Peter Horn

Im Liede wehet ihr Geist

Hölderlins späte Hymnen

ATHENA

Beiträge zur Kulturwissenschaft

Band 26

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E-Book-Ausgabe 2014

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Umschlagabbildung: Hölderlin nach dem Pastell von Franz Karl Hiemer (1792)

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ISBN (Print) 978-3-89896-471-5
ISBN (ePUB) 978-3-89896-808-9

This material is based upon work supported financially by the National Research Foundation. Any opinion, findings and conclusions or recommendations expressed in this material are those of the author and therefore the NRF does not accept any liability in regard thereto. / Mein Dank gilt vor allem der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für ein Stipendium, das es mir erlaubte, meine Forschungen zu Jean Paul an der Technischen Universität Berlin fortzusetzen, und Herrn Professor Norbert Miller, dessen Gast an der TU ich war.

Darum ist der Güter Gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben …[1]

In neuerer Zeit endlich, da der Scharfsinn so sehr emporkommt, ists beinahe Mode geworden, dass jeder glückliche Ausleger auch eine eigne glückliche Hypothese habe. (Herder)

Zur Interpretation von Hölderlins Gedichten

Die Interpretation von Dichtung, auch der von Hölderlin, steht vor der Frage, ob die philosophisch-begriffliche Erkenntnis eine der ästhetischen Erfahrung überlegene Form der Wirklichkeitsaneignung ist oder ob eine Interpretation, die sich der begrifflichen Verallgemeinerung zu entziehen versucht, um das Besondere zu treffen, nichts weiter ist als eine Paraphrase des Gedichteten selbst. Beißner (1954, 26) fordert zwar, dass die Fragen, die die Interpretation stellt, beantwortet werden sollten, dass die Antworten aber nicht ›genauer‹ sein sollten als der Text. Man kann natürlich raten, was der Dichter ›hat sagen wollen‹, aber letztlich kann man sich nur auf das berufen, was er gesagt hat, auch wenn sich das manchmal dem Verstehen versagt.[2] Der Text selbst setzt eine Grenze, über die man nicht hinaus interpretieren darf, oder wie Rilke am 23. April 1923 an seine Frau schrieb: »Wo ein Dunkel bleibt, da ist es von der Art, dass es nicht Aufklärung fordert, sondern Unterwerfung.«[3]

Soll man also, wie de Man (1956, 29) meint, davon ausgehen, Hölderlin sei es nach einer Periode des Suchens, Wachsens und des Experimentierens gelungen, direkt und einfach zu sagen, was er sagen musste, und dass keine Paraphrase das überbieten könne? Er beruft sich auf Martin Heideggers Werk, das gezeigt habe, man könne Hölderlins Werk mit einer rein internen Exegese auslegen. Das Verstehen liege bei der Fähigkeit des Lesers, die spirituelle Erfahrung nachzuvollziehen, die mit der größten Klarheit ausgesagt wird. Nur auf diese Weise kann die Interpretation die »tagesüblichen metaphysischen Interpretationen« und die »Beliebigkeit des marktgängigen Tiefsinns« (Adorno 1981, 447) vermeiden. Nun ist aber gerade Heidegger ein Beispiel einer Interpretation, bei der der Interpret seinen eigenen Tiefsinn ohne Rücksicht auf das im Gedicht Gesagte diesem überstülpt.

Der Interpret Hölderlins sieht sich heute mit der Tatsache konfrontiert, dass schon so viele ausgezeichnete Kritiker Interpretationen geliefert haben, aber sich meist dennoch über wesentliche Aspekte vieler Gedichte nicht einigen konnten und an dem schwierigen Symbolismus und der oft kaum auflösbaren Syntax gescheitert sind. Ob das einen weiteren Versuch rechtfertigt, diese Gedichte erneut zu interpretieren, kann nicht von vornherein behauptet werden, sondern muss sich zeigen. Dazu kommt noch, dass die Methoden, Theorien und Modelle sich schneller als die Kleidermoden verschleißen und ständig wechseln.

In seiner Rezension von Pellegrinis Hölderlin’s Bild in der Forschung‹ weist Bernhard Böschenstein (1965–6b, 178) auf die Gefahren hin, die sich ergeben, wenn man auf positivistische Methoden in der Germanistik völlig verzichtet. Die damals übliche werkimmanente Interpretation versuchte Dichtung autonom aus dem Text und ohne Bezug auf die historische Situation des Autors zu begreifen und ihn so von seiner geistigen Umgebung abzuschneiden. Staiger (1955, 13) betonte, dass die Dichtung aus keiner Verkettung von Ursache und Folge, also auch nicht aus historischen Zusammenhängen, abgeleitet werden könne, und dass jegliche geschichtliche Forschung immer und ausschließlich ein Weg zur Annäherung an die Welt des Dichters bleiben werde. Staiger schreibt, wenn wir Literaturwissenschaft betreiben, »dann müssen wir uns entschließen, sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist, auf unsere Liebe und Verehrung, auf unserem unmittelbaren Gefühl«.[4] Eine der Forderungen an die Interpretation war die Benjamins (1977, 105), dass der Kritiker »die innere Form, dasjenige, was Goethe als Gehalt bezeichnete« erfassen müsse. Adorno (1981, 450 f.) lobt an der werkimmanenten Kritik: »In der Literaturwissenschaft bereitete die Wiederentdeckung jenes Prinzips ein genuines Verhältnis zum ästhetischen Gegenstand überhaupt erst vor, wider eine genetische Methode, welche die Angabe der Bedingungen, unter denen Dichtungen entstanden, der biografischen, der Vorbilder und sogenannten Einflüsse, mit der Erkenntnis der Sache selbst verwechselte.« Daher zieht Adorno (453) den Schluss: »Was wahr und möglich ist als Dichtung, kann es nicht buchstäblich und ungebrochen als Philosophie sein«. Auch wenn letztlich das genaue Lesen der Texte die entscheidende Qualität der Interpretation sein muss, kann eine genaue Kenntnis des intellektuellen Umfelds des Dichters – und damit eine durchaus positivistische Forschung einschließlich einer Auseinandersetzung mit Fragen der Edition – nicht umgangen werden, um so weniger als so viele Texte Hölderlins fragmentarisch geblieben sind und die Handschriften schwer lesbar sind. Das »unmittelbare Gefühl« trügt gerade dort, wo das im Gedicht Gesagte uns fremd und oft auch unheimlich ist – wie das bei den Aussagen von Psychotikern fast immer der Fall ist. Eine Empathie und damit ein Verständnis stellt sich erst her, wenn wir beginnen die psychotischen Denkstrukturen mit Hilfe des Psychologie zu verstehen. (Kudszus 1969, 31)

