LYDIA TSCHUKOWSKAJA
UNTERTAUCHEN
Roman
Aus dem Russischen
von Swetlana Geier
und mit einem Nachwort
von Hans Jürgen Balmes
DÖRLEMANN
Titel des Originals: »Spusk pod vodu«
Eine englische Ausgabe erschien
unter dem Titel Going under
bei Barrie & Jenkins, London.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© The Estate of Lydia Tschukowskaja
© 2015 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Porträt Lydia Tschukowskaja: © The Estate
of Lydia Tschukowskaja
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-908778-63-9
www.doerlemann.com
Lydia Tschukowskaja
Die Moralität des Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort.
Lew Tolstoj
… 2. 49
»So, hier ist Ihr Litwinowka«, sagte der Fahrer und ließ noch einmal den Wald und den violetten Schnee vor meinen Augen scharf in die Kurve gehen. Als ich die finnischen Häuschen mir entgegenfliegen sah, war mir nicht sonderlich wohl zumute. Nach drei Stunden Fahrt in einem kalten Zug und einer Stunde im Auto hatte ich mir ein anderes Ziel meiner Reise vorgestellt. Dort muss man sich sicher an einem Wasserhahn im Flur waschen, dort riecht es nach Küche, und neben dem Ofen ist das nasse Holz aufgeschichtet – das armselige, von mir so wenig geschätzte winterliche Ferieninterieur. Es zieht von allen Fenstern und Türen …
»Wir sind da! …« Mein zufälliger Gefährte bei der Autofahrt, Nikolaj Aleksandrowitsch Bilibin, schlug den schweren Pelzmantel auf und tastete neben den Füßen des Fahrers nach der Aktentasche. Aber der Wagen fuhr weiter, die Schar der finnischen Häuser trat auseinander und lief zurück; noch eine Kurve – und der Wagen hielt vor dem Eingang eines großen zweistöckigen Steingebäudes.
Mädchen in weißen Kitteln über dicken Steppjacken liefen durch die Kälte uns entgegen.
Wir traten ein. Die Mädchen kamen schon mit den Koffern hinter uns her.
»Hier, bitte schön … Bitte, legen Sie ab …«, sagte eine ziemlich stattliche Dame mit gefärbtem Haar und einem Schönheitspflästerchen in dem rosigen Gesicht. »Anja, nimm doch den Mantel. Du siehst doch, die Genossen sind richtig durchgefroren … Die Koffer kommen nach vierzehn und acht … War es sehr kalt? Macht nichts, wir werden Sie hier sofort auftauen. Jetzt sind Sie zu Hause … Einen Augenblick, wir werden Sie in die Kartei eintragen.«
Nachdem sie unsere Papiere registriert hatte, ging die füllige Dame – offensichtlich die Wirtschaftsleiterin – mit ruhigem elastischem Schritt voraus und führte uns eine breite ausladende Treppe hinauf. Teppiche im Salon, ein glänzender Flügel, glänzendes Parkett – nein, das ist keine Datscha, eher ein komfortables Hotel. Warm, ruhig, nur kaum hörbar das Rauschen und Knacken der Dampfheizung. Ein roter Läufer zieht sich durch den ganzen Korridor. Hier oben herrscht würdevolle Stille, die von keinem Schritt unterbrochen wird.
Die Wirtschaftsleiterin schloss vor Bilibin eine Tür auf und eine zweite – ein paar Schritte weiter – für mich.
Und nun war ich zu Hause. Aus dem Salon kam das tiefe, melodische Schlagen einer Uhr, und gleich darauf setzte das regelmäßige und emsige Tuckern des Generators ein. Endlich werde ich allein in einem Zimmer wohnen, zum ersten Mal seit dem Krieg. Wie zu Hause, in Leningrad. An einem Schreibtisch sitzen, den ich nicht dreimal am Tag in einen Esstisch verwandeln muss. In der Stille arbeiten. Und der Gedanke oder der Einfall werden durch das Gerede in der Küche nicht überfahren, nicht verstümmelt … Ich hielt die Hand an das blaue Dampfheizungsrohr: heiß.
Zwischen diesen fremden Wänden kann ich zu mir kommen, mir selbst gegenübertreten.
Aber offenbar steht mir keine ganz einfache Begegnung bevor, denn von Anfang an versuche ich, ihr auszuweichen. ›Wie alt könnte wohl diese Dame sein?‹, überlege ich träge. ›Der verschleierte Blick, das goldfarbene, nach neuester Mode frisierte Haar, an den Fingern Ringe mit grünen viereckigen Steinen … Ich kann mir denken, dass sie Gemeinschaftswohnungen verachtet und sehr gern in einem so hübschen Haus arbeitet.
