Impressum
Autorin:
Janna Delui
Als Printmedium erschienen:
im Printsystem Medienverlag, D-71296 Heimsheim
Mail: info@printsystem-medienverlag.de
E-Book-Verlag:
Joy Edition, E-BOOKS and more, Gottlob-Armbrust-Straße 7, D-71296 Heimsheim
Mail: info@joyedition.de
Copyright:
E-Book © 2014 by Joy Edition, E-BOOKS and more, Heimsheim
Buchgestaltung:
Grafik- und Designstudio der Printsystem GmbH
Titelbild: © Stephan Karg – fotolia.com
1. Auflage, Oktober 2014
Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form vervielfältigt, übersetzt, abgelichtet oder mit elektronischen Systemen verbreitet werden.
ISBN 978-3-944815-46-6
Karin saß mit angezogenen Beinen auf einem Felsen, der von kleinen Wellen leise schwappend umspült wurde. Gedankenverloren betrachtete sie das Farbspiel der untergehenden Sonne auf dem Wasser.
Ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare waren locker mit einem Band zusammengefasst, doch der stetige Wind hatte einige Strähnen herausgezupft und blies sie in alle Richtungen. Obwohl es erst Anfang Mai war, war es hier an der Mittelmeerküste schon richtig warm. So trug sie nur ein T-Shirt und blau-weiß gestreifte Bermudas. Darüber hatte sie sich einen dicken, roten Pulli um die Schultern geknotet. Ihre nackten Füße steckten in dunkelblauen Espandrilles.
Sie war hochgewachsen, hatte aber die zierliche Figur eines jungen Mädchens. Nur die beiden feinen Linien, die sich von den Nasenflügeln hinunter zu den Mundwinkeln zogen, straften den mädchenhaften Eindruck Lügen.
Sie wollte ungestört sein und saß in dieser versteckten Bucht, starrte aufs Meer hinaus und nippte hin und wieder an dem Rotwein aus dem robusten Stielglas, und die letzten dreizehn Jahre liefen wie ein Film im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge ab.
Ihre Aufmerksamkeit blieb zuerst im letzten Jahr hängen …
Abends kam Karin abgehetzt, meist noch mit Einkaufstüten beladen, von der Arbeit zurück. Müde stieg sie die Treppen zur Wohnung hoch, die sie seit zwölf Jahren mit ihrer Mutter teilte. Schon während sie den Schlüssel im Schloss drehte, hörte sie die brüchige Altfrauenstimme: „Karin bist du es? Es ist aber schon zum dritten Mal diese Woche so spät geworden!“
„Guten Abend, Mutti! Natürlich bin ICH es, ich komme gleich zu dir.“
‚Wer sollte es denn sonst sein? Zu uns kommt doch seit Jahren niemand mehr,‘ dachte sie gereizt.
Wie sehr hätte sich Karin über einen freundlichen Empfang, einen gedeckten Tisch oder gar über ein fertig vorbereitetes Abendessen gefreut, doch das hatte es nie gegeben. Ihre Mutter war krank, ohne dass die junge Frau ihr genaues Leiden hätte benennen können. Auch nicht, dass sie im Rollstuhl säße oder gar bettlägerig wäre, einfach nur krank. Jede Woche andere Beeinträchtigungen, die sie zu den unterschiedlichsten Fachärzten führten. Nach diesen Besuchen fühlte sie sich so erschöpft, dass sie nur noch, berieselt vom Fernsehprogramm, ausruhen konnte.
Sie las nicht, Musik war für sie nervtötendes Gedudel, das politische und wirtschaftliche Tagesgeschehen war ihr lästig und für Handarbeiten war sie zu ungeduldig. Lediglich der Fernseher lief von morgens bis abends und sie zappte sich durch die Programme, immer auf der Suche nach alten Spiel- oder Kriminalfilmen.
Anscheinend verbrauchte sie ihre gesamte Rente für Einkäufe in der Apotheke, denn wie selbstverständlich ließ sie Karin den gemeinsamen Lebensunterhalt allein bestreiten.
Nur ihre Bankgeschäfte regelte sie selbst.
Am Anfang, nachdem Karin ihre Mutter, gegen alle eindringlichen Warnungen ihrer Bekannten, zu sich genommen hatte, versuchten die Anderen sie noch in gemeinsame Unternehmungen mit einzubeziehen. Nachdem die Kranke aber regelmäßig ihre Tochter schon während der Vorspeise aus dem Restaurant nach Hause rief, oder Karin nach den ersten zehn Minuten das Theater oder Konzert verlassen musste, weil es der Mutter schlecht ging, hatten ihre Bekannten alle nach und nach aufgegeben.
Als letzte sogar Anna, ihre Freundin aus Kindertagen. Das war jetzt zehn Jahre her.
Karins Versuch mit ihrer Mitbewohnerin zu reden hatte diese mit dem Hinweis abgewehrt, dass sie krank sei und sich keinesfalls aufregen dürfe. Zum anderen sei sie ihre Mutter, der Karin sich unterzuordnen habe.
Dabei vergaß die alte Frau völlig, dass ihre Tochter eine erwachsene Frau war, und SIE zu ihr gezogen war.
Nächtelang hatte Karin sich den Kopf zerbrochen, wie sie dies Zusammenleben für sich erträglicher gestalten könnte, war jedoch zu keinem Ergebnis gekommen. Pflichtbewusst stand sie zu ihrer Entscheidung die Mutter bei sich aufzunehmen, wenngleich ihr gesamtes eigenes Leben dabei kaputt ging.
Ein einziges Mal hatte Karin ihr Telefon abgeschaltet und war mit den Freunden zusammengeblieben. Bei ihrer Heimkehr traf sie Sanitäter und Notarzt in der Wohnung an, da die Mutter einen Herzanfall gehabt hatte.
„Wenn sich Ihre Mutter nicht aufregt, kann sie noch lange leben“, erklärte ihr der Notarzt. „Es kann doch nicht so schwer sein ihr zuliebe auf ein bisschen Vergnügen zu verzichten.“
Karin hatte nichts darauf geantwortet. Was ging es diesen Fremden an, dass die Mutter ihr gesamtes Leben zerstörte? Und woher nahm er überhaupt das Recht ihr Verhalten zu beurteilen?
