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»Was gibt’s heute zu essen?« Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen, als Prit den Kopf durch die Einstiegsluke der Corinto II steckte.
»Rate mal.« Ich drehte mich grinsend zu meinem Freund um. Klein, drahtig und in verblüffend guter körperlicher Verfassung für seine fast vierzig Jahre sah mich Viktor Pritschenko mit seinen strahlend blauen Augen an, wobei der Wind sein langes blondes Haar durcheinanderwirbelte. Die Sonne hatte der Haut des früheren Hubschrauberpiloten aus der Ukraine einen bemerkenswerten kupferfarbenen Ton verliehen, der in starkem Kontrast zu dem dichten blonden Schnurrbart stand.
»Sag bloß nicht schon wieder Fisch«, jaulte Viktor. »Mir hängt die Sardinendiät wirklich zum Hals raus!«
»Mir auch«, erwiderte ich, »aber wir müssen es ausnutzen, dass die Fischgründe hier so gut sind. Wir wissen nicht, wann wir das nächste Mal an Land können, und auch nicht, wann wieder etwas Essbares hier vorbeischwimmt. Du weißt doch, dass die Reserven an Bord nur für den Notfall gedacht sind.«
Ich sah, wie dem Ukrainer beim Gedanken an die Konservendosen, die in einem kleinen Schrank in der Kajüte standen, regelrecht das Wasser im Mund zusammenlief, aber schließlich siegte die Vernunft. Stöhnend drehte er sich um und ging wieder an Deck, wobei er eine Reihe ukrainischer Flüche von sich gab. Als er die oberste Stufe erreichte, sprang ihn eine rotbraune Kugel an, die ihn erst taumeln und schließlich stürzen ließ. Das Fluchen wurde lauter, als er vergeblich versuchte, den zappeligen Perserkater zu schnappen, der ihn frech und verspielt vom oberen Stockbett anstarrte, schlug aber nicht in echten Ärger um. Es musste schon mehr passieren, damit der Slawe die Nerven verlor.
»Binde endlich deinen verdammten Kater fest, oder ich schwöre dir bei Gott, dass ich ihn eines Tages über Bord werfe!«
»Glaube ich nicht«, erwiderte ich, ohne den Blick von den Makrelen abzuwenden, die ich gerade ausnahm. »Ich weiß, dass du ihn im Grunde magst. Außerdem ist er nicht mein Kater. Ich glaube eher, dass Lúculo denkt, wir alle gehören ihm.«
Wie zur Bestätigung gab Lúculo ein lautes Miauen von sich, sprang vom Stockbett herunter und trottete näher, in der sehr wahrscheinlichen Hoffnung, die Makreleninnereien würden in seinem Fressnapf landen. Pritschenko verließ endgültig die Kajüte und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Beim Anblick meiner Hände voller Blasen und Fischschuppen musste ich bitter auflachen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Vor knapp zwei Jahren war mein Leben vollkommen anders gewesen. Ich lebte und arbeitete als respektierter Anwalt in Pontevedra, einer Kleinstadt im Nordwesten Spaniens. Dort hatte ich meine Familie, meine Freunde, meine ganze verfluchte und reizende kleine Welt. Ein Kleinbürger um die dreißig, groß, schlank und attraktiv – wie es hieß –, der die Zukunft noch vor sich hatte. Strahlende Frucht vom Baum des Babybooms. Geboren mit einer Blume im Arsch, wie man in meiner Familie zu sagen pflegte.
Aber meine kleine Welt hatte auch ihre Schattenseiten. Meine Frau war anderthalb Jahre vor der Pandemie bei einem dämlichen Autounfall (gibt es welche, die nicht dämlich sind?) ums Leben gekommen, und ich hatte lange gebraucht, um aus dem tiefen schwarzen Loch herauszufinden, in das ich nach ihrem Verlust gestürzt war.
Als die Apokalypse ausbrach, begann ich mich gerade von einem entsetzlichen Jahr zu erholen, in dem Verzweiflung, Schuldgefühle und eine unüberwindliche Trauer dazu geführt hatten, dass ich meine Arbeit, meine Freunde und meine Familie vernachlässigte. Warum zum Teufel habe ich sie in dieser grässlichen Nacht fahren lassen? In jenen vom Alkohol vernebelten Monaten hatte ich so oft auf den Grund der Flasche geschaut, dass ich mir bald wünschte, sie möge ein Gewehrlauf sein. Es wäre einfach, schnell und – wenn man es gut machte – schmerzfrei … Dann kam Lúculo.
