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1. Auflage 2014
Umschlaggestaltung: Birgit Kempke
Lektorat: Jenny Menzel
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ISBN 978-3-942427-03-6
IRGONAS
GESCHICHTE
Der Gefildenkrieg
Vorwort des Autors
YZOC Von den Anfängen
Im bleichen Mondlicht
Der Angriff der Healiry
JAÁR’GHALL YMRAK Vlaworin und Ardík
Die Armee der Verräter
Die Herrscher Nord-Irgonas
Die Schlacht der Gleichen und Ungleichen
Die Straße aus Eis
Der Dämonenherr
Die Söhne von Königen
HEA SZAQ ARDÍKZ Rache, Magie und Freiheit
Fallend der Bogen, die Krone und der Schädel
Berge von Leichen und die Geister Khans
Aus der Feste
Gebrochen und geblendet
Der Weg am Rande des Guten
Die Grausamkeit der Finsternis
MITREJS VLAWORINS Wandel
Wieder gegenüber
Der Gipfel des Gefildenkrieges
Hängen
JORMÉK Pflichten
Zurückgezogen
Nach dem Gefildenkrieg
Wissenswertes
Religionen und Weltanschauungen
Die Sprachen Irgonas
Zeitrechnung
Irgonas Geschichte handelt vom Aufeinandertreffen des gänzlich Bösen und des reinen Guten, der Frage nach dem, was dazwischen liegt und der immerwährenden Hoffnung auf eine ideale Welt voller Frieden, Freiheit und Liebe in einer fantastischen Umgebung. Es ist eine Geschichte, die ich im Laufe meiner Kindheit gestaltete und die dank meiner regen Fantasie, wie wohl jeder Mensch dieses Alters sie besitzt und sein Leben mit ihr bereichert, ständig wuchs und umfangreichere Formen annahm.
Während ich begann, meine Einfälle auf jede mir mögliche und erdenkliche Art festzuhalten, entstand in mir der Wunsch, andere an meiner fiktiven Welt teilhaben zulassen.
So begann ich zu schreiben und veröffentlichte fünf Jahre später, noch vor meinem sechzehnten Geburtstag, den letzten Band der Fantasy-Trilogie „Der Zwölfte Orden“.
Obwohl die Erzählung über den Alben Tyron, den Untoten Thromagon und den Zwölften Orden damit beendet war, hatte ich noch nicht die ganze Geschichte erzählt.
Daher verfasste ich abschließend diese Vorgeschichte „Der Gefildenkrieg“, die Irgonas Geschichte vollendet und den Auftakt eines Zweiteilers bildet – einer Dilogie, deren Fortsetzung das Buch „Der Zwölfte Orden“ sein wird, das alle Teile der alten Trilogie zusammenfasst.
Dieser Prolog soll auch Danksagung an jene Menschen sein, die mich tatkräftig unterstützen und stets ermutigen, sowie eine Widmung an alle meine Leser. Jeder einzelne begeisterte Begleiter meiner Reise durch diese fremde Welt erfüllt den Zweck meiner Bücher und meine ursprüngliche Absicht.
Jan Schwarz
Das Jenseits rumorte. Ein Grollen erklang und hallte dutzende Male wider in der Welt.
Niemand vermochte jemals zu sagen, wie das Jenseits genau zu beschreiben ist, nicht tausend und auch nicht zehntausend Jahre nach jenem Ereignis. Das Jenseits – zweifelsohne eine übergeordnete Macht, die alles umschließt und gleichzeitig selbst alles ist, das Leben vor und nach dem Tod, das Diesseits und die Energien, die man nicht berühren kann.
Jene Macht, Gottheit möchte man sagen, überkam eines Tages die Laune, auf einem Planeten zwei verschiedene Wesen zu erschaffen: Lebewesen im Norden und im Süden, beide mit unterschiedlichen Arten des Geistes. Oder besser: der Seele.
Im hohen Norden konnten sich Vögel und andere Tiere in die Lüfte erheben; sie flogen über Gebirge, deren Gipfel das Dach schneeweißer Wolken durchbrachen, über Meere, deren Weiten die sanfte Krümmung des Horizonts sichtbar machten, über Wälder und Graslandschaften von sattem Grün und über Wüsten, die einen von roten Steinen, die anderen von goldenem Sand. Auch in den Gewässern der weiten nördlichen Welt tummelte sich allerhand Getier. Das Land wurde bevölkert von einer breiten Spanne des Lebendigen, vor allen anderen ein Volk, das man sehr viel später als das der Sadargen bezeichnete: die Uralben.
Jene Wesen standen aufrecht auf zwei Beinen und waren von hoher Statur, ihre Zähne wie Ohren waren spitz. Sie lebten als Sammler und Jäger. Kein Uralb tötete jemals ein anderes Lebewesen ohne den höheren Grund, sich selbst am Leben zu erhalten, indem er dessen Fleisch aß, und ohne diesem dafür unendlich dankbar zu sein.
Die Zeit formte die Welt, als sie Berge zum Wachsen und Vergehen brachte, Meere und Flüsse an dieser Stelle über die Ufer traten, an anderer austrockneten. Mit der Zeit veränderten sich auch die Uralben. Zunächst lernten sie Sprechen und wurden sesshaft, später entwickelten sie sich weiter, gemäß den Flecken, die sie Heimat nannten.
So entstanden dort, wo besondere Fruchtbarkeit herrschte, die Völker der Menschen und Alben, und in den Gebirgen, wo sich neben schlanken Nadelbäumen nur klammer Stein fand, lebten die Blassmenschen. Letztes der vier großen Völker, die aus den Uralben entsprangen, war das der Schwarzalben, die sich dort wohl fühlten, wo die Sonne selbst im Norden Kraft genug hatte, den Boden zu versengen und auszutrocknen.
Mit jenen Kreaturen, die eine gemeinsame Art der Seele teilten, hatte das Jenseits Besonderes vor: Es ließ eine bittere Kälte über den Norden kommen. Selbst die Meere gefroren; jede Pflanze starb und legte sich bleich in den weiß leuchtenden Schnee. Da das Eis das Herkunftsland der Wesen des Nordens zerstörte, brachen sie auf und nahmen den Weg in die südlicheren Gebiete, auf der Suche nach einem Ort, der vor dem Frost Schutz bot.
