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© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Dieses Ebook enthält folgende Romane:
Mama soll wieder glücklich sein
Die richtige Frau für Papa
Wir brauchen keinen neuen Papi
Der Umfang dieses Ebook entspricht 306 Taschenbuchseiten.
1. digitale Auflage 2015 Zeilenwert GmbH
ISBN 9783956173257
Drei heitere Familienromane
Mama soll wieder glücklich sein /
Die richtige Frau für Papa /
Wir brauchen keinen neuen Papi
von Anna Martach
Halb eins, Mittagszeit! Die Tür öffnete sich, zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen kamen in die Küche gestürmt. Zwei Schulranzen wurden abgeworfen, und die beiden Kinder begrüßten ihre Mutter stürmisch.
„Schule ist aus! Und keine Hausaufgaben“, verkündete Thorsten Kretschmann, der dreizehnjährige Sohn von Thomas und Anita, die jetzt gerade den Küchentisch zum Essen gedeckt hatte.
„Post von Papa?“, fragte Meike, die elfjährige.
Ein Schatten von Unmut zog jetzt über das schmale, ebenmäßige Gesicht von Anita. Sie strich sich das schulterlange, dunkle Haar hinter die Ohren, dann legte sie eine bunte Postkarte auf den Tisch. Eifrig beugten sich die Kinder drüber, starrten dann aber enttäuscht auf die wenigen Zeilen.
„Hallo, meine Lieben. Bin in Eile. Hier ist es sehr heiß, das Essen ist gut, ich wünschte, ihr könntet alles sehen. Gruß Papa und Thomas.“
Auf der Bildseite war das Opernhaus von Sydney zu sehen. Thomas Kretschmann war jetzt schon seit mehr als drei Wochen auf Geschäftsreise in Australien, eine Woche schon mehr als geplant. Hatte er zu Anfang wenigstens noch zweimal telefonischen Kontakt zu seiner Familie gesucht, so nahm er sich diese Zeit jetzt gar nicht mehr. Niemand bestritt, dass er viel zu tun hatte, doch es schien fast so, als habe er vergessen, dass daheim seine Frau und seine Kinder auf ein Lebenszeichen von ihm warteten.
Anita seufzte, als sie die Niedergeschlagenheit ihrer Kinder bemerkte. Das war wieder einmal so typisch für Thomas, er war oft so gedankenlos, stellte nur sich selbst in den Mittelpunkt und wunderte sich dann, wenn andere über sein Verhalten verschnupft waren. Ihm war gar nicht bewusst, wie sehr er die Menschen, die ihn liebten, verletzte.
In der Ehe hatte sich eine gewisse Routine eingeschlichen, ein tödlicher Alltagstrott, der die Liebe, die Thomas und Anita einmal verbunden hatte, mittlerweile in Langeweile erstickte.
„Na, seid nicht traurig“, bemühte sie sich um Trost für Thorsten und Meike. „Papa hat sicher viel zu tun, aber er kommt bestimmt bald zurück und bringt euch etwas Schönes mit.“
„Das ersetzt ihn aber nicht“, murrte Thorsten.
„Na, na, junger Mann, euer Vater verdient eine Menge Geld mit seinen Geschäften, was es euch ermöglicht, viele Wünsche erfüllt zu bekommen.“ Die fünfunddreißigjährige merkte selbst, dass ihre Worte lahm klangen, ihre Kinder konnte sie damit auch nicht täuschen.
„Mir wäre es lieber, wenn er öfter hier wäre“, bemerkte Meike, die mit ihren elf Jahren manchmal schon richtig erwachsen schien. „Du vermisst ihn doch auch, oder?“
Spontan zog Anita die beiden an sich. „Ja, ich vermisse ihn auch. Aber nun genug damit. Wir sollten uns freuen, dass es Papa gut geht. Und jetzt sollten wir essen, bevor alles kalt wird.“
Das Herz der Frau krampfte sich schmerzhaft zusammen. Es tat so weh, dass Thomas nicht da war, und auch, dass er seine Familie über all den Geschäften fast vergaß. Leider wurde es ja auch nicht viel anders, wenn er zurückkam. Auch dann waren seine Gedanken stets bei der Arbeit, und Probleme durften für ihn schon gar nicht auftauchen, dafür war allein Anita zuständig.