Letztlich ist es aber das Gedicht und nicht die Interpretation, was zu verstehen bleibt. Pellegrini (1965, 486) verlangte daher von der Kritik: »Auf jeden Fall ist es erforderlich, den Wert und die Bedeutung des einzelnen Worts, das Hölderlin verwendet, in den verschiedenen Satzzusammenhängen festzustellen«. »Die apriorität des Individuellen / über das Ganze« gilt auch für den Interpreten, seine Leistung ist gerade daran zu messen, wie sehr er das Individuelle jedes einzelnen Gedichts zu erfassen vermag, das eben in seiner Individualität auch das Fremdeste ist. Als Interpreten sind wir immer nicht nur mit der wesentlichen Fremdheit des Anderen sondern auch mit der des Eigenen konfrontiert. In der Einleitung zur Acta Germanica verweist Anette Horn (2008, 6 f.) auf Die Amsel von Robert Musil, wo es heißt: »Wenn ich den Sinn wüsste, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen«. Ähnlich haben sich immer wieder Dichter gegen die Auffassung gewandt, dass die Philosophie eine Art Voraussetzung oder Hilfe beim Schreiben sei. Im Gegenteil, das bereits Geordnete verdeckt die Strukturen, um die es im Roman oder Gedicht geht. Gegen diese Vorstellung wendet sich scharf und ausgesprochen Beckett: »There is no key or problem. I wouldn’t have had any reason to write my novels, if I could have expressed their subject in philosophical terms.« Elias Canetti schreibt in Die Fliegenpein kurz und bündig: »Viele Philosophen sind des Dichters Tod.« Und Jean Paul sekundiert im Hesperus: »Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens leichter in den geräumigen abgezogen Kunstwörtern der Philosophen – da die Worte, wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Unsichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren – als in den engen grünen Hülsen der Dichter.« Immer wieder haben Dichter und Romanschreiber darauf bestanden, dass Theorie, z. B. die Psychoanalyse, keinerlei Hilfe für den Schriftsteller ist (Kafka, Musil), sondern eher ein Hindernis, da bereits ausgearbeitete Strickmuster der Seele die Vorgänge, an denen der Dichter interessiert ist, nur verdecken. »Dieser grundsätzliche Einwand vieler Schriftsteller gegen Philosophie und Theorie als etwas, was sie einschränkt und nicht frei macht, macht uns nachdenklich.« (Ebd.)

Auch Hölderlin sah die Grenzen des Versuchs der Philosophie, alles durch einen logischen Zusammenhang zu erklären und zu systematisieren und rekurrierte auf eine ›Total-Vorstellung‹ (StA IV, 183), die vom Intellekt nicht durch Zergliederung völlig aufgelöst werden kann. (Gilby 1973, 21) Eine ungebrochene Übersetzung des Dichterischen in die Philosophie oder in eine Theorie verfehlt die Dichtung. Der Dichter ist immer der Saboteur philosophischer Selbstgewissheit. Es gilt im Auge zu halten, was Hölderlin in Patmos [Bruchstücke der späteren Fassung] schreibt. Dort heißt es: »Grausam nemlich hasset / Allwissende Stirnen Gott.« (FHA 7, 406)

Jennings (1983, 559) geht davon aus, dass das Gedicht selbst niemals umfassend ist und dass daher der Kritiker nicht nur berechtigt, sondern gezwungen ist, sich über die Elemente und Beziehungen des Gedichts hinaus auszubreiten. Die Kritik ist notwendig, denn viele Elemente sind im Gedicht nur potenziell präsent, und die Wahrheit des Gedichts kann daher nur durch den Akt der Kritik dargestellt werden. Er beruft sich auf Benjamins (II, 1, 106) Vorstellung, dass die Kritik die »Verbindungsmöglichkeiten« im »Gedichteten« ausnützen müsse. Benjamin eröffne damit einen Pfad für eine Kritik, die sich frei auf vielen Ebenen der Konnotation und der Referenzialität bewegt. In seiner Vorlesung über das Gedicht Der Ister sagt dagegen Heidegger, dass alle Bemerkungen über ein Gedicht nur eine Begleitung sind, die nicht in der Dichtung selbst enthalten sind, und dass daher diese Bemerkungen niemals eine »Interpretation« sein können.

Adorno (1981, 453 f.) kritisiert aber auch zu Recht die »ins Maßlose gesteigerte Ehrfurcht vor Hölderlin« und deren Konsequenz, der Glaube, »was der Dichter sagt, wäre so, unmittelbar, buchstäblich«. Daher, so Adorno, werde allzu oft das Ästhetische der Dichtung Hölderlins vernachlässigt. Gerade dadurch aber würde »die genuine Beziehung Hölderlins zur Realität, die kritische und utopische, weggeschnitten.«[5] Adorno (1981, 451) macht geltend, dass die »Wahrheit eines Gedichts […] nicht ohne dessen Gefüge, die Totalität seiner Momente« ist. Und fährt fort: die Wahrheit des Gedichts

ist aber zugleich, was dies Gefüge, als eines von ästhetischem Schein, übersteigt: nicht von außen her, durch gesagten philosophischen Inhalt, sondern vermöge der Konfiguration der Momente, die, zusammengenommen, mehr bedeuten, als das Gefüge meint.