Für ein Altenheim war sie zu jung und für ein Pflegeheim zu gesund. So hatte Karin gezwungenermaßen die ‚Sorgerrolle‘ übernehmen müssen, die ihr eigenes Leben auf Büro, Supermarkt und Wohnung beschränkte.
Seit dem Einzug der Mutter hatte es für Karin keine verbummelten Nachmittage mit einer Freundin, keinen Freund und keinen Urlaub mehr gegeben.
„Hallo Mutti, im Büro ging es heute drunter und drüber und ich habe noch Salat, Obst und Käse auf dem Weg eingekauft. Ich mache gleich das Abendessen“, versuchte sie die Mutter zu interessieren.
„Ach, ich fühle mich nicht wohl, und Appetit habe ich auch nicht,“ kam die klagend-ablehnende Antwort vom Bett her.
Karin war aber schon gegangen, nahm die Taschen im Flur auf, huschte am Spiegel, in den sie schon lange nicht mehr schaute, vorbei, und stellte alles müde in der Küche ab. Sie suchte den Korkenzieher und öffnete eine Flasche Weißwein, goss sich ein Glas ein und ließ sich auf den Stuhl sinken. Gedanken-verloren trank sie einen Schluck. Aus der Handtasche kramte sie Zigarettenpäckchen und Feuerzeug hervor und inhalierte tief den ersten Zug. Sie rauchte nicht häufig, doch wenn sie sich, meist abends, so niedergeschlagen wie jetzt fühlte, schien ihr eine Zigarette zu helfen sich zu entspannen.
‚Wäre das schön, wenn sich beim Nachhause-Kommen einmal jemand um MICH kümmern würde!‘ Seufzend erhob sie sich, trank noch einen Schluck Wein und drückte die halb gerauchte Zigarette aus.
Sie schnitt Brot auf, richtete den Salat an, legte Wurst, Käse und Obst auf Teller und begann den Tisch zu decken.
Obwohl es erst gegen acht Uhr war, kam ihre Mutter, die beileibe nicht dick war, nur mit Nachthemd und Morgenmantel bekleidet, herübergeschlurft und ließ sich schwerfällig auf den Stuhl sinken. Mürrisch beob-achtete sie das geschäftige Hin und Her ihrer Tochter, ohne ihr Hilfe anzubieten oder einen Handgriff abzunehmen.
Als Karin mit Brot und Getränken kam und sich endlich auch setzte, hatte ihre Mutter sich schon bedient, doch pickte sie nur lustlos im Salat herum, knabberte an einer halben Scheibe Brot mit Käse, die sie noch teilweise auf dem Teller liegen ließ, und zählte danach eine stattliche Anzahl bunter Pillen ab.
Die beiden Frauen hatten sich nie besonders nahe gestanden. Karin erzählte von ihrer Arbeit, die Mutter vom letzten Arztbesuch, doch sprachen beide nur, um die lastende Stille während der Mahlzeit zu füllen. Keine ging auf den Bericht der anderen ein.
Noch bevor Karin ihr Glas ausgetrunken hatte, stand die alte Frau auf, um sich einen Spionagefilm im Fernsehen anzuschauen. Beim Hinausgehen meinte sie nur abfällig: „Du bist ja schon eine Alkoholikerin, dass du sogar zum Essen Wein trinkst! Wie kannst du nur so haltlos sein?“
Karin versuchte die abfälligen Worte zu überhören, über die sie in der ersten Zeit ihres Zusammenlebens noch heimlich abends im Bett geweint hatte.
Sie deckte allein ab und versorgte die restlichen Lebensmittel. ‚Warum kaufe ich eigentlich diese teuren Delikatessen? Mutti will sie zwar haben, doch wenn sie dann auf dem Tisch stehen, isst sie sie nicht.‘
Karin hatte schon versucht die teuren Schinken, Pasteten und Käsespezia-litäten durch weniger Anspruchsvolle zu ersetzen, doch da hatte ihre Mutter spitz gefragt, ob man ihr das Gehalt gekürzt hätte, und sie nicht einmal mehr ihre alte Mutter, wie es sich gehört, versorgen könne.
Hinzu kam, dass die alte Frau zu Hause nur mit Nachthemd und Mor-genmantel, bestenfalls mit einer dünnen Baumwollhose und einer kurzärmeligen Bluse bekleidet, herumlief. So musste die Wohnung auch im Winter hochsommerliche Temperaturen haben. Nachts wurde der Verbrauch nicht gedrosselt, morgens aber so lange gelüftet, dass die gesamte Wohnung auskühlte. Entsprechend waren die Heizkosten enorm.
Beim Stromverbrauch verhielt es sich ähnlich: Der Fernseher lief oder war auf Stand-by geschaltet. Selbst tagsüber waren die Vorhänge geschlossen und das Licht brannte in der ganzen Wohnung.
An einem Abend in der ersten Zeit ihrer Wohngemeinschaft versuchte Karin mit ihrer Mutter darüber zu sprechen und bat sie, nicht so verschwende-risch mit Strom und Heizung umzugehen. Da gab ihr ihre Mutter patzig zur Antwort, dass sie ja wohl kaum dafür verantwortlich sei, dass Karin zu dumm gewesen wäre, einen gut bezahlten Beruf zu erlernen und zu unattraktiv, um sich einen wohlhabenden Mann zu angeln. Das Schlimmste allerdings wäre, dass Karin auch ihre alte Mutter nicht ordentlich versorgen wollte, SIE, die die Tochter doch allein großgezogen hatte. Mit einem ‚Undank ist der Welt Lohn‘ hatte sie Karin einfach allein gelassen.
„Karin kommst du bitte mal her!“, hörte Karin die alte Frau rufen.
‚Was will sie denn jetzt schon wieder‘, seufzte sie in sich hinein und ging hinüber in das überheizte stickige Zimmer.
„Bring mir doch ein Glas kalten Tee aus der Küche“, bat sie, doch es klang eher wie ein Befehl.
„Natürlich Mutti“, antwortete Karin und kehrte widerspruchslos in die Küche zurück, um das Gewünschte zu holen.
‚Hätte sie den Tee nicht selbst mitnehmen können, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte?‘, dachte sie aufmüpfig, um sich sofort für ihr mangelndes Mitgefühl zu rügen, denn die andere war doch krank.
