1

Der Tod eines geliebten Menschen reißt ein Loch in das Leben, das mit der Zeit immer etwas kleiner wird, ohne je zu verschwinden.

 

@der_handwerk

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Vor kurzem passierte mir etwas Merkwürdiges. Ich bekam eine Lebensversicherung ausbezahlt. Das heißt, ich hatte die Wette mit dem Versicherer verloren. Wäre ich vorher gestorben, hätte sich das Sparen gelohnt.

Mein Versicherer wollte mir statt der angesparten Summe eine monatliche Rente bis an mein Lebensende zahlen. Das Motiv ist durchsichtig. Die Versicherung wollte noch mal gewinnen, und jetzt stehen die Chancen für sie noch günstiger. Indem ich die Versicherungssumme durch die monatliche Rente teile, kann ich berechnen, wie lang ich nach Meinung meiner Versicherung noch zu leben habe. Sagen wir es so: Ein in den USA frisch zum Tode Verurteilter hat eine längere Lebenserwartung.

Mittlerweile merke ich, wie ich selbst zu rechnen beginne. Kann ich mir einen Hund anschaffen? Oder wird mich das Viech überleben und einsam sein? Lohnt es sich, eine neue Küche zu kaufen? Ein Auto? Wie oft werde ich mein Haus noch streichen müssen? Die statistische Haltbarkeit meines neuen Implantats übersteigt meine sonstige Haltbarkeit erheblich. Ist das beruhigend? Ich gehe nicht gern zum Zahnarzt. Aber lieber der Zahnarzt als das Nichts.

Man glaubt zwar nicht wirklich an den eigenen Tod, aber alle anderen rechnen damit. Man sieht es hinter den Augen des Bankberaters rattern, wenn er mit mir über einen Kredit verhandelt und wie nebenbei fragt, ob ich Kinder habe. Also Erben, die belangt werden können.

Die Jahreszeiten kommen und gehen. Früher war das egal, jetzt kann ich berechnen, wie oft ich den Frühling erleben werde. Alles wird zählbar plötzlich. Und man muss nicht lange zählen.

Die einzige Post, die ich von der Gewerkschaft bekomme, ist das Angebot einer Gruppen-Sterbegeldversicherung. Früher habe ich mich darüber lustig gemacht, jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich die Konditionen durchlese. Sie sind erstaunlich günstig. Ich sollte so eine Versicherung abschließen. Diesmal gewinne ich vielleicht. Nein, wahrscheinlich.

 

 

Alan Posener

3

 

Media vita in morte sumus.

 

Freitag, 12. Juni 2009, 13.45 Uhr. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs zu einem Hotel im Berliner Tiergarten, um den Veranstalter eines Kongresses, auf dem unser Unternehmen ausstellen wird, zu treffen. Kurz vor dem Ziel, am Kulturforum, vibriert das Mobiltelefon. Sitze ich auf dem Rad, kann es klingeln oder vibrieren, solange es will, nie würde ich auch nur auf die Idee kommen, auf dem Sattel sitzend nach dem Handy zu kramen. Niemals. Anrufer kann warten, bin eh gleich da und werde, falls erforderlich, zurückrufen. Noch heute, fünf Jahre später, vermag ich nicht zu sagen, was mich bewog, anzuhalten, um den Anruf doch entgegenzunehmen.

Meine Schwester, ein Jahr jünger als ich. Nicht gerade das, was man als die Lieblingsschwester bezeichnen würde, zu verbissen hatten wir in unserer Jugend um das bißchen Zuneigung der Eltern gekämpft. Meist gegen-, nicht miteinander.

„Dass du auch mal ans Telefon gehst!“

„Ach du bist’s, was gibt’s?“

„Hast du einen Moment Zeit?“

Meine natürliche Antwort wäre etwas in der Art „Du, im Moment bin ich in Eile, ich rufe zurück ...“ gewesen, aber da mich meine Schwester, außer zu Weihnachten und zum Geburtstag, selten anrief, sagte ich:

„Selbstverständlich, mach’s nicht so spannend!“

„Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich werde meinen Fünfzigsten nicht mehr erleben, wahrscheinlich nicht einmal mehr Weihnachten.“

Bamm!

 

Donnerstag, 17.09.2009, bin zur Wahrnehmung mehrerer Geschäftstermine in Dahlem unterwegs. Anruf Mutter: „Es wird hohe Zeit, deine Schwester ...“ Ich rufe eine Kollegin an und bitte sie, alle für den heutigen Tag vorgesehenen Termine abzusagen. Setze mich ins Auto und fahre los, 740 Kilometer. Um Stuttgart herum Feierabendverkehr mit den üblichen Begleiterscheinungen: Staus, Unfälle, kurzzeitige Autobahnsperrung, Umleitung. Gegen 20.30 Uhr Ankunft am Klinikum Schwarzwald-Baar. Im Laufschritt über den Parkplatz zum Eingang. Rauf zur Onkologie, durchatmen (man will ja Ruhe und Zuversicht ausstrahlen), anklopfen, eintreten. Am Krankenbett der Schwager und Mutter, beide, wie man sagt, gefasst. Im Bett die Schwester, eine stattliche Frau, nurmehr ein Schatten ihrer selbst. Zerbröselt. Schmerzmittelbetäubt und delirierend. Ich beuge mich zu ihr und flüstere ihr ins Ohr. Sie erkennt ihren „großen Bruder“, ein seliges Lächeln huscht über dieses grausam geschundene Gesicht, wir umarmen uns ein letztes Mal. Ein erstes Mal.

 

Freitag, 18.09.2009, 2.00 Uhr, im Haus des Schwagers: Anruf aus der Klinik, die Schwester habe es geschafft (als hätte sie auf dieses Ergebnis hin zugearbeitet). Wir eilen in die Klinik und finden die Schwester – erlöst. Der Schwager hält ihre linke Hand und spricht mit ihr. Mutter weint. Ich denke „Mist, das ist ungerecht!“ und danke dem Herrgott, der gerade die Schwester aus dem blühenden Leben gerissen hat, dafür, dass ich sie noch sehen konnte.