Neben Menschen, Alben, Blassmenschen und Schwarzalben wanderten auch andere, seltenere Wesen gen Süden, die den nördlichen Gefilden entsprungen waren. Zu ihnen zählten die Trolle; große, menschenähnliche Geschöpfe mit dickeren Armen und Beinen, als die eines kräftigen Schwarzalben je werden konnten, mit gelblicher Haut und gewöhnlich kaum langsamerem Verstand als die Alben. Ferner gab es Drachen, gewaltige Echsen mit Schwingen, und Riesen, plumpe, graue, meist etwas dümmliche Einzelgänger. Für die Nixen mit olivgrüner Haut und Kiemen am Hals, die in den Flüssen heimisch waren und ebenfalls den Süden suchten, ehe sie festfroren, fanden sich später etliche andere Namen.
Auf ihrer Reise kamen sich die Völker der Menschen und Alben sehr nahe, begannen sich bald zu vermischen und begründeten eine gemeinsame Kultur. Die Alben unterschieden sich von den Menschen nicht bedeutend; manch einer mochte sie als lieblicher, schöner, auch schlanker empfinden und meinen, sie hätten einen klareren Blick. Am auffälligsten war, dass die Ohren der Alben, anders als die der Menschen, spitz zuliefen.
Wie sie ein gemeinsames Volk bildeten, kam es nicht selten vor, dass sich das Blut beider Gattungen vermengte. Einer der Menschen, der vielleicht zu gewissen Teilen ein Alb war, niemand vermochte es später mehr genau zu sagen, hatte unerklärlicherweise blaues Blut. Vielleicht spielte hier das vom Jenseits gegebene Schicksal hinein. Eben jener blaublütige Mensch erwies sich als über die Maßen weise und gerecht, und so geschah es, dass die Menschen und Alben ihn zu ihrem gemeinsamen König machten. Auf jene Weise schufen beide Völker eine gemeinsame Herrscherfamilie, die der Blaublütigen.
Die Schwarzalben ähnelten am ehesten den Alben, pflegten ihre Haare – Männer wie Frauen – aber ausnahmslos sehr lang zu tragen. Außerdem waren ihre Zähne schärfer und länger und ihre Haut von tiefstem Schwarz, wie ihr Name es schon beschreibt. Nicht einfach nur von der dunklen Farbe, die eines Menschen Haut haben konnte, sondern ein Schwarz, dass die finsterste Nacht allein ein Vergleich war. Die Schwarzalben lebten gewöhnlich in großen Familien zusammen, legten mehr Wert auf körperliche als auf geistige Fähigkeiten und folgten als erste Völkerschaft dem Glauben an das Jenseits, wie er der Wahrheit schon recht deutlich entsprach. Sie verzichteten sowohl auf Regeln und Gesetze als auch auf eine Führung. Ihre einzige Richtlinie war die sittliche Moral ihres Volkes.
Die Schwarzalben entdeckten als erste das Land der Wärme und der Früchte, wie sie es nannten. Die Kälte zog sich damals wie eine Schlinge um jene Gefilde, Gebirge verschiedensten Gesteins, Meere, Wälder und Graslandschaften. Doch die Schwarzalben sahen nur den Boden, den die Sonne zur Wüste gedörrt hatte. Im Osten war jene weiße Sandwüste begrenzt durch ein giftiges Meer, im Westen durch eine Steppe, hinter der sich graue Berge erhoben.
Eben als die Schwarzalben sich im Land der Wärme und der Früchte niedergelassen hatten und begannen, Dörfer aus Lehmhütten zu errichten, kamen die Blassmenschen. Von allen Nachfahren der Uralben besaßen sie die am wenigsten kräftigen Körper, aber diese Schwäche machten sie durch ihren erfinderischen Geist wett. Abgesehen von den breiteren Nasen, die ihnen ob der Kälte in ihrem Herkunftsland in den Gesichtern saßen, der stets bleichen Haut und den Augen mit roter oder blauer, wenn nicht violetter Iris, konnte man sie nicht von den Menschen unterscheiden.
Die grauen Berge westlich der Wüste im Land der Wärme und der Früchte wurden zu ihrer Heimat. Hiererrichteten sie Häuser aus dem Holz der Nadelbäume oder aus dem harten Stein des Felsens. In den Bergen, die sie Stück für Stück zertrümmerten und aufgruben, fanden sie Unmengen an Metallen, die sie zu bearbeiten wussten. Damit begannen sie Waffen herzustellen, die nicht zum Jagen, sondern für den Krieg bestimmt waren. Die Rüstungen, Schwerter, Äxte, Flegel und Dolche setzten sie gegen die wehrlosen Schwarzalben ein, die ihrerseits nur mit Stöcken und Steinen in die Schlacht ziehen konnten, um aus der Steppe, die dort an ihr Land angrenzte, wieder eine unbelebte Einöde zu machen.
So senkte sich erstmals ein Schatten über die Völker des Nordens, deren Seelen bis dahin von der Art des reinen Lichts gewesen waren, wie das Jenseits es ihnen zugeteilt hatte. Unter den Blassmenschen gab es Magier, denen es möglich war, die Energie des Jenseits mit ihrem Bewusstsein zu kontrollieren. Gemeinsam umzingelten sie einmal eine Gruppe freier Seelen, kurz nachdem diese das Leben verlassen hatten, und hinderten sie, in das Jenseits zu fahren. Aus ihnen schmiedeten die Magier ein Ungetüm, dem sie den Namen Dermaden gaben: eine mächtige Kreatur, geschaffen, um im Kampf auf ewig die Blassmenschen zu unterstützen. Doch es gelang ihr, sich vom Einfluss der Magier zu befreien. Dermaden wachte nun über das Gebirge und beschützte dessen Bewohner. Niemandem gelang es jemals wieder, über ihn zu bestimmen.