Der kleine rotbraune Perserkater war ein Geschenk meiner Schwester, die sich große Sorgen über mein Abrutschen in die Hölle machte. Was zum Teufel ist wohl aus ihr geworden? Wo war sie jetzt, verflucht noch mal? Und mit diesem Geschenk hatte sie wahrlich einen Volltreffer gelandet, denn ich musste Verantwortung für das kleine Tierchen übernehmen, was mir half, mein Selbstmitleid zu überwinden und weiterzumachen. Aber das ist bereits Schnee von gestern.
Denn als kurz vor Weihnachten vor zwei Jahren in Dagestan die Pforten zur Hölle geöffnet wurden, muteten alle Probleme dieser Welt geradezu lächerlich an. Ich hatte, ebenso wie die meisten Bewohner der westlichen Hemisphäre, nie zuvor von dieser kleinen Exsowjetrepublik in Zentralasien gehört. Auch weiß ich nicht, ob es in diesem Zwergenland jemals ein verdammtes Ministerium für Tourismus gab, doch sollte es existiert haben, müsste man ihm (posthum) einen Preis verleihen, weil der Name dieses Zipfelchens Erde im tiefsten Kaukasus in den letzten Wochen, in denen auf unserem Planeten die Kommunikationsmedien noch funktionierten, in allen Ländern der Welt am häufigsten genannt wurde.
Die Geschichte ist sattsam bekannt; tatsächlich kennt sie jeder in- und auswendig, der auf diesem Planeten noch am Leben ist. Ein Grüppchen ausgeflippter Extremisten (Allahu akbar!) aus Tschetschenien überfällt ein Waffenlager aus der Ära der Sowjetunion in der Absicht, für seinen Dschihad Waffen zu organisieren. Der Überfall ist erfolgreich, aber die Beute ist Müll. Anstelle von AK-47-Sturmgewehren, Granaten, RPGs und Munitionsgürteln finden die Mudschaheddin ein halbverfallenes Laboratorium aus der Sowjetzeit mit Reagenzgläsern, Kolben und mehreren hochgesicherten Kühlgeräten, das von einem Dutzend vergessener Soldaten bewacht wird. In seiner Frustration befiehlt der wütende tschetschenische Anführer seinen Männern, das Lager einschließlich dieser riesigen Kühlgeräte mit den Warnaufklebern und Schildern in kyrillischer Schrift an den Türen vor dem Abzug zu vernichten.
Das ist sein letzter Befehl und ohne jeden Zweifel der dümmste von allen. Kaum eine Viertelstunde später ist er samt seinen Männern mit dem TSJ-Virus infiziert, das vierundzwanzig Jahre lang auf dem Grund eines Kolbens in einem Kühlgerät geduldig vor sich hindämmerte. Nur achtundvierzig Stunden später hat sich das Virus in ganz Dagestan ausgebreitet und ist knapp zwei Wochen später auf der ganzen Welt außer Kontrolle. In dem Moment ist der Anführer des Überfalls bereits tot (oder besser gesagt ein Untoter), weshalb ihm nicht bewusst ist, dass er mit seinem lächerlichen Überfall die Apokalypse über die Welt gebracht hat. Wegen einer Bande von analphabetischen Schäfern, die die Warnschilder an den Kühlgeräten nicht lesen konnten, wurde die Menschheit schlicht und einfach ausradiert. Ironie des Schicksals. Verfluchte Ironie des Schicksals.
Als sich das TSJ-Virus auf dem ganzen Planeten ausbreitete, zog das eine Kette von Ereignissen nach sich. Dieses kleine, versehentlich von einem namenlosen Guerillero freigesetzte Virus entpuppte sich als der schlimmstmögliche Schweinehund. Es war nicht nur extrem ansteckend und tödlich; sein genetischer Code war darüber hinaus darauf angelegt, sich weiter auszubreiten, nachdem es seinen Überträger längst getötet hatte.