 

Fragen. Warum sie und nicht ich? Warum sie, die nie trank, nicht rauchte, mit ihrem Mann eine glückliche Beziehung führte, in einem Öko-Haus am Rande des Schwarzwalds wohnte und in ihrem Teilzeitjob nicht gerade herzinfarktgefährdet schien? Die optimistisch und voller Lebensfreude war, ferne Länder bereiste und mit Schlauchbooten reißende Flüsse befuhr. Die sich makrobiotisch ernährte und vegetarische Brotaufstriche aß. Ich habe mich damit abgefunden, auf diese Fragen keine Antworten zu finden. Man nennt es Leben. Der Tod gehört von Geburt an dazu.

 

 

 

Michael Brielmaier

4

Vor dem Labor brummen die Monsterkühlschränke, Neonleuchten flackern. Nachts legen wir die Beine in die Kühlschränke. Aber die sind heute voll. Ich trage jede Woche ein Bein herauf. Schweiß klebt mir die OP-Kleider an die Haut. Wer noch nie ein Bein in den dritten Stock geschleppt hat, weiß nicht, wie schwer es einem werden kann. Es heißt, Herzen wären schwer. Aber das stimmt nicht. Es sind die Beine.

Mein erstes Jahr nach dem Examen. Die im Ersten schaffen die Beine weg. Oder die ganzen Toten. Sie werden durch den Park in die Pathologie gekarrt, dort muss man die Hausmeisterin herausklingeln, was dauern kann, wenn sie getrunken hat, falls sie es überhaupt hört. Falls nicht, muss man die Toten wieder mitnehmen. Man kann sie nicht vor der Tür lassen. Sonst kommen die Katzen.

Der Tag war endlos gewesen, angefüllt mit Unsicherheit, Ekel, Angst und prallen Späßen gegen all das. Abends hatten sie sich entschlossen, doch noch zu amputieren. Matzke hatte aufgefiebert. Seine Zehen waren seit einer Woche schwarz, doch über den Tag hatte sich die Entzündung nach cranial ausgebreitet. Deshalb musste ich ihn mit dem klapprigen Aufzug in den septischen OP kutschen. Ich hatte nie Angst in dem Ding, Matzke schon. Er nahm meine Hand mit seiner schweißnassen.

„Bring es mir, Mädchen“, sagte er.

Ich mochte Matzke nicht. Ein alter Sack mit dreckigen Witzen, hinkte in den Konsum im Park, holte Goldbrand und Zigaretten für alle. Nachts war die Hölle los auf der Traumatologischen. Die Jungs, zwanzig in einem Saal, mussten tags immer geflickt werden, wenn sie sich wieder geprügelt hatten.

Heute war Matzke nicht im Konsum. Das Fieber.

„Was?“, fragte ich.

„Mein Bein. Ich kann es nicht hier lassen. Hab es durch Verdun, Stalingrad und den VEB Interdruck gebracht. Ich mag es. Ich kann es nicht im Stich lassen.“ In seinem Blick glänzte das Fieber. Es machte ihn jung.

Der Fahrstuhl rappelte und hielt.

Der erste Schnitt ist der schlimmste. Heiles gibt plötzlich sein Inneres frei.

Er verlief eine Handbreit überm Knie. Eine halbe Stunde später – grobe Nähte, Verband, Warten. Sie setzten mich neben Matzkes Erwachen.

„Bring es mir“, sagte er durch die Narkoseschleier. „Du bist die Einzige …“

„Aber …“, sagte ich.

 

Ich kann es doch nicht einfach liegen lassen, allein neben dem Monsterkühlschrank. Das ist nicht richtig. Also gehen wir, das Bein und ich, die Treppe wieder hinab.

Auf der Station ist es still. Ich winke dem Pfleger zu, sage: „Matzke“, er nickt. Schmales Licht hängt im Raum. Matzke stöhnt. Ich gebe ihm sein Bein.

Er streichelt es.

„Was wollen Sie mit ihm machen?“

„Begraben.“

„Aber Sie können nicht. Bis Sie heil sind, stinkt es.“

Morgen werden sie es ihm noch einmal nehmen, nach oben tragen zum Monsterkühlschrank. Ich kann Matzke nicht leiden ... Er legt seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich verstehe ihn.

„Okay“, sage ich, spüre die Wärme seines Beines durch das Tuch.

Dann gehe ich mit dem Bein hinaus in den Park, finde in der Gärtnerei einen Spaten und hoffe, dass die Katzen mich nicht gesehen haben.

 

 

 

Anne Kuhlmeyer

5

Nachts über die Landstraße fahren, morgens hunderte Insekten von der Windschutzscheibe kratzen, von den Scheinwerfern, vom Lack, mit dem Insektenschwamm, einem Block aus rauhem Plastik, getunkt in graues Wasser. Von den meisten Organismen bleibt nur ein Fleck Körperflüssigkeit, meistens gelb, selten rot, aus dem Chitinpanzerreste und einzelne Flügel abstehen. An den heißen Stellen der Motorhaube verbacken diese Reste zu weißen Krusten, die kaum abzureiben sind. Das Licht zieht sie an, Mücken und Fliegen, nicht nur sie, auch die viel größeren Tiere, die am Straßenrand liegen, die gebrochenen Augen als falsche Reflektoren strahlend, den Verkehr in die Irre führend, erst in den Graben, dann ins Feld. Dort liegt ein Geländewagen, vom Überschlag aufs Dach gedreht, vor ihm steht ein Mann in der Furche, in den Lichtkegeln schwankend, ich rufe ihn heran, er kommt, stolpert, fängt sich, geht weiter, durch die Insektenwolke vor meinen Scheinwerfern, steigt ein. Er riecht nach Erde. „Nichts passiert.“ Wir könnten ins Krankenhaus fahren. „Nein. Nach Hause.“ Wirklich? „Nach Hause! Alles in Ordnung.“ Sein Haus liegt am Rand des übernächsten Dorfs, er steigt aus, patscht mit seiner Hand auf den Lichtschalter am Eingang, die Motten kommen, umflattern die Energiesparlampe. Die Tür fällt hinter ihm von selbst ins Schloss.