Die Blassmenschen wuchsen zu einem großen Volk und besiedelten das gesamte Gebirge im Land der Wärme und der Früchte. Regiert wurden sie von den Wohlhabendsten ihrer Gesellschaft. Zwei von ihnen, die Aristokraten Simon und Adil, errichteten auf dem Gipfel eines Berges die Städte Hol und Tobil auf den zwei Seiten einer riesigen Schlucht, die über eine Brücke verbunden waren. Zu ihrer Zeit die mächtigsten Blassmenschen, begründeten die beiden Aristokraten den Glauben an die Götter Khan und Daria, Vater und Mutter der Welt. Diesen Göttern zu Ehren ließ Adil im Osten des Blassmenschen-Gebirges eine monumentale Statue der Daria errichten, während Simon ein Abbild des Khan in einen Berg im Westen schlagen ließ.
Die Aristokratie der Blassmenschen brachte wie das angrenzende Königreich der Blaublütigen ein Wappen hervor: Es hatte einen geschachten Grund als Hinweis auf die Aristokratie, im Vordergrund kreuzten sich zwei blaue Balken. Der eine Balken des Kreuzes stand für die Göttin Daria, der andere für Khan.
Als letzte, und mit ihnen alle anderen Kreaturen, gelangten Menschen und Alben in das Land der Wärme und der Früchte. Am westlichen Fuße des Gebirges der Blassmenschen erstreckte sich ein dichter Wald mit Seen und Flüssen von leuchtendem Blau und Hügeln von sanftem Grün. Jenes Gebiet wurde zum Königreich der Blaublütigen. Unter dem Zeichen eines roten Wolfskopfes regierten sie die Völker der Alben und Menschen. Das Rot stand für das Blut, das in den Adern beider Gattungen floss, der Wolf als Rudeltier war ein Mahnruf nach Zusammenhalt.
Das Reich der Blaublütigen profitierte vom Wissen der Blassmenschen, was Waffen, die Bearbeitung von Metall und Stein wie auch das Zähmen von wilden Tieren anbelangte. Währenddessen entwarfen und bauten die Menschen Schiffe und viele andere Dinge. Der Fortschritt verwischte die Grenzen zwischen den Kulturen der Völker und erzeugte Gemeinsamkeiten.
Unzählige Male wanderte die Sonne über den Himmel und im Land der Wärme und der Früchte begann man langsam zu vergessen, wie die Welt im Norden gewesen war. Die Völker nannten die Gebiete jenseits ihrer neuen Heimat nun eine Welt des Verderbens, in der es nur unbezwingbare Berge und tiefe, dunkle, eiskalte Meere gäbe. Dabei war die Eiszeit, die das Jenseits dazumal geschickt hatte, längst vorübergegangen.
Blassmenschen, Alben und Menschen übernahmen den Glauben der Schwarzalben an ein unbestimmtes Jenseits, und von den Göttern der Blassmenschen blieb nicht mehr als die Erinnerung, die aufkam, wenn man die gewaltigen Abbilder sah, welche Simon und Adil einst geschaffen hatten.
Auf einer Insel inmitten des Meeres, das ihre Reiche teilte, errichteten Menschen und Alben für den Blaublütigen König eine Stadt aus Glas und weißem wie schwarzem Marmor. Sie war von solcher Ausdehnung und Erhabenheit, dass man ihr noch Jahrtausende später mit unfassbarem Erstaunen begegnete. Sie nannten sie Blank.
Nach und nach teilten sich die Gesellschaften der Menschen und Alben in eine Gruppe von Reichen und eine Schicht von Armen auf. Während sich die armen Menschen ihrem Schicksal zunächst ergeben fügten, hielten die Alben diese Entwicklung für ungerecht. Überdies meinten sie, der Blaublütige König habe kein Recht, über das gemeinsame Reich zu bestimmen, nur weil er der Nachfahre eines vor langer Zeit lebenden weisen Mannes war.
So entzweiten sich Alben und Menschen und ihr Königreich zerbrach. Blank wurde verlassen und der Blaublütige kehrte, weil er ein Mensch war – oder jedenfalls zu größten Teilen –, in das bewaldete Land östlich ihres Meeres zurück. Dieses wurde das Königreich der Menschen. Der Blaublütige behielt seine Krone und sein Wappen, während die Alben ein eigenes Reich indem fruchtbaren Land westlich des Meeres gründeten. Der es regierte, sollte weder König genannt werden, noch sollte er Herrscher sein, nur weil er einer bestimmten Familie entsprang. So erfanden die Alben die Rechtsherrschaft.
Das Alben-Reich wurde von nun an von einem Rechtsherrscher regiert, den die Alben wählten und der dann sechs Jahre lang wie ein König herrschte. Zeichen der Rechtsherrschaft wurde ein grüner Falke, das Symbol der Freiheit.
Mit der Verfestigung der Grenzen war die nördliche Hälfte des Landes der Wärme und der Früchte geprägt von vier Völkern: den Alben, den Menschen, den Blassmenschen und den Schwarzalben. Südlich ihrer Reiche erstreckte sich ein gewaltiger, unermesslicher Urwald, in dem ein See lag, so groß, dass man ihn mit Schiffen hätte überqueren müssen, wollte man seine Ausdehnung überwinden. Aus dem Urwald ragte im äußersten Südwesten ein rabenschwarzes Gebirge, im Süden fand sich der nördliche Ausläufer eines gewaltigen Meeres.
Neben der Vielfalt des Lebens mit jener Art von Seele, wie sie den Lebewesen im Norden verliehen worden war, dem Guten, dem Licht, war im Süden eine andere Art entsprungen: das reine Böse, die Finsternis. Die hier hausenden Gestalten hatten seltsam lange Gliedmaßen, die ihre Bewegungen anders anmuten ließen als die der uralbischen Völker. Ihre Haut war fast immer bleich und durchscheinend, allerdings von verschiedenem Schimmer; bei den einen rötlich, bei den anderen bräunlich, gelblich oder grau. Sie bevorzugten es, sich in dunkle Gewänder aus grobem Stoff zu hüllen, die nicht die Ahnung eines Lichtstrahls an ihren Körper ließen.