Anita liebte ihren Mann, aber so konnte es nicht weitergehen. Thomas durfte seine Familie nicht als etwas Selbstverständliches ansehen, das er bei Bedarf benutzte und danach wieder sich selbst überließ. Sie hatte vor, ihm einen Schuss vor den Bug zu verpassen; auch wenn sie ihn noch immer sehr liebte, sie konnte diesen Zustand einfach nicht länger ertragen.
Doch davon sagte sie ihren Kindern jetzt noch nichts. Betont munter ging sie auf deren Erzählungen ein.
Was war das für ein merkwürdiges Geräusch? Thorsten, der vom Durst in die Küche getrieben worden war, bemerkte auf seiner Uhr mit den Leuchtziffern die Zeit: Zwei Uhr in der Früh!
Gab es hier etwa einen Einbrecher?
Der Junge ging nicht in die Küche, machte auch kein Licht, sondern schlich sich jetzt lautlos zum Wohnzimmer und lauschte. Dann verstand er plötzlich.
Mit wenigen Schritten stand er neben seiner Mutter und legte ihr tröstend die Arme um die Schultern.
Anita hatte gehofft, dass ihre Kinder nichts davon merken würden, dass sie des Nachts weinte. Aber nun war Thorsten da, und sie empfand keine Scham, ganz im Gegenteil. Sie zog ihren Sohn an sich, und die Tränen versiegten vorerst. Anita knipste die kleine Lampe an, die auf einem Tischchen neben dem Sofa stand, wischte sich energisch über die Augen und schaute Thorsten mit einem kleinen Lächeln an.
„Da hast du mich erwischt, mein Sohn“, bemerkte sie tapfer.
„Warum tut Papa das?“, fragte Thorsten. „Ich meine – er lässt uns dauernd allein, und das tut weh. Und wenn er da ist dann ist er trotzdem dauernd woanders. Warum tut er das? Dir tut es ganz besonders weh, und das ist nicht gut. Und wir brauchen ihn doch auch, merkt er das denn gar nicht?“ Der Junge war eigentlich schon viel zu erwachsen für seine dreizehn Jahre, schoss es Anita durch den Kopf. Wie kam es nur dazu, dass Thorsten versuchte seine Mutter zu trösten statt anders herum?
„Ich glaube, es ist Papa gar nicht bewusst, was er uns damit antut. Er denkt immer nur daran, dass er es uns ermöglicht, auf diese Weise ein gutes Leben zu führen. Nur, ich glaube, das wollen wir so doch alle nicht, oder? Weißt du, mein Schatz, ich denke, so kann es einfach nicht weitergehen“, sagte Anita.
„Und was willst du dagegen tun?“
Die junge Frau seufzte. „Wir werden ausziehen.“
Erstaunen und Verblüffung zeigten sich im Gesicht des Jungen. „Wie meinst du das? Wir sind doch hier zuhause.“
Doch Anita hatte einen Entschluss gefasst, so schwer es sie auch ankommen mochte. „Wir suchen uns eine neue Wohnung, Thorsten. Und ich werde wieder arbeiten gehen, wenigstens halbtags. Wir werden auch allein gut zurechtkommen, wir haben immer noch uns.“
„Und Papa?“
„Papa wird lernen müssen, dass wir nicht immer da sind, wo er uns vermutet. Ich habe genug davon, dass er uns immer wieder wehtut. Er glaubt, es reicht, wenn er Geld verdient. Aber wir brauchen ihn auch auf andere Weise. Ihr euren Vater, und ich …“ Sie brach ab, als sei ihr erst in diesem Moment aufgegangen, welche Folgen ihr Entschluss haben würde.
„Sag mal, Mama, liebst du Papa eigentlich noch?“
Anita nickte. „Ja, ich liebe ihn, sonst würde das alles nicht so wehtun. Aber wenn wir so weitermachen, wird das auch immer noch mehr wehtun, bis eines Tages keine Liebe mehr da ist.“
„Und deswegen willst du, dass wir ausziehen?“
„Ja, denn nur dann wird er vielleicht zur Vernunft kommen.“
„Und wie lange soll das dauern?“ Thorsten verstand das alles nicht so recht, und für ihn war es schon schwierig, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass sie alle ihr gewohntes Zuhause verlassen würden. „Und wohin gehen wir?“, fragte er dann scheu.