 

Dr. Hans Mordt

6

Ich bin gestorben. Mehrfach. Ein erstes Mal im letzten Jahrhundert. Ich starb, wie man so stirbt. Ich hatte keine Lust mehr. Drum las ich, wie es wohl möglich wäre, sein Leben umstandslos zu beenden. Alles Nötige besorgte ich mir. Dann führte ich es aus in einem ausreichend unbeobachteten Moment. Den Mut musste ich zusammennehmen, doch um uns herum sind kulturelle Zeugnisse zu Todessehnsucht und Selbsttötungswunsch stets quirlig in Bewegung. Ich gewann Entschiedenheit und Klarheit, mich umgehend verscheiden lassen zu wollen. Dann ging es ganz leicht. Ich war weg. Unordnung setzte erst wieder ein, als andere sich bemühten, mich dem süßen Tod zu entreißen. Versaut und verschmiert war das alles, sie kreischten und wimmerten wild und sorgenvoll, ratlos. Sehr gut konnte ich sie verstehen, einerseits. Wäre ich nicht genauso entsprechend den Gepflogenheiten in Schrecken und Abwehr gewesen? Andererseits fand ich das merkwürdig und eigenartig: Warum musste es mir so befremdlich und schwer gemacht werden? Konnten wir einander es nicht einfach gestatten, so leichtherzig aus der Welt zu verschwinden, wie wir in sie geraten waren? Das wünsche ich mir. Ich erschrak darüber, wie sehr sich andere erschraken. Es erleichterte mich doch. Es ließ mich postum leben. Ich hatte ein Freispiel. Die Welt betrachtete ich nun mit Freude, Spiellust und Liebe; mit Genuss und deutlich leichter, als es mir jemals zuvor möglich war. Ich liebte es, gestorben zu sein. Nun war alles auf Abruf, vorläufig, ein Ausprobieren, Malsehen. Vermutlich liebte ich mich selbst auch dafür; aber dieser Ichstolz ist wohl eine Nebenwirkung. Da gibt es Schlimmeres. Das zweite Mal sterben war dann weniger nonchalant. Eine gewohnheitsmäßig anstehende Untersuchung brachte eine durchaus tödliche Krankheit zutage. Vor wenigen Jahren war dies. Umgehend wurde mir dann, zwei Tage nach der abendlichen Feststellung, der Kern dieser Erkrankung entfernt. Es begann eine mehrere Monate lange Heilung, die eine Reise hinab in das Selbstverschwinden umfasste. Just die Heilmittel waren es, die mir Schmerzen, Ermüdung und Schwächung beibrachten. Doch ich konnte, ich musste ja glücklich sein: in solchem halbbewussten, halbschläfrigen Dösen und Warten und Aushalten sollte es mir gelingen, wieder zu gesunden. Ich las; ich schlief; ich aß und schrieb. Und am Ende – so scheint es bis heute – wurden keinerlei Reste der tödlichen Wucherung mehr aufgefunden. Hier starb ich zum Zeitpunkt der ärztlichen Krankheitsfeststellung. Ich entschwand darin ein Stückchen mehr. Dieser Tod war ebenso deutlich erleichternd und entlastend. Das Restleben erschien mir mit einem Mal nur noch als eine unsicher fragliche Möglichkeit, eine amüsante Gelegenheit – nicht mehr als unausweigerlich zu bewältigende Tortur. Das machte mich froh. Konnte ich doch nun noch mehr wagen, noch mehr erfinden und in die Welt setzen. War es nicht so: Bei Menschenähnlichen ist Depression die Grundeinstellung. Ich aber hatte wieder ein Freispiel gewonnen. Wie schön.

 

Holger Schulze

7

Da sitzt du dann, mittendrin. Eine der Stimmen aus dem Off fragt, ob’s noch ein Espresso sein darf. Du schüttelst den Kopf und die Musik spielt dazu. Big girls don’t cry. Das Jetzt klebt wie eine zu enge Bluse an deinem aufgeblähten Ich, als ob jemand all diese Menschen mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Gedanken, von denen dir übel wird, mit hinein gestopft hätte in dein Leben. Jetzt, wo du hier mittendrin sitzt, merkst du, dass alles viel zu eng ist, um darin zu leben. Du denkst das auch, genau in dem Moment: „Darin kann man nicht leben“ und nickst dazu, weil sonst keiner hier ist, der dir folgen könnte. Deine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als ob es später Kopfschmerzen geben wird. Und alles nur, weil jemand gestorben ist. Sonst, ja, sonst wäre es hier nicht laut und lärmend, sondern wie immer und überhaupt wärst du sonst gar nicht hier.

 

Keiner wird verstehen, warum du einfach gegangen bist. Du kannst es dir selbst nicht erklären, aber es war wichtig sich dem Dort zu entziehen und sich stattdessen dem Hier – ja, sogar diesem Playmobillachen in Coral Red da hinten – auszusetzen. Hier kennt dich wenigstens niemand. Das ist besser so. Obwohl dich auch hier der Ekel anfällt vor all dem Leben, das keines ist und das sich dessen noch nicht einmal bewusst ist. Wie sie alle Handgriffe des Lebens vollführen und nichts davon spüren. Womit du nicht gedacht haben willst, dass man sich nur im Angesicht des Todes lebendig fühlen kann. Das wäre kitschig. Als ob es extremer Gegensätze bedürfte, um das Gebiet dazwischen zu kartographieren. Blödsinn. Es bedürfte lediglich dieses einen Augenblicks, in dem das Bewusstsein sich über das Dasein erhebt, in die Hände klatscht – oder deinetwegen auch auf den Fingern pfeift – und sagt: „Hey, das hier ist ein Leben.“ Aber vor lauter Getue kommt es nicht dazu. Es hätte die Zeit gar nicht, so unermüdlich ist es im Einsatz, all die Formalien des Am-Leben-Seins am Laufen zu halten. Augenkontakt nicht zu lang halten, aber auch nicht sofort angewidert wegschauen. Nicht den Mund offen stehen lassen. Haltung aufrecht, bloß nicht öffentlich mit zuckenden Schultern in sich zusammensinken. Das gehört sich nicht. Du musst weghören, bloß immer schnell weghören oder zumindest nicht sichtbar auf das Gehörte reagieren.

