig empfindet. Liebt sie ihn wirklich nicht mehr? Auf einer gemeinsamen Reise nach San Francisco versucht Jameson sein Glück aufs Neue …

ANNE MCALLISTER

Drei Worte, die das Glück bedeuten

Deke Malone ist zurück! Jener Schulfreund, in den Erin schon als Jugendliche unsterblich verliebt war. Genau wie damals sucht der attraktive Fotograf auch heute ihre Nähe. Und doch ist alles anders: Diesmal verraten seine Blicke echtes Begehren! Und er macht ihr sogar einen Heiratsantrag. Von Liebe allerdings spricht er eigentümlicherweise nie …

VICTORIA PADE

Cinderella kehrt zurück

Er war damals der Schwarm aller Mädchen – und sie die graue Maus. Erst jetzt, da Eden als Traumfrau nach Northbridge zurückkehrt, schenkt Cam ihr Blicke voller Leidenschaft. Allerdings ist er Polizist. Wie ihr erster Mann, der bei einem Einsatz ums Leben kam. So etwas will sie nie wieder erleben! Deshalb stellt Eden ihn vor eine schwierige Entscheidung …

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Wenn du nur glücklich bist

PROLOG

Jameson O’Connell saß in dem BMW seines Anwalts und starrte aus dem Fenster, während der silberfarbene Wagen mit ihm in Richtung Freiheit rollte. Die grauen, düsteren Mauern der Justizvollzugsanstalt Folsom verschwanden langsam hinter der Kurve, und schließlich war das Gefängnis aus seinem Blickfeld verloren.

Die Erinnerungen würden jedoch nicht verschwinden. Die schrecklichen Bilder und all die grausamen Erlebnisse würden ihm für immer im Gedächtnis haften bleiben.

„Ein Wagen wartet auf Sie“, bemerkte John Evans jetzt. „Ich habe ihn vor meiner Kanzlei abstellen lassen.“

„Ein Wagen?“ Erstaunt sah Jameson den Mann an, der ihn unverhofft gerettet hatte. „Wessen Wagen?“

„Ihrer“, erklärte John und stoppte am Ende der Prison Road. „Ein Geschenk Ihrer Großmutter.“

Ich verzichte! war Jamesons erster Gedanke. Augenblicklich kochte die Wut in ihm hoch, aber er schluckte die Worte hinunter. Schließlich hatte er auch das astronomische Honorar des Anwalts aus dem Vermögen seiner Großmutter beglichen. Ebenso die Kosten für die Revision vor Gericht, das Gutachten des vereidigten Sachverständigen, die schicke neue Hose sowie das strahlend blaue Hemd, das er am Leib trug.

Grandma will sich nur von ihrer Schuld freikaufen, überlegte er grimmig. Im Moment war er allerdings gezwungen, ihre Großzügigkeit anzunehmen. Ohne ihre Finanzkraft hätte er seine Entlassung aus dem Gefängnis niemals erreichen können.

Sie waren bei der Dam Road angekommen, und rechts von ihnen lag der Folsom Lake. Das Wasser schimmerte dunkelgrün. Der Herbstwind jagte über die Oberfläche des Sees und peitschte das Wasser auf. Plötzlich verspürte er den Wunsch, in ein Boot zu springen und über die schaumgekrönten Wellen zu segeln.

Ich könnte es sogar tun, überlegte er einen Moment lang. Wenn ich wollte, könnte ich John Evans bitten, den Wagen anzuhalten, zu wenden und mich aussteigen zu lassen. Ich könnte mir ein Boot mieten, an Bord gehen und die zerklüftete Küste von Folsom genauestens erkunden. Ich bin ein freier Mann. Frei zu segeln, wann ich will, Steine über die Wasseroberfläche flitzen zu lassen und andere Dummheiten zu begehen, nach denen mir gerade der Sinn steht.

Als der BMW scharf in die letzte Kurve der Dam Road ging, stemmte Jameson sich mit seinem ganzen Gewicht in die Gegenrichtung. Mit eisernem Griff schloss er seine Hände um die glänzend polierte Mahagonibox, die er auf seinem Schoß hielt.

Wie albern, eine Holzbox mit Asche um jeden Preis schützen zu wollen, dachte er unwillkürlich. Aber solange sein Bruder Sean am Leben gewesen war, hatte Jameson sich ihm nie nahe gefühlt. Vielleicht fiel ihm die Trennung deshalb so schwer. Jetzt, wo Sean tot war.

„Wissen Sie schon, wohin Sie als Erstes fahren wollen?“, fragte Evans.

Hart Valley.

Die unausgesprochene Antwort traf ihn selbst wie ein Schlag, und er presste die Lippen fest zusammen. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend machte ihm unmissverständlich klar, wie gefährlich es war, auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Ort zu verschwenden. Hart Valley war für ihn mit einem strikten Tabu belegt.

Jameson hatte nicht die geringste Lust, weiter über das Thema nachzugrübeln oder mit seinem Anwalt zu plaudern. Evans hatte zwar weder Kosten noch Mühen gescheut, bis das Urteil gegen Jameson aufgehoben und er in die Freiheit entlassen worden war. Dafür war Jameson dankbar. Sehr dankbar. Aber er durfte nicht riskieren, dass seine Gedanken nach Hart Valley abschweiften, denn dann kreisten sie unwillkürlich um die Russos. Und wenn er die Russos erst im Kopf hatte, gesellte sich früher oder später unausweichlich Nina dazu.

Doch über Nina wollte er ganz gewiss nicht nachdenken. Über alles, nur nicht über sie.

„Wohin ich zuerst fahren will?“, wiederholte Jameson unwirsch, wandte hastig den Blick ab und starrte wieder aus dem Fenster. „Keine Ahnung.“ Evans begriff das Verhalten seines Mandanten und schwieg.

Nachdem sie bei Evans Kanzlei angekommen waren, tauschten sie nur die nötigsten Höflichkeiten aus, dann übergab der Anwalt Jameson die Schlüssel für seinen nagelneuen Wagen. Jameson schloss die Faust so heftig um die Schlüssel, dass seine Handflächen schmerzten. Die widersprüchlichsten Gefühle stiegen in ihm hoch: Dankbarkeit, die ihm verhasst war, dazu das unbändige Verlangen, die Schlüssel im hohen Bogen wegzuschmeißen. Scham und überwältigende Schuldgefühle, die er nie wieder abschütteln würde. Seine eigene Schuld, die Schuld seiner Großmutter und Seans Schuld.