Sein Erfinder (denn das TSJ war ein Produkt des menschlichen Gehirns) war einer der besten Virologen der Sowjetunion gewesen. Obwohl er bereits seit zwanzig Jahren tot und vergessen war, hatte er ein brillantes Werk der Bioingenieurwissenschaft vorgelegt, bevor er über Ostberlin die Flucht in den Westen wagte und dabei zu Tode kam. Das TSJ-Virus war sein großes wissenschaftliches Erbe, das bedauerlicherweise in Vergessenheit geriet, nachdem das von ihm geleitete Projekt nach seinem Tod der unvermeidlichen Säuberung zum Opfer fiel. All seine Experimente wurden in besagte Sicherheitskühlgeräte verbannt und warteten auf eine spätere Neubewertung, aber die schwerfällige sowjetische Bürokratie und dann der Zusammenbruch der UdSSR führten dazu, dass sich keiner dafür zuständig fühlte und sie schließlich in Vergessenheit gerieten. Bis zu jenem Tag.
Die TSJ-Infizierten hatten es wahrlich nicht leicht. Zuerst starben sie unter heftigen Krämpfen und grässlichen Schmerzen, ähnlich virulent wie beim Ebolavirus, um Stunden später, als sie bereits klinisch tot waren, wieder aufzustehen, als eine Art aggressiver Schlafwandler, die über alles Lebendige herfielen, das ihnen über den Weg lief. Die Medien nannten sie Untote. Bis auch die Medien nicht mehr existierten, weil die meisten Reporter die Legionen der Infizierten vergrößerten, die schon bald die ganze Welt bevölkerten.
Mich traf dies alles wie ein Albtraum. Bevor ich es richtig begriffen hatte, sollte ich mich einer der zahllosen Evakuierungen anschließen, die überall organisiert wurden, als die öffentliche Ordnung zusammenbrach und sich das Chaos auf der ganzen Welt wie ein Lauffeuer ausbreitete. Den Medien folgte die Telekommunikation, und schließlich kollabierten auch die Regierungen. Drei Wochen nach Ausbruch der Infektion in Spanien war alles vorbei. Es gab keinerlei gesellschaftliche Ordnung mehr. Es gab keine Bevölkerung mehr. Von den Milliarden Menschen, die einen Monat zuvor die Welt bevölkerten, versuchten ein paar Tausende, inmitten einer überwältigenden Zahl von teilnahmslosen und wenig intelligenten Untoten zu überleben. Sie waren überall, brauchten weder Nahrung noch Schlaf, und den Überlebenden blieb nur ein einziger Ausweg.
Die Flucht.
Ich ließ die ausgenommenen Makrelen in den Eimer mit Meerwasser gleiten und legte die Eingeweide in den Napf des Katers. Lúculo beobachtete mich höchst aufmerksam, als würde er sich fragen, warum zum Teufel ich so lange brauchte, um sie ihm zu servieren.
»Bitteschön der Herr, für dich.« Als er sich über die Fischreste hermachte, streichelte ich ihm über den Rücken. »Ich weiß schon, Whiskas ist es nicht gerade, aber immerhin was zu fressen.«
Lúculo kaute lautstark und schmatzte zufrieden. Als ich ihm beim Fressen zusah, stieg mir bittere Magensäure auf. Ich lehnte mich an die Wand, bis der Anflug von Übelkeit vorüberging. Ich hatte in den letzten Monaten den schrecklichen Tod von zu vielen Menschen gesehen, und gelegentlich verursachten mir solche kleinen Alltagsszenen größte Übelkeit. Ganz natürlich, wenn man bedenkt, dass ich vor der Apokalypse nur mit toten Wesen in Berührung gekommen war, wenn ich im Supermarkt Fleisch kaufte. Lúculo hob den Kopf und starrte mich an, etwas überrascht von meinem bleichen Gesicht. Klugerweise verzichtete er auf jeglichen katzentypischen Kommentar und konzentrierte sich wieder auf seinen Fressnapf.
Taumelnd wankte ich durch die enge Kajüte zum Bad der Corinto II. Wir hatten vor dem Ablegen keine Zeit zum Wasserholen gehabt, weshalb das Süßwasser an Bord streng rationiert war. Den Spülkasten, dessen Wasser wir auch zum Waschen benutzten, hatten wir mit Salzwasser aus dem Ozean befüllt. Das Salz würde in wenigen Monaten sämtliche Leitungen korrodieren lassen, aber ich vertraute darauf, dass wir nicht so lange auf dem Segelboot bleiben müssten. Das Ergebnis nach zwei Wochen des Waschens mit Salzwasser sah man an unserem verkrusteten Haar und den Ablagerungen auf unserer Kleidung.
