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Zoran Drvenkar

DER LETZTE ENGEL
DER RUF AUS DEM EIS

Roman

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Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House

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1. Auflage 2015

© 2015 Zoran Drvenkar

© 2015 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der

Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagillustration: © circolo dei gatti, Veronika Wunderer

Umschlaggestaltung: © circolo dei gatti, Firenze

KK · Herstellung: UK

Satz: Corinna Bernburg

ISBN: 978-3-641-15649-7
V002


www.drvenkar.de

www.cbj-verlag.de

für Ulrike,
du bringst uns zum Leuchten

DER ERSTE TAG

Aber so wenige wissen, wie man richtig lebt.

Leben heißt, ein Ziel für seine Sehnsucht zu suchen.

Lars Sund

WILLKOMMEN IM LEBEN

Und dann ist da ein Mann, der nicht an Engel glaubt. Er glaubt nicht an den Tod und auch nicht an das Leben. Der Mann ist so erfüllt von Sehnsucht, dass er keinen klaren Gedanken fassen kann. Die Sehnsucht ist eine Flamme, die hell und klar in seinem Verstand brennt.

Und sie brennt.

Und sie lodert.

Und sie treibt ihn an.

Ein Wagen hupt, jemand ruft, der Mann geht weiter.

Sein Hemd ist neu und knarrt bei jedem Schritt. Der Anzug ist oft getragen worden, auch er gibt Laute von sich. Es sind müde Laute. Als hätte der Anzug seine besten Tage hinter sich und wollte endlich ruhen. Dazu erklingt das beständige Klopfen der Schuhsohlen. Leder auf Stein. Der Takt ändert sich nicht, der Mann schreitet beharrlich voran.

Die Leute weichen aus.

Die Autos bremsen.

Er ignoriert das Rot der Ampel und geht weiter.

Der Mann sieht nichts um sich herum, er spürt nichts um sich herum, er existiert nur aus einem urmenschlichen Verlangen heraus und dieses Verlangen ist Sehnsucht. Sie lässt keinen Platz für andere Gefühle. Auf diese Weise überquert er eine Straße nach der anderen und läuft dabei im Schatten, denn das Licht blendet ihn.

Ein Hund duckt sich.

Ein Kind lässt sein Eis fallen.

Er geht weiter.

Es ist Mittag und der Himmel ist wolkenlos. Der Mann hat kein Interesse an der Zeit oder dem Wetter. Es könnte Nacht sein, es könnte regnen oder schneien. Nichts verzögert seinen Schritt. Nichts lenkt ihn ab. Er ist frei vom eigenen Denken. Es ist der reinste Zustand des Seins und der Mann hat ihn erreicht. Er ist ein Pfeil, der von der Sehne geschnellt ist. Es gibt nur ein Ziel und darauf bewegt er sich zu.

Das Haus ist ein Haus von vielen. Mit Fenstern, Türen und Zimmern, mit Menschen, die reden, schlafen und denken. Die Fassaden sind alle in der gleichen Farbe gestrichen, die Hecken haben eine Höhe. Früher hat es den Mann gestört. Er wollte anders sein. Also hat er der Garage einen rot-grünen Anstrich verpasst und zu Weihnachten verrückte Beleuchtungen um die Fenster herum angebracht. Jetzt interessiert es ihn nicht mehr, wie sein Zuhause aussieht. Farben und Formen haben ihre Bedeutung verloren.

Er überquert die Straße.

Die Haustür ist unverschlossen.

Er tritt ein und geht durch den Flur und bleibt stehen, als ihm ein Junge den Weg versperrt.

»Papa?«

Der Mann sieht den Jungen an, der Junge sieht den Mann an, nichts weiter geschieht, dann streckt der Junge vor Glück beide Arme in die Luft, als hätte er das entscheidende Tor geschossen. Er ist fünf Jahre alt und nur mit Shorts bekleidet, sein Oberkörper ist nackt und an seinem linken Daumen klebt ein Pflaster. Der Junge hat sich noch nie so glücklich gefühlt. Er rennt auf den Mann zu und umschlingt seine Beine. Und klammert sich fest. Und klammert sich fest.

»Mama, Papa ist wieder da!«, ruft er laut. »Papa ist wieder da!«

Der Mann rührt sich nicht.

Der Junge schaut zu ihm hoch und bemerkt jetzt erst, dass etwas anders ist. Der Mann schaut nicht mehr zu ihm runter.

Als wäre ich nicht da, denkt der Junge und sagt:

»Ich wusste, dass du zurückkommst.«

Und er sagt:

»Ich habe es Mama verraten, aber Mama hat mir nicht geglaubt.«

Der Mann macht einen Schritt nach vorn, der Junge wird von seinem Bein zur Seite geschoben, der Mann geht weiter.

Durch den Flur und die Treppe hoch.

Er ist dem Ziel so nahe.

Eine Tür.

Noch eine Tür.

Da.

Angekommen.

Die Mutter hat den Jungen rufen gehört, aber kein Wort verstanden, denn die Terrassentür ist wegen der Fliegen nur einen Spalt geöffnet. Der Garten liegt noch im Schatten, bald werden sie die Vorhänge zuziehen müssen, um die Hitze auszusperren.