Jameson schloss den silberglänzenden Viertürer auf und stellte die handgeschnitzte Mahagonibox vorsichtig auf den Beifahrersitz. Evans übergab ihm noch einen dicken Umschlag mit Papieren, die beglaubigten, dass seine Großmutter einen Teil ihres Vermögens auf ein Treuhandkonto für Sean überschrieben hatte und dass dieses Geld jetzt ihm, Jameson, gehörte. Er glitt hinter das Steuer und ließ den Umschlag auf die Fußmatte des Beifahrersitzes fallen.

So bald wie möglich wollte er das Geld seiner Großmutter loswerden. Blutgeld, dachte er, unentwirrbar verstrickt in Leid und Schmerzen.

Während er jedoch durch die Straßen von Sacramento fuhr und sich nach einer Bleibe umschaute, stellte er fest, dass er ebenso wenig in der Lage war, das Geschenk seiner Großmutter zurückzuweisen, wie er die verlorenen fünf Jahre wiederbekommen konnte. Sein Ruf war ruiniert, sein Leben verpfuscht. Obwohl er in der Gefängniswerkstatt mehrere Lehrgänge als Tischler absolviert hatte, waren seine Bewerbungen erfolglos geblieben. Sein kleines Vermögen würde es ihm allerdings erlauben, sich selbstständig zu machen. Von solchen Sicherheiten konnten frisch entlassene Sträflinge wie er normalerweise nur träumen.

Im Grunde genommen könnte ich sogar nach Hart Valley fahren, dachte er. Wenn ich wollte.

Sein Vater war kürzlich verstorben, und Jameson konnte sich auf den spärlichen fünf Hektar Land, die er geerbt hatte, ein neues Zuhause aufbauen. Vielleicht konnte er sich sogar eine Tischlerwerkstatt einrichten hinter der jämmerlichen Hütte, in der er aufgewachsen war. Sofern sie die knapp fünfjährige Vernachlässigung überstanden hatte.

Ob ich einer Begegnung mit Nina wohl gewachsen bin? fragte er sich insgeheim.

Die Ampel an der Kreuzung der Schnellstraße sprang von Gelb auf Rot, und Jameson trat abrupt auf die Bremse. Die Reifen des Pick-ups hinter ihm quietschten grauenvoll. Beinahe wäre er auf das Heck von Jamesons neuem Wagen geknallt. Die junge rothaarige Frau am Steuer stieß ein paar heftige Flüche aus und hupte wie verrückt, als die Ampel auf Grün sprang.

Jameson fuhr wieder an und schimpfte lauthals auf sich selbst, weil er den Gedanken an Nina überhaupt zugelassen hatte. Fünf lange Jahre lagen hinter ihm, fünf Jahre, in denen er alles unternommen hatte, um sie aus seinem Leben zu verbannen. Mit aller Kraft hatte er sich dagegen gesträubt, dass die Erinnerung an sie sich hinter den hässlichen Gefängnismauern einnistete. Wenn sein Verlangen nach ihr zu brennend wurde, hatte er die verführerischen Gedanken an sie verdrängt und seine Fantasien auf die prallen Pin-up-Girls konzentriert, mit deren Bildern die anderen Gefangenen die Wände tapeziert hatten. Noch nicht mal den Gedanken an Ninas Parfüm hatte er zugelassen.

Jetzt stürzten sämtliche Erinnerungen gleichzeitig auf ihn ein. Die Attacke war so heftig, dass seine Finger zitterten. Mit schweißnassen Händen umklammerte er das Lenkrad, bis er schließlich den Fuß vom Gas nahm und die Schnellstraße verließ, um nicht einen schlimmeren Unfall zu riskieren als den Zusammenstoß mit dem Pick-up.

Jameson bog in eine Einkaufsstraße ein und parkte den Viertürer vor einem Schuhgeschäft. Dann sank er in seinem Sitz zusammen, lehnte den Kopf nach hinten und blickte aus dem Fenster. Seine Brust fühlte sich an wie gepanzert. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sein Inneres. Wenn er diesen Schmerz nicht schon tausend Mal gespürt hätte, als er einsam in seiner Gefängniszelle lag, wäre er überzeugt gewesen, dass er gerade einen Herzinfarkt erlitt.

Du bist frei, jetzt darfst du an sie denken! meldete sich eine innere Stimme.

Die Tränen brannten ihm in den Augen, aber er drängte sie mit aller Macht zurück. Jameson kniff die Lider fest zusammen, atmete stockend aus und entspannte sich ganz langsam. Der Druck auf seiner Brust nahm ab. Die Zeiten waren vorbei, als er sich den Gedanken an Nina strengstens hatte verbieten müssen.

Andererseits wusste er, dass es noch immer gefährlich war, an sie zu denken. Fast befürchtete er, dass er es nicht überleben würde, wenn er es tat. Verzweifelt verstieg er sich in paar Minuten lang in die Fantasie, dass Nina Russo noch immer die tolle Frau war, die er vor knapp fünf Jahren in seinen Armen gehalten hatte. Die echte Nina – die, die ihn todsicher wütend davonjagen würde – würde noch durch seine besten Absichten hindurch auf den dunklen Abgrund in seiner Seele blicken können. War es da nicht das Beste, er tat so, als würde sie gar nicht existieren?

1. KAPITEL

Nina Russo setzte sich auf den Stuhl hinter dem Tresen ihres Cafés. Die Gäste, die bei ihr regelmäßig den Mittagstisch einnahmen, waren gerade wieder verschwunden. Ninas Café in Hart Valley war ein beliebter Treffpunkt in der kleinen Stadt, aber um drei Uhr nachmittags war es fast immer leer. Erst gegen fünf würden die ersten Gäste zum Abendessen eintreffen. Dann würde der Abendkoch die Bestellungen für Hackbraten, Kartoffelpüree und Chilibohnen bearbeiten.

Das heißt, wenn mein Koch rechtzeitig zur Arbeit kommt, dachte sie spontan. Immer eine spannende Frage, ob er pünktlich ist oder nicht, denn Dale hatte gewiss keinen Orden für Pünktlichkeit verdient. Mit ihren Abendköchen hatte Nina noch nie Glück gehabt, aber Dale war der unzuverlässigste Koch von allen.

Wenn man von Jameson O’Connell absieht, fügte sie im Stillen hinzu.

Ein unangenehmes Gefühl kroch ihr den Rücken hinauf. Wie um alles in der Welt hatte es passieren können, dass Jameson plötzlich in ihren Gedanken auftauchte?

