Katharina Behrendt
dertraumpartner.de
Roman
Griot Verlag
Erste Auflage 2014
© Griot Verlag Stuttgart 2014
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Lektorat: Alexandra Wenzel, Irene von Neuendorff
Satz und Umschlaggestaltung: Martin Lohr, Augsburg
unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/lisegagne
Foto Behrendt: © Katharina Behrendt
ISBN 978-3-941234-61-1
Die Kunst des Lebens besteht mehr im Ringen als im Tanzen.
MARC AUREL
Durch eine Nebelwand aus Rauch und Staub bricht eine randalierende Menge. Es fliegen Steine und Flaschen, die Münder schleudern Kampfparolen aus hasserfüllten Gesichtern. Geparkte Fahrzeuge gehen in Flammen auf, die Luft flimmert vor Hitze – und dann stürmen helmbewehrte Polizisten hinter gepanzerten Schutzschildern heran, die Schlagstöcke drohend in der Hand. Dahinter beinahe haushohe Wasserwerfer, die Strahlrohre gefechtsbereit auf die beweglichen Ziele gerichtet. Doch inmitten dieser gespenstischen Szene liegt ein Paar mitten auf der Straße. Zärtlich, voller Ruhe, beide eng aneinandergeschmiegt, einander zugeneigt, nur in sich selbst verschlungen.
Die Frau war überrannt worden, gestürzt, dabei in Panik geraten und lag nun wie betäubt im Staub. Der Fotograf Rich Lam hatte an diesem Tag im Juni 2011 das Gespür für den einen besonderen Augenblick und hielt mit der Kamera auf das reglose Paar, rückte es in die Mitte des Geschehens: er, wie er sich einfach zu ihr legt, sie mit seinem Körper beschützt, sich über sie beugt und schließlich sanft küsst; sie, wie sie ganz ruhig wird und es geschehen lässt, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, sich inmitten entgleister Gewalt zu lieben. Ein Mann und eine Frau. Scott Jones und Alexandra Thomas aus Melbourne. Sie hatten sich ihren Urlaub in Vancouver anders vorgestellt.
Melanie Heymann hatte dieses Bild verinnerlicht. Es entsprach ihrem Verständnis von Liebe: Hinwendung zum anderen und Geborgenheit inmitten des Unbehüteten. Manchmal überkam es sie. Dann würde sie für dieses Behütetsein am liebsten alles geben. Zeitweise zumindest: ihre Karriere, ihre Freiheit, ihre Selbstständigkeit. Denn hinter diesen Errungenschaften stand immer nur Angst: Angst, nicht zu genügen, vor der eigenen Courage und um die eigene, sichere Existenz. Melanie war beherrscht von der Sehnsucht nach jemand Stärkerem, nach einem Mann, der ihr ihre Ängste nehmen und ihr stattdessen Geborgenheit und Schutz bieten würde. Wenn dieser jemand, der all dies auffangen könnte, nur erst käme …
Es war Anfang November 2011. Das musikalische Rahmenprogramm für den Stuttgarter Weihnachtsmarkt im Innenhof des Alten Schlosses war bereits online einzusehen. Die über zwanzig Meter hohe Fichte, die vor dem Königsbau den weiträumigen Schlossplatz in festlich glitzerndem Schmuck überragen würde, hatte man in diesem Jahr in Merklingen auf der Schwäbischen Alb entdeckt und für die Landeshauptstadt ausgewählt. Weihnachten stand unmittelbar bevor. Für Melanie war dieses Fest der Liebe ein Albtraum. Sie war achtundvierzig Jahre alt und wieder einmal single. Ein Schicksal, das sie mit vielen teilte, das sie still ertrug. Es blieb ihr ja nichts anderes übrig. An Weihnachten jedoch fand sie ihr Dasein unerträglich. Gestrandet wie Treibgut, landeten Singles an den Festtagen entweder bei mitleidigen Freunden am Familientisch oder saßen, wie Melanie, bei ihrer Mutter. Das waren noch die guten Alternativen. Es gab auch eine andere: Die Einsamen saßen mit einer Flasche tröstendem Rotwein, vielleicht auch mit härterem Stoff, vor dem Fernseher. Das Programm ließ ihnen die Wahl zwischen der jungen Romy Schneider als Sisi, der rastlos-unglücklichen Kaiserin Österreichs, und Tarantinos blutberauschtem Rachethriller Kill Bill. Für welchen Film sie sich auch immer entschieden: Nach dem Abspann würden sie sich wie Raupen in ihre Bettdecke einpuppen, in ermatteter Hoffnung, das öde Draußen einfach bis zum Frühling verschlafen zu können.
Melanie befiel eine leise Traurigkeit, als sie in den Keller stieg und mehrere übereinandergestapelte Kartons, gefüllt mit Christbaumkugeln, entdeckte. Milchiges Bunt schimmerte aus ihnen hervor. Wie Augen lugten die Kugeln aus den über die Jahre brüchig gewordenen Zellophanfensterchen. Bald müssten sie von der Staubschicht befreit werden. Melanie wurde schmerzlich bewusst, wie viele ihrer Wünsche und Sehnsüchte über die Jahre hinweg selbst brüchig geworden waren – wie dieses alte Glas. Im Lichterglanz würden die frisch polierten Kugeln vieltausendfach das Bild ihrer Einsamkeit widerspiegeln.
»Ach Kind, wenn du nur einen Mann hättest«, hörte sie ihre protestantisch-redliche Mutter schon jetzt unter dem Weihnachtsbaum seufzen. Von diesem Szenario getrieben, beschloss Melanie, sich erneut auf Kontaktsuche in ein Internetportal zu begeben. Sie hatte dies schon mehrmals in ähnlichen Situationen getan. Und jedes Mal war es ihr auf diese Weise gelungen, ihr Singledasein für kurze oder längere Zeit zu beenden.
Sie fand schließlich ein Portal, das seinen Service für fünfundzwanzig Euro im Monat anbot; dieser günstige Preis erschien ihr eine akzeptable Investition. Kaum hatte sie online ein paar Bilder von sich hochgeladen, die Melanies Fotogenität nicht verhehlten, und einige Worte über ihre Hoffnungen, ihre Erwartungen und Freizeitbeschäftigungen in die dafür vorgesehenen Felder eingetippt, bekam sie auch schon eine Chiffrenummer zugeteilt: Melanie war nun Nummer WOM28A24X. Ein etikettierter Mensch mit Liebeswunsch. Wenig später signalisierten bereits die ersten männlichen Teilnehmer Interesse. Anonym und ohne Worte. Das Portal ermöglichte es, durch Klicken eines Buttons erst einmal unverbindlich ein Lächeln zu versenden. XY schickt Ihnen ein Lächeln. Mehr nicht. Man konnte darauf antworten oder auch nicht. Melanie antwortete nicht. Sie hatte schließlich Erfahrung. Sie wollte angeschrieben werden. Alles andere taugte nichts.