Die Mutter sitzt unter dem Kirschbaum auf einer Bank und nippt von ihrem Wein. Seit dem Erwachen hat sie sich auf diesen Moment gefreut. Eine Wespe umsummt ihr Glas, sie wedelt sie weg und wünscht sich, jemand würde für eine Weile auf den Jungen aufpassen. Am besten wäre es, wenn er zu einem seiner Freunde ginge. Der Mutter ist im Moment alles zu viel. Was würde sie nicht für zwanzig Stunden ununterbrochenen Schlaf geben.

Die Terrassentür gleitet auf und da steht der Junge und sie bereut es sofort, ihn weggewünscht zu haben. Sie sind seit einer halben Stunde vom Bestatter zurück und der Junge hat sich sofort umgezogen. Er stand vor dem Spiegel und sagte immer wieder: »Das bin ich nicht.«

Das Jackett, die Hose, das Hemd, die Schuhe.

Nein, das war er nicht.

Jetzt ist sein Oberkörper nackt und die Rippen drücken gegen die Haut wie Äste, die sich dem Frühling entgegenstrecken. Der Junge ist so dürr, dass sich die Mutter manchmal Sorgen macht.

»Mama!«, ruft er.

»Ich bin müde«, sagt sie.

»Aber Papa ist wieder da!«

»Nicht«, sagt die Mutter und ihre Stimme ist so schwach, dass der Junge sie überhört.

»Aber Papa ist wieder da!«, wiederholt er aufgeregt.

Sie winkt ihn zu sich, umarmt ihn und drückt seinen Kopf an ihren Bauch. Er hört es gluckern und wünscht sich, er hätte den Röntgenblick und könnte sehen, was da so im Bauch seiner Mutter vor sich geht. Sie streicht über sein Haar und würde viel dafür geben, diese Zuversicht wieder zu besitzen. Dieses Wissen, dass jeder Morgen ein guter Morgen ist, weil jemand da ist, der sich um einen kümmert. Seitdem sie mit dem Jungen allein ist, hat sich eine Kluft aufgetan. Jeder Morgen ist einfach nur ein weiterer Morgen, den sie hinter sich bringen muss.

»Ich leg mich ein wenig hin«, sagt sie.

»Aber wirklich wirklich«, sagt der Junge, »Papa ist zurück!«

Sie lächelt, sie ist eine gute Mutter, sie ist aber wirklich sehr müde. Morgen geht es weiter, denkt sie und fürchtet sich vor dem nächsten Tag. Der Junge gibt nicht auf, er zieht an ihrer Hand, sie seufzt und folgt ihm, lässt sich ins Haus und die Treppe hochführen.

»Ich wusste, dass er zurückkommt«, plappert der Junge weiter. »Sie haben es mir gesagt. Und was ich weiß, das weiß ich, so ist das nun mal.«

Die Mutter bleibt auf dem obersten Treppenabsatz stehen, sodass der Junge sie nicht weiterziehen kann. Sie hockt sich hin und fällt beinahe hintenüber. Sie weiß nicht, ob sie zwei oder drei Gläser Wein getrunken hat. Sie bereut es, die Flasche nicht mit hochgenommen zu haben.

»Du gehst jetzt in dein Zimmer und spielst ein wenig«, sagt sie, »und Mama geht in ihr Zimmer und schläft ein wenig. Danach schauen wir, was uns Tante Julia zum Nachtisch in den Kühlschrank gestellt hat, einverstanden?«

»Aber …«

Sie legt ihren Zeigefinger auf seine Lippen. Es ist ein altes Spiel. Wer dem anderen als Erster den Zeigefinger auf die Lippen legt, der hat den Zauber und der Zauber ist Schweigen.

»Ganz ehrlich«, sagt sie, »ich muss schlafen.«

Der Junge spürt die Tränen hochkommen und blinzelt sie weg. Er hat in den letzten Tagen so viel geweint, er will nicht mehr. Also nickt er und gibt seiner Mutter einen Kuss auf den Finger. Danach geht er in sein Zimmer, dreht sich aber im Türrahmen um.

Gleich, denkt er, gleich wird sie sehen, dass ich recht habe.

Die Mutter schließt die Schlafzimmertür hinter sich.

Der Junge wartet. Er wartet geduldig, dass seine Eltern gemeinsam das Zimmer verlassen und sagen: Alles ist wieder gut. Er wartet und wartet und schreckt zusammen, als er seine Mutter schreien hört. Hoch und spitz. Dann ist es wieder still.

Wenn ich mich freue, klingt das anders, denkt der Junge und wartet weiter.

Vier Minuten, bevor die Mutter schreit, lehnt sie mit der Stirn an der geschlossenen Schlafzimmertür und glaubt, dass es ein Fehler war, dem Jungen die Grabstelle seines Vaters zu zeigen. Sie fühlt sich ausgelaugt und wie sie da an der Tür lehnt und sich fragt, wie sie die Beerdigung morgen früh überstehen soll, bemerkt sie den Geruch. Creme oder Lotion. Sie hebt die Hände an ihre Nase, riecht an ihrer Bluse.

Nein, der Geruch kommt von woanders.