Damals, vor knapp fünf Jahren, hatte er ihr fast den Verstand geraubt, sowohl vor als auch nach der Nacht, die ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte. Aber kurze Zeit später hatte Nina ihn mit aller Macht aus ihren Gedanken verbannt, besonders nachdem er Pauline und Vincent Russo im Stich gelassen und das Weite gesucht hatte.

Ich bin müde, das ist alles, dachte sie. In den vergangenen sieben Nächten war Dale drei Mal nicht zur Arbeit erschienen, und Nina hatte ihn in der Küche ersetzen müssen. Der Teenager, der als Tellerwäscher bei ihr engagiert war, hatte sich die schwere Erkältung eingefangen, die gerade in Hart Valley grassierte. Noch ein weiteres Paar helfende Hände, auf das sie verzichten musste.

Erschöpft rieb Nina sich die Augen und lehnte sich seufzend auf dem Drehstuhl zurück. Sie war in diesem Café aufgewachsen. Ihre Hausaufgaben hatte sie in der Sitzbucht vorn in der Ecke erledigt, und auf dem Linoleumfußboden hatte sie mit Murmeln gespielt, während ihre Eltern kurz vor Ladenschluss damit beschäftigt gewesen waren, das Lokal aufzuräumen. Sie hatte den Betrieb von der Pike auf kennengelernt. Jeder Handgriff war ihr vertraut, gleichgültig, ob es sich um den allabendlichen Kassenabschluss oder um die Auswahl des besten Rindfleisches handelte. Und als Kleinunternehmerin war genau das ihr Schlüssel zum Erfolg: jeden Mitarbeiter ersetzen zu können, wenn er nicht auftauchen sollte.

Das galt besonders für Jameson. Er war von seinem Wochenendtrip nach Sacramento nie zurückgekehrt.

Es reicht, ermahnte sie sich, lass endlich die Vergangenheit ruhen. Du hast heute Nachmittag etwas Besseres zu tun, als dich mit Erinnerungen an alte Zeiten herumzuplagen.

Nina lächelte, als Lacey Mills aus der Küche kam. Sie war dankbar für jede Ablenkung.

„Ich kann gern noch länger bleiben, wenn Dale nicht kommt“, bot die neunzehnjährige Studentin an, warf ihre blonde Mähne mit einer schwungvollen Kopfbewegung über die Schultern und setzte sich auf den Stuhl neben Nina.

Nina schüttelte den Kopf und spürte die langen dunklen Haare wie ein Gewicht auf ihrem Rücken. Schluss für heute, dachte sie. „Du bist seit heute Früh um sechs Uhr hier“, lehnte sie ab. „Hast du heute Nachmittag gar keine Vorlesung?“

Lacey zuckte die Schultern. „Doch. Aber ich könnte direkt von hier aus nach Marbleville fahren.“

Die Türglocke ging, was hieß, dass ein Gast das Café betreten hatte. Nina erhob sich und drehte sich zum Eingang hin. Die spätherbstliche Sonne schien dem Mann in den Rücken, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Wieder kroch ihr ein ungutes Gefühl in den Nacken. Ganz so, als würden unsichtbare Fingerspitzen die Haut um ihre Schultern herum betasten. Nervös versuchte Nina, die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, aber es wollte ihr nicht gelingen.

Der Mann trat aus der Sonne und drehte sich so zur Seite, dass das Licht jetzt sein Gesicht erhellte. Die strengen Konturen seiner Wangen und seines Kiefers, die mit den Jahren noch härter, ja fast hager geworden waren, standen plötzlich als Bild vor ihrem inneren Auge. Ein Bild, das spöttisch umhertanzte. Sein dunkles Haar war extrem kurz geschnitten, aber sie hatte nicht vergessen, wie seidig es sich früher angefühlt hatte. Und die Kraft, die von seinen breiten Schultern ausging, ließ unwillkürlich eine unbestimmte Hitze in ihr aufsteigen.

Plötzlich sah er sie mit seinen blauen Augen direkt an und hielt ihren Blick gefangen. Sie entdeckte einen Schmerz in diesen Augen, der vor fünf Jahren nicht darin gelegen hatte, und die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit, die aus ihnen sprach, versetzte ihrem Herzen einen heftigen Stich. Der verbitterte Zug um seine Lippen war ebenfalls neu, und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, wer gerade ihr Café betreten hatte. Entsetzt rang Nina nach Luft.

Lacey trat zu ihr hin und legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Nina? Was ist los?“

Nina schüttelte fassungslos den Kopf und versuchte krampfhaft, sich einzureden, es könne nicht sein. Aber er war da und stand nur wenige Meter vor ihr.

Jameson O’Connell. Er war aus der Haft entlassen worden.

Hatte Jameson etwa erwartet, dass sie ihn mit offenen Armen und einem bezaubernden Lächeln empfangen würde? Er war überzeugt gewesen, dass die gewaltigen grauen Gefängnismauern jede Hoffnung auf sie zunichtegemacht hatten. Doch offensichtlich hatte tief in seinem Herzen ein winziges Samenkorn überlebt, und jetzt, beim ersten Wiedersehen mit Nina, war es aufgesprungen.

Eigentlich hätte der Anblick ihres entsetzten Gesichtsausdrucks die aufkeimende Hoffnung sofort ersticken müssen, aber irgendwie lebte und atmete sie weiter. Und diese Erkenntnis brachte ihn beinahe um den Verstand, weil er sich bewiesen hatte, dass er noch nicht mal in der Lage war, diese kleine Gefühlsregung unter Kontrolle zu bringen.

Er machte ein paar Schritte auf Nina zu und blieb auf Armeslänge vor ihr stehen. Die Gegenwart prallte heftig mit den jahrelang unterdrückten Erinnerungen an sie zusammen. Natürlich wusste er, dass er sie in seiner Fantasie idealisiert hatte. Ihr Gesicht hatte dem Antlitz eines Goldengels geglichen, und ihr Körper war zu üppig und zu sinnlich gewesen, um wahr zu sein. Aber der seidige Schimmer, den das Sonnenlicht jetzt auf ihre Wangen zauberte, das dichte schwarze Haar, das ihr über die Schultern fiel, und ihr süßes Kinn – ihm stockte schier der Atem.

Jameson erlaubte sich einen hastigen Blick auf ihre Brüste. Sie waren noch üppiger, als er sie in Erinnerung hatte, ihre schmale Taille war noch weiblicher, und ihre Hüften schienen danach zu verlangen, gestreichelt zu werden. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte er daran, wie herrlich ihr Körper sich unter seinen Händen angefühlt, wie er ihre verborgenen Kurven erkundet hatte …

Mit aller Macht zügelte er seine Fantasie, weil ihm schlagartig klar wurde, dass es fatal enden würde, wenn er der Versuchung nachgab. Unablässig fixierte er dennoch ihre großen braunen Augen. Dann betrachtete er kurz ihren Mund und ihre leicht geöffneten Lippen. Unwillkürlich formte sich in seiner Vorstellung die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Kuss, und angestrengt lenkte er seine Gedanken auf etwas, was ihm weniger gefährlich vorkam. Plötzlich allerdings drang eine Stimme an sein Ohr.

„Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie einen Tisch?“

Jameson begriff nicht auf Anhieb. Verwirrt wandte er sich der schlanken blonden Frau zu, die neben Nina saß. „Wie bitte?“

„Möchten Sie einen T…“

Nina legte der Blonden eine Hand auf die Schulter. „Schon gut, Lacey. Ich kümmere mich darum.“

Ich kümmere mich darum, wiederholte er den Satz grimmig in Gedanken. Sie tut so, als ob ich für sie nichts anderes sei als eine lästige Pflicht, dachte er ärgerlich. Und genau das war er auch. Niemand wusste besser als er, dass er sich auf der Liste von Leuten, die Nina in ihrem Leben nie wieder unter die Augen treten sollten, einen Platz ganz weit oben erobert hatte. Nur änderte das leider nichts an dem brennenden Verlangen, das sich zwischen seinen Schenkeln ausbreitete.

Die dünne Blonde stand auf und stellte sich neben ihre Chefin. „Soll ich nicht besser …“

„Nicht nötig“, unterbrach Nina. „Geh ruhig nach Hause, ich komme schon zurecht.“

Die junge Frau schaute unschlüssig in die Runde, ging dann hinter den Tresen und griff nach der Dose mit den Trinkgeldern. Sie ließ Jameson nicht aus den Augen, während sie sich die Münzen und Scheine in die Taschen ihrer Schürze stopfte. „Wenn du willst, dann …“

„Geh endlich“, unterbrach Nina ungeduldig. „Bis morgen.“

Lacey stellte die leere Dose wieder an ihren Platz zurück und eilte zu den hinteren Räumen. Das Schweigen im Café nahm jetzt bedrohliche Ausmaße an.

Nina verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Es sah aus, als wollte sie in Verteidigungsstellung gehen, und die Haltung betonte die üppigen Brüste unter ihrem weißen Hemd. Nina strahlte immer noch dieselbe weiche Sinnlichkeit aus, die ihn damals schon fasziniert hatte. Plötzlich merkte er, in welche Richtung seine Gedanken drifteten, und er trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

Entschlossen streckte sie ihm das Kinn entgegen. „Was willst du?“

Das klang mehr nach einer Herausforderung als nach einer Frage. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und antwortete im selben Ton, in dem sie ihre Frage gestellt hatte. „Wo sind deine Eltern?“

Sie musterte ihn eindringlich. „Wie kommst du darauf, dass ich das ausgerechnet dir verrate?“

„Ich möchte mit ihnen sprechen“, entgegnete er. Ihr gereizter Tonfall passte ihm überhaupt nicht, obwohl er nur zu gut wusste, dass er sich ihre scharfe Erwiderung selbst zuzuschreiben hatte.

„Worüber?“

Mit einem ungeduldigen Seufzer atmete er aus. Das geht dich überhaupt nichts an, schoss es Jameson durch den Kopf, aber zum Glück gelang es ihm, diese Bemerkung zurückzuhalten. „Ich will mich bei ihnen bedanken.“

Wütend presste sie die Lippen aufeinander, bevor sie antwortete. „Besser, du entschuldigst dich vorher.“

Wie verführerisch ihre Lippen sich bewegen, wenn sie spricht, dachte er vollkommen fasziniert. Für den Bruchteil einer Sekunde schweiften seine Gedanken in verbotene Regionen. Blitzartig erinnerte er sich daran, wie wundervoll es sich angefühlt hatte, wenn sie ihre weichen Lippen auf seinen Hals gepresst hatte.

Sofort versteifte sich sein Körper. Er trat einen weiteren Schritt zurück, weil er befürchtete, dass er jeden Augenblick die Kontrolle über seine Hände verlieren würde und sie berühren musste.

„Nina …“ Sein Mund war trocken, und er schluckte mühsam. Es klang ihm ungewohnt und fremd in den Ohren, ihren Namen auszusprechen. „Ich bin nicht zurückgekehrt, weil ich euch Ärger machen will. Ich will nur kurz mit deiner Familie sprechen.“

Schweigend starrte sie ihn an, griff dann hinter sich und langte nach dem Bestellblock auf dem Tresen. „Gib mir deine Telefonnummer. Ich werde sie wissen lassen, dass du wieder aufgetaucht bist.“

„Ich habe kein …“, begann er und erinnerte sich dann an das Handy, das Evans ihm gegeben hatte. „Warte.“ Er eilte nach draußen zu seinem Wagen.

Als er das Gerät aus dem Lederetui zog, entdeckte er, dass die Nummer zum Glück auf einem Aufkleber hinten auf dem Gerät notiert war. Mit dem Handy ging er zurück ins Café. Nina hatte sich in der Zwischenzeit nicht von der Stelle gerührt.

Er nannte die Nummer, und sie notierte sie auf dem Block, riss das Blatt ab und steckte es in die Tasche ihrer schwarzen Hose. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu arbeiten.“ Sie machte sich auf den Weg in die Küche.

Jamesons Magen rumorte. Plötzlich merkte er, dass er einen riesigen Hunger hatte. Automatisch rechnete er nach, wie lange es noch dauern würde, bis es endlich sechs Uhr war. Abends um sechs war in Folsom immer das Essen aufgetischt worden. Seine Entlassung lag zwar inzwischen schon drei Wochen zurück, aber manchmal war es für ihn immer noch wie ein Wunder, wenn er feststellte, dass er auf nichts und niemanden mehr zu warten brauchte. Wenn er wollte, konnte er sofort essen. Und er konnte sich das bestellen, worauf er Lust hatte. Schließlich besaß er immer noch das Bargeld, das ihm bei der Entlassung von der Gefängnisverwaltung ausgehändigt worden war, und er verfügte über eine Reihe Kreditkarten aus dem Umschlag, den Evans ihm gegeben hatte.

„Ich möchte etwas essen.“

Sie blieb abrupt stehen, bevor sie die Küche erreicht hatte.