Schriftsteller – das sind so interessante Menschen! Natürlich, es gibt unter ihnen auch ungehobelte Menschen, aber ein freier Beruf, man kann sagen, was man will, gibt doch einen gewissen Schliff … Wie alt könnte wohl unsere Wirtschaftsleiterin sein? Achtundzwanzig? Achtunddreißig? Es zieht sie nur bestimmt nach Moskau, und sie bemüht sich, jede Autogelegenheit auszunutzen, um hinzufahren, zur Maniküre, ins Theater zu gehen. Wahrscheinlich hat sie hier von der frischen Luft und dem verschneiten Wald längst übergenug.‹
Ich werfe einen vorsichtigen Blick durchs Fenster. Es dämmert. Der Wald fällt in eine Schlucht ab – dort liegt fester zusammengebackener Schnee, hinter der Schlucht – ein leicht ansteigender Hang und viele Tännchen, die diesen Hang hinauflaufen, sie sind noch ganz jung, haben noch den gelblichen Ton, wie Küken, und allen voran, schon ganz oben, die hübscheste, die besonders schlank und jung ist. Sie hat als Erste den höchsten Punkt erreicht und ist stehen geblieben. Und weiter, hinter dem Tännchen liegt ein Dorf. »Kusminskoje«, hat der Fahrer gesagt. Die kleinen Häuser wie von einer ungeübten Kinderhand gezeichnet: zwei krumme Linien über Kreuz – das Dach, ein großes schiefes Quadrat – die Wände und kleine schiefe Rechtecke – Türen und Fenster.
Ich knipse das Licht an. Hinter dem Fenster verschwindet alles – der Schnee und die kleinen Häuser.
Ich ziehe die Gardinen zu und drehe mich um. Jetzt stehe ich diesem Zimmer unmittelbar gegenüber. Hier also werde ich sechsundzwanzig Tage und Nächte wohnen. Ich sehe mich langsam um, vorsichtig, mit gesenktem Kopf. Blaue Wände, blaue Heizungsrohre, ein niedriges, breites Bett, Nachttisch, Bettvorleger, Schreibtisch … Ich beeile mich, mein Tintenfass und Katenkas Bild auf den Tisch zu stellen – ich pflanze meine Fahnen auf … Hier also wird die Begegnung stattfinden. In Anwesenheit dieses Tisches, dieser dunklen Vorhänge und der weißen Gardinen vor dem Fenster, naiv wie die Tannenbäumchen dahinter.
»Abendessen«, sagt eine junge Stimme im Flur. Und dann entschiedener: »Bitte zum Abendessen!«
Aber ich blieb in meinem Zimmer.
… 2. 49
Ich bin gestern früh zu Bett gegangen und habe geschlafen, ohne ein einziges Mal aufzuwachen, tief, bis das Licht durch die Vorhänge sickerte. Ich sprang sofort auf, da ich fürchtete, ich hätte mich zum Frühstück verspätet. Tatsächlich, es war schon acht vorbei. Ich beeilte mich mit dem Waschen, lief hinunter ins Speisezimmer – aber das Speisezimmer war noch leer. Ein länglicher Raum mit blanken Fenstern und runden Tischen. Das harte Weiß der frisch gestärkten Tischtücher setzte sich hinter den Fenstern in der Schneekruste der Schlucht fort. Auf den Tischen funkelndes Geschirr und die Pyramiden der Servietten, aber im ganzen Zimmer kein Mensch. Ich glaube, ich war die Erste. Nein, ganz in der Ecke saß eine junge, sehr schlanke dunkeläugige Dame und klopfte mit einem Löffelchen graziös das Ei auf.
Ein beneidenswert rotwangiges und blühend aussehendes Mädchen wies mir meinen Platz an, fragte sehr aufmerksam nach meinen Wünschen und brachte schnell das Frühstück. Ich schaute durch das blitzblanke Fenster: Das alles gehörte mir! Meine Tanne stand auf dem Hang, so rührend in ihrem Ernst – unmöglich, dass sie es nicht ahnte, wie reizend sie war! Die Hausdächer, wie von Kinderhand über den Hang verteilt, waren über Nacht weiß geworden und schmiegten sich enger an die Erde.