Sie tritt ans Fenster und klappt es an. Eine warme Brise weht herein, der Geruch wird intensiver. Sie lässt die Jalousien bis auf einen schmalen Spalt herunter. Das Zimmer versinkt im Halbdunkel. Sie riecht erneut an ihren Händen. Nichts.

Nur einen Moment schlafen, denkt sie, mehr will ich nicht.

Sie wendet sich dem Bett zu und erstarrt. Der Mann liegt da, wie er da immer gelegen hat. Auf der Seite, Arme und Beine angewinkelt, als wollte er in sich verschwinden. Sie wagt es nicht, näher zu kommen. Im Dämmerlicht wirkt sein Gesicht wächsern, die Decke ist bis zu seinem Kinn hochgezogen.

Wie immer, denkt sie und wartet, dass er verschwindet, dass er sich wie ein wirrer Gedanke aus den Laken löst und nur einen Abdruck zurücklässt. Eine Illusion, die durch Müdigkeit, Hitze und Alkohol entstanden ist.

Aber er liegt da und er bleibt da liegen.

Er ist hier, denkt sie, er ist …

Sie bemerkt, dass der Geruch vom Bett kommt. Sie bemerkt die Schuhe, die unter der Decke hervorschauen. Schwarzer Lack mit Ledersohle. Sie hat die Schuhe vor zwei Tagen für den halben Preis gekauft, weil die Verkäuferin Mitleid mit ihr hatte. Sie wurden nie getragen und jetzt sind die Sohlen zerkratzt.

Sie begreift, dass er komplett angezogen im Bett liegt.

Sie begreift auch, was für ein grausamer Scherz das ist.

Jemand hat meinen Mann da reingelegt.

Ihr Hals zieht sich zusammen, ein Schrei der Wut baut sich auf.

Jemand hat meinen toten Mann vom Bestattungsunternehmen entführt, hierhergebracht und in unser Bett gelegt!

Für Sekunden geschieht nichts und jetzt erst spürt sie, dass sie schon seit einer Weile aufgehört hat zu atmen. Als hätte der Mann das auch bemerkt, verlässt ein Seufzer seine Brust. Er öffnet die Augen und sieht sie an.

Sie kann nicht wissen, dass er an seinem Ziel angekommen ist.

Das Ende der Sehnsucht.

Hier.

Der Mann hat alles erreicht, er muss nichts mehr tun, er hat kein Verlangen mehr. Die Flamme in seinem Kopf ist zu einem Glühen zusammengesunken. Sein Mund klappt auf. Ein trockener Wattebausch fällt heraus und bleibt Zentimeter von seinen Lippen entfernt auf der Matratze liegen. Der Mann spürt seine Zunge im Mund, kann aber nichts mehr mit ihr anfangen. Ein zweiter Seufzer steigt aus seiner Brust nach oben, als wäre sein Atem eine Quelle, die am Versiegen ist.

Die Mutter weicht zurück, bis ihr Rücken die Wand berührt, und dann schreit sie.

EINE STUNDE VORHER

Nachdem sie beim Bestatter gewesen waren, hatte der Junge darauf bestanden, dass sie am Friedhof aus dem Bus stiegen. Er wollte sehen, wo sein Vater begraben werden sollte. Die Mutter hielt gar nichts davon, sie sagte, er würde den Friedhof schon früh genug zu Gesicht bekommen. Die Beerdigung sollte am nächsten Morgen stattfinden.

»Nur für eine Minute«, sagte der Junge. »Bitte.«

Sie verließen den Bus am Friedhof und schauten auf dem Lageplan, wo das Grab des Vaters liegen sollte. Sie gingen Hand in Hand. Es war ein warmer Sommermorgen und für einen Moment war sich die Mutter sicher, alles würde gut werden.

Nach fünfzig Metern kamen sie an einer Beerdigung vorbei und dieses Mal sagte die Mutter Nein, als der Junge sich dazustellen und mal schauen wollte. Es fiel ihr sehr schwer, ihm Grenzen zu setzen, denn der Tod hatte schon die schlimmste Grenze zwischen Vater und Sohn gezogen.

Sie liefen an den Trauernden vorbei und fanden nach einer Viertelstunde die Grabstelle des Vaters. Das Stück Erde war unscheinbar. Kein Baum wuchs in der Nähe, das Gras wirkte müde und ein Pappschild mit dem Familiennamen steckte schief im Boden. Die Mutter bereute es sehr, sich gegen eine Feuerbestattung entschieden zu haben. Der Junge sah sich zweifelnd um.

»Hier?«, sagte er.

»Wir können ja einen Baum pflanzen«, sagte die Mutter.

»Hier?«, wiederholte der Junge.

»Ich weiß, es ist nicht besonders«, sagte die Mutter, »aber hier ist es.«

Die Grabstelle war nur ein paar Schritte vom Weg entfernt. Wenn der Junge nach rechts schaute, sah er einen grünen Mülleimer. Auf dem Kiesweg wurde ein leerer Pappbecher von einer Brise mal nach links, mal nach rechts bewegt. Der Junge wollte wieder gehen. Die Mutter war erleichtert. Sie wandten sich ab und gingen. Beide hatten denselben Gedanken: Es wäre so schön, nicht noch einmal herkommen zu müssen.