Die Augen der Wesen waren von strahlendem Gelb wie die mancher Katzen, aber die Pupillen blieben immer starr und winzig klein, sodass man sie kaum erkennen konnte. Zähne und Nägel waren lang und spitz, vermeintlich zum Zerfleischen bestimmt, und nie zierten Haare auch nur einen Fleck ihrer Körper. Ihre Ohren liefen wie die der Alben spitz zu, aber sie waren länger und schmaler und lagen eng am Schädel an. Kurz: Die Kreaturen des Südens wirkten auf alle anderen Lebewesen äußerst furchteinflößend.
Auch sie hatte das Jenseits in das Land der Wärme und der Früchte getrieben, aber nicht die Kälte hatte sie gejagt, sondern ihr Anführer, ihr uralter Herr, den sie Ilir-Roc nannten. Er wollte nichts lieber, als alles Leben verderben, das der Schöpfung des Jenseits entsprang.
Vereinzelt zunächst kamen sie in die vier Reiche der uralbischen Völker, aber sie fanden sich schnell dort zurecht. Rasch erlernten sie die fremden Sprachen, mischten sich unter das gemeine Volk und wurden von diesem geduldet, obgleich ihr Antlitz furcht erregend war. Von den Einheimischen wurden sie Dämonen genannt, und sie nahmen jene Bezeichnung an.
Die Dämonen hatten eine eigene Sprache, eine raue, zischelnde, die die Nachfahren der Sadargen faszinierte. Altdämonisch nannten sie diese neuen Worte, und so kam es, dass die Schrift der Dämonen und viele ihrer Wörter sich in die Kulturen der nördlichen Völker drängten.
Das Land der Wärme und der Früchte nannten die Dämonen Irgona, was in ihrer Sprache nicht mehr hieß als „Land“. Seither pflegen Menschen, Alben, Blassmenschen und Schwarzalben sich selbst als Irgoner zu bezeichnen. Die Städte Hol und Tobil im Gebirge der Blassmenschen sahen die Dämonen als Einheit an, der sie den Namen Rygo gaben. Die verlassene Stadt Blank, die dem Blaublütigen errichtet worden war, nannten sie Cistensia.
Für die Völker Irgonas hatten die Dämonen die Worte Fraáic, Alb, Adarc und Pard, und auch zwei dieser Bezeichnungen fanden ihren Weg auf die Zungen der Nordwesen: Blassmenschen wurden nun Adarcen und Schwarzalben Parden genannt.
Während die Irgoner bereitwillig Altdämonisch sprachen und die Schriftzeichen der Dämonen nutzten, nahm die Zahl der Wesen aus dem Süden immer mehr zu. Bald war der Anblick eines Dämons in Irgona nicht mehr ungewöhnlich. Die Seelen der Dämonen aber warenvoller Finsternis, und sie verdarben zahlreiche Irgoner. Es kam zu Morden, Überfällen und grausamen Taten, einzig der Genugtuung wegen vollbracht, die der Täter ersehnte.
Die Dämonen errichteten sich Behausungen in ganz Irgona, auf Inseln, Bergen und auf dem flachen Land. Die Siedlungen, in denen sie lebten, waren stets aus grob geschlagenen, von Fratzen verzierten Steinen erbaut. Im Südgebirge, jenem dunklen Dorn, der aus dem Urwald Irgonas herausragte, sammelten sich die meisten von ihnen. Sie errichteten dort auf der Asche eines zerstörten kleinen Dorfes, des südlichsten ganz Irgonas, in einem Tal eine gewaltige Festung. Die Wurzeln der niedergebrannten Bäume hatten sich um den kohlschwarzen Stein geschlungen. Auf dem Gipfel eines der Berge, zu deren Füßen die von einer Mauer umschlossene Stadt lag, thronte ein Turm. Jenen Dämonenhort, wo die meisten der Kreaturen fernab von den Augen der Irgoner lebten, nannten sie Mikmaárax, was schlichtweg „Gebirgsstadt“ hieß.
Dort hatte sich der Dämonenherr Ilir-Roc niedergelassen, und von dort breitete sich der Tod über das Land aus. Die Bäume wurden grau und neigten sich zum Boden, verfaulten, starben. Farne, Moose und Sträucher vertrockneten, die Tiere suchten das Weite. Binnen weniger Jahre breitete sich ein Feld von Staub aus, eine kalte Wüste. Es war ein Land, das niemand betreten wollte außer den Dämonen selbst, ein fünftes, von ihnen geschaffenes Reich in Irgona: Varenor.
Unter den Irgonern wuchs der Argwohn gegen die Dämonen aus dem Süden, und bald wurde das Volk der Finsternis verstoßen und vertrieben. Ihre Zahl war gering, denn zwar alterten sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht weiter und starben keines natürlichen Todes, aber sie zeugten auch nur wenige Nachkommen.
In der verlassenen Stadt Cistensia gründeten die Menschen eine kampfkräftige Vereinigung, die den Blaublütigen schützen sollte, der ihr Königreich regierte – einen Königsorden. König der Menschen war zu dieser Zeit Ansgar der Dritte. Ihm zu Ehren wurde die gewaltige Stadt Ixarem erbaut, und von dieser Stadt aus regierte er unter dem Schutz des Ordens, dessen Zeichen ein Schwert mit einer Krone war.
Zur selben Zeit sandte Ilir-Roc zwei Stellvertreter in das Königreich der Menschen, Rabona. Jene beiden Dämonen, die Vizekönige Varenors, wie die Irgoner sagten, waren Healir-Meonor und Healir-Nystronor. Die Brüder säten giftige Worte und sprachen vom Untergang der Menschheit. Die Dämonen hatten erkannt, dass die Menschen von den Völkern Irgonas das schwächste waren und dass ihre Seelen des reinen Guten, wie das Jenseits sie einst den Uralben verliehen hatte, nur allzu schnell von Schatten erfüllt wurden.