 

Halten diese Menschen die grellen Farbfotos auf der Plastikspeisekarte für appetitlich? Hat jemals einer von ihnen auf einer echten Bruschetta solche Rot-, Orange- und Gelbtöne erblickt? Natürlich nicht. Und falls doch, sie hätten nicht reingebissen. Mettkuchen, denkst du, Omas Mettkuchen mit Lauch. Den können auch olle Lüt noch beißen, sagte Oma immer. Du siehst, wie sie sich über das Backblech beugt, um die steingraue Masse in Rechtecke zu schneiden, während hier, mittendrin in dir, Ruhe einkehrt. Über die Musik hinweg rufst du ins Off: „Einen Espresso, bitte!“ und, wer weiß, vielleicht lächelst du sogar ein bisschen dabei.

 

 

Simona H.

8

Als unser kleinwüchsiges Meerschweinchen nicht mehr konnte, trotz Astronautennahrung immer schwächer wurde, aber stehenblieb. Als es schließlich sein Kinn auf den Boden stützen musste und dann schließlich umfiel und starb – das war meine erste bewusste Begegnung mit dem Tod.

Als meine Großeltern von uns gingen, nach und nach, über einen Zeitraum von sieben Jahren. Darauf war ich vorbereitet, damit rechnet man. Dass die Großeltern zuerst gehen.

Als erst die Mutter und dann die Schwiegermutter meiner besten Freundin starb. Viel zu früh und doch – eine Generation über uns, die gehen vor uns.

Als Marion starb und wir sie monatelang hatten kämpfen sehen. Jemand aus meiner eigenen Generation.

Als das herzkranke Gastkind aus Afghanistan zu uns kam und gerettet wurde. Als ich es an der Schleuse zum OP abgeben musste und mir sicher war, dass alles gut wird – und mehr geheult habe als bei jedem Todesfall, den ich bis dahin erlebt hatte.

Als mir hinterher gesagt wurde, dass es in den nächsten Monaten gestorben wäre.

Als ich den gesunden Jungen wieder nach Afghanistan zurückschicken musste und seitdem bei jeder Schreckensmeldung aus diesem Land Angst um ihn habe.

Der Tod hat viele Gesichter. Am gemeinsten sieht er aus, wenn er um die Ecke lugt. Wenn er dann da ist, verliert er seinen Schrecken. Es ist traurig, jemanden gehen zu lassen. Traurig für diejenigen, die zurückbleiben. Sie haben Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Vergessen. Geliebte Menschen vergisst man nicht. Die optische Erinnerung wird schwächer, aber das Gefühl, das diese Menschen einem zu geben vermochten, bleibt.

Der Tod macht aus einer vollkommenen Liebe eine unerfüllte. Eine Liebe, die ins Leere geht. Doch das Gefühl bleibt. Ich denke gern an die Menschen, die ich verloren habe und ich finde es schade, dass sie nicht mehr da sind. Auch nach all den Jahren. Und ich bin froh, dass ich sie kennen durfte. Geht meine Liebe ins Leere? Ist das überhaupt noch Liebe? Ich weiß es nicht. Aber es ist ein gutes Gefühl.

 

„Wir sind abgängig“, sagte meine Großmutter mit Anfang achtzig.

„Die Einschläge kommen näher“, sagt mein siebzigjähriger Vater.

„Als ich noch tot war, ...“, sagt mein vierjähriger Sohn über die Zeit vor seiner Geburt.

 

 

 

Gesa Füßle

9

Zu meinen Lieblingsbüchern zählen Arthur Rimbauds Seher-Briefe, in denen er (mit fünfzehn oder sechzehn Jahren) die mentalen Verschiebungen beschreibt, die Voraussetzung für sein Schaffen waren. Fünf Jahre später schrieb er seinen letzten Text und wurde Waffenhändler in Afghanistan, kurz darauf verstarb er unter ungeklärten Umständen. Die Blaupause meines Lebens.

 

Rafael Horzon

10

Es war im Sommer 2005, bei einem Besuch in Innsbruck. Die Großmutter meiner Freundin Julia lag im Krankenhaus. Die Ärzte gaben ihr noch ein paar Tage. Sie war verwirrt, hilflos wie ein Kind, bettelte ständig darum, nicht allein gelassen zu werden. An mich konnte sie sich, obwohl wir uns einige Male vorher begegnet waren, nicht erinnern, zeitweise vergaß sie ganz, wo sie war und was mit ihr los war. Mir machte die Situation Angst, deshalb hielt ich mich abseits, meist stand ich, wie ein Bauer beim Schach, schräg hinter Julia. Einmal merkte ich, dass die alte Frau mich offenbar mit Blicken suchte, zumindest reckte sie den Kopf und deutete in meine Richtung. Ich erwiderte ihren Blick und versuchte, freundlich zu lächeln. Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht und sie zischte wütend: „Lach mi net aus!“ Ich erstarrte. Julias Mutter beruhigte sie und erklärte ihr noch einmal, wer ich war, aber die alte Frau schüttelte nur den Kopf über die erlittene Beleidigung. Ein Blick, den man nicht vergisst: hasserfüllt, verzweifelt, in tiefster Würde verletzt. „Er lacht mi aus!“, erklärte sie ihrer Tochter. Sie weinte. „Wer is der? Wer is der?“ Man tröstete sie. Eine Krankenschwester war da und wiegte, da keiner der Verwandten mehr als eine Hand der alten Frau ergreifen wollte, sich kurz mit ihr hin und her; solche Menschen gibt es. Über die Ellenbeuge des Krankenschwesterarms starrte sie mich an, hielt dem entsetzlichen Anblick stand, so lange sie konnte, dann presste sie ihre Augen gegen den Stoff. Ich bot an, rauszugehen, aber man hielt mich zurück und wiederholte die Sätze, die meine Anwesenheit erklären sollten. Nach dem Besuch gingen wir – ich weiß nicht mehr, weshalb – in den Hofgarten. Es regnete ein wenig. Wir wanderten unter den finsteren Bäumen herum. Für einen Moment dachte ich tatsächlich: Sie wird es vielleicht noch einsehen, ihren Irrtum, sich erinnern, wer ich bin. Dummkopf.