Horst, so hieß er, hatte sich als Erster bei ihr gemeldet:
Hallo liebe Unbekannte. Beim Lesen Deines Profils lichten sich die Wolken, und die Sonne blinzelt fröhlich in mein Gesicht. Ich lese aus Deinen Zeilen, dass Du ein positiver, fröhlicher Mensch bist, der gerne Schönes unternimmt und sich liebevoll um seinen Partner kümmert. Ich bin geschieden, habe zwei Kinder und lebe in Bonlanden auf den Fildern. Ich komme ursprünglich aus der Finanzbranche und arbeite jetzt im Gesundheitsbereich. Ich bin auf der Suche nach einer Partnerin, die eine feste Beziehung sucht und die keine Angst hat, das Glück an der Seite eines Mannes, der sie liebt, noch einmal herauszufordern. Bist Du vielleicht die Richtige für mich? Auf Deine Antwort freut sich Horst.
Diese Mühe ließ auf wahres Interesse schließen. Außerdem sagte Melanie die räumliche Nähe zu, denn von Bonlanden bis in die Stuttgarter Innenstadt waren es gerade einmal dreißig Minuten. Also fing sie einen regen Austausch elektronischer Briefchen mit ihm an. In seinen ausführlichen Antworten dokumentierte er seinen Tagesablauf ganz genau. Sogar Autowäsche und alltägliche Verrichtungen im Haushalt sparte Horst nicht aus.
Melanie sah anfangs darin ein Zeichen ehrlichen Werbens. Doch mit der Zeit fand sie seine Elogen mitunter etwas befremdlich. Fehlte nur, dass er auch noch die Verrichtung der Kehrwoche mit anführte, diese schwäbische Spielart kollektivistischer Erziehung zu Sauberkeit in allen Ecken und auf allen Trottoirs der Stadt. Denn wie Melanie war auch er ein Schwabe, nur dass er ursprünglich aus Reutlingen kam und Melanie eine gebürtige Stuttgarterin war. Aber vielleicht wollte er sie auch nur Anteil nehmen lassen an seinem Leben und war schriftlich einfach nicht versiert. Selbst der weltberühmte Schriftsteller Franz Kafka hatte in einem Brief, säuberlich verfasst auf einem Briefbogen seines Arbeitgebers, der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, der von ihm angebeteten Felice Bauer, Angestellte in einer Schallplattenfirma, seinen Tagesablauf detailliert geschildert. Bürostunden nebst Mittagessen, Mittagsschlaf und sogar seine zehn Minuten Nacktturnen vor dem Fenster hatte er nicht ausgespart und mit jeweils exakten Zeitangaben versehen. Und wer würde es wagen, diesem großen Dichter sprachliches Geschick abzusprechen? Melanie wollte Horst darum auch nicht gleich verurteilen. Was wusste sie schon? Und vielleicht verbarg sich hinter seinen Zeilen ein großes Genie?
Melanie verzichtete jedoch darauf, ihm ihren Tagesablauf en détail zu schildern: Sie hatte das Unternehmen ihres verstorbenen Chefs – eine Stuttgarter Musikagentur, die international namhafte Künstler aus dem Klassikbereich vertrat – nach vielen schlaflosen Nächten und reiflicher Überlegung durch ein Management-Buy-out übernommen. Sie liebte ihre Arbeit, auch wenn sie bisweilen Existenzsorgen plagten und viel organisatorischer Kram die Kreativität bremste. Doch wo in anderen Büros das tippende Geräusch von Tastaturen und schrillendes Telefongeklingel an der Tagesordnung waren, hallten durch ihre Büroräume nicht selten ein Nocturne von Chopin oder ein Bach’scher Choral.
Nach einiger Zeit schlug Horst vor, die virtuelle Welt zu verlassen und sich zu treffen. Melanie stimmte zu. Allerdings weniger aus Neugier. Selbst wenn er wie Kafka gewesen wäre, käme er als Partner nicht infrage – Genie hin oder her. Eher waren es Anstand und ein winzig kleiner Rest Hoffnung, die sie zu diesem Treffen gehen ließen. Horst also. Horst Schmälzer. Den Nachnamen hatte er ihr erst vor Kurzem mitgeteilt. Ihren hatte sie noch verschwiegen. Man wusste ja nie. Lieber erst einmal anonym bleiben. Ihr Treffpunkt war vor einem dieser neuen Cafés gleich am Stuttgarter Königsbau. Es war sein Vorschlag gewesen.
Und nun saß Melanie diesem Fremden gegenüber, mit dem sie immer wieder E-Mails ausgetauscht hatte. Die Fremdheit war ihr während des Mailverkehrs gar nicht richtig aufgefallen. Was sie mochte, was sie gerne aß, Orte, die für sie eine besondere Bedeutung hatten, als was sie arbeitete, ihre tollsten Urlaubserlebnisse – all dies hatte sie ihm mitgeteilt. Nun stand das Fremde wie eine Mauer zwischen ihnen.
Horst lächelte sie an, während sie über seine Frisur nachdachte. Windschief war sie, vermutlich selbst geschnitten. Wie Schachtelhalme standen einzelne Büschel des Haupthaars störrisch vom Hinterkopf ab. Dünne, nach vorn getrimmte Strähnen bedeckten kaum die nach hinten weichende Stirn. Sein Unterkiefer schob sich dagegen prominent nach vorne.
Er hat eine Rhinozeros-Stirn, fast schon keilförmig, dachte sie im Stillen. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Seine Gestik hatte etwas ermattet-Behäbiges an sich. Aber sie passte irgendwie zu seiner Gesamterscheinung. Ein dünnes drahtiges Gestrüpp drückte auf seine schwammigen Oberlider, was ihm einen etwas schläfrigen und zugleich merkwürdig leeren Gesichtsausdruck verlieh. Seine markante Nase endete über den Lippen in einem knubblig-fleischigen Ansatz. Die nur leicht beflaumte Gesichtshaut hing unterhalb der Wangen etwas unschön und formlos. Durch die weiche Wölbung wirkte der Mund sehr klein, ja geradezu nichtssagend.