Auf dem Rückweg kamen dem Jungen die Tränen. Er hatte gedacht, er kommt auf den Friedhof und da ist eine große Wiese und ein wunderschöner Platz, der nur für seinen Vater reserviert ist. Er hielt den Blick gesenkt und weinte lautlos, damit seine Mutter es nicht mitbekam. Und sie bekam es auch nicht mit. Sie hatte ihre Sonnenbrille auf und war in Gedanken schon zu Hause. Sie saß im Garten auf der Bank und goss sich Wein ein und vergaß für eine Weile, dass sie ihren Mann verloren hatte und dass ihn nichts und niemand zurückbringen konnte.

Als sie den Friedhofseingang erreicht hatten, hörte der Junge ein Knirschen hinter sich. Er wischte sich die Tränen weg und drehte sich um. Eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben fuhr im Schritttempo auf sie zu. Die Mutter zog den Jungen ein Stück zur Seite, um den Wagen vorbeizulassen. Der Junge konnte nicht anders, er hob die Hand und winkte dem Fahrer.

Als wäre es ein verabredetes Zeichen, blieb die Limousine neben ihnen stehen. Der Motor schnurrte und nichts weiter geschah. Die Mutter wollte weitergehen, tat es aber nicht, weil sie wusste, wie sehr der Junge in Autos vernarrt war.

Eines der Fenster glitt herunter.

»Wen haben wir denn da?«, sagte eine brüchige Stimme.

»Mich«, sagte der Junge, weil ihm beim Anblick der alten Dame keine andere Antwort einfiel. Er hatte noch nie so viele Falten in einem Gesicht gesehen. Er wollte die Haut berühren und schauen, ob es eine Maske war. Natürlich wusste er, dass das nicht ging. Niemand mag es, im Gesicht betatscht zu werden. Obwohl die alte Dame uralt aussah, funkelten ihre Augen, als würde in ihrem Kopf ein Gewitter stattfinden.

»Und dein Name ist?«, fragte sie.

»Daniel.«

»Daniel?«

Der Junge nickte, seine Mutter stand hinter ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern, die alte Dame sah zu ihr auf und lächelte.

»Nicht traurig sein«, sagte sie.

Da begann die Mutter zu weinen, es brach regelrecht aus ihr heraus.

Der Junge schaute zu ihr hoch.

Der Junge schaute wieder zur alten Dame.

Die alte Dame fragte, wer denn gestorben sei.

»Mein Papa«, antwortete der Junge.

Die alte Dame lächelte wieder, als wäre der Tod nichts Schlimmes, dann winkte sie den Jungen zu sich. Er sah die Farbe auf ihren Fingerspitzen, zumindest hielt er es für Farbe. Seine Finger sahen auch immer so aus, wenn er malte. Der Junge trat zwei Schritte vor, die Mutter nahm die Hände von seinen Schultern und ließ ihn gehen. Jetzt konnte der Junge in das Innere der Limousine schauen. Zu seiner Überraschung sah er dort eine zweite alte Dame sitzen.

»Seid ihr Schwestern?«, fragte er.

»Mehr oder weniger«, sagte die alte Dame.

»Hallo, Daniel«, sagte die andere alte Dame.

»Hallo«, sagte der Junge und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er musste an die Hexe aus Hänsel und Gretel denken. Wenn die alten Damen jetzt sagten, er solle mal den Finger ausstrecken, dann würde er rennen wie der Wind.

»Soll ich dir was verraten?«, fragte die erste Dame.

Der Junge hielt die Luft an und nickte und hörte, wie sich seine Mutter hinter ihm schnäuzte.

»Sei ohne Sorge, Daniel, niemand stirbt einfach so. Dein Papa kommt bald wieder.«

»Versprochen?«, sagte der Junge.

»Versprochen«, sagten die zwei Damen gleichzeitig, dann strich eine uralte Hand mit eingetrockneten Blutspritzern über die Wange des Jungen, und das war der Abschied.

Das Fenster glitt hoch und die Limousine setzte sich wieder in Bewegung.

Der Junge stand da und musste sich sehr beherrschen, um nicht auf der Stelle zu tanzen. Er hatte es die ganze Zeit über gewusst. Niemand starb einfach so, das war eine Lüge. Es fühlte sich an, als hätte der Junge nur darauf gewartet, dass ihm jemand die Wahrheit verriet. Es war geschehen, es war die Wahrheit – sein Vater würde zurückkehren.

MOTTE

Zwei Engel ohne Flügel saßen auf einem Friedhof und hörten die Toten kommen. Der eine Engel war ich, der andere Engel hieß Esko und beide waren wir schlecht gelaunt. Ich fühlte mich ganz besonders mies, denn man hatte mir vor einer Stunde mit einer Heckenschere die Flügel abgeschnitten, mich in mein eigenes Grab geworfen und mit Erde bedeckt. Keine Ahnung, wie ihr darüber denkt, aber ich finde, da hilft selbst der beste Sinn für Humor nicht, denn das kann man einfach nicht witzig finden. Da hilft es auch nicht, wenn man nach einer Stunde wieder ausgegraben wird. Beerdigt werden ist nie spaßig.