„Machst du immer noch Hackbraten?“

Nina drehte sich um und schaute ihn an. Ihre verspannten Schultern verrieten ihren Widerwillen nur zu deutlich. „Ja.“

„Dann bitte eine Portion Hackbraten mit Kartoffeln.“

Hilflos gab sie nach. „Gebraten oder püriert?“

„Püriert. Mit einer Extraportion Soße.“

Jameson hatte keine Ahnung, was der Grund dafür sein mochte, aber plötzlich drehte sie sich zu ihm herum, und er machte eine Entdeckung, mit der er nie und nimmer gerechnet hatte: Aus ihrem Blick sprachen Verständnis und Mitgefühl.

„Setz dich“, antwortete Nina. „Ich bringe es dir an den Platz.“

Sie ging in die Küche, während Jameson sich die nächstgelegene Sitzecke auswählte und das Besteck aus der Serviette auswickelte. Messer, Gabel und Löffel. Wieder schoss ihm die Erinnerung an die Mahlzeiten im Gefängnis durch den Kopf. An den Lärm und an den Geruch der Körper, die sich dicht an dicht drängten.

Zu spät. Schlagartig traf ihn eine Panikattacke, und obwohl ihm das Gefühl nur zu vertraut war, empfand er zwei Sekunden später den überwältigenden Wunsch zu fliehen. Aber wie? Flucht war ausgeschlossen. Unüberwindliche Mauern umzingelten das Gefängnis. Bewaffnetes Sicherheitspersonal beobachtete jede seiner Bewegungen. Noch in diesem Augenblick schlug ihm das Herz bis zum Hals, es pochte so heftig, dass es einen geradezu ohrenbetäubenden Lärm in seinem Kopf zu verursachen schien.

„Alles in Ordnung?“

Erschrocken schaute er Nina an, die an seinen Tisch getreten war und ihn besorgt ansah. Die Freundlichkeit in ihrem Blick beruhigte ihn auf Anhieb.

Nervös fingerte er an seinem Besteck herum und ordnete es schließlich sorgfältig. „Ja, alles bestens.“

Nina zögerte kurz, musterte ihn eindringlich und verschwand dann wieder in der Küche. Er konnte nicht widerstehen, den Blick an ihren Hüften hinuntergleiten zu lassen. Ausnehmend verführerisch, wie sie leicht hin- und herschwangen. Entschlossen riss er sich von dem Anblick los und schaute auf die Zeitung The Sacramento Bee, die auf einem unordentlich Stapel am Ende des Tresens lag.

Ein paar Blätter der Reno Gazette lugten aus der zusammengefalteten Zeitung heraus. Jameson stand auf, ging zum Tresen hinüber, sortierte die Sacramento Bee und die Reno Gazette sauber auseinander und legte die Zeitungen auf zwei verschiedenen Stapeln ab. Dann griff er sich die erste Seite der Sacramento Bee und wollte zu seinem Platz zurückgehen.

Plötzlich stand Nina neben ihm, in der Hand eine dampfende Platte. Vor Schreck stolperte sie beinahe, als sie ihn völlig unerwartet am Tresen stehen sah. Er ließ die Zeitung fallen und stützte Nina gerade noch rechtzeitig, um einen Sturz zu verhindern. Schützend glitten seine Hände über ihre Schultern. Nina fühlte sich unbeschreiblich weich und verführerisch an, und er brachte es kaum fertig, sie wieder loszulassen.

Unsicher hob Nina das Gesicht und fing seinen Blick auf. Ihre Lippen teilten sich leicht. Deutlich konnte er sich daran erinnern, wie sie schmeckten, wie warm sie gewesen waren, damals, als er seinen Mund auf ihren gepresst hatte. Ihr warmer Atem hatte seine Wangen gestreichelt, und das leise Stöhnen, das ihr wieder und wieder entschlüpfte, während ihre Lust immer höher stieg, klang ihm noch jetzt in den Ohren. Jede Berührung, jede Empfindung, jedes Detail ihrer unvergleichlichen Liebesnacht hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt und drängte jetzt mit Macht an die Oberfläche.

Er musste schleunigst auf Distanz gehen. Verzweifelt versuchte er, einen Schritt zurückzutreten. Vergeblich. Er fühlte sich, als würden die grauen Mauersteine des Gefängnisses ihn immer noch festhalten. Aber er hatte keine Wahl, denn wenn es ihm nicht augenblicklich gelang, die Hände von ihren Schultern zu nehmen, würde er sie in die Arme schließen und sich in ihr Leben drängen, genau wie er es vor knapp fünf Jahren getan hatte.

Nina ging auf Abstand. Ein Glück! dachte er spontan. Sie atmete tief durch, und dabei hoben sich ihre Brüste. Wieder musste er sie anschauen. Aber immerhin hatte er die Hände von ihren Schultern genommen, als sie den Schritt zurückgemacht hatte.

Mit zitternden Fingern hob er die Zeitung auf, die zu Boden gefallen war. Als er sich wieder aufrichtete, hatte Nina die Servierplatte mit Hackbraten und Kartoffelbrei auf dem Tisch abgestellt und war gerade dabei, sich hinter dem Tresen zu verschanzen.

Jameson nahm entschlossen Platz und legte das Titelblatt der Bee neben dem Teller ab. Verstohlen schaute er zum Tresen hinüber. Sein kurzer Blick reichte, um Nina endgültig in die Küche zu verscheuchen. Durch die Scheibe, die die Küche vom Gastraum trennte, konnte er ihre weit aufgerissenen braunen Augen erkennen.

„Lass es mich wissen, wenn du noch etwas brauchst!“, rief sie ihm zu.

Krampfhaft überlegte er, um was er sie bitten könnte. Schließlich wollte er unbedingt erreichen, dass sie in den Gastraum zurückkam. Ketchup stand auf dem Tisch. Soße gab es reichlich. Als Gemüsebeilage hatte sie Erbsen serviert. Nicht gerade sein Lieblingsgemüse, aber im Gefängnis hatte er gelernt, dass er zu essen hatte, was auf den Tisch kam. Eigentlich hätte er sich ein Stückchen Brot gewünscht, um die Soße aufzutunken, aber er unterdrückte er die Bitte.

„Ich habe das Brot vergessen.“

Jameson erschrak und fragte sich, ob sie Gedanken lesen konnte. Tatsächlich kam Nina aus der Küche, öffnete den Sandwichtoaster im Regal hinter dem Tresen, wärmte ein paar Scheiben Brot auf und brachte sie ihm an den Tisch. Ihr Blick wirkte ängstlich.