Adorno (1981, 452 f.) kritisiert zu Recht, dass Heidegger einerseits »den Begriff des Gedichteten dergestalt akzentuiert, ja dem Dichter selbst die äußerste metaphysische Dignität zumisst«, andererseits aber höchst gleichgültig gegen das spezifisch Dichterische bei Hölderlin ist. Auch Warminski (1990, 193 ff.) hat darauf hingewiesen, dass Heideggers Hölderlin-Interpretation Zeilen willkürlich aus dem Kontext reißt und sie etwas bedeuten lässt, was sie im Kontext nicht bedeuten. Auch Pellegrini (1965, 206) kritisiert zu Recht, dass Heidegger die Dichtung Hölderlins zum Vorwand für Betrachtungen nimmt, »die außerhalb der Philologie und einer ausgefeilten methodologischen oder künstlerischen Lektüre stehen.«[6]

Adorno (1981, 452 f.) findet es daher erstaunlich, dass sich keiner an dem ausgesprochen Amusischen der Erläuterungen Heideggers geärgert hat. Er kritisiert »Phrasen aus dem Jargon der Eigentlichkeit« – wie die, dass Hölderlin ›in die Entscheidung‹ stelle – man fragt vergebens, in welche und vermutet, es sei »keine andere als die klappernd obligate zwischen Sein und Seiendem«. Adorno spürt die ominösen ›Leitworte‹ auf und ›das echte Sagen‹, findet bei Heidegger Clichés aus der minderen Heimatkunst wie ›versonnen‹, hochtrabende Kalauer wie: ›Die Sprache ist ein Gut in einem ursprünglicheren Sinne. Sie steht dafür gut, das heißt: sie leistet Gewähr, dass der Mensch als geschichtlicher sein kann‹, macht sich über professorale Wendungen lustig wie ›aber sogleich erhebt sich die Frage‹ und findet, dass die Benennung des Dichters als ›Hinausgeworfenen‹ ein humorlos unfreiwilliger Witz bleibt, auch wenn sie eine Belegstelle aus Hölderlin für sich anführen kann. Zu Recht wirft Adorno Heidegger weiter vor, er beginne mit »dem manifest von Hölderlin Gedachten, anstatt dessen Stellenwert im Gedichteten auszumachen.« Nun könnte man sagen, auch Adorno kann von diesem Vorwurf nicht ganz frei gesprochen werden, der bedeutet, dass auch er Hölderlin »zurück in die Gattung Gedankendichtung Schillerscher Provenienz« (ebd.) versetzt.

Adorno (1981, 453 f.) kritisiert Heideggers Umgang mit Hölderlins Dichtung, weil bei ihm die »Beteuerungen des Dichterischen« gegenüber dem von Heidegger tatsächlich Geübten »wenig ins Gewicht« fallen. Heideggers Interpretationen richten sich an den »gnomischen Elementen in Hölderlin« aus. Zugegebenermaßen sind solche sententiöse Prägungen auch in die späten Hymnen eingelassen: »Stets ragen Sentenzen aus den Dichtungen heraus, als wären sie Urteile über Reales.« Heidegger versucht sein ästhetisches Defizit durch diese Sentenzen auszugleichen, um sich so in eine »Position über dem Kunstwerk zu manövrieren.« Adorno zielt auf die immer wieder geübte Praxis, das Gedichtete durch einen »Kurzschluss, in recht gewalttätiger Paraphrase« zu einem Gedachten umzudeuten, wie etwa Heidegger (1996, 42), der so eine Empedokles-Stelle als die Wirklichkeit des Gedichteten verkündet und sagt: »Dichtung erweckt den Schein des Unwirklichen und des Traumes gegenüber der greifbaren und lauten Wirklichkeit, in der wir uns heimisch glauben. Und doch ist umgekehrt das, was der Dichter sagt und zu sein übernimmt, das Wirkliche.«

Adorno (1964, 453 f.) kritisiert weiter an Heidegger (1996, 42 ff.) dass er das »Wirkliche der Dichtungen«, ihren »Wahrheitsgehalt« solcher Erläuterung mit dem unmittelbar Gesagten vermischt. »Das verhilft zur billigen Heroisierung des Dichters als des politischen Stifters, der die Winke, die er empfängt, ›weiter [winkt] in sein Volk‹: ›indem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit‹.« Deswegen wird das »ästhetische Medium des Wahrheitsgehalts« zum Verschwinden gebracht und »Hölderlin auf den von Heidegger zu autoritärem Behuf ausgewählten angeblichen Leitworten aufgespießt. Dem Gedichteten jedoch gehören die Gnomen bloß vermittelt an, in ihrem Verhältnis zur Textur, aus der sie, selber Kunstmittel, herausstechen.« Wenn Hölderlin »das Wirkliche« sage, dann trifft das auf den »Gehalt des Gedichteten; nie auf Thesen« zu. »Treue, die Tugend des Dichters, ist die zum Verlorenen. Sie setzt Distanz zur Möglichkeit, es sei jetzt und hier zu ergreifen. Soviel steht bei Hölderlin selbst.« (Adorno 1981, 453 f.)

Weiterhin hat Th. W. Adorno (1981, 447 ff.) bereits 1963 an der Herauslösung Hölderlins aus dem idealistischen Kontext scharfe Kritik geübt. In Heideggers 1980 veröffentlichten Vorlesungen über Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein aus dem Wintersemester 1934/35 (nach der Rektoratsniederlegung im Frühjahr 1934!) behandelt er z. B. Hegels und Hölderlins Verhältnis zu Heraklit, einen Bezug, den er überbetont, weil er die Religionsgeschichte und -philosophie des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit, die Spinozarenaissance etwa, völlig außer acht lässt. (Jamme 1981, 632)[7]

Jamme (1981, 632) meint, Heidegger benutze die Dichtung Hölderlins, um ihr eine unmittelbare Aussage über das »Sein« zu unterstellen:

Der Heidegger nach der ›Kehre‹[8] wollte mit Hölderlin über die Sprache der Metaphysik hinaus und also auch Hegel überwinden, in dessen reifem System er die Vollendung der abendländischen Metaphysik erblickte. Hölderlin sei nicht, so betont Heidegger (1996, 90, Ergänzung P. H.) an verschiedenen Stellen, aus dem deutschen Idealismus zu verstehen, vielmehr manifestiere sich in ihm eine wahrere (als die Schellingsche oder Hegelsche) Tradition, die Idee nämlich der ›vergänglichen Ewigkeit‹, die Einsicht, dass Gott Zeit sei.