„Ich brauche dich jetzt nicht mehr, Kind. Leg dich am besten auch ins Bett!“ Damit entließ sie Karin wie eine Dienstbotin.
„Gute Nacht Mutti,“ verabschiedete sich Karin, doch wurde ihr Wunsch nicht erwidert.
Deprimiert, denn sie sah keinen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation, holte sie sich noch ein Glas Wein aus der Küche. ‚Wie gerne hätte ich mich mit einer Freundin getroffen oder ginge ins Kino. Ich bin doch erst 35 Jahre alt! Stattdessen hocke ich jeden Abend zu Hause und bin allein …‘
Am Vernünftigsten wäre es, die Mutter irgendwo einzumieten, doch das hätte den endgültigen Bruch mit ihr bedeutet. Da Karin aber keine weitere Familie hatte, wollte sie es darauf nicht ankommen lassen.
Mutlos und resigniert rollte sie sich auf dem Sofa zusammen und flüchtete sich in das noch schnell unterwegs gekaufte Buch.
Karin liebte historische Romane und Reisebeschreibungen. Beide ließen sie die bedrückende häusliche Situation vergessen, von der sie nicht wusste, wie sie sie ändern könnte.
Kurze Zeit später kam die junge Frau abends nach Hause und wurde nicht sofort von der quengeligen Stimme ihrer Mitbewohnerin empfangen, sobald sie den Schlüssel im Schloss umdrehte.
Im ersten Moment empfand Karin diese Ruhe als wohltuend, doch schon im nächsten hastete sie, noch mit Mantel und Mütze bekleidet, alarmiert in das Zimmer der Mutter. Dort waren die Vorhänge, wie immer, zugezogen, das Licht brannte und der Fernseher lief. Es roch wie immer, doch mischte sich auch ein unsauberer Geruch in diesen Mief? Die Kranke schien zu schlafen, tatsächlich aber war sie während ihrer Mittagsruhe gestorben.
Karin starrte auf die Tote herab. Sie empfand weder Schmerz, noch Trauer, noch Erleichterung. Gerne hätte sie geweint, doch selbst dafür fühlte sie sich zu leer und ausgelaugt.
In den nachfolgenden Tagen funktionierte die junge Frau wie ein Roboter. Sie bat ihren Chef um einige Tage Urlaub, kümmerte sich um die notwen-digen Formalitäten und kehrte danach müde und ausgehöhlt in die dunkle Wohnung zurück.
Da ihre Mutter den Wunsch geäußert hatte verbrannt zu werden, ließ Karin die Trauerfeier noch davor stattfinden. Nach der Gedenkstunde kehrte sie ohne Umwege in ihre Wohnung zurück. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und noch im Flur stand, sah sie auf einmal die Einrichtung wie mit fremden Augen: die nachgedunkelten Tapeten mit den Flecken um die Lichtschalter, den abgetretenen Läufer, die abgestoßenen Ecken an Rahmen und Türen und die unmoderne Deckenbeleuchtung.
Sie schüttelte den Kopf, hängte ihren Mantel in die altersschwache Garderobe, ging hinüber ins Wohnzimmer und öffnete weit das Fenster. Lauer Vorfrühlingswind voll Versprechen auf ein neues Jahr strich ihr sanft über das Gesicht. Reglos und mit geschlossenen Augen ließ sie es zu. Sie öffnete die Augen und schaute hinunter auf Bäume und Sträucher im Park. Lag da nicht schon ein grüner Schimmer über den Ästen?
‚Ist dieses Frühjahr auch ein Neubeginn für mich?‘, fragte sie sich bange.
‚Sobald ich mich ein bisschen erholt habe, räume ich ein Zimmer nach dem anderen aus und renoviere die ganze Wohnung von Grund auf.‘
Sie ließ das Fenster weit geöffnet und ging in die Küche, um sich einen Kaffee aufzugießen. Dabei überlegte sie, mit welchem Zimmer sie anfangen sollte. Noch mit der Tasse in der Hand öffnete sie die Tür des Zimmers ihrer Mutter, trat aber nicht ein. Alles war noch unverändert, es hing sogar noch der Geruch der alten Dame in der Luft.
‚Hier fange ich an! Nichts von all diesen Sachen will ich mehr in meiner Wohnung sehen!‘
Als sie ein Jahr vor dem Einzug der Mutter diese Wohnung gemietet hatte, wollte sie schon verschiedene Neuerungen vornehmen, doch fehlte zuerst das Geld, und später hatte sich ihre Mutter jegliche damit verbundene Lärmbelästigung verbeten.
‚Ab jetzt kann ich wieder Geld zurücklegen und nach und nach meine im Moment noch unfertigen Pläne in die Tat umsetzen.‘
In Gedanken hörte sie wieder ihre Mutter.
‚Zu so etwas braucht man Geschick und Geschmack, doch beides hast du nicht.‘ – Wobei der Tonfall mit dem sie Karin so oft gebremst hatte für die junge Frau noch verletzender war, als die Aussage an sich.
‚Warum war mir eigentlich nicht schon vor ihrem Einzug aufgefallen, dass ich es ihr nie recht machen konnte? Mit ein bisschen Abstand hätte ich doch diese Katastrophe des Zusammenlebens vermeiden können! Ich habe mich benommen wie ein kleines Kind, das um Anerkennung bettelt!‘
Karin schloss die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Für heute hatte sie mehr als genug von quälenden Erinnerungen.
Sie brachte ihre Tasse in die Küche, holte sie sich ein Glas Wein und knabberte Nüsse dazu.
‚Endlich muss ich kein Essen mehr auf den Tisch stellen, wenn ich nicht selbst essen will‘, stellte sie befreit fest.
Wie schon vorher im Flur sah sie plötzlich auch die Küche wie eine Fremde: Das Mobiliar stammte vom Trödel oder aus Billigkaufhäusern. Kein Stück passte zum anderen, doch bei ihrem Einzug sollte es nur wenig kosten, denn es war ja nur für einen kurzen Übergang gedacht. Die Fliesen um das Waschbecken waren ausgebrochen. Sie hatte diese zwar sorgfältig geklebt und ausgebessert, doch täuschte das nicht über den langsamen Zerfall hinweg. Alles sah einfach nur noch schäbig, verwohnt und abgenutzt aus!