Auf meinem Tisch lagen zwei weitere Gedecke, aber ich wollte nicht auf meine unbekannten Tischgenossen warten, beendete rasch mein Frühstück und beeilte mich hinauszukommen, an die Luft, die ich mindestens hundert Jahre nicht mehr geatmet hatte.
Ich zog mich ganz schnell an, trat vors Haus und ging geradeaus, immer weiter, ohne Ziel. Um das Haus herum Schneematsch, weiterhin schwammiger, kranker Schnee und erst noch weiter, auf den Feldern, lag eine glatte Schneedecke. Das Häuschen des Direktors, blau, wie in der Ukraine, eine Scheune, ein Hund an der Kette. Alles öde, feucht, unscheinbar. Weiter! Graue Wolken, graue Ferne, und hinter schwarzem Geäst – ein gelber Himmel. Wie unheimlich und unheilverkündend wäre das in Leningrad – solch ein gelber Himmel hinter schwarzem Astwerk, hier aber ist es kein böses Zeichen, sondern einfach ein gelber Morgenhimmel. Ich ging immer weiter, ohne auf den Weg zu achten, vorbei an Hühnern und Wäsche, die an der Leine fror … Ah, da! Ein Birkenwald!
Hier ist es so, als könnte es den Matsch um das Haus gar nicht geben. Hier ist der Schnee üppig und fest wie in der Schlucht unter meinem Fenster. Und aus dem tiefen Schnee recken sich Birken zu den Wolken empor …
Ich stieg über eine Schneewehe und konnte auf einem Fußpfad weitergehen. Alles um mich her war grau, schwankend, von Feuchtigkeit durchtränkt. Die Birken wuchsen in Familien – zu zweit, zu dritt aus einer Wurzel, sie strebten empor und lehnten sich, je höher sie wurden, immer weiter zurück, wie in einem stürmischen Walzer.
Ich blieb stehen, warf den Kopf zurück: Mir schwindelte, als ich in diese gleichmäßig schwankenden Wipfel und die langsam kriechenden grauen aufgequollenen Wolken blickte. Die Wolken hatten sich so dicht zusammengezogen, als wären es dort oben, auf der himmlischen Erde, ganz hohe Schneewehen. Ich ging den Fußpfad immer weiter, trunken von den vorbeiziehenden schwingenden grauweißen schlanken Stämmen, und ich empfand eine nagende Trauer, wie immer in den Augenblicken des entschiedenen Glücks … All das wird mir wieder genommen werden. All das werde ich wieder hergeben müssen. Niemand Bestimmter wird es zurückverlangen, nur etwas Ungreifbares wird dann vorübergegangen sein, jenes Etwas, das wir ›Zeit‹ nennen, auf dem Kalenderblatt wird eine Vier oder eine Neun auftauchen, und auf ihren Befehl hin wird vor der Eingangstür ein Auto vorfahren, und ich werde meinen Koffer packen, und dieses Wäldchen wird mir nicht mehr gehören, und dann wird es heißen: »Betreten verboten« … In dem ruhigen, gemütlichen Haus wird man genauso in der Stille das Tuckern des Generators auf dem Hang hören, die Lampen werden genauso das pulsierende, schwächer und stärker werdende Licht verströmen, die Birken werden sich genauso aus dem Schnee nach den Wolken recken – aber all das wird mir nicht mehr gehören. Vorbei! Aus! Eine Vier auf dem Kalenderblatt. Ende.
Kaum hatte ich den Birkenwald kennengelernt, schon trauerte ich um den unvermeidlichen Abschied.
Der Pfad wandte sich und machte viele Schleifen. Die Birken wichen gefügig auseinander, aber das war nur Schein, um in die Tiefe zu locken, in Wirklichkeit drängten sie sich enger und enger an mich heran, und der Pfad musste sich listig, in Schleifen, an den runden Birkenfamilien vorbeiwinden. Ganz oben rauschte der Wind. An den Zweigen rollten und funkelten die glänzenden Kügelchen der Knospen. Knospen? Im Winter? … Ich sah genau hin. Es waren Wassertropfen.
»Ein kleiner Spaziergang?«
Eine stattliche Dame in langen Hosen unter dem Pelz und mit einer großen Handtasche mit Metallbeschlägen kam mir entgegen. Das starkgepuderte Gesicht war in der Kälte violett, an den Stellen, wo die Augenbrauen ausgezupft waren, spannte sich die Haut. Ihr folgte ein brünetter Mann im Skianzug. Er bewegte sich sehr lässig, sein schöner, gepflegter Bart wirkte irgendwie exotisch.