„Ich werde gleich morgen früh Ausschau halten“, erklärte Anita. „Aber für dich wird es jetzt Zeit wieder ins Bett zu gehen. Es ist nicht gut für Kinder, hier mitten in der Nacht herumzugeistern.“
„Für Mütter auch nicht“, erklärte der Junge altklug.
Thorsten stand auf, es war ersichtlich, dass er mit der Entscheidung seiner Mutter kämpfte. Erwachsene! Warum machten sie eigentlich alles so kompliziert?
Anita gab ihm noch einen Kuss, und er ging in sein Zimmer, konnte dort aber lange nicht einschlafen. Kurz überlegte er, ob er Meike wecken und ihr alles erzählen sollte, doch dazu würde auch morgen früh noch genug Zeit sein.
Papa, wo bist du? Und warum lässt du es soweit kommen?, fragte er sich in Gedanken. Aber es kam natürlich keine Antwort.
Das Haus lag seltsam ruhig da. Kein Fahrrad stand draußen, kein Skateboard lag herum, die Garage war geschlossen, ebenso alle Fenster. Mitten im Sommer?
Thomas Kretschmann hatte plötzlich ein äußerst ungutes Gefühl. Er war von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt, viel später als geplant, doch er hatte noch so viele Probleme zu lösen gehabt. Und jetzt freute er sich darauf, seine Familie wiederzusehen, auch wenn sein Besuch daheim nur von kurzer Dauer sein würde, wie er Anita diplomatisch klar machen musste. Aber sie und die Kinder würden das schon verstehen, so dachte er zumindest.
Aber diese vollkommene Ruhe irritierte ihn. Normalerweise tobten die beiden Rangen mit ihren Freunden hier herum, laut und turbulent, voller Leben eben.
Thomas schloss die Haustür auf. Vielleicht machte ja Anita mit den Kindern einen Ausflug, beruhigte er sich selbst. Immerhin hatte ja niemand gewusst, wann er zurückkehren würde. Und außerdem waren Ferien, und wenn es dieses Jahr schon zeitlich nicht zu einem gemeinsamen Urlaub reichte, dann waren Tagesausflüge sicher eine gute Alternative.
Drinnen empfing den Mann ebenfalls vollkommene Ruhe, alles war sauber und aufgeräumt – und alles wirkte ein bisschen leblos – unbewohnt.
Thomas ging in die Küche, er wollte sich einen Kaffee kochen und auf seine Familie warten, die sicher bald zurückkommen würde. Auf dem Küchentisch lag ein Blatt Papier. Er warf einen uninteressierten Blick darauf, vermutlich eine Einkaufsliste oder ein gemaltes Bild von den Kindern. Doch dann stockte Thomas. Es war ein Brief, und er war an ihn gerichtet.
„Lieber Thomas, es tut mir sehr leid. Aber so kann es nicht weitergehen mit uns. Daher habe ich mich dazu entschlossen mit den Kindern wegzugehen und ein neues Leben anzufangen – ohne dich. Du bist ohnehin kaum zuhause, und so werden wir es auch ohne dich schaffen. Meine Mutter hat meine neue Telefonnummer, sie wird mich informieren, wenn du dich bei ihr meldest. Versteh meine Entscheidung, bitte. Ich empfinde immer noch viel für dich, aber ich kann nicht mehr so weiterleben. Den Kindern geht es gut. Anita.“
Verstört und fassungslos starrte Kretschmann auf die wenigen Zeilen, dann las er noch einmal, verstand aber immer noch nicht, was diese Worte wirklich besagten.
Anita und die Kinder weg? Was sollte das heißen? Sie hatten ihn verlassen? Aber warum? Was hatte er getan? Hatte er nicht immer gut für alle gesorgt, so dass praktisch keine Wünsche offen blieben? Was hatte er denn falsch gemacht?
Thomas sank auf einen Stuhl, die Beine wurden ihm weich. Er fasste es einfach nicht. Wie konnte Anita ihm das antun?
Er war total geschockt. Nach einiger Zeit raffte er sich dann aber auf und ging zum Telefon, dann rief er seine Schwiegermutter an.