Natürlich war dies das letzte Bild von mir, das sie mit ins Grab genommen hat: der fremde junge Begleiter, der sie in ihrem Todesmartyrium auslachte. Eine geisterhafte Erscheinung, unerklärlich, scheinbar von niemandem bemerkt, trat gleich hinter ihrer geliebten und sehnsüchtig erwarteten Enkelin ins Zimmer, mit heiterem, schadenfrohem Gesicht. Immer wieder versuchte sie, das Phantom mit Blicken zu verscheuchen. Als sie die anderen auf es hinwies, beruhigte man sie nur und hielt sie und schaukelte sie. Vielleicht würde jemand aus ihrer Familie endlich einsehen, dass hier ein Eindringling im Raum war, der ihr Angst machte. Aber niemand unternahm etwas, nicht einmal, als ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Wenige Tage nach unserem Besuch starb sie.

Die Todeserzählungen der Weltliteratur sind voll von solchen Figuren: eine eigenartig flackernde weibliche Gestalt auf einem Hausdach, ein starrender Hund auf einer Kreuzung, ein Kind mit grünen Handschuhen, ein seltsamer kleiner Ballon, der über einen Parkplatz treibt. Boten des Jenseits. Sie erscheinen dem Todgeweihten und erinnern ihn daran, dass das Ende nahe ist. Jedem sind solche Bilder vertraut, aber wer würde es für möglich halten, einmal selbst eines zu sein? Doch an jenem Tag geschah genau dies: Ich war der Tod, der zur Tür hereinkam. Nach mir gab es keine Rettung mehr.

 

 

Clemens Setz

11

Mord als schöne Kunst zu betrachten – das ist mein Beruf. Verlage bezahlen mich, um quasi „im Auftrag“ zu töten. Auf dem Papier.

Warum mache ich das? Bin ich krank im Kopf? Lasse ich fiktives Blut fließen, um keine echte Täterin zu werden? Denkbar. Schon als Kind schlich ich mich in die Erwachsenenabteilung der Stadtbücherei, um Agatha Christie zu lesen. Weil die Schwester eines Mitschülers aus der Grundschule erwürgt wurde und ich herausfinden wollte, wie Mörder ticken? Möglich. Aber ich tippe eher auf Größenwahn: Mit einem Mord bringe ich das Chaos ins Universum meiner Bücher – und gottgleich kann ich die Ordnung wiederherstellen, indem ich am Schluss den Schurken seiner gerechten Strafe zuführe. Das ist enorm befriedigend. So weit, so gut. Deshalb schreibe ich Krimis. Jedoch keine Spannungsliteratur.

Meine Bücher sind weder blutrünstig noch grausam – sie sind humorvoll. Ja, in der Tat. Auch den Tod betrachte ich mit einem Augenzwinkern. Nicht nur fiktiv, auch real. Mit 19 erkrankte ich schwer, hatte in den folgenden drei Jahrzehnten zwei Nahtod-Erfahrungen, und beide Male war es zwar physisch unschön, aber innerlich blieb ich ganz ruhig – und das sicher nicht aus einer durch jahrelanges Meditieren gewonnenen Gelassenheit heraus, nein, beim Meditieren schlafen mir immer die Beine ein – einfach aus dem völlig unerklärlichen, aber tiefen Wissen heraus, dass alles gut ist, so wie es ist, egal, was kommt. Zweimal spürte ich, nee, es ist noch nicht soweit. Aller guten Dinge sind drei ... bin sehr gespannt, wie es beim nächsten Mal sein wird. So oder so, alles ist gut. Das gibt mir die Gelassenheit, mit dem Sensenmann zu spielen. Ihn schmunzeln zu lassen.

Always look on the bright side of life. And death.

 

 

Tatjana Kruse

12

 

… was nicht von Google gefunden wird, ist wirklich tot.

 

 

Frank Krings

13

„Otto war in die Küche gegangen, hatte nach dem Messerblock gegriffen, die Luft in Streifen geschnitten und etwas mit Umbringen geschrien, sie alle umbringen. Ihr war der Schreck in die Hose gefahren statt in die Knie, es war warm geworden zwischen ihren Beinen“, so schreibe ich in meinem ersten Buch Annalieder über eine fast wahre Begebenheit. Denn nein, in die Hose gemacht habe ich nicht, weder groß, noch klein, als der Freund meiner Mutter – vom Arschloch Leben deprimiert, vom Teufel Alkohol aufgewiegelt – mich um mein eigenes Leben betteln ließ. Mein Darm war wohl bereits entleert gewesen, ansonsten könnte es nämlich schon mal in die Hose gehen, wenn dich jemand abstechen will. Und das müsste dir auch nicht peinlich sein, weil so etwas bestimmt weh tut. Würde ich heute sagen. Aber damals – es war die Zeit des „Fall Lucona“ und Otto trug einen ähnlichen Nachnamen, wofür ich Schulspott erntete, als hätte ich auch für die Morde des Udo Proksch meinen Hals hinzuhalten – war mir das peinlich, dass es bei uns zu Hause „so“ war. So peinlich, dass ich, im stillen Einvernehmen mit meinen Geschwistern, lieber kein Wort darüber verlieren wollte.