Männer mit schwammiger Haut waren Melanie schon immer suspekt gewesen. Diese »Subjekte« schienen unter der Haut ihres ganzen Körpers kleine Fettecken versteckt zu haben, die mit zunehmendem Alter immer ausgeprägter wurden, als würden sie sich von der wachsenden Trägheit und Bräsigkeit ihrer Besitzer heimlich ernähren. Ihr wurde klar, dass sie von ihrer Wunschvorstellung irregeleitet worden war. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Das Gespräch zog sich hin wie zäher Schneckenschleim. Melanie fiel nichts mehr ein, das sie ihm noch hätte erzählen können. An der Wand tickte eine übergroße Designeruhr aufdringlich laut. Die Zeit hatte sich irgendwo im Raum verhakt, schien in einer zeitlosen Warteschleife gefangen. Und so saßen sie sich gegenüber, in diesem schmucklosen, nüchternen Café der umgestalteten Stuttgarter Passage. Die wenigen Fenster zwischen den bläulich grauen Betonwänden waren von Jalousien verdeckt, die das spärliche, schräg einfallende Sonnenlicht in schwarz-weiße Linienmuster zerschnitten. Die Kälte aus dem Aluminium der Stühle kroch ihnen an Hintern und Rücken entlang, suchte sich einen Weg durch die Kleidung, stieß auf Haut und begehrte Einlass durch die Poren.
Melanie und Horst. Die Uhr tickte in unerbittlichem Rhythmus, als wäre sie ein Metronom, das den Takt vorgab. Melanie blieb still. Er legte los. Zu jedem Schlag der Uhr landete er einen Treffer: Wie charmant und hübsch sie doch sei. Superschöne Haare habe sie und diese strahlenden Augen … Und, ja, ihre Figur – »ihr Gschdell« – war ihm ja auch gleich aufgefallen, toll eben und so weiblich, und so nett sei sie, so eine Nette halt …
Dabei verschliff er in breitem Schwäbisch Konsonanten und Vokale mit der Zunge zu einem einzigen flachen Laut, schnäuzte dann die Worte entweder aus der Nase oder ließ sie wie abgelutschte Sahnebonbons zwischen seinen schiefen Zähnen herausrutschen. Dialektale Verfärbung durch Lautverschiebung – gegen dieses Nuscheln waren selbst Zahnärzte machtlos. Horsts verschliffene Worte vermengten sich mit einem mikroskopisch feinen Sprühnebel, der ein bisschen nach vermoderten Pilzen roch.
Er beugte sich näher zu ihr. »Ich tanze für mein Leben gern. Ich bin im C-Kurs, Tango, das ist echt klasse. Ich bin da voll dabei. Voll, weißt du, so richtig mit Leidenschaft halt.« Er blickte sie erwartungsvoll an. Sie lachte gequält.
Er hatte seine Beine kokett übereinandergeschlagen, und das eine entzog sich wippend seiner Kontrolle. Immer wieder tauchte sein besandalter Fuß seitlich neben der Tischkante auf. Melanie starrte auf die Auswölbung, die sich vorn am großen Zeh durch das Leder der Sandale bohrte. Ein Hallux valgus. Das musste sehr schmerzhaft sein. Und es erklärte, warum er mitten im November noch immer Sandalen trug. Attraktiver machte ihn das nicht.
Ein Lied schoss ihr durch den Kopf: Schau doch nicht immer nach dem Tangotänzer hin, was ist schon dran an Argentinien … Im Geiste sah sie einen hochgewachsenen, schönen, schlanken Mann in dunklem Anzug mit schicken gestutzten Koteletten, die sich balkenartig unter den Wangenknochen ausbreiteten und an denen sich sein Körper wie an imaginären Notenlinien entlang rhythmisch hin- und herbewegte. Doch dann platzte der Traum, und sie sah in das blassrosa-fleischige Gesicht ihres Gegenübers, das ihr großporig und schwammig aus einem leicht zerschlissenen Kragen erwartungsvoll entgegenwuchs.
»Ich tanze nicht«, nutzte Melanie geschickt die kurze Atempause von Horst und fügte hinzu: »Ich hasse Tanzen! Ich singe viel lieber und spiele Klavier – dafür bin ich eher talentiert.«
Sie dachte, wenn sie ihn auf diese Fähigkeiten hinwies, könnte sie dem Gespräch eine neue Wendung geben. Doch er entgegnete: »Ach, das macht nichts. Das ist nicht schlimm, ich bring’s dir bei.«
Es half nichts, er behielt die Oberhand.
»Weißt du, ich will eine richtige Beziehung. Ich will alles teilen mit meiner Partnerin. Meine ganzen Visionen, Träume und so, also alles, was das Leben so ausmacht.«
Visionen wurden zu »Visiona«, Träume zu »Draim«, Leben zu »Leba« – was diese weit wabernden Begriffe zu etwas Kleinweltlichem zusammenschrumpfen ließ. Dabei rieb er wie zur Bekräftigung beide Handflächen auf seinen über den Knien schon etwas abgewetzten braunen Hosen. Unerschrocken tat er seine Weltanschauung kund. Ein Schwaben-Anarcho und Weltverbesserer der sanften Töne, dessen CD-Regale vollgestopft waren mit selbst gebrannten Scheiben. Ganz oben auf seiner privaten Hitliste standen Konstantin Wecker, Hannes Wader und Joan Baez.
Wenn du Visionen hast, dann geh zum Arzt, dachte Melanie insgeheim, ganz im Wortsinn des alten knarzigen Exkanzlers, und blieb äußerlich ungerührt.
Horst ballerte nun in breitem Schwäbisch aus seinem kleinen nichtssagenden Mund ein ganzes Arsenal romantischer Worthülsen auf sie ab: harmonisch, langfristig, funktionierend, Körper, Geist, Sinne. Melanie gelang es nicht, diese hohlen Worte mit irgendetwas Greifbarem zu füllen. Wie Seifenblasen platzten die Erwartungen, die sie anfangs noch mit in das Treffen genommen hatte, gleichzeitig mit seinen Spuckebläschen. Bei »Geist« zuckte sie zusammen, meinte, sich verhört zu haben, als er »Gaischt« sagte. Es hörte sich für sie im ersten Moment eher wie »Fleisch« an. Erst als ihr Gegenüber dann auch noch zu den Kerzen kam, war sie in der Lage, sich darunter etwas vorzustellen, zumindest etwas Behagliches. In Melanies Gedanken dufteten die Kerzen nach Vanille, Orange oder Zimt, aber die pilzig-modrige Gischt, die ihr von ihrem Gesprächspartner entgegensprühte, blieb zwischen ihnen hängen wie ein unsichtbares Netz.
Ob es wohl eine Flirt-App gab mit Erfolg garantierenden Sprüchen für die Partnerumgarnung? Bestimmt! Es gab ja auch schon Apps für Nudelgerichte. Was hatten die Menschen bloß vorher gemacht, als es diese ganzen medialen Hilfsmittel noch nicht gab? Melanie besaß eine Taschenlampen-App, die auch SOS signalisieren konnte. Was, wenn sie diese App jetzt heimlich unter dem Tisch einschaltete? Aber gab es heutzutage überhaupt noch Menschen, die Lichtsignale richtig zu deuten vermochten? So ganz ohne App? Di-Di-Di-Daaaa-Daaaa-Daaaa. Ach, was interessierte die Welt schon ihre Notlage? Sie überlegte, ob ihr Gegenüber eine solche Flirt-App gratis erworben oder dafür auch noch bezahlt hatte.