Es duftete nach Hefe. „Backt deine Mutter das Brot immer noch selbst?“

„Nein, ich backe“, antwortete Nina widerwillig. „Das Café gehört jetzt mir.“

„Deine Eltern …“

„… sind im Ruhestand“, beendete sie den Satz für ihn und deutete auf seinen Teller. „Iss, bevor es kalt wird.“

Offenbar fühlte sie sich unbehaglich. Sie trat von seinem Tisch zurück, warf über die Schulter einen Blick auf die Uhr in der Küche, dann wieder zu ihm und schaute schließlich auf den Eingang des Cafés. In den knapp fünf Jahren seiner Gefangenschaft hatte Jameson sich zwangsläufig eine äußerst scharfe Wahrnehmung angewöhnt. Als er ihre Blicke bemerkte, brodelte sofort eine merkwürdige Unruhe in ihm auf.

Er entschloss sich, keine Rücksicht darauf zu nehmen, und aß ein Stück Braten mit Kartoffelbrei und Soße. Es schmeckte köstlich. Er seufzte genüsslich, lehnte sich zurück, schloss einen Moment lang die Augen und ließ sich den Bissen auf der Zunge zergehen.

„Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte sie, rührte sich aber nicht vom Fleck.

„Geh schon“, ermunterte er sie. „Es schmeckt ausgezeichnet.“

Die Türglocke klingelte. Das Unbehagen in ihren Gesichtszügen wich der puren Angst, als ihr Blick zwischen der Tür und ihm hin- und herging. Was zum Teufel ist nur in sie gefahren? überlegte er ratlos.

„Mommy!“ Der Schrei des Kindes zerriss die Stille im leeren Café.

Jetzt ging Nina von Jameson weg, um den kleinen Jungen zu begrüßen, der zwischen den Tischen hindurch zu ihr rannte. Sie hob ihn hoch, drückte ihn an sich und hastete dann an Jameson vorbei in die Küche.

Es lag auf der Hand, warum Nina ihren Sohn um jeden Preis von Jameson fernhalten wollte. Welche Mutter würde ihren Sohn freiwillig einem ehemaligen Sträfling begegnen lassen?

2. KAPITEL

Das Herz hämmerte Nina panisch in der Brust. Sie hatte sich in die Küche verzogen, hielt sich ganz bewusst aus Jamesons Blickfeld und drückte ihren Sohn Nate an sich. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Knie fühlten sich plötzlich so schwach an, dass sie sich gegen die Küchenzeile lehnen musste. Sie verspürte den heftigen Wunsch, ihren Sohn zu beschützen, und drückte ihn noch fester an sich.

Sie duckte sich ein wenig und lugte durchs Fenster in den Gastraum. Jameson schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete, hob den Blick und musterte sie eindringlich. Nina fühlte sich wie gelähmt.

„Mommy, lass mich runter“, sagte Nate, die Lippen dicht an ihrem Hals. „Ich will runter.“

Schließlich riss Nina ihren Blick von Jameson los und ging wieder außer Sichtweite. Zitternd atmete sie durch und unterdrückte den Wunsch, durch die rückwärtige Tür des Cafés nach draußen zu flüchten. Ihr Apartment lag direkt über dem Lokal. Relativ einfach konnte sie Nate die Treppen hinauftragen und ihn aus dem Weg schaffen, bis Jameson wieder verschwunden war.

Nate wand sich in ihren Armen, und auf Anhieb wurde Nina klar, dass die Flucht vollkommen vergeblich sein würde. Mit seinen vier Jahren war Nate ein ungeheures Energiebündel. Ausgeschlossen, dass er sich ihrem mütterlichen Beschützerinstinkt fügen würde. Seufzend lockerte sie deshalb die Umklammerung und ließ ihn zu Boden rutschen.

„Bleib bitte hier“, ordnete sie an. „Such deine Buntstifte und Papier.“

Nate schenkte ihr ein süßes Lächeln und schaute sie mit ernsten braunen Augen an. „Im Kindergarten habe ich ein Bild für dich gemalt. Es ist in meinem Rucksack.“ Er ruderte mit den Armen und zog sich den rot-violetten Minirucksack vom Rücken.

„Nimm es mit in deine Spielecke. Ich schaue es mir an, wenn ich dir dein Essen bringe.“

Er grinste schelmisch. „Darf ich Schokokekse?“

„Mit Milch. Ich bringe sie dir gleich.“

Nate verzog sich in den hinteren Teil der Küche, wo Ninas Eltern ihm eine kleine Ecke zum Spielen eingerichtet hatten, als er noch ganz klein gewesen war. Früher war dort eine gut gefüllte Speisekammer gewesen. Ninas Eltern hatten in der Ecke eine tragbare Wiege aufgestellt und ein Babyfon zusammen mit einem Monitor installiert. Diese Geräte waren längst der Malecke und einem Spielzeugregal gewichen. Jetzt hatte Nina einen kleinen Kindertisch aufgestellt, das Regal quoll über vor Spielzeug, und in der Kiste stapelten sich die Bücher. An manchen Abenden herrschte im Café unerwartet viel Betrieb, und für solche Notfälle hatte sie einen Videorekorder aufgestellt, der für Nates Unterhaltung sorgte.

Wenn Nate seine kleine Mahlzeit beendet hatte und das Interesse an seinem Malblock erlahmte, würde er in der Küche auftauchen und seiner Mutter Hilfe anbieten. Normalerweise war an Mittwochabendenden nie besonders viel los, sodass Nina ihren Sohn im Auge behalten konnte, wenn sie ihn mit kleinen Aufgaben betraute. Aber heute Abend wollte sie nur eines: Ihren Sohn so lange in seiner Spielecke beschäftigen, bis Jameson endlich das Lokal verließ.

Die Türklingel ging. Nina hoffte inständig, dass der Koch zur Abendschicht eintraf. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, deshalb war ihr jede Ablenkung willkommen. Aber es war nicht Dale, sondern ein Paar, das irgendwo außerhalb der Stadt wohnte, mit seinen zwei kleinen Kindern. Bestimmt waren sie für ein verlängertes Wochenende auf dem Weg nach Tahoe oder Reno.

Als sie ihnen die Speisekarte brachte, betrat ein weiteres Paar das Café, im Schlepptau vier Kinder und die Großmutter. Nina griff nach sieben weiteren Speisekarten, als zwei Gruppen dazukamen und begannen, die Tische in der Mitte des Cafés zusammenzurücken. Sie wartete bei Jamesons Tisch, bis die Eltern ihren Kindern aus den Jacken geholfen hatten und sich schließlich setzten.