Dagegen betont Ernst Cassirer, (1961, 79 ff.) dass Hölderlin schon durch seinen äußeren Lebensgang mit der Geschichte des deutschen philosophischen Idealismus aufs engste verknüpft sei. Das bedeute aber nicht, dass die Lyrik Hölderlins »nur der dichterische Reflex bestimmter zeitgenössischer Philosopheme« sei, oder dass man deswegen auf die »Behauptung einer wahrhaft selbstständigen geistigen Eigenart Hölderlins Verzicht« leisten müsse. Außerdem stehe Hölderlin dem Idealismus nicht nur rein empfangend gegenüber, sondern er bereichere ihn mit einem neuen positiven Gehalt.[9]

Adorno (1981, 461) argumentiert weiter, Heidegger versuche, die Wahrheit der Dichtung aus der Zeitlichkeit herauszunehmen ohne Rücksicht auf den geschichtlichen Kern des Wahrheitsgehaltes selbst. Dass Hölderlin den deutschen Idealismus (z. B. Kant und Fichte) nicht nur rezipiert, sondern seinerseits Hegel und Schelling wichtige Anstöße gegeben hat, ist nicht zu übersehen. In Urtheil und Seyn schreibt Hölderlin in der Auseinandersetzung mit Fichte:

Urteil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur-Teilung. (StA VI, 203)

Auf Fichte und die Teilung in Ich und Nicht-Ich bezogen heißt es dann:

Im Begriffe der Teilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objekts und Subjekts aufeinander, und die notwendige Voraussetzung eines Ganzen wovon Objekt und Subjekt die Teile sind. ›Ich bin Ich‹ ist das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Urteilung, als Theoretischer Urteilung, denn in der praktischen Urteilung setzt es sich dem Nicht-ich, nicht sich selbst entgegen.[10] (StA VI, 203)

Daraus ergibt sich die Folgerung:

Wirklichkeit und Möglichkeit ist unterschieden, wie mittelbares und unmittelbares Bewusstsein. Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhohl’ ich nur das vorhergegangene Bewusstsein, kraft dessen er wirklich ist. Es gibt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war. Deswegen gilt der Begriff der Möglichkeit auch gar nicht von den Gegenständen der Vernunft, weil sie niemals als das, was sie sein sollen, im Bewusstsein vorkommen, sondern nur der Begriff der Notwendigkeit. Der Begriff der Möglichkeit gilt von den Gegenständen des Verstandes, der der Wirklichkeit von den Gegenständen der Wahrnehmung und Anschauung. (StA VI, 203)

In seinen philosophischen Briefen will Hölderlin dann »den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst ›verschwinden machen‹.« (StA VI, 203) Hölderlin spricht also von einer ästhetischen intellektualen Schau, in der Subjekt und Objekt vereint sind. Die Synthese von Poesie und Philosophie in der ästhetisch erfahrbaren ›Intellectualen Anschauung‹, die die Zerstörung der präreflexiven, kosmischen Einheit durch die ›Urteilung‹ rückgängig machen kann, ist aber ein Prozess, der nie völlig abschließbar ist. Eine Möglichkeit, diesen Mangel im Subjekt auszugleichen, ist die Mythologie und die Poesie. (Vgl. Roth 1991, 252 f.)

Es ging Hölderlin um die Erkenntnis, dass Subjekt und Objekt notwendige Teile eines Ganzen sind, die als Ganzes in der ›intellektualen Anschauung‹ zu erfahren sind. In dieser Erkenntnis sind Spuren von Platon, Spinoza und Schiller zu erkennen. In ihrer Zusammenarbeit in Frankfurt haben Hegel und Hölderlin die abendländische Überlieferung in je verschiedener Weise aufgenommen. (Jamme 1981, 634) Auch wenn Hölderlin Kant schon in Tübingen gelesen hat, seine eigentliche Auseinandersetzung mit Kant beginnt in Waltershausen: »Meine einzige Lektüre ist Kant für jetzt. Immer mehr enthüllt sich mir dieser herrliche Geist.« (StA Bd. VI:1, 128) Und in einem Brief an Hegel: »Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lektüre. Mit dem ästhetischen Teile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich vertraut zu werden.« (StA Bd. VI:1, 114; Roth 1991, 116) Jennings (1983, 546) schreibt über Hölderlins Beziehung zur Kantischen Philosophie, dass Hölderlin Kant einerseits als ›Moses unserer Nation‹ (StA VI:1, 304) verehrte, aber sich andererseits nicht mit der völlig unerkennbaren Natur des Noumenalen zufrieden geben konnte.[11] In dem Essay Über Religion setzt Hölderlin die Existenz eines ›höheren, mehr als mechanischen Zusammenhangs‹ (StA IV:1, 275) voraus – den er normalerweise als ›das All‹ oder ›das Ganze‹ bezeichnet. Hölderlin ist hier durchaus Teil seiner Generation, die sich nach Kant mit der Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Idee, Mensch und Welt auseinandersetzen musste. (Jennings 1983, 546)

Das will Heidegger aber nicht wahrhaben, er folgt, so Adorno (1981, 460)

der obsoleten Abneigung des Idealismus gegen das Seiende als solches; im gleichen Stil, in dem Fichte mit dem Realen, der Empirie verfährt, die zwar vom absoluten Subjekt gesetzt, zugleich aber als bloßer Anstoß zur Tathandlung, wie schon bei Kant das Heteronome, verachtet wird.

Heidegger (1996, 90) suggeriert, der Zusammenhang mit der historischen Realität sei fürs Gedichtete unerheblich:

Inwieweit das in diesen Versen gedichtete Gesetz der Geschichtlichkeit sich aus dem Prinzip der unbedingten Subjektivität der deutschen absoluten Metaphysik Schellings und Hegels herleiten läßt, […] deren Lehre das Bei-sich-selbst-sein des Geistes erst die Rückkehr zu sich selbst und diese wiederum das Außer-sich-sein vorausfordert, inwieweit ein solcher Hinweis auf die Metaphysik, selbst wenn er ›historisch richtige‹ Beziehungen ausfindig macht, das dichterische Gesetz aufhellt oder nicht eher verdunkelt, sei dem Nachdenken nur vorgelegt.

Adorno (1981, 460) gibt zwar zu, dass sich Hölderlin in »sogenannte geistesgeschichtliche Zusammenhänge« nicht auflösen lässt, noch dass »der Gehalt seiner Dichtung auf Philosopheme abzuziehen ist«. Aber er besteht darauf, dass sich Hölderlin andererseits aus den kollektiven Zusammenhängen nicht entfernen lässt, in denen sein Werk sich bildete und mit denen es bis in die sprachlichen Zellen hinein kommuniziert.