»Nun, wie steht’s in Moskau?«, fragte er mich, nach einer flüchtigen Verbeugung. »Alles an seinem alten Platz hoffentlich? Sie sind wohl erst heute angekommen? Hier ist es stinklangweilig …«
»Aber Lado! Wie kannst du nur?«, sagte die Dame und schloss geräuschvoll ihre Handtasche. Es klang beinahe wie ein Schuss. Da wusste ich, dass ich den berühmten Filmregisseur vor mir hatte, der erst vor kurzem mit dem Stalinpreis für einen Film über Stalins Geburtsort Gori ausgezeichnet wurde – Lado Kantscheli.
Wir standen auf dem schmalen Pfad, dicht nebeneinander, um nicht in dem hohen Schnee zu versinken. Es war mir peinlich, dass der eine Ärmel meines Pelzmantels kahlgescheuert war. Sie fragten mich, wie es mir hier gefalle, wer mit mir angekommen sei – dieser breitschultrige Mann in dem schweren Pelz –, welches Zimmer ich bekommen habe – und gingen schließlich weiter.
Zufriedene, gutangezogene Menschen! Sofort dachte ich an meinen alten Pelz, die fehlende Dauerwelle und das nicht getönte, offen ergrauende Haar. Nun stellte sich heraus, dass ich hier durchaus nicht mit meinen Erinnerungen und meiner Arbeit allein, nicht nur in Gesellschaft des Himmels, des Waldes und der Bücher war, sondern mit fremden Menschen zusammen sein würde, dazu noch Menschen, die sich hier langweilen und sich unterhalten wollen. Ich hatte damit nicht im mindesten gerechnet, damals, als ich die Reise hierher antrat – in die Einsamkeit. Ich war auf die Menschen hier nicht eingestellt.
Ich ging weiter und weiter, und die Birken tanzten im Reigen mit. Ich hatte die Empfindung, sie könnten mich jeden Augenblick mitreißen. Dichte, sichtbare Luft lag zwischen den Stämmen. Dieser Birkenwald erinnerte mich an Holland, das ich selbst nicht kannte. Alles von Feuchtigkeit gequollen, trübe, schwer und verschwommen. In der Ausstellung von Ostroumowa-Lebedewa habe ich auf ihren Bildern dieses Holland gesehen – schwer, verwaschen, feucht. Auch in Leningrad gibt es solche Tage: vom Universitätsquai ist die goldene Isaakij-Kathedrale am anderen Ufer nicht mehr zu sehen.
Ich kehrte um. Ich hatte ein Ziel: Jetzt konnte ich arbeiten – ohne das Klingeln des Telefons, ohne die Stimmen hinter der Wand, ohne schlechtes Gewissen vor Katja, der ich den Platz wegnahm.
Ich war nicht da – und jetzt konnte sie nach der Schule ihre Aufgaben am Tisch machen, ohne auf mich Rücksicht nehmen zu müssen.
Da war schon die Wäscheleine und die verrenkten Hemden. Und hinter der Wäsche die Tannen und der beleuchtete Hauseingang.
Ich blieb einen Augenblick stehen und lauschte: Lebt die Sorge noch? Ja, die Sorgen einer Mutter lassen nie nach: Sogar jetzt, in diesem gütigen runden Rauschen, kann ich den Finger ganz genau auf die Stelle über dem Herzen legen, wo diese Sorgen leben. Ist Katjuscha gesund? Ist sie auf dem Heimweg nach der Schule auch nicht ausgerutscht? Hat die Lehrerin sie auch nicht zum Weinen gebracht, diese Lehrerin, die von den Kindern verlangt, alles auswendig zu lernen: »So, dass es von selbst zwischen den Zähnen hervorsprudelt!« Und hat Elisaweta Nikolajewna … Aber an Elisaweta Nikolajewna will ich erst gar nicht denken …
Das Haus strahlte mir mit vielen Lichtern entgegen, die Garderobe war mollig warm, das Mädchen legte ihr Buch beiseite und half mir aus dem Mantel. Ich fühlte mich von der frischen Luft vom Scheitel bis zur Sohle durchtränkt. Nein, nicht bloß die Mütze, die Überschuhe, der Pelz, sondern auch die Backen, die Brust, die Beine – alles. Das Haus empfing mich mit der städtisch gleichmäßigen Wärme, mit dem Glanz der Parkettböden und medizinischer Fürsorge. Ich wurde zum Arzt bestellt. Anschließend musste ich ein Tannennadelbad nehmen. Und dann wurde mir meine Medizin gebracht. Der Arzt, die Krankenschwester, das blonde stupsnasige Mädchen, das ich in meinem Zimmer beim Aufräumen überraschte – alle kümmerten sich um meine Krankheiten, die medizinischen Anwendungen, um die Diät, um den Kleiderbügel für mein einziges Kleid, um die Farbe der Tinte, die ich beim Schreiben bevorzugte … Natürlich war ihnen das alles in Wirklichkeit ziemlich gleichgültig, aber diese freundliche Heuchelei, die zu ihren Dienstpflichten gehörte, war außerordentlich wohltuend.
