Georges Perec
Warum gibt es keine Zigaretten
beim Gemüsehändler
Aus dem Französischen von
Eugen Helmlé
diaphanes
Inhalt
Annäherung an was?
Die Rue Vilin
Zweihundertdreiundvierzig Postkarten
in Echtfarbendruck
Rund um Beaubourg
Spaziergänge in London
Das Allerheiligste
Versuch einer Bestandsaufnahme
aller flüssigen und festen Nahrungsmittel,
die ich im Verlaufe
des Jahres neunzehnhundertvierundsiebzig
hinuntergeschlungen habe
Still life / Style leaf
Annäherungen an was?
Was uns anspricht, ist, wie mir scheint, immer das Ereignis, das Ungewöhnliche, das Außergewöhnliche: fünf Spalten auf der Titelseite, Schlagzeilen. Die Züge beginnen erst dann zu existieren, wenn sie entgleisen, und je mehr Fahrgäste dabei den Tod finden, umso mehr existieren die Züge; die Flugzeuge finden erst dann zur Existenz, wenn sie entführt werden; die einzige Bestimmung der Autos ist die, gegen Platanen zu prallen: zweiundfünfzig Wochenenden jährlich, zweiundfünfzig Bestandsaufnahmen: so viele Tote, und wenn die Zahlen unaufhörlich steigen, umso besser für die Nachrichten! Hinter dem Ereignis muss es einen Skandal geben, einen Riss, eine Gefahr, so, als solle das Leben sich nur durch das Spektakuläre hindurch offenbaren, als sei das Anschauliche, das Bedeutsame immer unnormal: Naturkatastrophen oder geschichtliche Erschütterungen, gesellschaftliche Konflikte, politische Skandale …
Lassen wir in unserer überstürzten Hast, das Geschichtliche, das Bedeutsame, das Aufschlussreiche zu messen, das Wesentliche nicht außer acht: das wirklich Unerträgliche, das wirklich Unzulässige: der Skandal, das sind nicht die schlagenden Wetter, sondern das ist die Arbeit in den Gruben. Das soziale Unbehagen, es ist nicht in Streikzeiten »besorgniserregend«, sondern ist das vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.
Flutwellen, Vulkanausbrüche, einstürzende Wohntürme, Waldbrände, zusammenbrechende Tunnel, Publicis,* das brennt, und Aranda,** der spricht! Entsetzlich! Furchtbar! Ungeheuerlich! Skandalös! Aber wo liegt der Skandal? Der wirkliche Skandal? Haben uns die Zeitungen etwas anderes gesagt als: Seid unbesorgt, ihr seht doch, dass das Leben existiert, mit seinen Höhen und Tiefen, ihr seht doch, dass etwas geschieht.
Die Zeitungen schreiben über alles, außer über das Tagtägliche. Die Zeitungen langweilen mich, ich erfahre durch sie nichts; was sie erzählen, betrifft mich nicht, stellt mir keine Fragen und antwortet ebenso wenig auf die Fragen, die ich stelle oder stellen möchte.
Wo ist das, was wirklich geschieht, das, was wir erleben, das Übrige, alles Übrige? Das, was jeden Tag geschieht und jeden Tag wiederkehrt, das Banale, das Alltägliche, das Selbstverständliche, das Allgemeine, das Gewöhnliche, das Infra-Gewöhnliche, das Hintergrundgeräusch, das Übliche, wie soll man sich seiner bewusst werden, wie soll man es befragen, wie es beschreiben?
Das Übliche befragen. Aber das ist es ja, wir sind daran gewöhnt. Wir befragen es nicht, es befragt uns nicht, es scheint kein Problem zu machen, wir erleben es, ohne daran zu denken, als transportierte es weder Frage noch Antwort, als sei es nicht Träger irgendeiner Information. Das ist nicht einmal mehr Akklimatisierung, das ist Anästhesie. Wir verschlafen unser Leben in einem traumlosen Schlaf. Aber wo ist unser Leben? Wo ist unser Körper? Wo ist unser Raum?
Wie soll man von diesen »allgemeinen Dingen« reden oder besser, wie soll man ihnen hinterherjagen, wie soll man sie aufscheuchen, sie aus der Verpackung reißen, an der sie festkleben, wie soll man ihnen einen Sinn, eine Sprache geben: damit sie endlich von dem reden, was ist, von dem, was wir sind.
Vielleicht geht es darum, endlich unsere eigene Anthropologie zu begründen: jene, die von uns reden wird, die in uns das suchen wird, was wir bei den andern so lange ausgeplündert haben. Nicht mehr das Exotische, sondern das Endotische.
Das befragen, was sich so sehr von selbst zu verstehen scheint, dass wir seinen Ursprung vergessen haben. Etwas von der Verwunderung wiederfinden, die Jules Verne oder seine Leser angesichts seines Apparats empfunden haben mögen, der in der Lage war, Töne zu erzeugen und zu befördern. Denn diese Verwunderung hat es gegeben, und dazu tausend andere, und sie waren es, die uns geformt haben.
Das, was wirklich befragt werden muss, ist der Ziegelstein, der Beton, das Glas, unsere Tischmanieren, unsere Gerätschaften, unsere Zeiteinteilung, unsere Rhythmen. Das befragen, was für alle Zeit aufgehört zu haben scheint, uns in Verwunderung zu versetzen. Wir leben, gewiss, wir atmen, gewiss; wir gehen, wir machen Türen auf, wir laufen Treppen hinunter, wir setzen uns an einen Tisch, um zu essen, wir legen uns in ein Bett, um zu schlafen. Wie? Wo? Wann? Warum?
Beschreiben Sie Ihre Straße. Beschreiben Sie eine andere Straße. Vergleichen Sie.
Machen Sie eine Bestandsaufnahme Ihrer Taschen, Ihres Reisebeutels. Befragen Sie sich über die Herkunft, den Gebrauch und das Werden eines jeden einzelnen Gegenstands, den Sie aus ihnen hervorholen.
Stellen Sie Ihrem Kaffeelöffel Fragen.
Was ist hinter der Tapete?
Wie viele Bewegungen sind notwendig, um eine Telefonnummer zu wählen? Warum?
Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler? Warum nicht?
Es liegt mir wenig daran, dass diese Fragen hier unvollständig und lückenhaft sind, kaum Hinweise auf eine Methode, bestenfalls auf ein Projekt sind. Es liegt mir viel daran, dass sie trivial und belanglos erscheinen mögen: Es ist nämlich genau das, was sie ebenso wesentlich, wenn nicht gar wesentlicher macht als so viele andere, über die wir vergebens versucht haben, unsere Wahrheit zu erfassen.
* Ein Pariser Drugstore, in dem vor Jahren ein Attentat stattfand.
** Französischer Politiker.