‚Wenn ich mich sehr einschränke, kann ich vielleicht im nächsten Jahr auch noch die Küche renovieren. Das wird teuer werden, denn dies alles hier kann ich nur noch zum Sperrmüll fahren. Womit denn fahren? Ich habe zwar einen Führerschein, doch nie ein Auto besessen. Dazu waren die laufenden Kosten des Haushalts zu hoch, und jetzt fehlt mir die Fahrpraxis. Ob ich den noch einmal neu machen muss? Irgendwie muss es gehen, denn ein Auto kann ich mir nicht noch zusätzlich zur Renovierung leisten.
‚Für die meisten Arbeiten brauche ich Fachleute, das traue ich mir nicht zu ...‘ ging es ihr durch den Kopf.
Liebend gerne hätte Karin sich sofort Papier und einen Stift geholt, um ihre Ideen und Wünsche aufzuschreiben und dazu einen Zollstock zum Vermessen der Räume. Da aber der Termin mit der Bank ihrer Mutter noch ausstand, wollte sie lieber den verbleibenden Schriftkram erledigen. So holte sie den dünnen Hefter aus dem Regal, setzte sich an den Esstisch und erledigte die letzte Post für ihre Mutter.
Von dem Banktermin erhoffte sich Karin lediglich, nicht auch noch Schulden vorzufinden.
Am nächsten Morgen bat die Bankangestellte Karin um den Erbschein und wollte dann wissen, wohin sie das restliche Geld überweisen solle.
Verdutzt antwortete Karin: „Ich nehme es in bar mit. So viel kann es ja nicht sein.“
Die Angestellte sah erstaunt von den vor sich liegenden Papieren auf: „Fast 100 000 DM müssen erst vorbereitet werden, aber in drei Tagen können sie das Geld abholen.“
Karin schluckte trocken, gab ihre eigene Kontonummer an, nahm ein wenig Geld in bar mit, verabschiedete sich und verließ die Bank.
Langsam ging sie die Straße hinunter. Die widersprüchlichsten Gedanken jagten ihr durch den Kopf.
Die ersten Cafés hatten schon ihre Terrassen geöffnet. In einer geschützten Ecke fand Karin Platz, drehte das Gesicht der Sonne entgegen und ließ sich von den Strahlen das Gesicht wärmen. Um sich zu beruhigen, zog sie eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, sog tief den Rauch in die Lungen und bestellte sich ein Glas Wein.
Das Verhalten ihrer Mutter war ihr völlig unverständlich, denn jahrelang hatte sie auf Karins Kosten gelebt und so die Tochter gezwungen jede Ausgabe sorgfältig zu überlegen, zu planen oder ganz zu unterlassen. Gedankenverloren nippte sie an ihrem Glas. Innerlich schüttelte sie den Kopf vor Fassungslosigkeit: einerseits, dass sie sich schon am Spätvormittag ein Glas Wein bestellte, andererseits über den Geiz der Mutter, der ihr aber jetzt den unerwarteten Geldsegen bescherte.
‚Ich will nicht einmal darüber nachdenken, warum sie sich so verhalten hat, bekomme ich doch wenigstens jetzt eine finanziell angemessene Entschädigung für die gestohlenen Jahre. Zusätzlich bin nicht mehr ausschließlich auf mein Gehalt angewiesen. Gehört mir dieses Geld nicht sowieso? Mutter hat doch all die Jahre auf meine Kosten gelebt!‘
Ein unbändiger Konsumhunger überfiel sie. Sie wollte sich endlich schöne Kleider und ein Auto kaufen, reisen, ins Theater gehen, Ausstel-lungen besuchen und wieder Menschen kennenlernen … einfach nur leben und dazugehören, nach all den erzwungen-einsamen Jahren.
Sie überlegte, ob sie umziehen wollte, doch eigentlich gefiel ihr der Schnitt ihrer Wohnung. Sie musste nur von Grund auf in hellen Farben renoviert werden und brauchte wenige neue Möbel.
Noch immer total durcheinander zahlte sie und verließ das Lokal.
Seit Langem nahm sie zum ersten Mal wieder ihr Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe wahr. Sie sah eine große, schlanke aber unscheinbare Frau, mit formlosen Kleidern, langen blonden Haaren ohne erkennbaren Schnitt und schwerer dunkler Hornbrille.
‚Ich hätte so gerne etwas Schönes zum Anziehen! Ich habe diese formlosen dunklen Labberkleider sooo satt!‘ schoss es ihr durch den Kopf.
Wahllos betrat sie das nächste Bekleidungshaus auf ihrem Weg zur U-Bahn. Unsicher streifte sie durch die Damenkonfektionsabteilung, bis sich eine Verkäuferin anbot, ihr zu helfen. Sie hatte den schüchtern-sehnsüchtigen Blick der jungen Frau aufgefangen und erhoffte sich größeren Umsatz, obwohl Karins Erscheinung eher ärmlich war.
Als Erstes zog sie einen tomatenroten Hosenanzug von der Stange.
„Sie tragen Größe 38?“, fragte sie und versuchte gleichzeitig Karins Figur unter dem formlosen Kleid zu entdecken.
„Ich glaube schon“, antwortete Karin unsicher, doch ihr Blick haftete sehnsüchtig auf dem neuen farbigen Kleidungsstück.
„Dazu gehört auch noch ein Rock, und sie benötigen einige Oberteile. Ich bringe ihnen alles in die Kabine. Und wenn der Anzug nicht passt, habe ich ihn auch noch in anderen Größen,“ ermutigte sie die Verkäuferin geschickt.
Scheu probierte Karin die neuen Sachen an. Sie passten, wie für sie gemacht. Alle Teile unterstrichen Karins große schlanke Figur. Der ungewohnt kurze Rock aber verunsicherte Karin so sehr, dass sie ihn sofort wieder weghängte.
Karin behielt Pulli und Anzug gleich an, ließ aber, mehr aus gewohnter Sparsamkeit, ihre alten Sachen mit einpacken.
Der Einkauf begann sie zu berauschen.
In der Kabine hatte sie einen kurzen Blick auf ihre biedere Wäsche geworfen. Die wollte sie auch sofort ersetzen. So fuhr sie in die entsprechende Abteilung und suchte sich dort schicke Dessous zu ihrer neuen Garde-robe aus.
Nun brauchte sie passende Schuhe. Der nächste Laden war nur wenige Schritte entfernt und nach verschiedenen Anproben erstand sie ein Paar flache Slipper und Riemchensandaletten mit hohen Absätzen.