Edeltraut Keßler war immer schon eine praktisch denkende, resolute Frau gewesen, die ihren Schwiegersohn sehr schätzte. Als Anita sich bei ihr meldete und ihren Entschluss bekanntgab, hatte sie Zweifel geäußert, dann jedoch Verständnis gezeigt, auch wenn ihre Bedenken nicht ausgeräumt waren. „Meinst du nicht, dass du euch allen damit noch mehr wehtust, Anita?“
„Mutter, so kann es auch nicht weitergehen. Ich liebe Thomas, aber für ihn könnten wir ebensogut Möbelstücke sein. Alles hat an seinem Platz zu stehen, es wird bei Bedarf gebraucht, aber man beachtet es nicht weiter.“
„Das sind harte Worte, Tochter. Gib ihm doch noch eine Chance, sprich offen mit ihm.“
„Er bekommt jede Chance, die er braucht, aber vorher muss er sich ändern“, beharrte Anita. „Und glaube bitte ja nicht, dass ich nicht schon versucht hätte, mit ihm darüber zu reden. Aber genausogut kann ich mit Nachbars Katze sprechen, die schaut mich nämlich genauso verständnislos an.“
„Wenn etwas nicht stimmt, dann ist meist nicht nur einer allein schuld“, gab Edeltraut zu bedenken.
„Mutter, ich bleibe bei meinem Entschluss. Und wenn Thomas mir zeigt, dass er bereit ist, sich zu ändern, um der Kind und um meinetwillen, dann will auch ich an mir arbeiten. Aber bitte, Mutter, sag Thomas nicht, noch nicht, wo wir uns aufhalten. Ich will mit ihm reden, aber ich will nicht, dass er unangemeldet bei uns auftaucht.“
An dieses Gespräch musste Edeltraut Keßler denken, als Thomas sich bei ihr meldete.
„Wo sind sie, Mutter?“, fragte er mit rauer Stimme, aus der die Verzweiflung deutlich zu hören war.
„Das darf und werde ich dir nicht sagen, Thomas. Ich weiß nicht genau, was zwischen euch vorgefallen ist, und du musst mir jetzt auch kein Wort darüber sagen. Es tut mir weh, dass ihr Probleme habt. Ich werde Anita Bescheid geben, dass du wieder da bist. Findest du es nicht selbst merkwürdig, dass du niemandem deine Ankunftszeit mitgeteilt hast? Denk mal darüber nach, Junge. Und dann solltet ihr, schon um der Kinder willen, schnell zusehen, dass alles wieder ins Reine kommt.“
„Aber wir haben doch gar keine Probleme, und ich verstehe überhaupt nicht, was Anita in den Kopf gestiegen ist“, beteuerte Thomas. „Ich weiß wirklich nicht, was das alles soll. Ich will, dass Anita zurückkommt – auf der Stelle.“
„Ich glaube, du solltest erst mal mit ihr reden, Thomas. Ich rufe sie jetzt gleich an, und sie wird sich bei dir melden.“
Zornig legte Thomas den Hörer auf die Gabel. Das war doch alles Irrsinn. Es gab keinen Grund für Anita auszuziehen und einen solchen Aufstand zu machen.
Unruhig lief er im ganzen Haus herum. Wie lange dauerte das denn noch, bis Anita endlich anrief? Sein Herz tat weh, und er kämpfte mit den Tränen, zwinkerte dann aber. Es war unmännlich zu weinen, schalt er sich selbst. Doch was war, wenn Anita nicht zurückkommen wollte?
Es war schnell und ohne Probleme gegangen, was Anita sehr verwundert hatte. Auf Anhieb hatte sie eine hübsche Wohnung gefunden, in einem Haus, das älteren Leuten gehörte. Möbel standen noch darin, und Anita fand es gemütlich. Das ersparte ihr einen zeit- und kostenaufwendigen Umzug. Auch war es ein Glücksfall, dass die Schulferien gerade angefangen hatten, eine Ummeldung der Kinder an eine andere Schule war vorerst nicht nötig. Und die reizenden Vermieter boten sich sogleich an, auf Thorsten und Meike aufzupassen, damit Anita auf Jobsuche gehen konnte. Schon am dritten Tag bekam sie ein Vorstellungsgespräch bei einem renommierten Innenarchitekten Joachim Konrad. Er besaß einen sehr guten Ruf, und zu seinen Kunden gehörten große Firmen, wie auch betuchte Privatpersonen. Voller Herzklopfen ging Anita hin. Würde sie gut genug sein, um den Ansprüchen dieses Mannes zu genügen?