Jameson tunkte gerade den letzten Rest Soße mit dem Brot auf. „Die Abendgäste sind aber heute Früh dran. Noch dazu an einem Mittwoch.“

Eigentlich wollte sie gar nicht antworten. Am liebsten hätte sie seine Anwesenheit schlichtweg ignoriert. Warum verschwindest du nicht endlich? flehte sie stumm. „Das ist die Kirchengruppe aus Sacramento. Mittwochs sind sie immer hier.“

Eine dritte Familie mit dem Pastor an der Spitze betrat das Lokal. Beinahe zwanzig Gäste waren jetzt im Café versammelt. Nina fügte ein paar Kinderspeisekarten zu dem Stapel hinzu, den sie an den Enden der Tischreihe und in der Mitte abgelegt hatte.

In der Küche überschlug sie in Gedanken kurz, wie sie die Arbeit bewältigen sollte. Sie konnte Lacey bitten, kurzfristig einzuspringen. Oder ihre Mutter. Aber Pauline Russo sollte zu Hause bei ihrem Mann bleiben und nicht im Café am Herd stehen. Schließlich hatte Ninas Vater sich von seinem leichten Herzinfarkt immer noch nicht ganz erholt.

Oder soll ich …? Nein, das darfst du noch nicht mal denken, schalt sie sich entrüstet. Je eher er verschwindet, desto besser. In einem Anflug von Verzweiflung schloss sie die Augen und versuchte, sich etwas Vernünftiges einfallen zu lassen.

„Wo steckt der Abendkoch?“

Beim Klang seiner Stimme zuckte Nina heftig zusammen und trat erschrocken zurück. Sie hatte seine ruhigen Schritte auf dem Küchenfußboden vollkommen überhört. „Sieht so aus, als hätte er sich ein bisschen verspätet.“

Jameson nickte. „Du kannst nicht gleichzeitig bedienen und am Herd stehen.“

Trotzig verschränkte sie die Arme. „Er muss jeden Augenblick eintreffen.“

Wieder nickte er. „Gibst du meine Telefonnummer an deine Eltern weiter?“

„Ja. Ganz bestimmt.“ Und jetzt verschwinde bitte! fügte sie im Geiste hinzu.

Jameson nickte ein drittes Mal, drehte sich um und hatte die Küche beinahe schon verlassen, als das Telefon klingelte. „Mommy, ich geh ran!“, rief Nate aus seiner Spielecke und raste zu dem altmodischen Wandtelefon.

Neugierig beobachtete Jameson, wie der kleine Wirbelwind den Hörer herunterriss.

„Nina’s Café“, meldete er sich mit ernster Stimme. „Was kann ich für dich tun?“ Er lauschte kurz und gab den Hörer dann an Nina weiter. „Es ist Dale. Er ist krank.“

Nina schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Dale sich nur einen schlechten Scherz erlaubte und sich überreden ließ, so schnell wie möglich zur Arbeit zu kommen. Aber sie verstand nur ein paar der Worte, die er heiser in den Hörer krächzte. Offensichtlich war Dale wirklich krank, ein Opfer der heftigen Grippe, die in der Stadt grassierte.

„Gute Besserung, Dale.“ Nina legte auf und ließ ihren Blick über die Tische mit den hungrigen Gästen schweifen.

„Nina“, begann Jameson wieder, „lass mich helfen.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Solange er sich im Café aufhielt, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Aber sobald er verschwunden war, würde ihr sicher eine Lösung für das Problem einfallen.

Nate zog sie ungeduldig an der Hand. „Mommy, ich kann dir doch helfen. Ich kann alle Zuckerdosen auffüllen. Und Salz und Pfeffer.“

„Das hat Lacey schon für dich erledigt, Liebling.“ Nina legte den Arm um die Schultern ihres Sohnes und führte ihn zurück in seine Ecke. „Ich bringe dir gleich deine Kekse. Und dann rufe ich Grandma an. Sie holt dich ab, und du kannst heute Abend bei ihr spielen.“

Auf keinen Fall wollte sie ihre Mutter darum bitten, im Café einzuspringen. Ebenso wenig würde Pauline sich die Gelegenheit entgehen lassen, einen Abend mit ihrem Enkel zu verbringen.

Nate hatte sich längst wieder seinem neuesten Kunstwerk zugewandt, das er mit seinen Buntstiften zu Papier brachte, als Nina durch das Fenster in das Café schaute und drei weitere Paare entdeckte, die sich gerade ihre Plätze suchten. Nachdem das zuletzt angekommene Paar sich gesetzt hatte, erinnerte sie sich plötzlich, dass sie in der Sacramento Bee von der Kirchenkonferenz gelesen hatte, die am kommenden Wochenende in Reno stattfinden sollte.

Jameson war nirgendwo zu entdecken. Sie verspürte Dankbarkeit und war zugleich ein bisschen ängstlich. Endlich hatte er das Lokal verlassen. Das hast du doch gewollt, oder? redete sie sich ein. Verrückt, dass sie sich trotzdem im Stich gelassen fühlte.

Nina griff nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Eltern. Ihr Vater war am Apparat, und ihr entging nicht die Müdigkeit in seiner Stimme, die sonst immer ausgesprochen herzlich geklungen hatte. Erschöpft rieb sie sich über die angespannte Stirn.

„Mittwochs spielt sie immer Bingo“, erinnerte Vincent Russo seine Tochter. „Mom wird frühestens gegen zehn zurück sein. Aber sie hat ihr Handy dabei. Ruf sie doch einfach an.“

„Schon in Ordnung, Daddy“, erwiderte Nina. „Mach ich später.“ Es kam überhaupt nicht infrage, dass sie ihrer Mutter das kleine Vergnügen raubte, das sie sich ein Mal pro Woche gönnte.

Ratlos legte Nina auf und ging zu Nate in die Spielecke. „Grandma ist heute Abend schon beschäftigt. Du kannst hier bleiben, Schatz“, erklärte sie und schaltete den Videorekorder ein.

„Super! Video gucken!“ Nate stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und krabbelte zum untersten Regal, suchte nach einem Video und zog schließlich eine Kassette hervor. „Diese hier.“

Nina legte das Video ein und drückte Nate die Fernbedienung in die Hand. „Aber erst isst du dein Abendbrot. Dann kannst dir den Film ansehen“, erklärte sie und eilte zurück in die Küche.