Ungläubig betrachtete sie ihr Spiegelbild. ‚Wie mich doch ein wenig modische Kleidung verändert hat,‘ staunte sie.
Beim Verlassen des Geschäftes überlegte sie fieberhaft, was sie als Nächstes haben wollte: eine neue Brille.
Mutig geworden betrat sie einen Optikerladen. Sie hatte keine Vorstellung wie ihre neue Brille aussehen sollte; es sollte nur etwas ganz anderes sein, als das Gestell, das sie schon seit Jahren trug.
Der Optiker brachte ihr viele Modelle: dunkler oder heller als ihre eigene Brille, mit kleineren runden oder eckigen Gläsern, doch Karin war begeistert von den randlosen unauffälligen Gestellen, und nach kurzer Wartezeit hatte der Optiker ihre eigenen Gläser für das neue ‚Nicht-Gestell‘ zurechtgeschliffen.
Aufgekratzt und mit Tüten beladen kehrte sie in ihre dunkle, leere Wohnung zurück.
‚Wie ist es hier doch hässlich und verwohnt!‘ Karin schüttelte sich. ‚Wenn ich sparsam bin, kann ich vielleicht die ganze Wohnung auf einmal renovieren lassen.‘ Mit einem kehligen Laut machte sie sich über sich selbst lustig.
‚Ich muss nicht mehr jeden Pfennig zweimal umdrehen. Für mich allein reicht mein Gehalt allemal, aber da ist die Erbschaft. Ob das Geld vielleicht doch noch für ein kleines Auto reicht?‘
Die noch immer ungewohnte Stille empfand Karin als Luxus. Keine jammernde Mutter mehr, die sie hinderte zu machen, was sie wollte.
Hungrig knabberte sie gleich vor dem Kühlschrank stehend an einem Stück Käse und Brot und holte sich dazu den Wein.
‚Wann habe ich zuletzt einen so ausgiebigen Einkaufsbummel gemacht? Ich weiß es schon nicht mehr‘, aber begeistert von all den neuen Sachen drehte sie sich vor dem Spiegel und betrachtete sich zufrieden.
‚Noch schöner wäre es, meine Freude mit jemandem zu teilen … Wie komme ich bloß wieder mit anderen Menschen in Kontakt?‘ fragte sie sich beklommen.
Sie schnappte ihre Schlüssel und rannte nochmals die Treppen hinunter, um sich die Stadtzeitung zu kaufen, in der die aktuellen Ausgehmöglichkeiten aufgelistet waren. Sie strich einige Ausstellungen an und las aufmerksam das Kinoprogramm. Die Filmtitel sagten ihr wenig und auch die Namen der Schauspieler waren ihr unbekannt. – In juristischen Fachzeitschriften gab es keine Film- oder Theaterrezensionen. –
‚Kino und Ausstellungen kann ich auch ganz allein besuchen, vielleicht fange ich damit an, dann habe ich später auch etwas zu erzählen.‘
Obwohl sie von schweren Gewissensbissen geplagt wurde, so viel Geld an nur einem einzigen Tag ausgegeben zu haben, zogen die großen Geschäfte sie schon am nächsten Tag wieder magisch an. Staunend wanderte sie durch eine Modeabteilung nach der anderen und konnte sich nicht sattsehen. Diesmal kaufte sie allerdings nichts. Stattdessen fand sie einen Friseur, der sie auch ohne Voranmeldung nach nur kurzer Wartezeit bediente. Gewissenhaft blätterte sie die Frisurenhefte durch auf der Suche nach etwas Schönerem, Neuen. Sie hatte auch ihre langen gleich lang geschnittenen Haare satt! Als die Friseurin sich um Karin kümmern konnte, fanden sie gemeinsam einen Schnitt, der Karins dichtes Haar besser zur Geltung brachte:
Das Haar wurde stufig schulterlang geschnitten. Wenige Ponyfransen schmeichelten Karins Gesicht und hellblonde Strähnen ließen ihr Haar aufleuchten.
Als sie nach fast zwei Stunden das Ergebnis betrachtete, erkannte sie sich kaum wieder: In zwei Tagen war sie um Jahre jünger geworden!
Karin lebte zweigeteilt, einerseits eine junge attraktive Frau, doch innerlich noch genauso scheu, schüchtern und verschlossen. Aber ein kleiner Funken Hoffnung begann in ihren Augen zu leuchten.
Mittlerweile war es Nachmittag geworden und Karin setzte sich in ein Café, bestellte sich ein Wasser und eine Kleinigkeit zu essen. Dabei schaute sie den Passanten zu. Sie hatte den Eindruck, dass niemand außer ihr allein war. Alle anderen schienen etwas vorzuhaben, oder wurden erwartet … alle außer ihr. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause. Dort konnte wenigstens niemand mehr sehen, wie allein sie war.
In ihrer Hektik bemerkte sie nicht andere Cafébesucher, die auch allein am Tisch saßen. Sie zahlte und nahm eilig den Bus nach Hause. In der Fensterscheibe erblickte sie ihr neues Spiegelbild wie eine Fremde und hoffte nur, dass niemand bemerkte, dass sie sich selbst nicht mehr erkannte.
Als sie am folgenden Montag ins Büro zurückkehrte, reagierten die Kolleginnen erstaunt auf Karins Veränderungen und geizten nicht mit Lob.
Einerseits freute sich Karin, dass ihre Wahl den anderen gefiel, doch war es ihr peinlich im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.
„Meine Mutter hat mir etwas Geld hinterlassen …“
„Ja, manchmal hilft es einzukaufen, wenn man traurig ist“, fiel ihr verständnisvoll eine ältere Kollegin ins Wort, nicht mehr.
Karin ließ sie in diesem Glauben. Wie hätte sie in wenigen Worten das Leben mit ihrer Mutter zusammenfassen sollen? Jahrelang hatte sie über ihre private Situation geschwiegen und jetzt, im Nachhinein, fand sie es unpassend.
Keine Kollegin kam allerdings auf die Idee, Karin zu den gemeinsamen Mittagessen zu überreden. Im Verlauf der Jahre hatten alle Karins Einzelgängerdasein akzeptiert und bedrängten sie nicht mehr.