Ganz anders in der Welt draußen.
Man steht im Büro der Hausverwaltung und wartet auf eine Bescheinigung. Es gibt keinen Stuhl, man kann sich nicht setzen. Und das junge Mädchen unterhält sich währenddessen mit ihrem Verehrer: Die beiden überlegen, ob sie heute Abend ins Kino gehen sollen. Der Bursche stützt sich auf den Tisch, atmet ihr ins Gesicht und zieht sehr effektvoll die Augenbrauen hoch. Sie ist davon sehr beeindruckt und fängt zum vierten Mal an, ein frisches Formular auszufüllen – während ich immer noch vor ihr stehe.
»Warum haben Sie hier keinen Stuhl für die Besucher?«
»Sie sind doch ein gesunder Mensch, Sie können doch ruhig stehen.«
Dann reicht sie dem Burschen eine Photographie hin und sagt:
»Beim Betrachten dieses Bildchens
Denke stets ans Original.«
»Aber ich will nicht länger hier vor Ihnen stehen.«
»Dann legen Sie sich hin. Von mir aus.«
Nein, hier ist es anders.
Das Zimmermädchen, das auf dem Tisch den nicht vorhandenen Staub wischte, fragte sofort, ob sie gehen und später wiederkommen solle. Ob sie nicht störe? Sie war ungefähr siebzehn – vielleicht drei Jahre älter als Katja. Sie war so dünn, so hellblond und schüchtern. Behutsam staubte sie das Tintenfass ab: das fremde, das Schriftsteller-Tintenfass, geht es kaputt – dann ist die Hölle los. Es gibt den strengen Befehl: Wenn sie schreiben, darf man sie nicht stören. Das runde stupsnasige Gesichtchen erinnert an den kleinen Amor – den aus Bronze, der hinter dem Lampenfuß auf dem Flügel im Wohnzimmer hervorspäht. »Störe ich wirklich nicht? Ich kann ja später wieder kommen«, flüsterte sie.
… 2. 49
Bis jetzt war es mir gelungen, als Erste ins Speisezimmer zu kommen und in völliger Einsamkeit zu essen, aber als ich heute herunterkam, nachdem ich in der Stille meines Zimmers mit der Vormittagsportion der Übersetzung fertig war, saßen an meinem Tisch zwei Menschen.
»Sehen Sie, wie gut ich es mit Ihnen meine«, sagte Ljudmila Pawlowna genau in dem Tonfall, wie ich ihn mir vorstellte, als ich gleich nach meiner Ankunft hinter ihr über den Korridor ging. »Ich habe Ihnen zwei interessante Tischnachbarn zugedacht.«
Ihre Intonation entsprach so genau dem, was ich mir vorgestellt hatte, dass ich nun darauf gefasst war, auch die von mir erwarteten Sätze über die verfeinernde Wirkung eines freien Berufes zu hören. Nein. Stattdessen fragte sie mich nach meinen Essensgewohnheiten aus.
Im Speisezimmer sind die üppigen Formen Ljudmila Pawlownas in einen weißen frischgestärkten Kittel gehüllt. Sie setzte sich für einen Augenblick auf einen freien Stuhl an unseren Tisch, und in dem klaren Licht, das durch das blankgeputzte Fenster fiel, konnte ich sehen, dass sie keineswegs achtundzwanzig, auch nicht achtunddreißig, sondern vermutlich um die fünfzig ist, dass sie aber unbedingt jugendlich schlank wirken möchte, dass sie sich schnürt, aber dass es ihr trotzdem nicht gelingt, das überflüssige Fett zu verbergen.
›Die interessanten Tischnachbarn‹ waren mein Gefährte aus dem Sanatoriumsauto Nikolaj Aleksandrowitsch Bilibin und ein junger Journalist mit beginnender Glatze, Mitarbeiter der ›Literaturnaja gaseta‹, Sergej Dmitrijewitsch Sablin.