Horst kam jetzt vollends in Fahrt. Melanie war schon ausgestiegen. Eigentlich war sie ihm dankbar, dass er das Gespräch an sich gerissen hatte. Sie wollte nichts mehr von sich preisgeben. Er hingegen von sich jede Menge: sein Haus, sein Auto, sein Beruf. Das Haus – ein Familienhaus – hatte er nach der Scheidung behalten, nach einem Rosenkrieg. Seine Ex sähe ihn am liebsten tot, seinen Kindern war er eh gleichgültig. Seine Exfrau, wieder glücklich liiert, habe inzwischen irgendeinen stinkreichen Typen, mit dem sie nun Pferde züchtete, Araber auch noch, solche Exoten – irgendwo in Hessen lag das Gestüt. Er gönne es ihr im Grunde genommen nicht. Andererseits brauchte er für sie keinen Unterhalt mehr zu zahlen. Sie sei ja weich gefallen. Und die Kinder? Wollten einfach seinen Schmerz nicht kapieren, diese Demütigung, die er habe erleiden müssen, seine ganze Wut und so. Sie fänden den Pferdezüchter geil. Er dagegen sei ja ein Versager. Das werde von seiner Ex auch noch geschürt.
Das Auto? Rote Umweltplakette. Aber sonst sei er schon sehr auf den Schutz der Umwelt bedacht. Er sei halt alt, sein Passat. Ein grüner Heide-Park-Aufkleber vorne auf der Windschutzscheibe wirke von Weitem wie eine grüne Umweltplakette. Er tippte sich dabei mit dem Finger an den Kopf, um diesen Einfall auch noch als besonderen Geistesblitz hervorzuheben. Er fahre aber sowieso lieber mit Bus und Bahn und sei darüber hinaus ein richtiger Wandervogel. Ein echter Naturbursche eben.
Und beruflich? Na ja, er sei ja früher der Überflieger gewesen. Gewesen – zwinker, zwinker! Karriere, das habe er hinter sich, er habe sich früher kaputtgearbeitet, aber jetzt nicht mehr. Jetzt habe er gottlob einen einfacheren Job – irgendwo in der Verwaltung. Weniger Geld, aber dafür endlich Zeit, um all seine kleinen ausgeflippten Verrücktheiten auszuleben. Dabei zwinkerte er erneut auf eine Weise, die Melanie irritierte. Sie wagte nicht nachzufragen, was er unter seinen »ausgeflippten Verrücktheiten« verstand.
Er habe sich endlich selbst gefunden, würde endlich leben, darum wolle er jetzt auch wieder eine Partnerin. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wie diese beschaffen sein sollte.
Melanie musste an Heimatfilme denken: Von ewiger Frohnatur, patent und moralisch vollkommen integer prägte die weibliche Hauptfigur das perfekte Frauenbild der Fünfzigerjahre. Die angetraute Kumpanin, die samstags beschwingt Fenster putzt und den Herd poliert, während er das Auto wäscht. Wie sein Idiom war Horst fest verwurzelt mit der heimatlichen Scholle.
In Melanie wuchs die Verzweiflung. Jetzt den Pferdezüchter! Hier und jetzt, an diesem Tisch! Eingehüllt in den brunftigen Schweißgeruch seiner Araberhengste würde er mit einem einzigen pfeifenden Schwung seiner Reitgerte das gesamte zähe Netz aus Vorstellungen und Erwartungen zerfetzen, in das Horst versuchte, sie einzuweben. Melanie seufzte. Das Leben ist ungerecht!
Die Uhr tickte indes weiter. Unmerklich waren die Zeiger verrutscht, aber die Zeit stand nach wie vor still.
»Darf ich dir mal eine persönliche Frage stellen?«, fragte Horst.
Ach herrje, auch das noch!
Seine helle Stimme hatte plötzlich etwas von einer angespitzt-kratzigen Erregtheit. Melanie saß wie erstarrt. Bislang hatte er sie zum Glück nicht in seine Vorstellungen implantiert. Sie nahm sofort eine Abwehrhaltung ein.
Zuerst blinzelte er, dann fuhr er mit der linken Handkante über den Tisch, als wolle er Staub wegwischen. Melanie unterdrückte ein Niesen. Ein Gefühl der Beklommenheit machte sich in ihr breit. Dann spuckte er die Worte aus, eines nach dem anderen, völlig unvermittelt, aber alle eng aneinandergereiht, als hingen die Wörter an Fäden, die der Hypothalamus, dieser sinnliche Zwerg im Zwischenhirn, gesponnen hatte: »Wie steht’s denn bei dir mit dem Sex?«
Ach du Schande!
Sie starrte auf seinen flaumigen Fleck entzündeter Haut, die mit zwei gelblich roten Pusteln versehen war und sich ihr zwischen Halsansatz und dem zweiten offenen Hemdknopf lasziv darbot.
»Weißt du, für mich ist das schon sehr wichtig, der Sex«, sagte er bestimmt und fuhr wie selbstverständlich fort: »Also Nähe und so, ich brauch’ das. Äh, wie ist das bei dir, hm? Irgendwas, auf das du ganz besonders stehst? Also ich, für mich, also für mich …« Die Fäden verdichteten sich zu Wäscheleinen, an denen er nun im Begriff war, seine gesamten Bedürfnisse aufzuhängen. Melanie krallte sich an ihrer Kaffeetasse fest.
Scheiß-Blind-Date! Scheißinternet! Kommt doch nur Scheiße bei raus! Wie konnte ich da nur wieder drauf reinfallen?
Er hatte kein Bild von sich ins Internet gestellt. Und er hatte dafür auch eine plausible Erklärung parat gehabt: Wenn er ein Bild ins Internet gestellt hätte, hätten ihn ja alle nur wegen seines Äußeren treffen wollen. Aber er wolle als Mensch erkannt werden. Die Seele halt. Und überhaupt: Was zähle, seien allein die inneren Werte.
Schriftlich hatte das schon irgendwie ehrlich geklungen, interessanter jedenfalls als dieses oral verlutschte: »Weisch, die inneren Werde!« Sie werde ihn beim Treffen schon erkennen. Sie solle mal schauen, ob da einer steht, der so ein klein wenig aussieht wie George Clooney – dickes Smiley!
Natürlich sah er nicht aus wie George Clooney! Er hatte sich ihr aber trotzdem gleich zu erkennen gegeben. Statt sich unbemerkt aus dem Staub zu machen, hatte sie ihrer anerzogenen Höflichkeit gehorcht und war stehen geblieben. In dem Moment hatte er sich auch schon vor sie hingestellt.