Ich erfrischte mir das Gesicht und betrachtete mich in dem gesprungenen Spiegel. Der zeigte mir einen dunkelhaarigen Mann mit kantigem Gesicht und langem Haar. Die tiefliegenden braunen Augen waren leicht blutunterlaufen, eine Folge des Schlafmangels und der langen stressigen Wochen. Oder vielleicht sollte ich besser Monate sagen.
Mein Leben war seit dem Augenblick, als ich mich von der Pandemie gezwungen sah, die Stadt zu verlassen, eine einzige Odyssee. Zuerst war ich in einem Boot in die naheliegende Stadt Vigo geflohen, wo es die größte Sicherheitszone Galiciens gab, nur um festzustellen, dass die Stadt komplett zerstört war. Nach einer ganzen Reihe von Zwischenfällen hatte ich mich in den Ruinen der Stadt mit Viktor Pritschenko angefreundet, einem ukrainischen Hubschrauberpiloten, der zum Löschen der Waldbrände in Galicien angeheuert worden war und Tausende Kilometer von Familie und Heimat entfernt von der Katastrophe heimgesucht wurde.
Seither waren Viktor und ich unzertrennlich. Zweifelsohne hatte uns die Entscheidung zusammenzubleiben mehr als einmal das Leben gerettet. Seit wir uns durch Vigos verkohlte Trümmer voller Untoter einen Weg gebahnt hatten und schließlich vom Festland auf die Kanarischen Inseln geflohen waren, agierten wir wie ein eingespieltes Team. Zu entdecken, dass die Glücksinseln in ein gigantisches Flüchtlingslager voller Überlebender aus aller Welt unter freiem Himmel umfunktioniert worden waren, wo strenge Rationierungen und brutale militärische Unterdrückung herrschten, und sie sich darüber hinaus am Rande eines Bürgerkrieges befanden, war ein schwerer Schlag für uns gewesen.
Als die Situation untragbar wurde und unser Leben in Gefahr geriet, begriffen wir, dass unsere einzige Alternative darin bestand, zu neuen Ufern aufzubrechen. Die Kapverdischen Inseln waren nicht weit entfernt und schon vor der Apokalypse ein abgeschiedener, dünn besiedelter Ort. Wir vertrauten darauf, dass auch sie von der Infektion verschont geblieben waren. Sie wären ein wunderbarer Ort, um ein neues Leben zu beginnen.
Und dann war da natürlich noch Lucía.
Ich verließ das Bad und zwängte mich zwischen Tisch und Mast hindurch, der vom Deck bis tief in den Bootskiel reichte. Die Tür zur Bugkajüte stand halboffen. So geräuschlos wie möglich steckte ich den Kopf hinein. Lucía lag auf der Koje und schlief fest. Sie trug nur einen geblümten Bikini, und ein Arm hing entspannt über die Bettkante hinaus. In der Hand hielt sie noch eine alte Modezeitschrift, die vor langer, sehr langer Zeit aus der Druckerei gekommen war, die aber zusammen mit einem Navigationshandbuch und einer halben Sportzeitung die ganze Bibliothek ausmachte, die der frühere Bootsbesitzer vor fast einer Million Jahren unter ein paar Kanister im Kielraum gelegt hatte.
Lucía hatte sich unserem Grüppchen, nur wenige Tage nachdem Prit und ich uns kennenlernten, angeschlossen. Im Chaos bei der Evakuierung der Stadtbevölkerung war die junge Frau von ihrer Familie getrennt worden.
Verloren und ängstlich hatte sie sich in den Keller eines Krankenhauses geflüchtet und dort verschanzt, bis Prit und ich ebenfalls dort strandeten. Trotz des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren und ohne es richtig gewahr zu werden, verliebten wir uns schon bald ineinander.
Die Welt hatte sich eindeutig sehr verändert, dachte ich lächelnd. Die meisten dieser Veränderungen waren ein Haufen Scheiße von der Größe eines Flugzeugträgers, aber das Kennenlernen dieses Mädchens bewirkte, dass ich manches Mal regelrecht dankbar war für diesen dämlichen Überfall in Dagestan.