Links von mir kniete meine große Liebe Rike. Sie war ein Jahr älter als ich, hatte langes schwarzes Haar, eine Haut wie Milch und war eigentlich viel zu schön, um sich für einen Typen wie mich zu interessieren. Rechts von mir hockte mein bester Kumpel Lars. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und er war Held und Pfeife in einer Person – wenn es brenzlig wurde, rannte Lars weg; kam er dann aber zurück, ging man besser in Deckung. Mir gegenüber hockte der andere Engel ohne Flügel. Er sah aus wie jemand, der schon seit einer Weile auf der Straße lebt – halblanges, verfilztes Haar, gebrochene Nase und ein paar Schrammen auf den Wangen. Er hatte keinen Kumpel an seiner Seite, weil alle seine Kumpel vor einer halben Million Jahren gestorben waren. Ich weiß, wie das alles klingt. Es klingt wie der witzige Anfang für ein Theaterstück von Beckett, in dem alle auf Godot warten und sich Wortduelle liefern, die niemand versteht.

MOTTE: Hört ihr sie denn nicht kommen?

RIKE: Was … Was ist das?

MOTTE: Ich will meine Flügel zurückhaben.

LARS: Oh Mann, Alter, was passiert hier?

ESKO: Die Toten erwachen.

Ich wünschte, es hätte sich um ein absurdes Theaterstück gehandelt. Selbst mit einer mickrigen Schulaufführung hätte ich mich zufriedengegeben. Alles wäre in dem Moment besser gewesen als das wahre Leben, in dem ich mit sechzehn Jahren den Löffel abgegeben hatte.

»Was heißt denn, die Toten erwachen?«, fragte Rike.

Die Geräusche um uns herum waren nicht zu überhören. Es rumorte und scharrte und ich war mir sicher, jeden Moment würde eine Klaue aus dem Boden schießen und mir den Finger zeigen. Sie wäre damit absolut im Recht gewesen, denn ich allein war verantwortlich – mit einem simplen Atemzug hatte ich die Toten erweckt.

»Ich kann das erklären«, sagte ich und ließ mir von Lars aufhelfen.

Rike fasste mit an, und so kam ich auf die Beine, einen Arm um Rike, einen um Lars gelegt. Mein Rücken schmerzte höllisch, die Knie waren butterweich, ich trug nur meine Shorts und war ein dürrer Jugendlicher, der sich fühlte, als würde er aus einem jahrelangen Koma erwachen. Ich atmete tief durch, bis ich dachte, meine Lungen würden platzen. Es war wie Durst löschen, es war wie nach einer langen Zeit der Dunkelheit wieder Licht sehen. Als ich mir sicher war, ich könnte von allein stehen, ließen mich meine Freunde los und schauten mich fragend an. Ich bereute es, die Klappe so weit aufgerissen zu haben. Was sollte ich ihnen erklären? Dass mir vorhin zwei alte Damen eine Prophezeiung ins Ohr geflüstert hatten? Wie hörte sich das an? Und wer sollte mir glauben, dass diese zwei alten Damen danach mit meinen Flügeln abgehauen waren?

»Wer hat dich denn vergraben?«, fragte Rike.

»Zwei alte Damen und ein Chauffeur«, sagte ich.

Lars lachte, Esko schaute über den Friedhof, als könnte er irgendwo in der Ferne die alten Damen und den Chauffeur sehen. Er war zu dem Zeitpunkt ein Fremder für mich.

»Und wer bist du?«, fragte ich.

Esko sah mich an, er sah mich lange an, dann antwortete er:

»Mein Name ist Esko. Auch ich habe meine Flügel verloren.«

»Du bist ein Engel?!«

Er sparte sich eine Antwort und sagte:

»Ich habe ein paar wichtige Informationen für dich. Am besten bringen wir das gleich hinter uns.«

Er lächelte schwach und fügte hinzu, dass es wehtun könnte.

»Kein Problem, ich kann was vertragen«, sagte ich.

Es sollte witzig klingen, keiner lachte. Esko trat einen Schritt vor und legte seine Hand um meinen Nacken. Er kam mir mit seinem Gesicht so nahe, dass ich für einen Moment dachte: Oh nee, jetzt küsst er mich. Seine Stirn berührte meine und sofort schoss mir ein glühender Schmerz durch den Kopf, und der Schmerz war wie ein Skalpell, das für Sekunden in meinem Gehirn herumschnitt, ehe Esko mich wieder losließ. Ich war erstarrt, ich stand da und konnte mich nicht bewegen. Etwas Warmes kroch mir aus der Nase und erst als es meine Oberlippe erreicht hatte und mir in den Mund floss, schmeckte ich mein eigenes Blut.

»Ach du Scheiße«, sagte ich und fiel im selben Moment in mich zusammen wie eine Marionette, der man die Schnüre gekappt hat.