Verdammt! Geschissen auf die inneren Werte! Geschissen auf den Anstand!
»Ich zahl’ dann mal. Also, deinen Kaffee, äh, Cappuccino hier zahl’ ich auch mit, okay? Ich bin ja der Mann … Äh, Herr Ober, haaaaallo! Zaaaaahlen!«
Es war Melanie gelungen, seinen Enthusiasmus auszubremsen. Sie hatte ihm in einer seiner wenigen Sprechpausen zu verstehen gegeben, dass sie beide ihrer Meinung nach nicht zusammenpassten. Seine Begeisterung war daraufhin einer deutlich spürbaren Ernüchterung gewichen.
Die Bedienung kam und erlöste die festgesessene Zeit aus ihrer Warteschleife. Ein Händedruck, ein aufmunterndes Lächeln. Die Umarmung, zu der er mit seinem bereits kräuselnd gespitzten kleinen Mund ansetzen wollte, wusste Melanie zu verhindern.
»Halt die Ohren steif!«, hörte sie sich zu ihrem Entsetzen noch sagen und biss sich im selben Moment kräftig auf die Zunge. Dann atmete sie tief durch. Überstanden!
Es war das typische Problem eines Blind Dates: Man verabredete sich miteinander aufgrund erhoffter und ersehnter Gemeinsamkeiten. Auf der Straße hätte man sich wahrscheinlich noch nicht einmal nach diesem Menschen umgedreht, so wenig wäre da an gegenseitigen Schwingungen angekommen. Doch weder Schwingungen noch ihr gänzliches Fehlen konnten durch den Bildschirm hindurch wahrgenommen werden. Also blieb nur ein persönliches Treffen, um dies festzustellen.
Traf man die virtuelle Bekanntschaft schließlich persönlich und empfand womöglich schon frühzeitig Sympathie, so wurden allzu rasch Signale von Herzlichkeit und einer etwas verbindlicheren Zugeneigtheit erwartet. Es war eine Wettbewerbssituation. Jeder wusste vom anderen, dass er nicht der einzige Kandidat war. Mit Verknappung war da nicht zu punkten, die Konkurrenz saß schließlich schon in den Startlöchern. Mitunter drängte sich ein Vergleich mit der Schnäppchenjagd einer enthemmten Hausfrau an Wühltischen auf. Mit Eröffnung der Jagdsaison waren drei Bedingungen für den Erfolg ausschlaggebend: Es genügte nicht, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Man musste auch vollkommen bereit sein. Bereit auch zu einer niederschmetternden Ernüchterung, wenn die eigene Größe wieder einmal bereits vergriffen war. Aber es ging hier nicht um BHs oder Unterhosen, sondern um Vertreter der Spezies Homo sapiens sapiens.
Für Frauen war die Konkurrenz ungleich größer als für Männer. Denn während die meisten Frauen sich sozial »nach oben« orientierten und damit eine eingeschränkte Auswahl hatten, nahmen Männer die gesamte Bandbreite des Angebotes wahr: Gebildet und vermögend zu sein war für manchen Mann ein weitaus geringeres Kriterium, Hauptsache, die Frau war attraktiv und jünger. Zudem schienen Männer sich in Beziehungen wohler zu fühlen, in denen die Frauen zu ihnen aufsahen. Von daher war eine Bindung zwischen älterem Abteilungsleiter und jüngerer Bürogehilfin gang und gäbe, eine zwischen Chefin und Chauffeur taugte dagegen allenfalls zum Hollywoodklischee. Angesichts der Wettbewerber war es somit ratsam, mit seinen Gefühlen nicht allzu lange hinterm Berg zu halten. Verführung fand im Rahmen des sicheren Wissens statt, dass der andere dafür nicht nur empfänglich, sondern auch definitiv zu haben, ja sogar bereit gewesen war, in einem Internetportal für seinen Liebeswunsch zu bezahlen.
Du musst dich erst mal ranramschen, wenn dir einer gefällt. Dich rarmachen sollst du erst, wenn er angebissen hat. Wer strategisch vorging, war klar im Vorteil. Verführung per Mausklick. Bei Angebotseinstellung wurde die Kreditkarte belastet. Auch auf die Widerrufklausel war Verlass. Und die unerfreulichen »Retouren«? Selbst diese konnten sich nach kurzer Auffrischungs- und Erholungsphase problemlos wieder in den ewigen Zu- und Abfluss im Angebotsstrom einordnen. Ehemalige Mitglieder wurden immer wieder aufs Neue angeschrieben und mit zum Teil erheblichen Preisnachlässen gelockt: Es hat nicht geklappt? Dann zögern Sie nicht länger, und loggen Sie sich noch heute ein. Ihr Traumpartner wartet schon auf Sie!
Sie waren die »stillen Reserven«, von denen man hoffte, sie nach dem Gebrauch zu einem niedrigeren Preis wieder neu einkaufen zu können. Bildeten diese Zurückgewiesenen nach ihrem frisch aufpolierten Recycling doch wieder neues Absatzpotential. Mithilfe ausgereifter, technischer Vorrichtungen konnte jeder im großen schönen Teich der unendlichen Möglichkeiten nach Herzenslust angeln gehen. An Bestand war kein Mangel, und wer länger dabei war, der entwickelte auch immer ausgefeiltere Fertigkeiten, die es ihm ermöglichten, von vornherein das für ihn Brauchbare vom Nutzlosen zu trennen. Wer es darauf anlegte, konnte täglich bis zu drei oder vier Dates haben und sein Liebesnomadentum nach Herzenslust ausleben. Es war ja alles nur eine Frage des interessant formulierten Profils – hierfür boten die Portale Hilfeleistung in Form von Beispielen –, ferner eines gekonnten Zeitmanagements und der Überwindung einer gewissen Scheu. Die Portale versprachen in jedem Fall den Kontakt – für den Erfolg allerdings leisteten sie verständlicherweise keine Garantie. Dank dieses einfachen Zugangs zu einer großen Menge bindungssuchender und bindungswilliger Menschen ermöglichte das Internet selbst dem verzagtesten Hinterbänkler – zumindest in seiner Fantasie –, zu dem zu werden, von dem er vor der Erfindung von Datingportalen nur hatte träumen können: einem leibhaftigen Don Juan.
Kai hatte mehr drauf als Horst. Melanie lernte ihn zwei Wochen nach ihrer Begegnung mit Horst kennen. Inzwischen hatte sie ihr Profil auch noch in einem der zahlreichen kostenlosen Portale eingestellt. Es konnte nicht schaden, sich möglichst breit aufzustellen.