Als König Ansgar in einem Wald nahe Ixarem zur Jagd ging, wurde sein Pferd von einem langen Pfeil getroffen, der vom Bogen eines Dämons stammte. Der Blaublütige, der keine Nachkommen hatte, sollte der letzte seiner Familie sein. Nystronor riss an diesem Tag dem Herrscher des Menschen-Reiches mit bloßen Händen den Kopf von den Schultern.
Entsetzen und Furcht flammten in ganz Irgona auf.
In Rabona bestieg nun eine Adelsfamilie den Thron, die aus dem Süden des Reiches stammte. Ein Mensch roten Blutes krönte sich zum König: Sebastian der Erste, Begründer einer Linie von Modernen oder Neuen Königen.
Im Norden des Menschen-Reiches brach Protest aus. Jene, die an der Küste lebten, wollten den neuen König nicht als den ihren anerkennen. Sie nannten sich fortan Iarren und krönten ihrerseits einen König, der in dem Dorf Iarra residierte. Es sollte ein Gegengewicht zu Ixarem im Süden bilden.
Rabona drohte zu zerbrechen, und so erließ König Sebastian jedem Iarren die Steuern, wenn er nur ihn als König des Reiches aller Menschen anerkannte. So kam es, dass sich viele Menschen „Iarren“ nannten, die dem Iarren-König doch nicht ergeben waren, nur um sich der Abgaben zu erleichtern.
Dennoch stiftete der Erlass ein gewisses Maß an Zusammenhalt unter den Menschen in Rabona.
Die anderen Einwohner des Reiches, besonders jene, die Felder bestellten oder in den Wäldern lebten, wurden Ghanen genannt – nach dem Namen des großen Sees Ghano, der in diesem Teil Irgonas lag.
In Nord-Irgona lag Garond, das Alben-Reich, regiert vom Rechtsherrscher Hagen. Jenseits des Hisodrin-Meeres wurde Rabona, das Königreich der Menschen, vom Modernen König Sebastian dem Ersten beherrscht. Ciman war das Gebirge und zugleich die Aristokratie der Adarcen. Mächtigster Mann seines Landes war Tibor von Rygo, und zuletzt – am östlichsten – lag Ovario, das Reich der Parden.
Zwischen Varenor und den nördlichen Reichen lag ein sechstes und letztes Land Irgonas: Egurinia. Es war ein Niemandsland, ein Teil des Urwalds, der vor der Ankunft der Dämonen ganz Süd-Irgona bedeckt hatte. Es wurde nur von wenigen Wesen verschiedener Gattungen bewohnt, die aber eine gemeinsame Kultur und Religion hatten und sich selbst als Egurinianer sahen.
Das Jenseits hatte Gestalten des Guten und des Bösen, des Lichtes wie der Finsternis erschaffen, um sie beide nach Irgona zu führen: Irgoner und Dämonen. Wesen des Nordens und des Südens. Von diesem Zeitpunkt an sollte jede Kreatur ihr Schicksal selbst bestimmen können, ob es nun zum Sieg der einen oder der anderen führte. Roc, Ilir, also Herr der Dämonen und König von Varenor, schickte sein Volk in den Krieg, einzig und allein getrieben von der Zerstörungswut in ihm. Die Welt, die die Finsternis bestimmen würde, sollte eine karge sein.
Als Healir-Meonor und sein Bruder Nystronor mit einer Armee von Dämonen das Reich der Menschen angriffen – nicht zuletzt, da sie den grünen Urwald Egurinias und die weiße Wüste Ovarios meiden wollten –, sollen sie lauthals auf altdämonisch „Bruóoc Irgonaos!“, also „In deren Gefilden Krieg!“ gerufen haben. Daher rührte der Name des großen Krieges, der zu der Entscheidung führte, die das Jenseits nicht selbst fällen konnte oder wollte. So hatte es seiner Schöpfung überlassen, ob das Leben vom Guten oder vom Bösen, vom Licht oder von der Finsternis sein sollte.
Der Gefildenkrieg brach aus.
Ein Mensch mit hellbraunem Haar saß auf einem flachen Felsen. Der Stein ragte aus einem grasbewachsenen, leicht abfallenden Hang heraus, an dem ein kleines Dorf lag. Der junge Mann blickte aus blauen Augen in den Himmel hinauf. Wolkenfetzen schwebten dort, zwischen denen tausende kleiner Sterne still und weiß funkelten. Mitten in diesem Meer aus grauen Schwaden und flackernden Lichtern schien ein großer, blasser Mond, der die Welt in weißblaues Licht tauchte.
Der Mann musterte die schwachen Umrisse des Dorfes. Dort war er aufgewachsen, wenn auch nicht mit seinen Eltern oder Geschwistern. Seine wahre Familie hatte er nie kennengelernt. Stattdessen hatten ihn die Eltern eines wunderbaren Mädchens namens Irina aufgezogen, die ihm wie eine Schwester war. Er rieb sich die Hände und musterte seine aufgesprungenen, rauen Fingerknöchel. Sie waren so verwundbar, einfach, nicht sonderbarer als die Hände irgendeines anderen Menschen. Und dennoch konnten sie Dinge geschehen machen, über die niemand sonst Gewalt besaß. Warum ich?, fragte sich der Mann und seufzte schwer. Es ist keine Gabe, es ist eine Bürde.
Stirnrunzelnd erhob er sich von dem Felsen und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf. Er horchte auf das Rascheln der Gräser unter seinen Füßen, auf das sanfte Säuseln des Windes, das weit entfernte Jaulen eines einsamen Wolfes.
Mit einem Mal verstummten all diese Geräusche, abgelöst von einem dumpfen Rauschen, und auch der Geruch der feuchten Wiese erstarb. Ein Schmerz durchfuhr seinen Kopf und der junge Mann presste beide Hände gegen den Schädel. Sein Gesichtsfeld verschwamm und er sank zu Boden.
Der Umriss des Dorfes vor ihm wurde undeutlich, Häuser schossen in die Höhe und die Sterne des Himmels blähten sich auf zu Feuerbällen, so hell, dass alles andere pechschwarz erschien. Es waren keine Worte, die er vernahm, vielmehr Gedanken, die seinen Kopf durchströmten.