Die paar wichtigen Informationen waren innerhalb von Sekunden durch mich hindurchgerauscht. Esko gab mir in diesem kurzen Zeitraum sein ganzes Wissen. Als wäre mein Kopf eine leere Festplatte, die nur darauf gewartet hatte, gefüllt zu werden. Ich wusste von dem Moment an alles über die Entstehung der Engel und wie es vor einer halben Million Jahren zum Krieg mit den Menianern gekommen war. Ich erfuhr von den Blutsgeschwistern und ihrer bitteren Fehde gegen die Engel; von Mona und auf welchem Weg sie Esko aus ihrer Erinnerung geholt hatte. Das war aber noch nicht alles. Mit Eskos Wissen füllte mich auch das Wissen von Jean-Luc Fleur, dem Archivar aus Edinburgh, sodass ich alles über den Fund im Eis, die Familie und die Experimente erfuhr. Im Zentrum des Geschehens standen die Gräfinnen und mein Großvater. Alle Fäden führten zu ihnen. Vor allem meinen Großvater sah ich jetzt in einem anderen Licht. Wir waren so sehr verwandt wie ein Kaktus und eine Tischtenniskelle – mein angeblicher Großvater war der legendäre Zar Alexander I., ehemaliger Kaiser von Russland und gute 230 Jahre alt.

Eine Million Bilder pro Sekunde rauschten durch meinen Kopf, es war eine unfassbare Menge an Wissen, die da auf mich einprasselte. Nur über die Prophezeiung lernte ich nichts, sie schien in der Erinnerung von Esko und dem Archivar nicht zu existieren. Dafür erfuhr ich alles über die Entstehung der Bruderschaft und Dimitri Lazars Rolle bei der Vernichtung der Häuser. Es war zu viel. Die Informationsflut war so unglaublich groß, dass mein Denken die Bremse zog und ich ohnmächtig wurde.

Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf einer Parkbank und Rike hockte vor mir und hielt meine Hand. Sie sah mich an, als würden wir uns eine Ewigkeit kennen. Ich sah sie an wie ein alter Mann, der müde davon ist, das Weltgeschehen zu beobachten. Rike hatte keine Ahnung, was eine Ewigkeit war. Eine Ewigkeit kann vier Tage anhalten. In einer Ewigkeit stirbst du, deine Leiche wird gegrillt und deine Seele aus einem Raben rausgeschnitten. In einer Ewigkeit wirst du mit dem Wissen eines Engels vollgepumpt und erfährst eine der größten Lügen, die dir bisher aufgetischt worden ist.

»Meine Eltern sind nicht meine Eltern«, sagte ich.

»Ich weiß«, sagte Rike, »Esko hat es uns erzählt.«

Ich sah zu Esko, und als ich sprach, klang meine Stimme ein wenig schrill:

»Und ich bin ein Genexperiment?! Ich meine, jetzt mal echt, sie haben mich aus deinen Genen gemacht?!«

»Es tut mir leid«, antwortete Esko, als wäre es seine Schuld.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen. So saß ich eine ganze Minute und keiner sagte was, dann stand ich auf und wollte gehen. Ich kam zwei Schritte weit. Wohin willst du, wenn du kein Zuhause mehr hast und für die Welt tot bist? Wohin willst du, nachdem du erfahren hast, dass dein Leben bis zu diesem Tag eine einzige große Lüge gewesen war? Ich wusste nicht weiter. Esko kam an meine Seite und legte mir einen Arm um die Schultern. Zwei Engel ohne Flügel standen nebeneinander auf dem Friedhof und starrten vor sich hin.

»Mit der Zeit wird es einfacher«, sagte er.

»Wirklich?«

»Versprochen.«

»Und bis dahin?«

»Bis dahin tut es weh.«

Lars räusperte sich hinter uns.

»Leute, ich will ja euren Moment nicht stören«, sagte er, »aber wir haben da ein Problem.«

Wir drehten uns um. Eine Frau kam über den Kiesweg auf uns zu. Sie trug ein bodenlanges Kleid, der Körper war ein wenig nach links geneigt, die Frisur saß schief und wirkte wie festgefroren. Die Arme waren bis zu den Ellenbogen verdreckt und ihre Gesichtshaut erinnerte an eine verwitterte Landschaft, die zu viel Sonne abbekommen hat. Ich schätzte, sie musste schon seit einer Weile unter der Erde gelegen haben.

Wir traten zur Seite und machten ihr Platz.

Sie beachtete uns nicht, sie ging an uns vorbei, ohne dabei einen auf Zombie zu machen – keine vorgestreckten Arme, kein Sabbern oder Knurren. Nur zwei nach vorn starrende Augen, nur ein Körper, der weiterwollte.

»Da kommen noch mehr«, sagte Rike.

Zehn Meter von uns entfernt wurde das Gras nach oben gedrückt, als würde ein schüchterner Maulwurf versuchen, nach Luft zu schnappen. Dann brach der Boden auf und ein Paar Hände schoben die Erde beiseite. Ein Männerkopf folgte. Der Tote war vielleicht vor einem Monat beerdigt worden, vielleicht war es auch länger her, ich bin da kein Experte. Sein Gesichtsausdruck war blank, wie bei einem schlechten Schauspieler, der nur einen Gesichtsausdruck hat.

Ich wich zurück und stieß gegen Esko. Sein Blick sagte alles. Er musste in diesem Moment begriffen haben, dass es eine ausgesprochen dumme Idee gewesen war, mich ins Reich der Lebenden zurückzuholen.