Zu diesen Zusammenhängen gehören Aufklärung und Romantik. Edward Youngs The Complaint or Night Thoughts on Life, Death and Immortality (1742–1745) hatten einen ungeheuren Erfolg in ganz Europa; Hölderlin nennt ihn mit Klopstock als einen der Großen, denen er als Dichter nachfolgen will. (Gaier 1993, 384) Die Nachtgedanken werden gerade durch das Licht der Aufklärung freigesetzt, »das Unbegrenzte und Unbestimmte gegenüber dem Begrenzten und Bestimmten, die Ewigkeit gegen die Dauer, den Grund und Ursprung gegen die Kausalität und den Anfang.« Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, dass Hölderlin »die Nacht mit der archaischen Kultur- und Religionsform in Beziehung« setzt. (Gaier 1993, 382 & 385) Auch Gehrmann (2009, 19) macht auf die ambivalente Bedeutung der Nacht aufmerksam: Für Hölderlin ist die Nacht einerseits Götterferne; andererseits ist sie die ›heilige Nacht‹, in der durch das Vergessen der Tageswirklichkeit die Möglichkeit des Erinnerns an den Göttertag (Goldenes Zeitalter) eröffnet wird. Platos Politikos (Staatsmann) stellt nicht nur eine Theorie des besten Staates auf, sondern führt auch die zugrundeliegende Metaphysik vor. Danach hat es eine glückselige Herrschaft des Kronos gegeben, ein ›müheloses‹ Zeitalter.[12]

Hölderlin sieht die Dichtung als Möglichkeit, Geist und Stoff miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Beziehung kann sich in der Dichtung in verschiedenen ›Tönen‹ äußern: »naiv, idealisch, heroisch«. Die direkte Umsetzung der Wirklichkeit in Dichtung ist naiv, die Darstellung der Notwendigkeit ist heroisch und die Erfahrung einer (utopischen) Möglichkeit ist idealisch. Versuche, diese Begriffe auf Hölderlins Gedichte anzuwenden, enden meist in pedantischen Schulmeistereien, (Vgl. z. B. Hof 1956, 201, 420) weil »die jeweiligen Töne des Geistes sich nicht in den ihnen entsprechenden Tönen des Stoffs ausdrücken, sondern dass der Geist sich in einem ihm entgegengesetzten Bereiche des Stoffs ausdrückt.«[13]

In der Moderne seit Nietzsche nimmt die Metapher eine Zentralstellung (auch in der Philosophie) ein, dagegen wurde sie lange Zeit in der klassischen Philosophie abgewertet: »A metaphoris autem abstinendum philosopho« – »Der Philosoph aber hüte sich vor Metaphern«. (George Berkeley in Riedel) Riedel (1999, 57 f.) sieht den Ursprung dieser Feindschaft in Platons Ausschluss der Rhetorik (in Gestalt der Sophistik) und der Dichtung aus dem Gebiet des Wissens und der Erkenntnis. Plato versucht, die Philosophie als alleinigen Wissens-Diskurs durchzusetzen und damit die Dichtung abzuwerten. Platon trennte so den wahren Erkenntniswege vom falschen, das ›Wissen‹ (episteme) vom ›Meinen‹ (doxa) und ›Vermuten‹ (eikasia): »Während das letztere am ›Schein‹ (eikos) der Dinge haften bliebe, ergreife das Wissen deren ›Wesen‹ (ousia), ihre ›Wahrheit‹. Es werde erlangt durch ›Denken‹ (dianoia), also nur mit Hilfe von ›Worten und Gedanken‹ (logos), nicht durch sinnliche Wahrnehmung (aisthesis)

Die Kunst sehe nur

den ›sichtbaren‹ (horatos) ›Wechsel‹ (metabole) der Erscheinungen, die Ephemera des ›Werdens‹ (gignomenon); dem reinen Denken hingegen zeige sich das zeitlos ›Seiende‹ (ontos on), die ›unsichtbare‹ (aeides), weil nur ›denkbare (noetos) Welt der ›Ideen‹ (eide).

Auch Aristoteles sieht in der Poetik die Metapher als eine ›uneigentliche‹ (allotrios) Wortverwendung. Und ›Allotria‹ darf nicht sein unter ernsthaften Wissenschaftlern und Philosophen. (Ebd., 6 f.) Aber: »Hier in der grundsätzlichen Metaphorizität der Sprache liegt wohl der Bereich, in dem eine Annäherung der Dichtung an Philosophie und Theorie möglich sein müsste, denn auch die Theorie weiß es natürlich nur annäherungsweise.« (Ebd., 6 f.) Dagegen meint Hölderlin: »Wenn dir als Schönheit entgegenkömmt, was du als Wahrheit in dir trägst, so nehm es dankbar auf, denn du bedarfst der Hülfe der Natur«. (Hyperions Jugend, FHA 10, 211)

Vom Abgrund und der Tiefe

Dichtung ist eine Fremdsprache, auch wenn sie sich oberflächlich der gleichen Worte bedient wie die Umgangssprache oder die Wissenschaftssprache. Bei der Übersetzung in eine Literaturkritik oder Literaturtheorie entstehen immer Fehler, weil gleichlautende Worte in der Dichtung und der Theorie oder Philosophie den Übersetzer in die Irre leiten. Die Übersetzung der Dichtung oder des Mythos in eine Theorie oder Dogmatik verfehlt notwendigerweise die Besonderheit der Namen und der Geschichten. (Blumenberg 2006, 189) In Hölderlins Dichtung wird zudem die verfremdende Wirkung der Dichtung, die meistens unsichtbar ist, sichtbar. (Clark 2001, 107)