Besser kreidebleicher Klassenclown. Und nach der Schule die Messer fürs Kochen unter den Kästen hervorholen, unter die wir Kinder sie geworfen hatten, nachdem die Mutter sie ihrem „Freund“, als er weinerlich geworden war über sein Unglück, jemanden töten zu müssen vor Wut, doch noch hatte abnehmen können. Die Wohnung waffenfrei zu machen, war eine weise Entscheidung gewesen, noch weiser wäre gewesen: Polizei, bei vielen Anlässen geht so, bei solchen potent. Denn „immer wieder werden Kinder Opfer tödlicher Familientragödien. Die folgende Chronik dokumentiert spektakuläre Fälle in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren“, lese ich beim Googeln. Ist das eine Tragödie? Ist es eine Komödie? Dass es in modernen Zeitungsredaktionen noch immer common sense ist, diese Morde als spektakuläre Tragödien zu definieren, ist komisch. Komisch in der Definition von seltsam. Erinnert mich übrigens an den pater familias, dem im römischen Haushalt die Macht über Leben und Tod „seiner“ Frau, Kinder und Sklaven zukam. Egal ob römische oder griechische Tragödie, es scheint nicht als Mord anerkannt zu werden, solange es in der Familie bleibt. Hier müsste der Presserat auf den Plan treten und den Zeitungsredaktionen aller Länder Theaterabos finanzieren, um ihre Katharsis dort abholen zu können.

Dass ich aufgrund einer Messerphobie ungern mit anderen koche und nie freiwillig in Kinofilme übers Kochen oder Bill Killen ginge, scheint logisch. Unlogisch scheint, dass ich vom Tod auf erschreckende Art fasziniert bin. Mir leuchtet das ein: Er lässt mich nicht los, weil er mich mindestens zweimal fast gehabt hätte. Seitdem ist er hinter mir her, denn er kommt sich um mich betrogen vor. Und habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich ästhetisch platzierte Messerblöcke in modischen Musterküchen abscheulich unästhetisch finde?

 

 

Nadine Kegele

14

Auf dem Weg zum U-Bahnhof liegt eine kleine Ladenstraße. Viele Geschäfte stehen inzwischen leer, seit vor zehn Jahren eine große Einkaufspassage ein paar Straßen weiter aufgemacht hat. Zwischen zwei Imbissen, einem Koreaner und einem Pizzaladen, liegen zwei Bestattungsinstitute. Es gibt keine Bestattungsinstitute in Einkaufspassagen, dort ist kein Platz für sie. Wer einen solchen Ort betritt, dem ist schwierig zu vermitteln, dass Konsum Glück verheißt. Wer hier kauft, hofft, nicht noch einmal kommen zu müssen. Und nirgendwo fühlt man sich weniger als Kunde als hier.

Und trotzdem sehen Bestattungsinstitute aus wie normale Geschäfte; mit ein bisschen Umgestaltung könnte man dort auch ein Versicherungsbüro eröffnen. Tatsächlich hat einer der Läden in seinen riesigen, abgedunkelten Schaufenstern aufwändig gearbeitete Schiffsmodelle stehen, die alle etwas angestaubt wirken – als würde man eine große Fahrt antreten. Natürlich ist das eine gängige Metapher, aber was macht sie aus einem Bestattungsinstitut? Ein Reisebüro für die letzte Überfahrt. Sterben als Tourismus.

Es hat etwas rührend Verzweifeltes, wie Bestattungsunternehmen versuchen, die Verstorbenen als Kundschaft zu behandeln. Aber es hilft ja nichts, wenn die Einnahmen wegbrechen; man muss sich doch anpassen. Das dachte jedenfalls irgendein Bestattungsverband, der vor einiger Zeit eine groß angelegte Kampagne startete, Titel: „Wer nicht wirbt, stirbt“.

Jahrhundertelang war das Motto von Bestattern: Ob früher oder später, tot ist tot, Hauptsache Blumen. Die Grundlage ihrer Existenz war Vergänglichkeit. Jetzt sagen sie, man könne dem Tod entgehen, wenn Plakate in der Stadt hängen.

Es gab bei diesem „Werben oder sterben“-Wettbewerb ein Motiv, das den Schriftzug „Bestimm Dein Endspiel selbst!“ trug, und ich dachte: Frankreich – Italien. Sie haben jugendliche Motive genommen; ein junger Mann, der einen Ball vor sein Gesicht hält, mit Mütze auf dem Kopf. Darunter steht „Vorsorge – eine Sorge weniger“. Der Claim selbst ist in einer lässigen Schreibschrift gehalten, so wie sich 60-jährige Lateinlehrer Graffiti vorstellen. Anfang der 90er haben Jugendbuchverlage mit ähnlicher Motivik und Gestaltung versucht, ihr Publikum anzusprechen; kurzum: das ganze Plakat ist Hilflosigkeit gewordenes Papier.

Und es war kein Ausrutscher. Es war der Gewinnerentwurf.

Kein Wunder, dass andere Bestatter, die von der Notwendigkeit der Werbung überzeugt sind, alternative Ansprachen in Betracht gezogen haben. In Berlin, auf der Frankfurter Allee, sitzt ein Institut, das auf einem großen Plakat im Schaufenster den Satz stehen hat: „Nie mehr zu viel bezahlen!“ Oh ja, das soll meine letzte Sorge sein! Nicht etwa, dass mehr Licht zu meinem Sterbebett dringt oder ich mich mit einem verlorenen Familienmitglied versöhne; nein, mein letztes Hemd soll abbezahlt sein. Als könnte es mir nicht völlig egal sein, ob mein Körper posthum Orkas verfüttert wird oder anlässlich einer Sportveranstaltung als Feuerwerk über die Eröffnungsfeier herunterregnet.

Ganz gefährlich sind jene Bestatter, die den Pakt mit dem Teufel eingehen und sich an Humor versuchen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sich ein Haufen wachsgesichtiger, steifer, tiefschwarz gekleideter Chefbestatter in einen mit kleinen Gedenkkränzen dekorierten, vollfurnierten Konferenzraum begibt, um sich von einer Agentur aus Kaufbeuren „junge, frische Ideen“ präsentieren zu lassen. So muss es bei der Vorstandssitzung des Großkonzerns welt-bestattung.de gewesen sein, der vor ein paar Jahren Zeitungsanzeigen schalten ließ, mit dem jetzt schon legendären Satz: „Bei uns liegen Sie richtig“. Ich hab ihnen sofort geschrieben, um sie zu fragen, ob sie sagen würden, ihr Service sei absolut unterirdisch. Leider hat mir nie jemand geantwortet.