Auch Kai kam aus der Nähe von Stuttgart, was ihm gegenüber seinen Mitbewerbern einen entscheidenden Zusatzpunkt in Melanies Nutzwertanalyse einbrachte. Umgekehrt verhielt es sich freilich ähnlich. Er war nicht willens, für erotische Abenteuer mehr Zeit als nötig zu investieren und darüber hinaus Reise- und Fahrtkosten über Gebühr aufzubringen. Er fand, dass er mit dieser Stuttgarterin – Melanie – ein echtes Schnäppchen gemacht hatte. Bereits beim zweiten Treffen landete er in ihrer Badewanne, dann in ihrem Bett.
Du meine Güte! Wie der duftet! Und wie der rangeht!
Kai war vermögend. Ein junger Investmentbanker, gerade mal achtunddreißig und damit zehn Jahre jünger als Melanie. Er fuhr einen schwarzen Porsche, war blond, attraktiv und ungebunden. Der Stereotyp eines Mannes, den Melanie normalerweise noch nicht einmal angeschaut, geschweige denn in ihr Bett gelassen hätte.
Der Porsche ist ja so was von peinlich! Hoffentlich hat er ihn weit genug vom Haus entfernt abgestellt.
Aber Kai hatte eine anziehende Jungenhaftigkeit und eine vornehme Blässe, die Melanie erotisch reizte, weil sie ihn so zerbrechlich wirken ließ, obwohl er einen gut trainierten Körper hatte und dadurch nackt überhaupt nicht schmächtig wirkte. Er war eine Mischung aus einem Sonnyboy, der nichts anbrennen ließ und am Ende schnell wieder weg war, und einem Muttersöhnchen, das seine verwitwete Mutter in sein edel-überteuertes Junggesellenloft hatte einziehen lassen. Dort bewachte sie wie der leibhaftige Höllenhund den Eingang, weshalb das Loft für Frauenbesuche tabu war. Kais Jagdrevier war eines der kostenlosen Portale, in die man nicht sein gesamtes Profil einstellen musste – Foto genügte. Alles andere war ihm zu kompliziert gewesen, zu langwierig, zu verbindlich.
Melanie entsprach seinem Beuteschema, zumindest äußerlich und auch dem Alter nach. Er stand auf ältere Frauen, wie er ihr glaubhaft versicherte. Sie dagegen fand ihn eher oberflächlich, wenngleich charmant und auf eine unwiderstehliche Weise verführerisch. Vor allem aber schmeichelte es ihr, dass ein zehn Jahre jüngerer Mann sich für sie interessierte, und so ließ sie es zu, dass sie über ein paar Wochen hinweg eine Affäre miteinander hatten. Jemanden zu »haben«, beruhigte zudem die nagende Angst, den Rest ihres Lebens vollends als welkende, alte Jungfer herumbringen zu müssen, deren leer gesaugten, toten Körper man eines Tages aus dem Dschungel der alles verschlingenden Luftwurzeln ihrer Zimmerpflanzen herausschneiden würde. Melanie und Kai sahen sich nur an den Wochenenden, selten für eine ganze Nacht. Zumindest aber tröstete er sie über die Tatsache hinweg, dass sie Weihnachten allein mit ihrer Mutter verbringen musste. Er feierte Weihnachten angeblich mit seiner und hatte sich die ganze Zeit über auch nur per SMS gemeldet. Aber das reichte Melanie. Besser als nichts.
Kai war schön. Sein Aussehen hatte etwas von einer griechischen Statue, ähnlich dem Antinoos, diesem vergöttlichten Knabengeliebten des römischen Kaisers Hadrian. Weiße makellose Haut, etwas weichfleischig, unter der die trainierte Muskulatur zu erahnen war. Melanie genoss es, nach dem Sex mit ihrem Finger die Kontur seines Körpers nachzufahren und an den Rändern zwischen Sonne und Schatten zu verweilen. Sie hatte die Vorhänge zurückgezogen, da sie sehen wollte, wie das Licht ihn umfloss. Sie fuhr mit ihren Lippen ganz zart über seinen Körper. Sie betete ihn an, eigentlich nur seinen Körper. Sprach er, versuchte sie, ihn zum Schweigen zu bringen.
Sei still. Bleib einfach so liegen. Sag kein Wort! Bitte!
Was er bisweilen von sich gab, störte ihr ästhetisches Empfinden. Sie liebte ihn in der Art, wie ein Künstler sein Kunstwerk liebt, und bevorzugte es, ihn mit den Augen und Händen zu liebkosen, statt mit ihm zu sprechen oder sich geistig auszutauschen. Er war ihr Liebesobjekt. War er gegangen, vergaß sie ihn rasch, bis er wieder anrief und fragte, ob sie Zeit habe. Es war unverbindlich. Niemand stellte Ansprüche oder hatte irgendwelche Erwartungshaltungen an den anderen. Darum tat es auch nicht weh. Zumindest vorläufig.
Kai hatte auch noch jede Menge anderer Dates, die er allerdings vor Melanie verheimlichte. Sie liefen zumeist parallel. Eine dieser Geschichten brachte ihn jedoch an seine Grenzen. Er konnte das Bild, das er bislang von sich selbst hatte, nicht so richtig in sein Verhalten einordnen. Er war von einer blonden Frau mehrfach angeschrieben worden. Der Mailverkehr hatte zugenommen, seitens der Frau war er immer drängender, bittender geworden. Sie wollte ihn unbedingt in natura sehen. Nur einmal, auf ein Glas Wein. Kai hatte sich breitschlagen lassen, obwohl er Zweifel hegte, ob sie für ihn überhaupt infrage käme. Als Treffpunkt hatte er dann die Tankstelle in Filderstadt vorgeschlagen, gleich hinterm Stuttgarter Flughafen. Da gab es nebenan ein spanisches Café, in dem Tapas angeboten wurden, Wein, Café – je nachdem, was man wollte oder was das Date wollte.
Kai war als Erster an der Tankstelle gewesen, hatte seinen Porsche geparkt und war ausgestiegen. Dann hatte er den weißen Golf der Frau bemerkt: ein wenig vermackt, innen Lederausstattung, eine Blondine am Steuer. Das musste sie sein.
Sie parkte den Golf, und in dem Moment hatte sie Kai auch schon erblickt. Auch ein Mann besaß angesichts des ersten Dates einen Fluchtreflex. Aber Kai war keiner, der einfach davonlief.
Die Blondine war ausgestiegen. Heißa, hatte er gedacht, hat die sich aber aufgebrezelt! Ein Rauschgoldengel ganz in Weiß. Kurzes bauchfreies Top auf braungebrannter Haut – und dies mitten im Winter – , Silberkettengepränge, ein Minirock, der auch als Gürtel hätte durchgehen können, muskulöse schlanke Beine, die in schwindelerregend hohen High Heels steckten. Kirschrot lackierte Fußnägel. Darauf stand Kai. Das blonde Haar war in Locken gelegt.