Wilhelm Michel (1943, 17) schreibt, dass die Sprache für Hölderlin zu einer Macht wird, die dem Dichter selbst fremd zu sein und ihn zu bedrohen scheint. Da es bei den Göttern um die Unmöglichkeit eines adäquaten Sprechens geht, wird »die prägnante Unlesbarkeit der Zeichen […] zur Signatur einer authentischen und reellen Selbstartikulation«. (Hofmann 1996, 248) Zwar zügelt und besiegt die Dichtersprache das Chaos, weil sie den Dingen einen Namen gibt. Aber: »Es gibt keinen Inhalt, der nicht irgendwie Chaos wäre. Es gibt keine Form, die nicht irgendwie Sänftigung, Bändigung und Rhythmisierung des Chaos wäre.« Die Götter, aus dem Chaos geboren, sind der Versuch, der konkreten Erfahrung Form und Gestalt zu geben. Die Götter, Söhne des Chaos, werden dem Chaos feind und bestätigen die Gültigkeit einer kosmischen Ordnung, die ihrerseits in der poetischen Form eine symbolische Gültigkeit annimmt: Sprache wird. Über die Götter bei Hölderlin sagt Guardini (1961, 186), »dass Götter nichts Beliebiges sind. Sie werden nicht erfunden oder erdacht, sondern angetroffen.« Er behauptet, Götter »entstammen nicht der bloßen Fantasie; bedeuten weder Allegorien noch künstlerische Verdichtungen von Gefühlen und Sinnverhalten, sondern etwas Objektives.« In Sokrates und Alkibiades (FHA 4, 44) schreibt Hölderlin: »Wer das Tiefste gedacht, [ehrt] liebt das Lebendigste.«

Wo aber findet die Dichtung die Götter? Der Ort der Geburt ist die Quelle, der Ort, wo Sprache noch Chaos ist, überhaupt erst zu werden beginnt.[14] Nur langsam nähert sich Hölderlins Dichtung jenem Bereich der Gefahr am Ursprung, an der »Quelle«. Rehm (1943, 92) entdeckt in der frühen Dichtung Hölderlins den Orkus, das Chaos, den Abgrund und die Tiefe und hört in ihr »das dumpfe Grollen dieser chthonischen Raummächte und Tiefengewalten«. Er erinnert daran, dass diese Gewalten »Opfer annehmen, vielleicht auch einmal verderbenbringend Opfer heischen können«. Immer vernehmbar bleibt in Hölderlins Dichtung »der ›geheime Geist der Unruh‹, der in der Brust der Erde und der Menschen zürnt und gärt, losbricht und sein vernichtendes Unwerk tut.« Hölderlin kannte die Erzählung vom Vatergott, der dem Patriarchen Abraham das Opfer des einzigen und späten Sohnes abverlangt hatte, und der dann das Opfer seines eigenen einzigen Sohnes Jesus verlangte, um einen verjährten Frevel im Paradies gutzumachen, ganz zu schweigen von all den anderen Göttern, die blutige Opfer (auch Menschen) verlangten. (Blumenberg 2006, 25 f.)[15] Pigenot (1923, 47) hatte versucht, Hölderlins Dichtungen auf einen heidnischen Kult und die frühe religiöse Verehrung der Helden, Ahnen und Stadtgötter zurückzuführen. Auch die lichten Götter der polytheistischen Hochkultur wurzeln in chthonischen Erd- und Toten-Kulten. Die mythische Schau geht auf diese Quellen zurück. Die Dichtung ist Totenkult, der Dichter Mittler zwischen den Lebenden und dem Totenreiche. Der Dichter muss »hinuntersteigen in die Nacht der ›Toten‹ und sie allmählich heraufführen zum Licht. Er muss ihnen das Tote, die ›positive‹ Überlieferung, gut deuten«. (Hof 1956, 206)

Den Abgrund spürt Ryan (1962, 72) in »einigen späteren, großenteils unvollendeten Gesängen«. In diesen späten Gedichten spürt er, wird »der Ton nun noch dunkler und schwerer, die Satzzusammenhänge gespannter, komplizierter, die Aussage hintergründiger, verschlüsselter«. Ryan begründet das damit, dass es »im Jahre 1803 (oder noch später) dem von der geistigen Umnachtung Überschatteten immer schwerer fiel, die Helle des prophetischen Wissens zu bewahren.« Ryan verfolgt diesen Prozess »auch an einigen Überarbeitungen« und behauptet vor allem von den späteren Überarbeitung, der Zusammenhang des Gedankens sei nur schwer nachzuvollziehen.

Mittner (1954, 34 & 49) spricht vom dämonischen Bewusstsein des späten Hölderlin, der Kunst der plötzlichen Einschnitte, der gewaltigen Erleuchtungen in den großen Hymnen und der Unmöglichkeit des Dichters, das Chaos der eigenen Dichtung und in der eigenen Seele zu zügeln.[16] Ohne diese Nähe zum Dunkel allerdings ist große Dichtung nicht möglich. Die kreative Kraft beruht auf einer manischen Begeisterung, »die offene, unstillbare Ekstatik des Eros ist das eigentlich erzeugende Prinzip des menschlich Vollkommenen unter den Bedingungen seiner Endlichkeit.« (Hofmann 1996, 96 f.) Das Neue erschließt sich nicht der Ratio, die in der Lage und notwendig ist, das Neue auf seine Stimmigkeit zu überprüfen, sondern dem manischen, erotischen Dämon, der nach Plato »die Mitte seines Wesens nur außerhalb seiner selbst zu finden vermag.« (Hofmann 1996, 97)

Gert Hofmann (1996, 52) definiert diesen Unterschied als den Paradigmawechsel von der klassizistischen Aisthesis des statuarischen Gottes Apollo zur Poiesis der dionysischen Begeisterung. Hölderlin erfährt im Dionysos die Signatur des Lebendigen in der Poesie. Dionysos ist der kommende Gott. Hölderlin versuchte »jener Seher zu sein, der zum Ausgleich der geschichtlichen Religionen gelangt, indem er die gesamte religiöse Überlieferung der Vergangenheit auslegt«. (Pellegrini 1965, 358) In der Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie seiner Zeitgenossen schreibt Hölderlin: »Jene unendlicheren mehr als notwendigen Beziehungen des Lebens können zwar auch gedacht, als nur nicht bloß gedacht werden; der Gedanke erschöpft sie nicht«. (KTA 14, 37) Die Dunkelheit des Dionysischen kommt aus dem Rausch. Dionysos ist ein Gott der Veränderung und Verwandlung. »Er erfüllt den Menschen mit einer Art von reinigendem (kathartischem) Wahnsinn, der alle Grenzen aufhebt, der Vergessen, Überfluss, Trunkenheit herbeiführt, dionysischen Taumel.« (Lachmann 1966, 22)[17]