Ich kam nicht allein, ich brachte die Toten mit.

Sie spazierten über den Kiesweg, Dreck rieselte von ihrer Kleidung, die Gesichter waren größtenteils verwest, offene Münder und keine Mimik. Sie waren zu acht und liefen nebeneinander her, als hätten sie ein gemeinsames Ziel. Wir ließen sie passieren. Wir standen einfach nur da und sahen zu, wie sie an uns vorbei zum Friedhofsausgang marschierten. Als wären wir Geister und sie könnten uns nicht sehen. Es war ein strahlender Montagmittag und keiner von uns ahnte, was mein erster Atemzug alles für Auswirkungen haben würde.

DIE TOTEN

Sie steigen aus der Erde, sie kommen aus dem Wasser und ziehen sich aus Felsspalten hoch. Sie wühlen sich aus verborgenen Gräbern und suchen das Licht. Nicht alle haben genügend Kraft. Viele erstarren in der Dunkelheit und zucken und beben und kommen nicht voran. Was sie aber auch tun, sie alle haben eines gemeinsam: Die Sehnsucht treibt sie an, jede Fiber ihres leblosen Körpers strebt nach der Befriedigung dieser Sehnsucht. Sie wollen nicht zurück in das Leben. Sie sind tot, das Leben kann nichts mit ihnen anfangen. Sie wollen zu dem Ort, der ihre Existenz möglich gemacht hat. Sie wollen zu den Menschen, die ihnen Sicherheit gaben.

Geliebte. Kinder. Freunde.

Sie sehnen sich mit solch einer Intensität, dass der Tod sie nicht mehr halten kann. Denn das ist es, was es heißt, das Tote zu erwecken – die Sehnsucht nach dem Erinnerten wird entfacht. Und ist sie erst einmal entfacht, dann will sie auch gestillt werden.

DAS MÄDCHEN

Zwei Stunden bevor Motte aus seinem eigenen Grab befreit wird, sitzt Mona auf der Bettkante und die Sonnenstrahlen fließen wie eine goldene Flüssigkeit über die Holzdielen auf sie zu. Sie weiß, dass das Haus der Kormorane jeden Moment erwachen wird. Es ist Sommer und in den Nächten stehen die Fenster offen und die Mücken hängen an den Fliegengittern wie müde Bergsteiger, die Rast machen. Jasmin schläft noch, es ist kurz nach sieben und auch in den Nebenzimmern ist es still. Die sieben Schwestern drehen sich in ihren Betten auf die andere Seite. Sie spüren den neuen Tag bis in ihre Träume hinein und zögern den Moment des Erwachens hinaus. Mona weiß, dass die Haushälterin Stella O’Niven jetzt in der Küche das Frühstück vorbereitet; sie weiß auch, dass der Großteil der Gouvernanten bereits draußen auf der Terrasse sitzt, Tee trinkt und dabei dem Radio lauscht.

Mona wird wehmütig bei dieser Vorstellung. Da ist ein Verlangen nach dieser Zeit, die nie mehr sein wird. Sie will in diesem Moment verharren – Stella, die die Brötchen aus dem Backofen holt, das Gemurmel der Gouvernanten, das Meeresrauschen und alle Schwestern in ihren Betten.

In Sicherheit, denkt Mona und setzt die Füße auf den warmen Dielenboden.

Sie schleicht auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und geht den Flur hinunter ins Bad. Der Wasserhahn an einem der vier Waschbecken tropft. Mona dreht ihn zu und betrachtet sich im Spiegel.

Ich bin hier und hier will ich bleiben, denkt sie und wünscht sich Jasmin würde zu ihr kommen.

Die Badezimmertür schwingt auf und Jasmin kommt herein.

»Ich bin noch nicht wirklich wach«, sagt sie und setzt sich aufs Klo. Ihre Augen sind nur einen Spalt geöffnet und wenn das leise Geräusch aus der Kloschüssel nicht wäre, hätte Mona schwören können, dass ihre Schwester wieder eingeschlafen war.

»Was schaust du so?«, fragt Jasmin.

Mona hebt die Schultern. In einem Traum weiß man nicht, dass man träumt. In einer Erinnerung ist man sich aber immer vollkommen bewusst, dass man sich erinnert. Die Schwestern und Stella sind seit vier Tagen tot, sie alle sind wie die Gouvernanten und die Hausherrin durch die Hand der Bruderschaft gestorben. Nur in Monas Erinnerung leben sie ewig weiter, nur in ihrer Erinnerung beginnt jeder Morgen damit, dass die Schwestern erwachen und einen neuen Tag anbrechen sehen.

Jasmin gähnt, dann reißt sie ein Stück Klopapier ab. Die Spülung rauscht. Jasmin stößt mit ihrer Hüfte gegen Monas.

»Rutsch mal.«

Jasmin wäscht sich das Gesicht. Mona reicht ihr das Handtuch vom Haken. Acht Haken mit acht Namen. So wie es immer war, denkt Mona und entscheidet sich zu bleiben. Für immer eingeschlossen in dieser Erinnerung. Sie wird anfangen rückwärts zu leben. Vom Sommer in den Frühling in den Winter in den Herbst. Sie wird die Zeit zurückdrehen und ihre Schwestern nie wieder verlieren. Es ist ein guter Plan, auch wenn er unsinnig ist.