Kai hatte sie angestarrt. Trotz seiner ausgeprägten Kurzsichtigkeit war ihm sofort die in meterdicken Schichten aufgetragene Schminke aufgefallen. Wie unnatürlich das wirkte! Als Nächstes hatte Kai sich dann über den staksig-holprigen Gang gewundert, dieses betont lässige Hüftschwenken, das sich bis zum Kopf fortsetzte, wo die Haare noch hin- und herwippten wie Fähnchen in der Fankurve des VfB. Doch als sie dann noch ein Stückchen näher gekommen war, packte Kai das kalte Grausen. Der Porsche war inzwischen von weiteren Autos zugeparkt, ein Rückzug also nicht mehr möglich. Einige dunkle Bartstoppeln hatten sich durch das pastose Make-up gebohrt. Kai fiel der Adamsapfel über ihrem mit goldglänzenden Sprengseln gepuderten Dekolleté auf. Ehe er sich versah, hatte sich wildes, moschusartiges Parfum wie eine Wolke über ihn gestülpt und haftete an seiner Kleidung wie Blütenpollen im Frühjahr.
Während er noch nach Luft rang, spürte er die Hände der Blondine an seinem Körper. Sie waren überall, schnell, tastend, voller Lust und Begierde. Kai wurde schlecht, aber es gab kein Entrinnen mehr. Wut stieg in ihm auf.
»Hey, stopp, Mann! Ich bin nicht schwul!«
»Mensch, ich habe mich einfach in dich verliebt.«
»Ich steh’ aber nicht auf so was!«
»Echt nicht?«
»Nein, echt nicht!«
»Ich bete dich aber an.«
»Komm, hör doch auf …«
»Ich bin total verzweifelt.«
»Mann, das bin ich auch gleich!«
»Bitte, gib mir eine Chance.«
»Nein!«
»Doch, bitte!«
»N…!«
Ein kirschrot bekrallter Finger hatte sich blitzschnell über Kais Lippen gelegt und ihm den Mund verschlossen. Schlagfertig war sie, die männliche Blondine, hatte nach dem wunden Punkt in seinem gutmütigen Herzen gesucht und ihn gefunden, indem sie plötzlich hemmungslos losschluchzte.
Kai war hilflos. Weinende Frauen weichten ihn auf. Selbst jene, die nur so taten, als seien sie welche.
»Jetzt komm schon, ist doch nicht so schlimm.«
»Doch …«
Das Schniefen wollte nicht aufhören.
»Ach komm …«
Kai bekam Mitleid. Verletzen wollte er sie nun auch wieder nicht.
»Weißt du was, lass uns wenigstens einen Kaffee zusammen trinken gehen«, schlug er vor.
Am Ende hatte er Vanessa, so nannte sich die männliche Blondine, einen Kaffee und ein Glas Wein bezahlt und sich geduldig ihre Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte angehört. Der ewige Sonnyboy Kai musste zugeben, dass es Verlangen in allen Spielarten gab. Bestimmen konnte man es nicht. Vanessa suchte auch nur ihr Glück. Wie er das seine.
Er küsste sie am Ende aus reinem Mitleid länger und inniger, als es nötig gewesen wäre, achtete aber darauf, dass niemand ihn dabei beobachtete. Danach erst hatte sein Fluchtreflex wieder eingesetzt. Er war in seinen Porsche gestiegen und davongerast, mit lautem Aufheulen des Motors.
Zu spät. Zwar wurde Vanessa im Rückspiegel immer kleiner, bis das riesige Taschentuch in der behaarten Männerhand schließlich nur noch ein winzig kleiner rosa Punkt war, nicht größer als ein Mückenschiss am Fenster. Doch dies war nur für den Moment. Bald sollte Vanessa zu einer riesigen Bürde für Kai werden. Denn dieser Kuss aus reiner Barmherzigkeit war für sie eine Aufforderung und nicht etwa ein respektvoller Abschluss. Sie interpretierte in diesen Kuss ein Versprechen, eine Zusage, ein bislang uneingestandenes Begehren Kais. Sie wollte mehr, nicht nur den Kuss, sondern den ganzen Kai. Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Denn sie bekam ihn auch. Für eine halbe Nacht.
Es war nicht nur Neugier gewesen, die Kai zu ihr trieb. Mut hatte ihm auch das längst gesellschaftlich sanktionierte Geschlechterkarussell gemacht. Auf blonde Frau konnte brünett oder rot folgen – und auch schwarzhaarig oder alle auf einmal – und bei manchen eben dann und wann ein Mann. Dies war die Errungenschaft der sexuellen Selbstbestimmung.
Mit wachsender Erkenntnis über die menschliche Psyche hatte sich die Vorstellung einer allgemeingültigen und verbindlichen Norm über das, was ein »normales« Sexualverhalten ausmachte, verflüchtigt. Zugleich war dies der Abgesang auf das christlich-abendländische Monogamiegebot zwischen Mann und Frau, das auf Fortpflanzung und Erbrecht gründete. Was zu Zeiten des echten Don Juans als Tabubruch mit Todesfolge geahndet worden war, nahm eine überreizte und erotisch gelangweilte Gesellschaft allenfalls noch durch reißerische Schlagzeilen kurzfristig als Skandal wahr. Sexualität konnte in allen Spielarten gedacht werden. Alles kann, nichts muss. In serieller Vielfalt wurde sie zumeist von männlichen Probanden wie ein Leistungssport ausgeübt. Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment. Der alte Sponti-Spruch der Achtundsechziger-Generation zeigte, dass sich am Ende selbst die Liebe dem Konsumverhalten gebeugt hatte. Wenn jemand ständigen Partnerwechsel betrieb, blieb dies nicht nur folgenlos, es war im Grunde genommen ohne Bedeutung und schmerzte nur den, der auf Treue bestand. Und was war Treue denn schon? Eine in die Jahre gekommene, romantische Schrulle. Schmiss nicht jeder Supermarkt sie seinen Kunden in Form von bunten, selbstklebenden Wertmärkchen für ihre Rabatt-Sammelkarten nach?
Kai interessierte Treue nicht. Für ihn war eine Beziehung nur interessant, wenn sie eine Bereicherung für ihn darstellte. Drohte sie zu einer Belastung zu werden, versuchte er, sie so schnell wie möglich »loszuschlagen«: Als Investmentbanker jonglierte er mit Frauen zuweilen wie mit Aktien. Sex in Serie, sogar gleichgeschlechtliches Begehren, stellte er ganz oben auf seine Toleranzliste, gleich neben die Forderung nach Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Lebensgewohnheiten und Religionen. Darin ging er konform mit der gerne nach außen hin zur Schau getragenen politischen und sexuellen Korrektheit, mochte man in den provinziellen Teilen des Landes noch so laut an den Wirtstischen und von den Kanzeln herab dagegen wettern.