Schon in der Theorie der Antike gab es eine Einsicht in die notwendige Dunkelheit der prophetischen Dichtung (Fuhrmann, 1966, 47 ff.) und die Verklammerung von Dunkelheit und Erhabenheit. Eine Tradition dieser obscuritas wurzelt in der Inspirationsmantik der apollinischen Orakel, die andere in der Kunst der Verrätselung. Der Orakelsphäre entstammt der vates: Der Dichter bedient sich einer ernst-pathetischen Sprache, die der Auslegung bedarf. (Möller 2003, 198)[18] »Seine Dichtung als verrätselte Aussage schließt als Bedingung wissend ein, dass sie nicht vernommen wird.« (Kommerell 1944, 332) Hölderlins späte Gedichte sind voll von Verschlüsselungen und Verrätselungen. »Götter sind etwas Rätselhaftes. Nicht nur etwas Geheimnisvolles; das Geheimnis gehört zur Natur alles Religiösen. Sie sind mehr; sie sind rätselhaft. Der prüfende Geist weiß nicht, woran er mit ihnen ist.« (Guardini 1961, 185)[19] Beißner (1954, 41) hofft, dass die rätselhaften Texte sich in der Zusammenschau gegenseitig erhellen möchten. Aber vielleicht bleiben sie letztlich der Interpretation notwendigerweise ebenso verschlossen wie die rätselhaften Botschaften von Delphi.

Die Quelle: die Herstellung einer neuen Sprache

Unsere Zeit ist modern, weil sie für das Neue in der Zukunft lebt. Dieses Neue ist ein fundamentaler Bruch mit der Vergangenheit. Die Aufteilung der Zeit in eine lineare Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist zerbrochen: Was wir von der Zukunft erwarten, kann nicht mehr von dem abgeleitet werden, was es in der Vergangenheit gab. Die Zeit ist nicht mehr einfach das Medium, in dem alles stattfindet, sondern eine eigenständige dynamische Kraft, und die Gegenwart hat die Qualität einer neuen Epoche. Der Ausdruck neue Zeit, der im 18. Jahrhundert aufkam, bezeichnet einen Übergang, in dem das Neue und Unerwartete ständig passierte. Die Zukunft ist nicht unbedingt besser als die Vergangenheit, aber auf alle Fälle anders. (Michaelis 1999, 540 f.)

Jamme (1981, 633) meint, »dass Hölderlin mit der Mythisierung einen »Sprachraum« schafft, in dem zur Sprache kommt, wofür es heute keine Sprache mehr gibt; denn erst wenn die Natur wieder zur Sprache geworden ist, werden wir aufhören, sie zu beherrschen und für unsere Zwecke auszubeuten: »In unserer Welt der dinglichen Erfahrung hat die Natur keine Sprache«. Hölderlin ist der Dichter »einer neuen logischen Bewusstseinsstufe, in der wir Menschen in Frieden leben könnten und zum ersten Mal die Freiheit gewinnen würden, einer dann nicht mehr gefolterten Natur gegenüber offen zu sein.« (Liebrucks 1979, 602 & 503)

Man muss sich in Erinnerung rufen, welche Vorbildfunktion die Antike noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte – trotz der Querelle des anciens et des modernes – um zu sehen, in welche moderne und innovative Richtung Hölderlins Dichtung schließlich ging. Zunächst glaubte auch Hölderlin diese Möglichkeit in der Vergangenheit verwirklicht und hoffte auf eine Wiederkehr des Vergangenen. Mehr und mehr aber kam er zur Überzeugung, dass eine bloße Wiederkehr der Antike nicht ausreichen würde. Das frühromantische Interesse an der antiken Mythologie war keineswegs durch die Vorstellung einer Wiederherstellung motiviert. Die griechische Kultur ist nicht so einfach auf das 18. Jahrhundert zu übertragen, deswegen musste man eine neue Mythologie schaffen. (Roth 1991, 287)

Hölderlin hat sich die Welt der Antike bereits im jugendlichen Alter angeeignet. Die Bedeutung der 1800 begonnenen Übersetzung der Pindarischen Hymnen hängt noch mit der Überzeugung zusammen, dass die griechische und die deutsche Sprache aufs innigste miteinander verwandt sind. Beim Abfassen der Übersetzung musste sich aber dann der Irrtum dieser Annahme zeigen.[20] Dadurch wurde Hölderlin zum Nachdenken über Verwandtschaft und Unterschied der Sprachen angeregt (Pellegrini 1965, 275) und so kommt er schließlich zu »der Einsicht der grundsätzlichen Verschiedenheit des antiken Geistes zum modernen«. (Wackwitz 1985, 114)

Es geht in Hölderlins Dichtung vor allem darum, über die »Nachahmung« der Antike, über Nachahmung überhaupt hinauszukommen und eine Sprache zu finden, die das Neue und die Erneuerung ermöglicht, die eine Dichtung schafft, die nicht mehr griechisch, sondern »hesperisch« ist. Wenn man nicht »von nichts […] sprechen« möchte, »als nur von Dingen, die [man] bereits versteht«, wie Kleist (1978, Bd. 3, 453) das formuliert, wenn nicht Nachahmung (imitatio) die Aufgabe der Dichter ist, wenn man also etwas Neues sagen will, dann muss man die Quelle finden, aus der das Neue entsteht. Das Prinzip der ästhetischen Produktion ist die Spontaneität der genialen Einbildungskraft im individuellen Subjekt. (Hofmann 1996, 58) Gefragt ist also eine Rhetorik, die das Finden, das Erfinden neuer Wahrheiten und die Herstellung einer neuen Sprache ermöglichen soll, nicht das zufällige Mischen von gerade gängigen Meinungspartikeln. Erfindungskunst, Kunst der Entdeckung von Wahrheiten durch die Methodik des Denkens und Erkennens oder Heuristik (Eisler 1904, 1/438) war seit den griechischen Sophisten und Philosophen ein zentraler Bestandteil der Logik, die selbst wieder zusammen mit der Ethik zur Wissenschaft von der Seele gehörte. Heuristik heißt die Erfindungskunst oder die Anweisung, auf methodischem Wege Erfindungen zu machen. Nun war allerdings die traditionelle »Erfindungslehre« nicht so sehr auf die Erfindung des Neuen als auf das Finden des schon Gewussten aus, und war daher eher eine Topik (von τόπος = Ort), eine Lehre von den Orten, wo man die benötigten Tatsachen, Erkenntnisse und Beweise finden könnte, als eine Erfindungslehre. Die von den alten Rhetoren besonders gepflegte Erfindungskunst lehrte, wie man die zur Behandlung eines Themas geeignetsten Punkte (τόποι, loci communes, Gemeinplätze) auffinden könne.