Die einen und die anderen treffen aufeinander. Was ihr tut, bleibt euch überlassen. Es gibt nichts Richtiges und nichts Falsches, alles wird möglich sein, so war und ist es gedacht. Licht oder Finsternis wird diese Welt erfüllen, wenn es vorüber ist, und Bestimmungen werden anleiten, dass die eine Sache rein wird. Doch bis dahin gibt es nur den Moment und nur die Entscheidung, die ihr selbst trefft. Du und die einen, gegenüber denen der anderen Seite.
Eine Hand mit schlanken Fingern senkte sich auf den grauen Boden herab. Lange, schmutzige Nägel wuchsen aus der leicht durchscheinenden, gelben Haut. Sie malten altdämonische Schriftzeichen in den Staub.
Plötzlich waren dumpfe Schritte zu hören und die Hand fuhr zurück. Die Gestalt, zu der sie gehörte, richtete sich langsam auf. Sie war überaus groß, trug einen schwarzen Mantel und hatte sehr lange Gliedmaßen. Es war ein Dämon mit leuchtend gelben Augen, einer schmalen Nase und spitzem Gesicht. Ein anderer Dämon, kleiner, sein Gesicht verdeckt unter einer schwarzen Kapuze, trat an seine Seite.
Die beiden schwiegen eine Zeit lang, dann begannen sie Worte auszutauschen, mit scharfen, zischenden Stimmen. Während sie sprachen, kräuselte sich neben ihnen das kalte Wasser eines Flusses, der im Licht des Mondes glitzerte. Ein Plätschern und Klatschen war zu vernehmen, als ein Schwarm großer, silbriger Fische immer wieder aus der Strömung sprang. Die beiden Dämonen verstummten und musterten mit ihren gelben Augen die Wasseroberfläche. Die Fische näherten sich dem Ufer, bis schließlich die ersten der glitschigen Körper auf den staubigen Erdboden trafen. Hell leuchteten sie auf und schwarzes Dämonen-Blut verteilte sich um sie herum in der Luft wie Tinte im Wasser.
Mit einem Mal standen dort zwei Dämonen in dunklen Mänteln.
Sobald ein Tropfen des roten Blutes irgendeines Wesens in die schwarzen Adern eines Dämons gelangte, konnte sich dieser in jenes Wesen verwandeln. Hatte er einmal seine Gestalt so verändert, konnte er es immer wieder aufs Neue tun.
Nach den beiden gerade hinzugekommenen Wesen der Finsternis sprangen weitere Fische an Land, die sich verwandelten. Mehr und mehr wurden es, bis einige Dutzend Dämonen um den ersten versammelt waren, der als einziger seine Kapuze nicht über den Kopf gezogen hatte.
„Auf meinen Namen und den meines Bruders Meonor werdet ihr hören und uns folgen. Wir werden des Ilirs Vorreiter sein und jeden vernichten, der uns auf unserem Weg begegnet“, sprach Nystronor in seiner Sprache, und die anderen schienen ihm zuzustimmen.
Urplötzlich ertönte ein lautes Rauschen und die Dämonen strahlten einer nach dem anderen hell auf, bis ihre Gestalten verschwunden waren und sie sich als ein Schwarm von Vögeln in den Nachthimmel erhoben, nach Westen fliegend.
„Vlaworin!“, rief eine Frauenstimme, und der Mann spürte weiche Hände auf seinem Gesicht. Er konnte wieder fühlen, hören, riechen und sehen, klar denken. Er lag im nassen Gras, über ihn beugte sich Irina. Ihr Haar, das im Mondlicht schimmerte, umrahmte ihr ängstliches Gesicht und fiel wie ein Vorhang vor seines.
Er hob eine Hand und legte sie auf die ihre, während das Herz in seiner Brust raste. Er wartete ab, bis die Übelkeit in ihm vorüberging, und musterte sie lange. „Was ist mit dir?“, hauchte sie und er presste die Kiefer aufeinander. Sie schwiegen, und keiner konnte sagen, wie lange sie so verharrten, ehe er sprach: „Du glaubst auch an das Jenseits, nicht wahr? Du hoffst darauf.“ Er machte eine Pause und schluckte, während er spürte, wie die Kälte der Erde durch die Kleidung an seine Haut drang.
„Ich habe es gesehen. Und es lässt uns allein.“
Die Strahlen der Morgensonne schienen durch ein hohes, verglastes Fenster und malten weiße Streifen auf den steinernen Boden des Saales, während sie die unzähligen Staubkörner in der Luft funkeln ließen. Lange, rote Vorhänge hingen zu beiden Seiten des Fensters. Eine faltige Hand strich langsam über den samtenen Stoff. An ihren Fingern steckten unzählige goldene Ringe mit großen Edelsteinen. Einer von diesen, er sah aus wie ein Rubin, war mit Hermelin verziert.
Der Mensch, zu dem die Hand gehörte, faltete sie mit der anderen auf seinem Bauch, trat einen Schritt zurück und warf einen Blick durch die schmutzige Fensterscheibe. Draußen erstreckten sich die braungrauen Gebäude Ixarems.
Auf dem Haupt von König Sebastian, dem Ersten der Neuen, ruhte ein schmaler Kranz aus purem Silber. Die Krone, die ihm zustand, war eine andere, prächtigere, doch es war Bedingung der Iarren gewesen, dass auf seinem Kopf nicht das Wahrzeichen der Blaublütigen ruhen durfte. Sebastian war nicht mehr der Jüngste. Er ging leicht gebeugt und in seinem Gesicht sammelten sich tiefe Falten um die große Hakennase und die Tränensäcke. Seine stechend blauen Augen schimmerten jedoch wach im Licht der Morgensonne. Die langen Haare waren zusammengeflochten, der Vollbart sauber gestutzt. Das Haar hatte jede Farbe verloren und leuchtete schneeweiß – nur die buschigen Augenbrauen waren noch immer dunkelblond.