So recht wollte sich aber der Spaß bei ihren Ausflügen nicht einstellen. Ging sie abends nach Büroschluss nicht direkt nach Hause, hatte sie keine Ruhe bei ihren Unternehmungen, war sie aber wieder in ihrer Wohnung, sehnte sie sich nach anderen Menschen. ‚Ob der Genuss kommen wird, wenn ich nur lange genug übe?‘
Sie besorgte sich das Abendkursprogramm und schrieb sich in einen Stepptanzkurs ein. Die Bewegungen waren ihr fremd, doch spürte sie, wie wohl sie ihrem Körper taten, wenn sie abends zusätzlich zu Hause – auf Socken – übte.
Aber nicht nur ihr Körper entspannte sich bei der neuen Sportart, auch ihr Geist verlangte nach neuen Anforderungen und so meldete sie sich zusätzlich in einem Französischkurs an. Land und Sprache hatten sie seit ihrem ersten und einzigen Urlaub am Mittelmeer angezogen.
‚Jetzt kann ich wieder einmal dorthin in den Urlaub fahren. Das müsste schön sein …‘ dachte sie sehnsüchtig.
Trotz der Teilnahme an den verschiedenen Volkshochschulkursen hatte sie nie mehr als oberflächliche Höflichkeiten mit anderen Kursteilnehmern austauschen können, wollte sich ihnen aber auch nicht aufdrängen.
Sie fühlte sich mutlos und einsam. Manchmal meinte sie beinahe ihre Mutter zu hören, die sie abends um 8 Uhr, wie ein Kind, zu Bett schickte. Das machte sie noch hilfloser.
... Ein großer Fisch mit weit aufgerissenem Maul sprang aus dem Wasser und schnappte nach unvorsichtigen Insekten. Er sah aus, als lachte er Karin aufmunternd zu, bevor er sich mit einem lauten ‚Platsch‘ wieder ins Wasser zurückfallen ließ.
‚Ich werde ein Zusatzstudium machen,‘ beschloss sie mutig. Mit dieser neuen Qualifikation kann ich auch eine neue Stelle finden und in einer anderen Firma noch einmal von vorne anfangen.
Seit dreizehn Jahren arbeitete sie als Anwaltsgehilfin in einer Kanzlei. Anfangs war sie froh gewesen Schule und Ausbildung endlich hinter sich zu haben, doch später bestand ihre Weiterbildung nur aus Lektüre von Fachzeitschriften der Kanzlei, die sie in der Mittagspause, neben ihrem belegten Brot, las. Fortbildungskurse fanden in der Freizeit statt und mussten bezahlt werden. Bisher konnte Karin an ihnen nicht teilnehmen.
In diese Gedanken hinein meldete sich wieder die abwertende Stimme ihrer Mutter im Hinterkopf so deutlich als stünde diese neben ihr:
„Du bist einfach zu nichts nutze, außer vielleicht untergeordnete Arbeiten nach genauer Anweisung zu erledigen. Schön bist du auch nicht, kein Mann wird dich je heiraten, und von Fantasie und Esprit rede ich besser gar nicht erst. Du bist auf ganzer Linie enttäuschend.“ Obwohl sich dies alles nur in ihrem Kopf abspielte, hörte Karin die Stimme ihrer Mutter deren Tonfall und Wortwahl ihr weh taten.
‚Warum höre ich sie immer noch? Sie ist doch schon mehr als ein Jahr tot. Glaube ich das etwa selbst von mir? ‘
‚Nein,‘ protestierte sie in sich hinein. ‚Mutters Ansichten waren nie wahr und werden es auch nicht, wenn sie sich noch so oft wiederholen! Nur wenn ich sie zu meinen eigenen Gedanken mache und glaube, erst dann bewahrheiten sie sich.
Ich werde dieses Studium versuchen! Was kann mir Schlimmeres passieren, als dass ich durch die Prüfung falle? Ich kann von meinem Gehilfengehalt leben und studiere nur für mich – zum Spaß sozusagen!‘
Mit diesem Entschluss breitete sich Erleichterung in ihr aus und mit einem entspannten Lächeln nippte sie wieder an ihrem Glas.
‚Wir sind jetzt im Mai. Noch in diesem Frühjahr sollte ich eine Weiterbildungsmöglichkeit in Berlin gefunden haben. Dann muss ich mit meinem Chef reden, ob meine Stelle für die Studiendauer in eine Halbtagsstelle umgestellt werden kann.‘
In ihrem Eifer bemerkte sie nicht einmal, dass sie schon mit der Organisation des Studiums begonnen hatte.
‚Was möchte ich studieren? Mir macht Spaß, was ich tue, aber ich wüsste gerne mehr. Vielleicht könnte ich ja meine juristischen Kenntnisse vertiefen und auf Betriebe ausweiten? Oder vielleicht auf internationales Recht?‘
Erstaunt stellte sie fest, dass sie, während sie gedanklich ihre Zukunft neu ordnete, nicht verkrampft gegrübelt hatte, wie sie neue Menschen kennenlernen könnte.
Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Nur noch vereinzelt hatten die Wolken orangefarbene Ränder und es wurde schnell empfindlich kühl und dunkel.
Karin schlüpfte in ihren Pulli und räumte Decke, Weinflasche und Glas in den Korb und machte sich, beschwingt von der neuen Zukunftsperspektive, auf den Rückweg.
Sie hatte einen längeren Fußmarsch vor sich, doch während sie zum Dorf zurücklief, freute sie sich auf das Essen bei René am Strand. Bestimmt würde er ihr wieder bei der Auswahl helfen und es würde genauso köstlich schmecken wie schon beim letzten Mal!
Karin genoss ihren Urlaub an der französischen Mittelmeerküste. Sie hatte sich vorgenommen das Languedoc kennenzulernen.
Sie hatte ihre Pauschalreise nach Montpellier nur mit Frühstück gebucht, sodass sie den gesamten Tag zu ihrer freien Verfügung hatte.
Am ersten Tag lief sie durch das Stadtzentrum, schaute sich die Cathé-drale Saint Pierre an, die als einzige Kirche hier nicht in den Religionskriegen vollständig zerstört worden war. Eine Festungskirche, deren Wuchtigkeit noch durch die Verlängerung zu den Mauern der medizinischen Fakultät unterstrichen wurde. Die alten Bauten der Universität zogen Karins Interesse an. Hier hatte man schon im 14. Jahrhundert Heilkunde gelehrt, obwohl man damals noch so wenige Krankheiten tatsächlich heilen konnte.