Doch trotz der ganzen Konfusion, trotz Chaos, Tod und Zerstörung, die aufgrund dieses verfluchten Unfalls über die Welt kamen, hatten sich gewisse Dinge keinen Deut verändert. Die Männer waren immer noch gewalttätig, egoistisch und gefährlich, und wenn es die Situation erforderte, gingen sie auch über Leichen, aber sie lachten, sangen, träumten und weinten auch noch, und wenn sich die Gelegenheit bot, verliebten sie sich.
Vor allem, wenn sie eine Frau wie diese trafen.
Sie war der Typ Frau, die vor der Apokalypse allein durch ihr Auftauchen einen Stau verursacht hätte und nach der sich die Männer auf der Straße den Hals verrenkt hätten. Jetzt auch noch, korrigierte ich mich im Geiste, nur dass es auf der Welt nicht mehr so viele Männer gab, die man beeindrucken konnte.
Groß, schlank, mit endlos langen Beinen, langer schwarzer Mähne um ein harmonisches Gesicht mit hohen Wangenknochen und leuchtend grünen Augen besaß sie diese provokante und sinnliche Schönheit von jungen Frauen, wenn sie der Pubertät entwachsen. Mit ihren gerade mal achtzehn Jahren erinnerte sie mich oft an eine Pantherdame, vor allem, wenn sie sich träge räkelte wie in diesem Augenblick.
Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, schlich ich zu ihr und küsste sie sanft aufs Haar. Lucía stöhnte leise und drehte sich mit halb geschlossenen Augen um.
»Ist was passiert?«, murmelte sie verschlafen. »Bin ich schon dran mit der Wache?«
»Nein, mein Schatz«, flüsterte ich und strich ihr über die langen Beine.
Lucía hatte das letzte Viertel der Nachtwache übernommen und schlief erst seit vier Stunden. Eigentlich wollten wir drei die gleiche Stundenzahl an Wache schieben, aber Prit und ich wussten, dass Lucía am Rande ihrer Belastbarkeit war, und deshalb ersparten wir ihr ein paar Stunden. Sie war nicht dumm und merkte es, doch insgeheim war sie uns dankbar dafür. Die Erschöpfung präsentierte uns allen die Rechnung, auch wenn Prit und ich mehr Durchhaltevermögen aufbrachten, zumindest noch zu dem Zeitpunkt.
»Schlaf weiter. Du hast noch ein paar Stunden, bis du wieder an Deck musst.«
»Warum riecht es so nach Fisch?«, fragte sie plötzlich und rümpfte die Nase.
»Rate mal, was es heute zu essen gibt«, antwortete ich etwas beschämt, wobei ich mich bemühte, meine Hände voller Fischschuppen zu verbergen.
»Ihhgitt.« Lucía drehte sich um und zog das Kissen über den Kopf. In dem Moment neigte sich das Boot, weil eine größere Welle an die Seite schlug. Wenn wir am Abend mit stürmischer See rechnen müssten, sollte ich das Essen schnell fertig machen, um Prit später helfen zu können, die Leinen festzuzurren.
»Nun, wenn du mich schon fragst«, fuhr ich mitleidlos fort, »ich schwanke noch zwischen Filet Wellington abgelöscht mit Portwein und Bratkartoffeln oder gekochter Makrele ohne Beilagen. Ich weiß, dass Viktor und du im Grunde einen schlichten Geschmack haben, also neige ich eher zu Letzterem und …«
»Sei endlich still, oder ich bringe dich anderweitig zum Schweigen!« Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und starrte mich mit ihren großen grünen Augen an.
Ein weiterer Ruck brachte mich aus dem Gleichgewicht und ließ mich auf sie fallen. Ich spürte den Druck ihrer Brüste an meinem nackten Oberkörper und den warmen Geschmack ihres Speichels, als sie mich sekundenlang küsste, was mir wie eine Ewigkeit vorkam. In meiner Hose begann sich etwas zu regen, und ich hatte das Gefühl, dass die Temperatur in der Kajüte um einige Grade angestiegen war.
»Vielleicht könnten wir uns den Nachtisch vor dem Essen gönnen«, flüsterte ich ihr ins Ohr und tastete nach dem Häkchen ihres Bikinioberteils.