Schwerfällig schleppte sich der König durch den Saal, mit den Fingern den dicken Bauch streichelnd, seinen roten Umhang hinter sich her schleifend. Gerade hatte er eine schreckliche Nachricht erhalten. Ein Junge, erschöpft und verwirrt, war nach Ixarem gekommen; auf einem Pferd, das zweifellos aus Uverghea stammte. Der Junge hatte unter Schock gestanden und nicht gesprochen. Als ein Soldat ihn nach Dämonen fragte, hatte er zögernd genickt.
Die Botschaft war klar: Es war soweit. Sebastian erwartete den Krieg seit Jahren. Er hatte es gesehen, ihr Reich. Varenor. Wo einst dichter Urwald gewachsen war, wie man ihn nur mehr in Egurinia fand, gab es nun nichts weiter als eine schreckliche Wüste, über die ein eiskalter Wind rauschte. Tagsüber schien dort eine schwache Sonne, die des Nachts von einer Dunkelheit verschluckt wurde, welche kein Licht zu durchdringen vermochte.
Die Dämonen waren das pure Verderben, die Finsternis aus dem Süden, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie Rabona mit voller Kraft angreifen würden, nachdem sie König Ansgar getötet hatten. Sebastian war auf endlose Grausamkeiten vorbereitet. Er wusste, dass Dämonen sich beliebig verwandeln konnten, dass ihre Waffen vergiftet waren und dass sie beinahe jeden Schmerz ertrugen.
In Ixarem war eine eindrucksvolle Streitmacht versammelt. Menschen aus Süd-Rabona, gerüstet und bewaffnet, bereit für eine Schlacht gegen einen zahlenmäßig zwar schwachen, doch durchaus überlegenen Gegner. König Sebastian ahnte, dass die Vizekönige Varenors, Stellvertreter des Dämonenherrn Roc, das Heer anführen würden. Healiry nannten sie sich.
Die Tür zum Saal öffnete sich für Sebastians Kinder, seine Tochter Soria, die ältere der beiden, Prinzessin von Rabona, und Teanon, Kronprinz. Beide waren blond wie ihr Vater, aber während Soria Sebastians blaue Augen hatte, waren die Teanons rabenschwarz. „Sie greifen an“, keuchte Teanon, der die Tür aufgerissen hatte. Sebastian nickte langsam.
Drei Schlangen krochen durch das trockene Gras auf Ixarem zu. Als sie den Toren recht nah gekommen waren, leuchteten sie auf und an ihrer statt standen dort nun drei Dämonen. Vorn ragte Nystronor auf, weit über den anderen beiden – wie überhaupt über jedem Dämon. Zu seiner Linken stand ein kleinerer mit rötlicher Haut, extrem hohen Wangenknochen und leicht abstehenden Ohren.
„Roadyne Mikz Uyarz Urgona, Storúak!“, kreischte dieser. Seine Stimme war der Nystronors sehr ähnlich, aber sie wirkte hysterisch, beinahe wahnsinnig. Es war Meonor, Nystronors jüngerer Bruder. Auf seine Worte hin hob der Dämon hinter den beiden seinen Bogen, legte einen Pfeil ein und zielte auf das obere Ende der Stadtmauer.
Während er mit gespanntem Bogen wartete, kam eine Gruppe von etwa vier Dutzend schwarz vermummten Kreaturen über einen Hügel und schritt langsam auf Ixarem zu. Die Dämonen umklammerten mit bleichen Händen schmale Schwerter.
Ein Wachsoldat auf der Mauer Ixarems vernahm Stimmen, so scharf, dass sie die Luft einzufrieren schienen. Der Mensch setzte seinen Helm auf und warf einen Blick von der Mauer. Eben als er nach unten sah, zischte ein Pfeil durch die Luft und zertrümmerte seine Stirn. Der Mann wurde zurückgeschleudert und blieb tot auf der Mauer liegen.
Kurz darauf geschahen viele Dinge zur selben Zeit. Ein Schwarm verschiedenster Vögel flog über die Stadtmauer hinweg und verwandelte sich in eine Streitmacht von fünfzig Dämonen, während in Ixarem ein tiefes Horn ertönte.
Die langen, sauberen Klingen der Menschen verfehlten die schnellen Wesen des Südens, stattdessen wurden sie aufgeschlitzt von den scharfen, vergifteten Schneiden der Dämonen.
Schreie erklangen in Ixarem. Wenig später wurde das Tor zur Königsstadt von innen geöffnet. Die fünfzig Dämonen, die vor den Stadtmauern gewartet hatten, unter ihnen auch die Healiry, rannten fauchend hinein. Bald erfüllte der Geruch von Blut die Luft und es floss über die gepflasterten Straßen. Rote Spritzer mehrten sich an den Wänden der Häuser und der Klang berstender Knochen durchschnitt die Luft.
Plötzlich stob eine schwarze Wolke Dämonen-Blut auf, verteilte sich und schwächte das Licht der Sonne. Ein Krieger der Finsternis war erschlagen worden. Mehr pechschwarze Wolken erhoben sich in die Luft und verdunkelten die Stadt, in der tiefrote Bäche durch die Straßen flossen.
König Sebastian beobachtete von einem kleinen Balkon aus wässrigen Augen den Kampf. Sein Mund war offen, während er krampfhaft das steinerne Geländer umklammerte. „Es sind nur hundert – und dennoch“, keuchte Prinz Teanon, der neben ihm stand.
Die Dämonen fielen in Scharen in das Land ein. Dörfer und Höfe in ganz Süd-Rabona wurden zerstört, die Einwohner über ihren Türschwellen aufgehängt. Die Finsternis kam nach Rabona, und obgleich das Heer König Sebastians Ixarem und damit das Menschen-Reich vor dem Untergang bewahren konnte, wurde der Boden vom Blut der Menschen getränkt. Die wenigen Dämonen nur, die da befehdeten, wurden zu einer Katastrophe.
Die Kämpfe wüteten tagelang. Es hieß, selbst Kronprinz Teanon sei an der Seite seiner Soldaten in die Schlacht gegen die Dämonen gezogen und der Alben-Rechtsherrscher Hagen habe Rabona seine Unterstützung zugesagt.