Erschrocken hielt sie inne, als sie Jameson an der Arbeitsfläche stehen sah. Er hatte sich die weiße Schürze umgebunden und schnitt geschickt Tomaten klein. „Deine Gäste möchten bestellen.“

„Was um alles in der Welt machst du da? Du kannst nicht bleiben.“

Er sah sie eindringlich an. „Draußen sitzen ungefähr dreißig Gäste. Und dein Koch hat sich krankgemeldet.“

Ein Blick in den Gastraum verriet ihr, dass drei weitere Familien eingetroffen waren. „Ich werde schon jemanden finden.“

„Verstehe, dass du deinen Sohn vor mir schützen willst“, meinte Jameson, straffte die Schultern und ließ das Messer einen Moment lang ruhen. „Zugegeben, ich bin das schlechteste Vorbild, das dir weit und breit über den Weg laufen kann. Wenn er mein Sohn wäre …“

Nein! Er ist nicht dein Sohn! hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien.

„Ich will nur helfen“, schloss er. „Und ich werde kein Wort mit ihm wechseln. Ich werde mich in angemessener Entfernung halten. Versprochen.“

Der Geräuschpegel ging drastisch in die Höhe, als eine weitere Gruppe das Lokal betrat. Jameson starrte Nina unverwandt an und wartete auf eine Antwort. Schließlich nickte sie geschlagen. „Ja, ich bin einverstanden. Schön, dass du helfen willst.“

Ihr entging nicht, dass in seinem Blick ein Fünkchen Dankbarkeit aufflackerte, bevor er fortfuhr, die Tomaten klein zu schneiden. „Gibt es ein neues Gericht auf der Speisekarte? Irgendetwas, was ich noch nicht kenne?“

„Ja. Gegrillter Seewolf. Hier sind die Gewürze.“ Sie langte an ihm vorbei auf das Gewürzbrett und stellte die Gläser auf die Arbeitsfläche.

Jameson konzentrierte sich. Mit einem schnellen Blick überflog er die Anordnung der Gerätschaften auf der Arbeitsfläche, die ihm immer noch vertraut war. Kalte Sandwiches, Beilagen und Soßen für die warmen Gerichte. Backofen und Grill hinter ihm. Nur ein Jahr lang hatte er in dem Café gearbeitet, aber die Erinnerung an dieses eine Jahr stand ihm deutlicher vor Augen als irgendeine andere Zeit in seinem Leben. Natürlich wegen Nina. Und wegen der heißen Liebesnacht, die sie miteinander verbracht hatten. Aber auch wegen ihrer Eltern. Sie hatten ihn ausgesprochen freundlich aufgenommen und großes Vertrauen in ihn gesetzt.

Nina klemmte die ersten fünf Bestellzettel an den Drehständer und eilte wieder zurück in den Gastraum. Zeit zum Nachdenken blieb Jameson nicht, es sei denn über den Hamburger auf dem Grill oder die tiefgefrorenen Pommes frites in der Fritteuse. Pausenlos kamen neue Gäste, die alten gingen, und er war froh, dass er alle Hände voll zu tun hatte.

Nach kurzer Zeit hatte sich der alte Arbeitsrhythmus wieder perfekt eingestellt. Es war wie vor knapp fünf Jahren, als er fast jeden Abend im Café gekocht hatte. Völlig automatisch spulte er die Bewegungen ab: ein schneller Blick auf den Bestellzettel, dann drehte er sich um und warf das gewürzte T-Bone-Steak auf den Grill, holte den Seewolf aus dem Ofen und richtete ihn auf der Servierplatte an.

Aus den Augenwinkeln registrierte er eine hastige Bewegung. Zumindest glaubte er es. Doch in diesem Moment war er zu sehr damit beschäftigt, das T-Bone-Steak vom Grill zu nehmen, um die Sache genauer betrachten zu können. Dann scharrten ein Paar Füße auf dem Boden, und als Jameson sich zu der Geräuschquelle hinwandte, duckte sich jemand weg und verschwand aus seinem Blickfeld. Und dieser Jemand war ziemlich klein.

Fünf Jahre hatten Jamesons Nerven sich in einem permanenten Alarmzustand befunden. Hinter jeder Ecke konnte die Gefahr lauern. Er war heilfroh, dass er in Ninas Lokal nichts anderes zu fürchten hatte als die neugierigen Blicke eines kleinen Jungen. Als er jedoch zum zweiten Mal das scharrende Geräusch hörte und als Sekunden später ein großer Löffel aus Metall klirrend zu Boden fiel, begriff er, dass das Kind auf keinen Fall entdeckt werden wollte. Also arbeitete er geflissentlich weiter.

Jameson hatte nur einen kurzen Blick auf das Kind werfen können, so schnell war Nina vorhin mit dem Jungen auf dem Arm in der Küche verschwunden. Er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Mutter – dunkles Haar, lebhafte braune Augen, ein süßes Lächeln. Aber er war spindeldürr, im Unterschied zu Nina, die eine üppige Figur hatte. Der Junge ist ja kaum zu bändigen, hatte Jameson bei sich gedacht, als Nate vorhin ins Café geflitzt war.

Wer ist wohl der Vater? überlegte er kurz. Jameson erinnerte sich noch bestens, dass Nina in einen der Rancher in der Gegend sehr verliebt gewesen war. Tom Jarrett. Das war einer der Gründe, weshalb sie damals so verletzlich gewesen war. Unwillkürlich stiegen Schuldgefühle in ihm hoch. Trotz allem war er sich damals in ihrer Liebesnacht sicher gewesen, dass sie wirklich ihn begehrt hatte. Obwohl er insgeheim wusste, dass er niemals eine Chance gehabt hätte, wenn der andere Mann sie nicht zurückgewiesen hätte.

Vielleicht ist dieser Rancher der Vater, überlegte Jameson weiter. Vielleicht haben er und Nina zueinandergefunden, nachdem ich aus ihrem Leben verschwunden bin. Aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie immer noch mit ihm zusammenlebte, denn sonst hätte sie ihn sofort angerufen, nachdem Dale sich krankgemeldet hatte.

Plötzlich entdeckte er Nina auf der anderen Seite der Durchreiche. Verwundert schaute sie ihn an. Jameson stieg die Röte in die Wangen, und er fragte sich, ob sie wohl erraten hatte, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. Offenbar war sie jedoch nur gekommen, um eine weitere Bestellung abzugeben.

Er griff nach dem Zettel und berührte unwillkürlich ihre Finger, weil sie das Blatt noch nicht losgelassen hatte. Erschrocken starrte sie ihn an. Ihre Hand verkrampfte sich sofort in seiner, und er hielt sie fest.

Du darfst sie nicht anfassen, mahnte seine innere Stimme eindringlich, aber Ninas Hand fühlte sich angenehm warm und wohlig an. Es war, als würde er sie niemals loslassen können.

Sie riss sich los und klemmte den Zettel wieder an den Drehständer. „Bitte entschuldige. Ich habe die Pommes frites vergessen.“