Was sind das für Menschen? Man kommt nicht gleich dahinter, aber jedenfalls sind sie gutgelaunt und freundlich. Sie verdienen bestimmt eine jüngere und elegantere Dame, als ich es bin. Aber auch mir gegenüber sind sie außerordentlich liebenswürdig, besonders Bilibin.
Er sagte: »Eigentlich sind wir Zwillinge, Nina Sergejewna, ob es Ihnen passt oder nicht: Wir sind am selben Tag angekommen, im selben Auto, und wohnen beide auf derselben Etage.«
Seine ungezwungene, forsche Liebenswürdigkeit weckte in mir ein leises Unbehagen. Schon im Auto war ich vor ihr möglichst weit in die Ecke gerückt, während ich die tiefe, schöne Schauspielerstimme hörte. Damals knüpfte er ein Gespräch mit dem Fahrer an, aber ich hörte, dass ich dabei mitgemeint war.
»An der ukrainischen Front«, erzählte er jetzt dem Journalisten, »versanken wir im Frühling bis über die Ohren im Matsch. Halbflüssiger Lehm, kein Auto kommt da durch, was will man machen? Wir beneideten damals die Kolchosbauern, die kamen mit ihren Ochsen ausgezeichnet voran. Unsere Fahrer sagten, wenn sie die Ochsenfuhren sahen: Das ist, sagten sie, die Muh-Muh-2 … Automarke Muh-Muh-2 …«
Der Journalist lachte. Ich lachte nicht. Aber Bilibin kam es auf eine Reaktion von meiner Seite an.
»Woran arbeiten Sie jetzt?«, fragte er und reichte mir den Kohl. »Nehmen Sie, Kohl hat viele Vitamine.«
»Nichts Besonderes«, antwortete ich unbestimmt, »ich übersetze.«
Bilibin trug einen ziemlich abgetragenen Rock und Filzstiefel, aber er wirkte eigentlich eleganter als der junge Journalist im hellen Anzug mit ausländischer Krawatte. Seine langsamen, gelassenen Bewegungen hatten etwas Herrenhaftes, Kultiviertes. Er hatte die breiten Hände eines körperlich arbeitenden Menschen, aber die Nägel waren lang und gepflegt.
Die Männer warteten mit geduldiger Höflichkeit, bis ich meine Creme gegessen hatte. Vom Nachbartisch kam das Knallen der Weinkorken, das Schließen und Öffnen der Handtasche und Lachen. Der Filmregisseur ließ seiner Dame ungeachtet der frühen Stunde Wein servieren. Der große weiße Kragen ihres Kleides und die üppigen goldenen Locken waren bedeutend frischer als das Gesicht.
»Heute ist es hier im Speisezimmer so leer«, sagte die Dame und ließ ihre Augen durchs Zimmer wandern. »Wahrscheinlich sind noch nicht alle unten, die hier schlafen.«
»Mit wem schlafen?«, fragte der Regisseur träge.
Bilibin erzählte mir und dem Journalisten von seinem neuen Roman. (Ich kannte auch die alten nicht.) Der Roman behandelt das Leben der sibirischen Bergarbeiter, den technischen Fortschritt im Bergbau, die fortschreitende Mechanisierung der Untertagearbeit. Ein Familienkonflikt ist mit den Spannungen im Betrieb aufs engste verknüpft. Der Roman ist von der Literaturzeitschrift ›Snamja‹ so gut wie angenommen, man bat ihn lediglich, den Partorg zu vertiefen …
»Nun sitze ich täglich sechs Stunden und bin dabei, den Partorg zu vertiefen«, sagte Bilibin. Er wandte mir sein großes Gesicht mit der hohen Stirn und der schmalen Nase zu und blickte mit ruhigen gelben Augen direkt in meine Augen. »Deshalb bin ich hier.«
Die Augen lächelten nicht, und obwohl sie mich weit und offen anblickten, hatte ich den Eindruck, als wären sie verschleiert.
Ich erhob mich. Meine Gesprächspartner begleiteten mich bis zur Tür.
»Sie sehen schon deutlich erholt aus, wirklich«, sagte Bilibin zu der schlanken dunkeläugigen Dame, die uns gerade entgegenkam. Sie lächelte und zeigte eine Reihe kleiner gleichmäßiger Zähne. »Keine Angst, keine Angst, ich habe nicht den bösen Blick. Im Gegenteil.«
Ich ging in mein Zimmer hinauf.