Anita hatte Innenarchitektur studiert, dann jedoch ihren Beruf zugunsten der Kinder aufgegeben. Aus Spaß hatte sie aber auch während ihrer Zeit zuhause immer wieder neue Entwürfe gefertigt, hatte sich auf dem Laufenden gehalten, und alles in einer Mappe gesammelt. Sie besaß ein gutes Gespür für Farben und Formen und scheute auch vor dem Ungewöhnlichen nicht zurück.
So betrat sie das geschmackvoll eingerichtete Büro, wurde gleich von einer freundlichen Sekretärin weitergeleitet und stand schließlich Joachim Konrad gegenüber.
Gut sah er aus. Ein ausgesprochen attraktiver Mann mit dunklen gewellten Haaren, die an den Schläfen grau wurden. Braune Augen blickten aufmerksam und intelligent aus einem schmalen Gesicht mit vollen Lippen und einer geraden Nase. Er strahlte Charme aus, war überaus freundlich und nahm Anita damit einiges von ihrer Befangenheit.
Wenig später saß sie in einem gemütlichen Besuchersessel und reichte Joachim, der ihr gegenübersaß, die Mappe mit den Entwürfen hinüber. Fast ängstlich hing ihr Blick an seinem Gesicht, würde er jetzt ein vernichtendes Urteil sprechen?
Doch nein, er schaute interessiert, verhielt hier und da bei einer besonderen Einzelheit und legte dann schließlich die Mappe beiseite.
„Mir gefällt, was ich sehe“, sagte er einigermaßen doppeldeutig.
Diese Stimme elektrisierte Anita regelrecht, sie war dunkel und warm, vibrierte förmlich, und ließ ihr Schauder über den Rücken laufen. Merkwürdig, so hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie damals Thomas begegnet war und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte.
„Ich denke, ich sollte es mit Ihnen probieren, Frau Kretschmann, auch wenn Ihnen einiges an Berufspraxis fehlt. Aus Ihrer Bewerbung geht hervor, dass Sie verheiratet sind und zwei Kinder haben. Was sagt Ihr Mann dazu, dass Sie jetzt wieder ins Arbeitsleben einsteigen wollen?“
Anita zuckte zusammen, mit dieser Frage hatte sie eigentlich nicht gerechnet. „Ich lebe von meinem Mann getrennt“, sagte sie leise.
Joachim hob erstaunt die Augenbrauen hoch, war aber taktvoll genug, keine weiteren Fragen zu stellen. Stattdessen schaute er die Frau vor sich offen und freundlich an. „Für Ihre Kinder ist gesorgt, wenn Sie hier sind?“
„Ja, meine Vermieter haben sich angeboten, ein älteres Ehepaar. Und wenn die Schule demnächst wieder beginnt …“
„Dann willkommen im Team, Anita. Ich darf doch Anita sagen? Bei uns geht es recht ungezwungen zu.“
Anita war überwältigt und verwirrt, sie hatte nicht damit gerechnet, dass ein neuer Anfang sich als so leicht und einfach erweisen würde. Und dieser neue Chef hatte eine ganz besondere Ausstrahlung, er machte Anita verlegen und provozierte sie gleichzeitig. Aber sie nahm sich zusammen, stand auf und reichte Joachim mit einem strahlenden Lächeln die Hand.
„Vielen Dank, Joachim, ich freue mich darauf, hier arbeiten zu dürfen. Und ich hoffe, dass ich mich schnell wieder in alles hineinfinde.“
„Davon bin ich überzeugt. Und jetzt will ich Sie den anderen vorstellen.“
Als Anita überglücklich nach Hause kam, nahm sie ihre Kinder in die Arme. „Es hat geklappt, ich habe die Arbeit. Und ich kann schon am nächsten Montag anfangen. Halbtags zuerst, und dann sehen wir weiter.“
Doch Thorsten und Meike wirkten irgendwie bedrückt.
„Stimmt was nicht?“, fragte Anita besorgt.
„Oma hat angerufen. Papa ist wieder da“, sagte der Junge.