Karin entschied sich das Musée Fabre und alle anderen Innenraumbesichtigungen, mit Ausnahme der Kirchen auszulassen. Das vorsommerliche Wetter wollte sie lieber draußen genießen. Vielleicht würde es ja einen Tag lang regnen?
In die engen Gässchen drang noch keine Sonne und es war kühl. Im Sommer aber würde sich die Hitze dort bis in die Nacht hinein stauen.
Sie bewunderte in einem Park, von dem aus sie einen weiten Blick über die Stadt hatte, den Triumphbogen, der von den Heldentaten Ludwigs XIV. berichtete. Später saß sie auf einer Bistroterrasse in der Fußgängerzone und lauschte den ersten Straßenmusikanten und trank durstig ihr Mineralwasser.
Um sie herum saßen die Studenten, Gruppen und Pärchen, die Händchen haltend ihre Umwelt vergaßen. Auf einmal kam ihr ihr Alleinsein wieder deutlich zu Bewusstsein. Ärgerlich schob sie dieses Gefühl zur Seite. Es war so sinnlos.
Mit einem Mietwagen erkundete sie das Hinterland. Sie streifte durch die Altstadt von Pézenas, bewunderte die geschickt restaurierten Bauten und erfreute sich an den vielen kleinen Handwerkstätten, die hier eingerichtet waren.
An einem anderen Tag fuhr sie über die Weinbaugebiete hinaus in die ‚Montagne Noire‘ (Schwarze Berge). In engen Serpentinen schlängelte sich die Straße über dicht bewaldete Höhenzüge und durch enge Täler, sodass Karin sehr aufpassen musste. Öfter hielt sie an, um die Aussicht zu genießen, doch so recht gefallen wollte es ihr hier nicht; sie stellte sich diese Gegend in der dunklen Jahreszeit vor, bei Regen und Nebel und fand sie nur für die Dauer eines Ausfluges im Frühling anziehend.
Karin bevorzugte den ungehinderten Blick bis zum Horizont, wo sich Meer und Himmel scheinbar berührten. Dort saß sie gerne am Abend und ließ sich vom Lied der Wellen wiegen.
Sie erklomm den Hügel mit der Burganlage in Carcasonne und schaute hinunter in die weite Ebene. Früher hatte man freundschaftliche Besuche oder feindliche Heere schon lange vor ihrer Ankunft erblicken können, doch hatte dieser Vorzug nicht die Belagerung und Einnahme der Burg während der Katharerkriege verhindern können. So sehr sie aber von der Burganlage selbst fasziniert war, so sehr empfand sie Geschäfte und Restaurants als störend. Die Burg war ein beliebtes Touristenziel und diente der Stadt als willkommene Einnahmequelle.
Immer mit Karte und Reiseführer in der Hand informierte sie sich über die Geschichte des Ortes, den sie gerade durchstreifte, und war begeistert. Erstaunt las sie, dass diese Region das größte zusammenhängende Weinbaugebiet für Qualitätsweine der Welt war, und 40 % des inländischen Verbrauchs hier gekeltert wurde.
An einem anderen Tag hatte Karin nichts weiter vor, als ein bisschen ziellos durch die Gegend zu fahren.
Es hatte in der vergangenen Nacht geregnet doch jetzt am Morgen zerriss ein frischer Wind die Wolkendecke und blauer Himmel versprach wieder einen sonnigen Tag.
Abseits der Schnellstraße erreichte sie einen Ort, in dessen Zentrum unter hohen Bäumen Marktstände aufgebaut waren.
Frauen mit Kinderwagen drängten sich durch die Standreihen. An den Ecken standen Bekannte zusammen und tauschten Neuigkeiten aus. Die Verkäufer boten lautstark ihre Waren feil und überall herrschte geschäftiges Treiben.
Neben dem reichlichen Angebot an Obst und Gemüse gab es einen Stand, der nur Oliven und Kapern in verschiedenen Marinaden anbot. Gegenüber hatte ein Bäcker seine Waren aufgebaut und es duftete verführerisch nach frischem Brot und kleinen süßen Gebäckteilchen. Weiter hinten in der Allee reihten sich die Fleisch-, Wurst- und Fischhändler an.
Erstaunt blieb Karin an dem Wurstwagen stehen. Diese Vielfalt an Schinken- und Salamivariationen faszinierte sie. Die Verkäuferin bot ihr wortreich an, doch die eine oder andere Sorte zu probieren. Alle waren köstlich und Karin wählte je eine Salami- und Schinkensorte aus, die sie bei ihrem Mittagspicknik essen wollte.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes hatten die Händler, die keine Esswaren anboten, ihre Sortimente ausgebreitet. Von Nähgarn über Wäsche, Schuhe, Kleidung, Spielzeug und Haushaltswaren konnte man hier alles finden. Gebannt schaute Karin einer alten Verkäuferin an einem Kleiderstand zu, die sich geschäftig bemühte, die Wünsche einer Kundin zu erfüllen, doch die Verständigung war nur sehr ungenau, da keine die Sprache der anderen beherrschte. Die magere Alte suchte noch in den großen Transportkisten, doch fand sie das Kleidungsstück in der gewünschten Farbe offenbar nicht. Sie brummelte, jedoch noch immer verständlich, ihren Zorn über die Ausländer, die kein Wort der Landessprache beherrschten, aber doch problemlos bedient werden wollten, vor sich hin, während die Kundin weiterging.
Immer wieder strich sich die Kleiderverkäuferin mit ihrer faltigen Hand die weißen Ponyfransen aus der Stirn, als behinderten sie ihre Sicht, doch machte diese Geste eher den Eindruck einer Angewohnheit, als die, ein tatsächliches Hindernis zu beseitigen.
Die quirlige Alte entdeckte Karin und wandte sich an sie:
„Suchen Sie etwas Bestimmtes, Mademoiselle?“
„Nein, nein, ich schaue mir nur ihre Kleider an“, bemühte sich Karin ihr auf Französisch zu antworten.
„Ah, das freut mich, dass sich ein Tourist Mühe gibt, mit mir in meiner Sprache zu sprechen! Und ohne auf Karins Kleiderwunsch einzugehen, bot sie ihr Hosen an.