Der Tod ist keine lustige Angelegenheit, jahrtausendelang wusste die Branche das. Nur der Kapitalismus hat sie vom Gegenteil überzeugen können, und das ist bedauerlicherweise noch nicht einmal sein größtes Verbrechen.

 

 

Frédéric Valin

15

Er sah die Lichter näher kommen, das Leder wurde ihm unter den Händen weggerissen, dann kam das Fahrzeug zum Stehen. Kein kreischender Reifen, kein knirschender Asphalt. Der Regen hatte aufgehört, auf das Blechdach zu trommeln. Die Tür ließ sich geräuschlos öffnen, das Warnsignal blieb aus. Das Fahrzeug hatte sich quer gestellt, als die Bremsen versagten. In seiner Erinnerung, die langsam verblasste, hatte es sich mehrfach gedreht. Aber das Ergebnis blieb das gleiche. Andere Autos, hätte es sie gegeben, wären ohne eine Chance auf Abbremsen in die Seiten des auf dem Mittelstreifen stehenden Fahrzeugs gekracht. Der zerbrechliche alte Lada wäre zum Spielball zwischen den Spuren geworden. Aber nichts dergleichen war geschehen.

Er fuhr sich durch das noch schweißnasse Haar. Er war auf dem Weg gewesen. Irgendwohin. Es war wichtig, aber er erinnerte sich nicht. Hatte es einen Unfall gegeben? Keine Bremsspuren im Halbdunkeln. Kein Kratzer am Auto. Kein Blut an seiner Kleidung. Es war, als wäre dies nicht die Straße, auf der er eben noch ins Schleudern gekommen war. Und die Farben verblassten wie das Wissen darum, was geschehen war. Der graue Asphalt vibrierte unter ihm, als führen schwere Laster die Straße entlang. Doch da waren keine Wagen. Niemand außer ihm. Nur die Nacht pulsierte schwarz-blau.

Ein heller Fleck am Horizont. Vielleicht ein anderes Auto. Vielleicht Hilfe? Hilfe wobei. Er ging zurück, setzte sich ans Steuer, wartete. Eine zeitlose Ewigkeit, dann konnte er das andere Fahrzeug ausmachen. Es bewegte sich langsam voran, als schleiche es durch einen dicken Nebel. Und mit ihm trug der seichte Wind ein Dröhnen herüber. Ein Dröhnen wie von schwerem Gerät, von Schallwellen, die aus riesigen Lautsprechern wummern, von berstendem Trommelfell. Doch er konnte nicht reagieren, sich die Ohren nicht zuhalten. Es schien überall und nirgends. In seinem Kopf, in seinen Gliedern. Je näher der Wagen kam, je deutlicher das Scheinwerferlicht sich gegen die Nacht abzeichnete, desto mehr hatte er das Gefühl, es würde ihn zerreißen, das dumpfe, tiefe, eintönige Geräusch. Unter den Bass mischte sich ein Geräusch wie brechendes Eis. Die Fläche eines Sees im Winter. Eines weiten Sees, auf dem sich Risse nur langsam voranbewegen. Und dann sah er sie. Feine Haarrisse auf der Frontscheibe. Er berührte sie mit den Fingerspitzen.

Nun konnte er den anderen sehen. Er machte den Umriss eines Fahrers in der Kabine des Trucks aus, der die Straße entlang gekrochen kam, unweigerlich auf ihn zu. Der Mann musste ihn gesehen haben. Er wollte aussteigen, winken, aber seine Beine wurden schwer. Zu schwer, um die Pedale zu erreichen. Seine Arme wie Blei. Blei, das sich nach dem Sicherheitsgurt ausstrecken wollte und das Lenkrad erreichen. Und dann begriff er.

Mit dem ersten Schlag war die Welt wieder da. Doch nur für wenige Sekunden. Der Truck, der gerade noch in Zeitlupe auf ihn zugefahren war, riss die Unterseite des Wagens auf, als er ihn wie ein wütendes Rhinozeros über sich hinwegschleuderte. Der Lada flog durch die Nacht. Es war laut, es war kalt und es dauerte nur einen Augenblick. Dann waren Auto und Straße verschwunden. Und die Stille beruhigte ihn, während er aufhörte, zu existieren.

 

 

Samael Falkner

16

Die Sache ist: Das passiert wirklich. An den öffentlichen Orten, an denen ich mich nie mit dem Rücken zu Tür setzen will, in den Flugzeugen, in denen mein Herz bis zur Landung viel zu schnell schlägt, und in denen ich die Nieten an den Flügeln niemals aus den Augen lasse. Sie passieren wirklich, diese Katastrophen, die ich sehe, bevor sie niemals statt finden.

Ich erinnere mich: Ich sitze auf dem Balkon und spüre den Sommer nicht, nicht so wie sonst. Es ist ein Sommertag, Hochsommer zwar, aber einer von den Tagen, die kühler sind, als sie sein sollten. Trotzdem sollte da Sonne auf meiner Haut zu spüren sein, gerade zu der Zeit, abends, da fällt das Licht immer in den Hinterhof, direkt auf unseren Balkon, auf die Sonnenblumen, die Tomaten, da spiegelt es sich in den hundert Fenstern und malt Lichtmuster überall hin.

Ich sehe dieses falsche Bremsmanöver, das das Auto in die Leitplanke schleudert, ich sehe jene Flugzeugklimaanlage, die in der Nähe des Kerosintanks heiß läuft, so dass ich kurz vor der Landung doch noch als Feuerball in einer dieser Flughafenvorstädte ende. Das fühlt sich an, wie diese Sätze, die ich manchmal träume, die es sich nachts mit Widerhaken dort bequem machen, wo auch die Ohrwürmer leben, und den ganzen Tag bleiben.