Die Metapher der Quelle als Ort an dem nicht die Gemeinplätze, sondern das wirklich Neue sprudelte, war Hölderlin bekannt, und so ist zum Beispiel die sprudelnde Quelle der Donau ein Bild für die Dichtkunst selbst. Das Fließen und Überfließen der Imagination als Quelle des Neuen findet sich z. B. auch in einer bekannten Aussage von Wordsworth im Vorwort zur zweiten Auflage der Lyrical Ballads (1800), die zumeist als programmatisch für die Auffassung der Dichtkunst der Romantiker überhaupt betrachtet wird: »For all good poetry is the spontaneous overflow of powerful feelings«. Und auch eine weniger bekannte Aussage Herders im Briefwechsel über Ossian ( 1773) enthält das gleiche Bild, in dem es heißt, daß »sein [des Dichters] Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und Empfindung [fodert]«. (Schier 2000, 164 f.; Wordsworth 1955, 387; Herder 1969, II, 217)

Auf der Suche nach diesem Neuen schreibt Hölderlin im Grund zum Empedokles:

es ist nicht mehr der Dichter und seine eigene Erfahrung, was erscheint, wenn schon jedes Gedicht […] aus poetischem Leben und Wirklichkeit, aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muss, weil sonst überall die rechte Wahrheit fehlt. (FHA 13, 869)

Das Neue muss also (auch) in der Erfahrung des Dichters liegen, auch wenn es ihm in der Manie geschenkt wird, und damit seine eigene Erfahrung überschreitet. »Manie« und »Inspiration« heißt hier nicht eine völlige Abkehr vom Erfahrenen und Erlebten, von der Geschichte: »Das Wahre ist auch in der Geschichte erfahrbar und dort kann stets etwas je Neues auftreten.« (Jamme 1984, 191)[21]

Kerényi erinnert daran, dass Poiesis in ersten Linie machen bedeutet, Poiesis blickt nicht auf das Urbild zurück, sondern auf das eigene Schaffen, das das Werk als Neues hervorbringt. (Kerényi 1971, 13) Natürlich ist auch das »Neue« Hölderlins nicht ohne Vorbilder, denn Hölderlin hält sich, gerade in den Hymnen, immer wieder an antike Vorbilder, z. B. Pindar.[22] Dennoch beklagt er: »wir träumen von Originalität und Selbstständigkeit, wir glauben lauter Neues zu sagen, und alles ist doch Reaktion, gleichsam Rache gegen die Knechtschaft, womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum«, (KTA 14, 59) und er klagt darüber, »dass ihre [der Griechen] Originalität, ihre(r) eigene(n) lebendige(n) Natur erlag unter den Formen, unter dem Luxus, den ihre Väter hervorgebracht hatten, das scheint auch unser Schicksal zu sein«. (KTA 14, 59)

In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant (1977, Bd. 3, 149) zwischen einer produktiven und einer reproduktiven Einbildungskraft:

So fern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft, und unterscheide sie dadurch von der reproduktiven, deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist, und welche daher zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört.

In Kants Darstellung gibt es daher, wie Strack zeigt, einen Platz sowohl für das produktive als auch das reproduktive Vermögen:

Allerdings ist die bloße Apprehension allein nach Kant noch nicht fähig, ein Bild und ›Zusammenhang der Eindrücke‹ hervorzubringen, dazu bedarf es eines ›subjektiven Grundes‹, ›eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüt zu einer anderen übergegangen, zu den nachfolgenden herüberzurufen; und so ganze – Reihen derselben darzustellen.‹ (Strack 1976, 53)

Hölderlin fragt nicht weiter nach der Möglichkeit dieses Vermögens, das die Vorstellungen und Bilder liefert, und steht damit »Kants transzendental-theoretischer Perspektive ebenso fremd gegenüber wie Schiller.« (Strack 1976, 55) Es ist deutlich, dass Hölderlin »die Einbildungskraft als ›produktives‹ Vermögen zu kostbar war, um sie im theoretischen Bereich aufzuzehren.« Auch bei Kant erhält die Einbildungskraft ›als produktives Erkenntnisvermögen‹ eine zusätzliche Funktion:

Die Synthesis überhaupt ist, […] die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. (Kant 1977, Bd. 3, 117)

Ohne die Einbildungskraft wären wir unfähig die vielen Perzeptionen zu einem Ganzen zu synthetisieren:

Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori gegeben sein muß, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. (Kant 1977, Bd. 3, 117)

Interessanter für die Analyse von Kunst sind aber Kants Auffassungen über das Genie. In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant das Genie als

das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. (Kant 1977, Bd. 10, 241 f.)

Man sieht hieraus, daß Genie

1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse.

2) Dass, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen.

3) Dass es, wie es sein Produkt zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel gebe; und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen, die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen. (Daher denn auch vermutlich das Wort Genie von genius, dem eigentümlichen einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Ideen herrührten, abgeleitet ist.)

4) Dass die Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe; und auch dieses nur, in sofern diese letztere schöne Kunst sein soll. (Kant 1977, Bd. 10, 242 f.)[23]

Strack (1976, 60) ist der Auffassung, Hölderlin »habe, dem Kantischen Begriff des Genies gemäß, dessen freie Assoziation (als solche ließe sich ungezügelte ästhetisch produktive Einbildungskraft deuten) einem sittlichen Ordnungsprinzip unterstellen wollen«. Andererseits wusste Hölderlin von der Gefahr des Gesetzes, die Produktivität zu verhindern: »Öde stehn und dürre / Wo die Blüten das Gesetz erzwingt«.

Es geht nicht darum frei zu assoziieren, sondern etwas zu produzieren, was die Natur als Stoff nimmt, aber etwas Neues schafft, was die Natur übertrifft:

Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um: zwar noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben sowohl natürlich sind, als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auffasst); wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation (welches dem empirischen Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann. (Kant 1977, Bd. 10, 250)

Die Hymne: gesanghafter Ausdruck eines Begeisterungszustands

Eine Hymne (griechisch ὕμνος) gehört in den Zusammenhang des antiken griechischen Kults und ist ein Lobgesang, ein Preisgesang auf die Götter oder Helden oder Sieger im Wettkampf, abgeleitet von ὕμνειν