„Dieser Hosenschnitt ist in diesem Jahr ganz besonders gefragt. Sie sind aus Baumwolle, doch wenn sie sie tropfnass aufhängen, muss dieser Stoff nicht einmal gebügelt werden.“
„Das ist besonders im Urlaub sehr praktisch“, bestätigte Karin. Inte-res-siert fächerte sie sich durch die unterschiedlichen Farben und entschied sich für eine kirschrote Hose mit weißen Paspeln.
Kritisch betrachtete die Verkäuferin Karin, die sich die Hose anhielt.
„Die Farbe steht Ihnen gut, doch wenn Sie etwas für den Abend suchen, sollten Sie schwarz tragen. Es unterstreicht Ihre hellen Haare und bringt Ihre leichte Bräune gut zur Geltung.“
Eigentlich hatte Karin überhaupt nicht vorgehabt, mehr als ihr Picknick auf dem Markt zu kaufen, doch die Argumente der Verkäuferin leuchteten ihr ein und so entschied sie sich für das schwarze Modell. Im Büro würde sie es sowieso nicht tragen und zum Ausgehen gefiel ihr die Hose sehr gut.
Hoffnungsvoll hatte die Standbesitzerin nun auch Oberteile herbeigeholt, doch Karin wehrte dankend ab. Zufrieden mit ihrem Kauf kehrte sie zum Bäcker zurück und kaufte ein Baguette, beim Gemüsehändler Tomaten und Erdbeeren und gegenüber einer kleinen Schale voll Oliven. Ein kleines Stück Camembert und eine Flasche Wasser vervollständigten ihre Mahlzeit.
Langsam schlenderte sie zu ihrem Auto zurück und fuhr aus dem Ort hinaus und bog in einen Feldweg ein, der auf einen kleinen Hang hinaufführte. Dort breitete Karin ihre Jacke auf die Erde, holte ihr Picknick aus dem Wagen und ließ sich nieder. Sie bewunderte die Aussicht über die vielen Weinberge. Die Hänge waren teilweise terrassiert, um noch mehr Anbaufläche zu schaffen, doch kein Arbeiter war zu sehen. Gab es im Moment nichts zu tun oder waren alle zum Mittagessen nach Hause gegangen?
Noch hingen an den Weinstöcken keine reifen Trauben, doch hatte sie an den vergangenen Abenden immer wieder einen anderen Wein aus der Gegend gekostet und verwundert die Vielfältigkeit der Geschmacksnoten wahrgenommen. Nachdenklich knabberte sie an einer Olive und spuckte den Kern in ein Taschentuch.
‚Ich finde es fantastisch, wie aus so wenigen Rebsorten so unterschiedliche Weine gekeltert werden können. Schade, dass ich so wenig von der Weinherstellung weiß, aber vielleicht kann ich in Berlin etwas darüber lesen …‘ Sie rollte ihre Abfälle zusammen und steckte sie in eine Tüte, die im Fußraum des Wagens lag.
Am Abend ging sie durch die kleinen Gassen wieder hinunter zum Restaurant von René. Er begrüßte sie wie eine alte Bekannte und begleitete sie zu ‚ihrem‘ Tisch in einer geschützten Ecke. Fast vertraulich fragte er sie, ob sie wieder denselben Weißwein trinken wollte und sie nickte ihm lächelnd zu. Noch waren nur wenige Gäste auf der Terrasse und der Patron, kam schnell mit dem Gewünschten zurück.
„A votre santé, Mademoiselle“, und er goss ihr den hellen Wein ein.
„Haben Sie heute wieder einen schönen Ausflug gemacht?‘, fragte er.
„Ja, es war wunderschön!“ berichtete Karin. „Ich war in einem kleinen Ort – ich kenne nicht einmal seinen Namen – auf dem Markt und habe dort mein Picknick eingekauft. Später bin ich dann über Feldwege auf die Hügel gefahren und habe es einfach genossen in der Sonne zu sitzen und zu gucken. Schade, dass heute mein letzter Abend ist, denn morgen Nachmittag fliege ich wieder nach Hause.“
„Dann werde ich Ihnen heute ein ganz besonders leckeres Abendessen zusammenstellen. Vielleicht macht das Ihnen ja Lust uns im September wieder zu besuchen?“
Karin lächelte ihn an.
„Das habe ich heute Mittag auch gedacht. In meinem Reiseführer steht, dass man unbedingt eine Fahrt auf dem ‚Canal du Midi‘ machen müsse. Ich kann mir vorstellen, dass eine so gemütliche Fahrt durch die vielen Schleusen sehr interessant ist.“
„Da haben Sie wohl recht und es ist eine Schande, dass wir Einheimischen von unseren eigenen Sehenswürdigkeiten so wenig kennen. Ich habe mir in 18 Jahren, die ich hier lebe, nie die Zeit genommen mit einer péniche (Flussschiff) den Kanal hinunterzufahren. Wussten Sie, dass er zum Weltkulturerbe gehört?“
„Ja, ich habe es in meinem Reiseführer gelesen. Genau wie Carcassonne. Doch hoffentlich ist es auf dem Boot stiller. Schon jetzt in der Vorsaison war es mir auf der Burg zu voll und touristisch. Natürlich ist es interessant die Anlage zu besichtigen, aber so viele Menschen dicht gedrängt in den engen Burggassen sind mir unangenehm.“
„Dann kommen Sie am besten in der Nachsaison wieder her. So ab Anfang Oktober sind die meisten Urlauber wieder abgefahren, und wir sind wieder unter uns.“
„Ich werde es mir überlegen.“ antwortete ihm Karin, doch da war der Patron schon auf dem Weg in die Küche, um Karins Abschiedsessen in Auftrag zu geben.
Langsam senkte sich die Dämmerung über die Küste. Zuvor hatte Karin noch ein wenig in ihrem Reiseführer herumgelesen, doch jetzt schaute sie ein bisschen wehmütig aufs Meer hinaus und nippte gedankenverloren an ihrem Glas Wein.
Sie hatte ihre Zukunft geplant und sicherlich keine Zeit dieses Jahr im Herbst wieder hierher zu reisen. Trotzdem die zusätzliche Ausbildung mit Neugier erfüllte, verspürte sie im selben Moment auch Angst zu versagen.