Der junge Mastos, der aus Uverghea nach Ixarem geflohen war, hatte seitdem kein Wort mehr gesprochen. Man hatte ihn in die Obhut eines alten Mannes namens Lando gegeben. Mastos sah ihm an, dass er kein Mensch reinen Blutes war wie er selbst. Er musste ein Treagon sein – so nannten die Irgoner die Nachkommen von Alben und Menschen. Lando hatte lange, graue Haare, einen dünnen, geflochtenen Bart und geschwungene Brauen über seinen schmalen Augen. Er war nicht besonders groß oder muskulös, doch Mastos hatte selten einen Mann gesehen, der ihn so sehr beeindruckt hatte.
Auch Lando sprach nicht viel. Um genau zu sein, hatte er zu Mastos nur einmal etwas gesagt, nämlich als die Soldaten Ixarems den Jungen zu ihm gebracht hatten. „Du brauchst keine Angst zu haben“, hatte er gemeint, „ich lebe nun schon, seit deine Vorfahren in dieses Land gekommen sind, und war damals bereits ein alter Mann. Wenn mich das Jenseits so lange verschmäht, wirst auch du noch tausende Jahre haben, mein Junge.“
Mastos wusste nicht recht, was er von Landos Worten halten sollte. Vor allem konnte er nicht glauben, dass der Alte geboren worden war, als in Irgona noch niemand gelebt hatte. Trotzdem tröstete ihn die Vorstellung sehr. Mastos spürte keinen Schmerz mehr über den Tod seiner Eltern. Stattdessen war da eine Kälte in ihm, die ihn jeden Gefühls beraubte. Ein Schatten lag in seinen kühlen Augen, der sein ganzes Wesen einzunehmen schien.
Gerade saß er am Tisch in dem kleinen Häuschen Landos, der einen Langbogen hielt und auf seinem Schoß einen Stapel selbstgemachter Pfeile gelegt hatte. Draußen wütete die Schlacht, einige Dämonen waren schon bis in diesen Winkel der Stadt vorgedrungen.
Mit ruhigem Blick beobachtete Mastos, wie plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und ein Dämon mit von Gift triefendem Schwert hereinschaute. Blitzschnell spannte Lando einen Pfeil auf seinen Bogen. Das Geschoss surrte zur Tür hinaus und grub sich bis zu den Federn zwischen die Augen der Kreatur. Dämonen-Blut spritzte aus der Wunde, dann fiel das Monster rücklings in eine Lache von Menschen-Blut auf der Straße.
Im selben Moment waren von draußen Rufe zu hören.
„GARONDS ARMEE IST DA!“, brüllte ein Mensch und das Jubeln der Soldaten erklang.
„Sieh zu, dass du verschwindest!“, rief Lando Mastos zu, der sich nicht gerührt hatte. Von draußen erklangen altdämonische Worte. Wieder schoss der Treagon einen Pfeil durch die Tür und man hörte erneut einen Körper zu Boden fallen. „Lauf und sieh zu, dass die Alben dich in Sicherheit bringen!“, befahl Lando erneut. „LOS JETZT!“ Mastos rappelte sich auf. Als er auf die Straße trat, flog ein dritter Pfeil Landos an seinem linken Ohr vorbei und traf einen Dämon in die Brust, der rücklings umfiel.
„Vasaszaz treáe!“, röchelte die Kreatur und zeigte auf Mastos. Der erkannte ihn als den Dämon wieder, der seine Eltern getötet hatte. Wie in Zeitlupe hob er die Klinge eines toten Dämons auf und stieß sie dann entschlossen in den Kopf des Mörders seiner Eltern. Ohne zu Lando zurückzublicken, rannte der junge Mastos durch die Straßen Ixarems, sich vor den Kämpfenden versteckend. Sein Weg führte ihn zum nördlichen Rand der Stadt, wo er von einem Wehrgang das Herannahen der Armee der Alben beobachtete. Es waren Reiter in weißen Umhängen, die Hagen den weiten Weg geschickt hatte. Von weitem ähnelten sie Menschen, doch sie trugen ein großes Banner mit einem grünen Falken darauf.
Als Mastos durch den Wehrgang eilte, bot sich ihm ein grässlicher Anblick: ein Wesen, wie er es noch nie in seinem Leben gesehen hatte, groß und mit schwarzer Haut, scharfen Klauen und scharfen Zähnen. Sein plumper Kopf war dem eines Pferdes nicht unähnlich, ansonsten ähnelte sein Körper von der Form her einem Bären. Das Ungetüm zerfleischte einen menschlichen Soldaten nach dem anderen, Körperteile flogen durch die Luft und der Gestank des Blutes wurde so stark, dass Mastos sich dort, wo er stand, übergeben musste.
Er hatte von solchen Wesen gehört: Es war ein Taul.
Als Mastos seinen Kopf wieder hob, sah er, wie das Wesen sich in einen Dämon verwandelte, mit rötlicher Haut und etwas kleiner als die anderen seiner Art.
Schnaubend und keuchend musterte Healir-Meonor das Blutbad, das er angerichtet hatte. Mit der flachen Hand wischte er sich Menschen-Blut von der Nase und fuhr mit der Zunge über seine spitzen Zähne, als hinter seinem Rücken ein Poltern ertönte. Als er sich umdrehte, war da ein Menschen-Junge, vielleicht fünfzehn Jahre alt. Er war gerade den Wehrgang hinabgestiegen und hastete nun auf ihn zu.
„Inaure miraz Fraáicz“, murmelte Meonor kopfschüttelnd, als der Junge vor ihm auf die Knie fiel, das Kinn auf die Brust gelegt. Dieser Mensch war tatsächlich zu ihm gekommen, nicht den verzweifelten Versuch im Sinn, ihn hinterrücks zu erdolchen, sondern um mit ihm zu sprechen.
Meonor legte den Kopf schräg und eine Hand auf den Kopf des Jungen. „Was?“, sagte er, während er seine Lunge mit Luft füllte und anschließend seine Zunge zwischen die Lippen klemmte. „Ich bin Mastos. Ich möchte euch dienen“, flüsterte der Junge und Meonor zog die Hand weg.