»Das macht keinen Sinn«, sagt Jasmin.

»Ja, aber stell dir vor heute wäre gestern«, sagt Mona.

»Das macht erst recht keinen Sinn«, erwidert Jasmin und lässt das Handtuch über dem Waschbeckenrand hängen, wo sie es immer hängen lässt, sodass das Handtuch irgendwann im Lauf des Tages auf dem Boden landet.

Alles ist wie immer, denkt Mona und folgt ihrer Erinnerung nach unten.

Auf der Treppe spürt sie, dass sie sich getäuscht hat – alles ist anders. Sie versucht ihre Erinnerung zu dirigieren, aber so einfach geht das nicht. Nicht nur Jasmin kann ihre Gedanken hören, das ganze Haus scheint zu wissen, dass sie hier ist.

Ihre Gedanken sind meine Gedanken, und meine Gedanken sind ihre Gedanken.

Mona betritt den Frühstücksraum. Die Gouvernanten sitzen am Tisch, die Schwestern haben Teller vor sich stehen, Dampf steigt aus den Teebechern auf. Niemand isst, alle schauen zu Mona.

»Ich will nur einen Tag bleiben«, sagt sie.

»Das geht nicht«, sagt die Hausherrin, »das ist deine Erinnerung, du kannst hier nicht leben.«

»Nur einen Tag«, wiederholt Mona leise.

Ihre Schwestern schütteln die Köpfe, ihre Haare fliegen und es klingt wie Meeresrauschen und es klingt wie die Ankündigung eines Sturms. Mona weiß, sie haben recht. Esko hat sie vorgewarnt. Er hat gesagt, dass Erinnerungen ihre Grenzen haben, und je öfter Mona sie berührt, desto blasser werden sie. Namen, Gesichter und Orte verlieren ihre Bedeutung. Mona hat drei der Gouvernanten nicht erkannt und sie weiß auch nicht mehr den Namen der Hausherrin.

Ich werde sie noch alle verlieren, denkt sie und schließt die Augen und verlässt die Erinnerung, wie sie sie betreten hat.

Als Mona aufschaut, steht der Anführer der Bruderschaft noch immer in der Zimmertür und beobachtet sie. Ein Flugzeug wandert über den Berliner Himmel und die Villa erzittert. Die Realität ist für Mona ein blanker, kalter Stein, den keine Sonne wärmen kann. Das Haus der Kormorane existiert nicht mehr und die Geister ihrer Schwestern sind unten auf dem Hof der Villa und rufen ihr Warnungen zu. Eine Welle von Trauer umflutet Mona.

»Hast du mich gehört?«, fragt Lazar.

Mona ballt die Hände.

»Ich bin hier, um dir ein Märchen zu erzählen«, wiederholt Lazar.

Mona weicht einen Schritt zurück. Sie befindet sich im ersten Stock und überlegt, ob sie aus dem Fenster springen sollte. Der Mörder ihrer Schwestern beobachtet sie regungslos.

»Ich verspreche, ich tue dir nichts«, sagt er.

»Meine Schwestern sagen was anderes. Sie meinen, du willst mich töten.«

Lazar spuckt aus.

»Deine Schwestern sind eine Plage. Ich bin nur hier, um mit dir zu reden.«

Mona kann sehen, wie sehr er leidet. Sein linkes Auge ist so schwarz, dass keine Pupille zu sehen ist, das andere Auge wirkt müde und zittrig. Mona weiß, dass ihre Schwestern daran schuld sind. Es war ihr größter Wunsch gewesen, dass Mona sie mit Lazar zusammenführt. Er hat die Strafe verdient. Auf seinen Befehl hin wurde das Haus der Kormorane mitsamt seinen Bewohnern vernichtet. Die Geister der Schwestern sind Lazars Fluch und sie werden alles tun, um ihn in den Tod zu treiben.

»Wir werden beide von der Familie benutzt«, spricht Lazar weiter, »und alles nahm seinen Anfang mit einer Prophezeiung, die als Märchen getarnt wurde. Ohne dieses Märchen würde es dich und mich nicht geben. Ich mache dir einen Vorschlag. Ich erzähle dir das Märchen und im Austausch möchte ich, dass du mir die toten Mädchen vom Hals schaffst.«

»Und was ist, wenn ich das nicht tue?«

»Dann werde ich einen anderen Weg finden, um sie loszuwerden«, antwortet Lazar. »Wichtig ist, dass du mir jetzt zuhörst, ich denke, danach wirst du die richtige Entscheidung treffen.«

Er zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich in die Mitte des Zimmers. Wie auf einen geheimen Befehl hin verstummen die toten Schwestern vor der Villa, während zur gleichen Zeit zwanzig Kilometer entfernt der letzte Engel an seinem eigenen Grabrand steht und keine Ahnung hat, dass in einer Villa am Tegeler See über ihn gesprochen wird.

»Es heißt Das Märchen vom letzten Engel«, sagt Lazar, »und es beginnt in einer Zeit lange vor unserer Zeit.«