Obwohl kinderlos war Kai jedoch strikt dagegen, dass der schillernde Regenbogen sexueller Vielfalt in den Bildungskanon der konservativen Schulen mit einbezogen werden sollte. Nicht jeder sollte die Regenbogenfahne hissen dürfen. Es gab eine Einschränkung: Frauen. Ihnen sprach er Promiskuität ab. Denn sexuelle Freizügigkeit war für ihn, wie im Übrigen für viele seiner Geschlechtsgenossen, nach wie vor Männersache. Und darin lag Melanies Problem. Sie sehnte sich nach Liebe, Zuneigung und Treue, doch diese hatten ihren Preis. Try before you buy, lautete die goldene Kaufregel. Und Sex war die Währung für diese prickelnde Illusion der Verschmelzung mit dem Gegenüber.
Melanie war bereit, diese Währung zu akzeptieren. Es brachte sie allerdings in einen Konflikt zwischen der unterschwellig geltenden Norm – die wechselt ihre Männer öfter als ihre Unterwäsche – und einem tiefen persönlichen Bedürfnis. Sie hielt es für klüger, die Anzahl ihrer »Versuche« geheim zu halten. Auch vor Kai. Kerben im Stock verrieten nicht nur ihren Männerverschleiß, sondern auch die Narben im Herzen.
Kai kam die sexuelle Freiheit auch in ihrer homoerotischen Ausprägung entgegen. Denn wie hätte er sonst als durch den Akt mit einem Mann herausfinden können, wie es sich anfühlte, einen Penis in den Mund zu nehmen? Dieser Gedanke, aus der eigenen Erfahrung heraus vielleicht auch Rückschlüsse auf die Geheimnisse weiblicher Lust ziehen zu können, erregte und führte ihn. Jetzt würde er zum großen ozeanischen Gefäß werden, in das lustvoll das Phallische eindrang
»Na? Gefällt dir, was du da siehst?« Vanessa stand in lustgeschwellter Blöße vor ihm.
Es war verstörend für Kai, weil es ihm fremd war, das Ziel eines solch offensiv männlichen Begehrens zu sein. Er geriet in einen Zwiespalt. Bislang war immer er der Verführer gewesen. Nun saß er in seinem bubenhaften Adamskostüm auf dem Bett und starrte auf den peilenden Speer. Einerseits fürchtete er sich vor dem, was nun leicht schwingend, aber zielgerichtet auf ihn zustrebte. Ich bin das Lustobjekt eines als Frau verkleideten Mannes. Aber er beschwichtigte seine innere Abwehr mit einer ihn erwartenden stimulierenden Erfahrung. Er wusste nicht so recht, wie er seine Lust nun einordnen sollte, und schämte sich für seine Gedanken und Empfindungen. Waren etwa alle Menschen beides – hetero und homo – oder bi? Kai wurde so unheimlich zumute, dass er beschloss, die Flucht anzutreten.
»Das geht nicht! Du bringst mich um!«, kreischte Vanessa, als sie trotz ihrer blinden Verzückung bemerkte, dass es anders lief, als sie wollte.
»Sorry, ich kann nicht.«
»Wo bleibt deine Toleranz?« Tränen kullerten.
»Ich kann es einfach nicht.« Kai zog die Bettdecke schützend über sich.
»Ich sterbe, ich muss sterben! Wenn mein Ding hier in meinen Körper zurückschrumpft, bin ich tot!« Vanessa wedelte wild mit den Händen und zerrte schließlich verzweifelt an ihrem Geschlechtsteil.
Koro, der malaiische Begriff für »schrumpfend«, beschreibt eine psychische Störung, wonach der Betroffene glaubt, dass eine Retraktion des Penis zum Tod führe.
Kai wollte die Nacht schnell wieder vergessen. Doch am Ende konnte er sich den Nachstellungen Vanessas und ihrer Verfolgung nur noch dadurch erwehren, dass er seine Profile in sämtlichen Portalen löschte und seine privaten Telefonnummern änderte. Kai verschwand von der Bildfläche.
Und kurz darauf auch wieder aus Melanies Leben. Melanie hatte nach fünf Wochen den Versuch unternommen, doch mehr von ihm einzufordern als eine rein sexuelle Beziehung. Weihnachten hatte ihr auf sentimentale Art den Glauben an die Liebe als etwas Behütetem zurückgegeben.
Von: [mailto:m.heymann@meinpostfach.de]
Gesendet: Mittwoch, 28. Dezember 2011 11:18
An: hedonist@liveyourlife.de
Betreff: Gestern
Hallo Kai,
gestern hatte ich meinen Mantel an, meine Schuhe und wollte zu dir, zu unserem Treffpunkt … aber dann bekam ich einfach etwas Angst. Und zwar Angst, dass das, was wir bislang leben, einfach abdriften könnte ins Billige, Schnelle. Darum habe ich dir die SMS geschickt und abgesagt. Sie sollte dich aber nicht entwerten … Ganz im Gegenteil. Ich kann mit niemandem schlafen, der mir nichts bedeutet. Sprich: Du bedeutest mir etwas.
Wir haben keine Beziehung. Es wird auch nie eine werden. Aber es ist Zeit für das, was mir wichtig ist. Ein Gespräch, eine Umarmung, manchmal Essen und dann … mit dir zu schlafen. Diese Rituale gefallen mir.
Ich möchte vielleicht nur das Gefühl haben, dass ich dir auch etwas bedeute. Durch die Rituale bekam ich etwas Sicherheit darin. Aber dieses böse Gefühl, dir so gar nichts zu bedeuten, schlich sich gestern ein. Und das möchte ich nicht leben. Denn irgendwie hab’ ich dich sehr gern …
Melanie musste sich eingestehen, dass Unverbindlichkeit am Ende nicht das war, was ihr auf Dauer Befriedigung verschaffte. Und je länger es ging, desto mehr Gefühle meldeten sich an. Es fing an, sich nicht mehr gut anzufühlen, wenn auf ihre längeren Mails nur noch sporadisch lauter launige Einsilber kamen. Seine Antwort erfolgte prompt:
Von: [mailto: hedonist@liveyourlife.de]
Gesendet: Mittwoch, 28. Dezember 2011 11:29
An: m.heymann@meinpostfach.de
Betreff: RE: Gestern
hast recht, das ganze gleitet ins rein sexuelle über, wir machen das so, dass wir uns vorläufig nicht mehr sehen, ist besser für uns beide …
Aus dem Vorläufig wurde ein Nie-mehr-wieder.