Statt einer Antwort krümmte sie den Rücken, um es mir leichter zu machen, und biss mir dabei sanft in den Hals. Plötzlich warf eine weitere Welle die Corinto II heftig hin und her, so heftig, dass wir beide an die Wand zum Steuerbord geworfen wurden. Ich stieß mit dem Rücken gegen eine scharfe Kante – ganz nach der alten Seemannsregel: Immer wenn du mit dem Rücken gegen etwas stößt, triffst du auf das einzige Ding, das dich verletzen kann –, und für einen Moment verschlug es mir den Atem vor Schmerz.
»Bist du okay?«, fragte Lucía, die versuchte, einen aufsteigenden Lachkrampf zu unterdrücken. »Ich wusste nicht, dass du das meintest, als du gesagt hast …«
»Ich auch nicht, glaub mir«, stöhnte ich und fasste mir an den Rücken. Es schmerzte, als hätte man mir einen Eispickel in die Wirbelsäule gerammt. »Was zum Teufel macht Viktor eigentlich da oben?«
Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, war Prits alarmierte Stimme zu vernehmen.
»Kommt sofort an Deck! Das müsst ihr sehen!«
Mit einem Satz war ich aus der Koje und mit einem weiteren aus der Kajüte. Als ich die vordere Kajüte durchquerte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass der Eimer zu Boden gefallen war und Lúculo mit gierigem Blick die ausgenommenen Makrelen belauerte, die im starken Wellengang von einer Seite zur anderen glitschten. Ich fand, das konnte warten, und erklomm die Leiter, die an Deck führte.
Das Schauspiel machte mich sprachlos. Ich hatte vor zwei Stunden Makrelen geangelt und war seither nicht mehr an Deck gewesen. Der Himmel hatte sich jeden Tag, seit wir Teneriffa verlassen hatten, absolut wolkenlos gezeigt, doch jetzt wirkte er wie ein beunruhigendes weißliches Mosaik. Über uns zogen in rascher Folge dicke Wolken hinweg, die sich wirr ineinanderschoben und wieder trennten. Auf der bis vor Kurzem ziemlich ruhigen See tummelten sich Schaumkronen, die seitlich ans Boot schlugen. Doch als ich mich zum Luv umdrehte, wich mir das Blut aus dem Gesicht. Am Horizont stand eine riesige schwarze Wand; durch sie zuckte flackerndes Licht von Blitzen, die wir noch nicht sehen konnten. Dieses Monstrum war viel gewaltiger als jegliches Unwetter, das ich je auf hoher See erlebt hatte.
Ich glitt zum Vorpiek und warf einen Blick auf das Barometer. Wie ich befürchtet hatte, stand das Quecksilber unglaublich tief und sank vor meinen Augen weiter.
Ich musste schlucken und wünschte einen Moment, das alles möge nur ein Albtraum sein. Ich hatte schon von solchen Stürzen des Barometers gehört, hätte aber nie gedacht, es einmal am eigenen Leib zu erleben. Und schon gar nicht unter diesen Umständen, Hunderte von Seemeilen vom nächsten Hafen entfernt, in einem alten Segelboot mit einer Takelage in ziemlich schlechtem Zustand.
»Was zum Teufel ist das, Kapitän?« In Viktors Augen machte mich die Tatsache, einen Segelschein zu besitzen, automatisch zum erfahrenen Seemann. Dass ich mit diesem Schein nur kleine Boote fahren durfte und ich mich bisher höchstens drei Meilen von der Küste entfernt hatte, schien ihm gleichgültig zu sein, aber ich war starr vor Schreck.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, Viktor«, antwortete ich, wobei ich bereits den Spinnaker einholte. »Aber wenn es das ist, was ich befürchte, haben wir schon bald ein ganz dickes Problem.«
»Wie dick?«, fragte er und half mir beim Einholen des Segels.
»Viktor, das ist sehr ernst«, erwiderte ich leise und sah ihm dabei in die Augen. Lucía stand in der Luke. Sie hatte alles gehört und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Wolkenwand, die sich mit großer Geschwindigkeit auf uns zubewegte. »Ich hoffe, mich zu irren, aber wenn nicht … könnten wir spätestens in zwei Stunden tot sein.«