Ich betrachte die Tomaten, die in diesem Jahr nicht rot werden wollen, harte, grüne Dinger, die anders gedacht waren.

Der Satz, der kommt, plötzlich, dann feststeckt: Was, wenn sie nicht wiederkommt?

Eigentlich müsste Sommer sein, ist es aber irgendwie nicht, eigentlich müssten die Tomaten schon längst rot sein, sind sie aber nicht.

Sie müsste schon längst zu Hause sein, vor einer Stunde schon, vor zwei, vielleicht. Ist sie aber nicht.

Was, wenn sie nicht wiederkommt?

Ich kenne ihre Fahrradstrecke, da ist eine Kreuzung, groß, mit viel zu vielen Ampeln und Kunst im öffentlichen Raum, die im Weg steht.

So etwas passiert, oder? Blutige Schleifspuren auf großen Kreuzungen, wie Autos in Leitplanken, wie Feuerbälle in Flughafenvorstädten.

Was, wenn sie nicht wiederkommt?

Auf die Wand gegenüber im Hinterhof malt das Licht eine Form wie ein x an die Wand.

Ich sehe eine Fahrradfahrerin, auf einer Strecke von zehn Minuten vielleicht, ich sehe sie hundertmal verunglücken. Straßenbahnen, Autofahrer, Fußgänger, andere Fahrradfahrer: Auf der Strecke gibt es nichts, was nicht gefährlich wäre.

Ich sehe mich das Telefon hören, ich sehe mich das Telefon abnehmen, ich sehe mich den ersten sein, der die Nachricht hört. Ich sehe mich telefonieren, ich rufe ihre Eltern an, ihre Geschwister. Ich frage mich, wie sowas geht. Wie man sowas macht. Diese Telefonanrufe allein. Und dann: ihr Zimmer ausräumen, diese tausend kleinen Gegenstände, die ich alle kenne. Umziehen, wahrscheinlich, raus aus der Wohnung mit den viel zu vielen Erinnerungen. Wie macht man das? Wegwerfen, weggeben, umziehen? Wie macht man weiter? Muss man weitermachen? Wie steht man morgens auf, wie geht man abends ins Bett? Wie erzählt man davon? Was, wenn sie nicht wiederkommt?

 

 

Jan Fischer

17

Am Sonntagabend dann der Anruf. Sie frage nach mir, ob ich kommen könne. Und, ja, natürlich kann ich kommen, das heißt, eigentlich kann ich nicht kommen, eigentlich habe ich Montag Termin auf Termin, aber das wird schon gehen, sicher komme ich, morgen, am späten Vormittag. Den restlichen Abend verbringe ich mit Telefonaten, Terminverschiebungen, Onlinestellen zu bearbeitender Artikel. Das geht alles. Abfahrt 8 Uhr 32, ICE 279, Berlin-Kassel, zur Weiterfahrt über Frankfurt nach Mainz.

Montag ist Rosenmontag. Das kennt man in Berlin nicht, aber in Mainz ist Rosenmontag Ausnahmezustand. Auch in Berlin wohnen Menschen, die sich diesen Ausnahmezustand herbeisehnen. Einige Jahre lang versuchten sie, Rosenmontagszüge Unter den Linden zu organisieren. Rosenmontagszüge, die allerdings keinen interessierten, und ohne öffentliches Interesse gibt es keinen Ausnahmezustand. Also fahren sie nach Mainz. Im ICE 279. Sie trinken, frühmorgens, Trinken muss sein, ohne Trinken ist es kein Ausnahmezustand. Sie haben einen Ghettoblaster dabei. Sie sitzen im Großraumabteil, Wagen 7, zweite Klasse, fünf Stuhlreihen hinter mir. Ich versuche, einen Artikel fertigzustellen, meine Gefühle fahren Achterbahn, mir war klar, dass dieser Anruf über kurz oder lang kommen würde, „Sie fragt nach dir“, ich konnte mich auf die Situation vorbereiten, das wird schon gehen. Nichts geht.

Es geht aber auch deswegen nicht, weil es scheppert und grölt, fünf Reihen hinter mir. Warum ist es am Rhein so schön. Zieh dich aus, kleine Maus, mach dich nackig. In München steht ein Hofbräuhaus, warum auch immer. Wir bauen eine U-Bahn, von Frankfurt bis nach Auschwitz, meine Güte. Hinter Braunschweig platzt mein Kopf. Ich drehe mich um, brülle den erstbesten Karnevalisten an, „Könnt ihr vielleicht mal still sein? Ich versuche, zu arbeiten!“ Ein Fehler: von diesem Moment an haben sie mich auf dem Kieker. „Och, der Arme, er muss arbeiten!“, „Seid doch mal still, da vorne muss einer arbeiten!“ Ein paar Karnevalisten wanken nach vorn, um mir über die Schulter auf den Bildschirm zu linsen. Zuerst denke ich, dass sie mir gleich eine reinhauen, wäre mir egal, aber sie drehen gleich wieder um. Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen, wahrscheinlich haben sie kapiert: Das ist jetzt ernst. Von nun an lassen sie mich in Frieden, was nicht heißt, dass sie still sind, sie singen und saufen und grölen weiter, aber sie ignorieren mich dabei. Irgendwann übergibt sich einer, irgendwann fangen zwei einen Streit an. Ich liege in Watte.

Hildesheim. Göttingen. Kassel-Wilhelmshöhe. Raus, ich habe nichts gearbeitet. Hinter mir noch ein paar einsame Rufer: „Viel Spaß beim Arbeiten!“ Viel Spaß. Ich will, dass sie, ach, nein, ich will eigentlich gar nichts. Nur weil ich einen schlechten Tag habe, muss ich ihnen nicht auch den Tag verderben. Auf Gleis 2 zurückbleiben bitte, Ihr Zug fährt jetzt ab. Straßenbahn, Krankenhaus. Kannst du kommen?

 

 

Falk Schreiber

18

Laura Sonnefeld