Es war leer in dem kleinen, gemütlichen Café, das Anita als Treffpunkt zur Aussprache vorgeschlagen hatte. Sie und die Kinder saßen an einem Tisch und warteten auf Thomas. Zuerst hatte die junge Frau gezögert die Kinder mitzunehmen, doch sie wollte nicht von vornherein einen Streit heraufbeschwören, indem sie ihrem Mann die Kinder vorenthielt.
Praktisch auf die Minute genau betrat Thomas das Lokal, schaute sich kurz suchend um und kam dann zielstrebig auf die drei zu.
Die Kinder hielt es nicht mehr, sie sprangen auf und liefen auf ihren Vater zu, um ihn stürmisch zu begrüßen.
Dann setzte sich Thomas mit an den Tisch und schaute seine Frau an. Spannung und Verlegenheit breitete sich zwischen ihnen aus, und keiner von beiden wusste so recht Worte zu finden, um das Gespräch zu beginnen.
Anita bemerkte wohl den gequälten Ausdruck in den Augen ihres Mannes, doch sie verschloss sich vor den aufkommenden Gefühlen. Er würde ihr jetzt sicher das Blaue vom Himmel versprechen, wäre sie bereit, zu ihm zurückzukommen. Doch wie schnell würde alles wieder in den alten Trott verfallen? Sie fürchtete sich davor, bald wieder eine neue Enttäuschung zu erleben.
Anita fürchtete sich in diesem Augenblick auch vor den eigenen Gefühlen, und so schaute sie Thomas abweisend an, dass es ihn nur noch heftiger schmerzte. Und doch war er es, der die ersten Worte zwischen ihnen sprach.
„Geht es euch gut? Seid ihr vernünftig untergekommen?“, fragte er rau.
„Ich habe uns eine Wohnung gemietet, und die Vermieter sind reizende ältere Leute. Sie haben die Kinder auf Anhieb ins Herz geschlossen“, erwiderte Anita spröde.
Thomas griff nach ihrer Hand. „Warum lässt du mich allein?“, fragte er voller Verzweiflung.
Anita entzog ihm die Hand. Wie konnte er diese Frage stellen?
Die Kinder besaßen eine Menge Taktgefühl, denn Thorsten stieß seine kleine Schwester an und zog sie mit sich fort, um sich drüben am Buffet einen Kuchen auszusuchen. Das würde sicher länger dauern.
„Bisher warst du es stets, der uns allein gelassen hat. Wenn es irgendwelche Probleme gab, konnte ich sicher sein, dass ich allein damit fertig werden musste. Du hast es nicht einmal für nötig gehalten, regelmäßig anzurufen. Wir wussten nicht, geht es dir gut, liegt dir überhaupt noch etwas an uns, ach, was auch immer.“
Thomas war von diesen Vorwürfen tief getroffen. Hatte er sich wirklich so gedankenlos verhalten? Und warum hatte Anita dann nie etwas gesagt? Aber wenn schon, das war doch immer noch kein Grund einfach so davonzulaufen.
Er schaute auf seine Kinder, die schweigsam und ernst drüben standen und nicht den Eindruck machten, als wären sie wild auf die angebotenen Kuchensorten.
„Ich habe niemals daran gedacht, euch zu vernachlässigen, wie du das anzunehmen scheinst, Anita. Ich liebe euch, dich und die Kinder. Du hast mir aber jetzt sehr eindrucksvoll klar gemacht, dass ich einen großen Fehler begangen habe. Willst du jetzt nicht wieder vernünftig werden und zurückkommen?“
Das war das falsche Wort, wie er gleich darauf einsehen musste.
„Vernünftig?“, echote Anita erbost. „Ich glaube, Thomas, du hast da etwas ganz und gar nicht richtig verstanden. Ich sage dir, ich bin im Augenblick so vernünftig wie noch nie zuvor in meinem Leben. Aber im Moment, oder auch schon länger, wie ich vermuten muss, scheint das an dir vorbeizugehen. Es tut mir leid, wir gehen jetzt, und ich werde mir überlegen, ob ich die Scheidung einreiche. Mit dir ist ja nicht darüber zu reden, was geändert werden müsste.“
Sie nahm die Kinder einfach mit. Thorsten und Meike sahen unglücklich aus, und für Thomas brach eine Welt zusammen, als die beiden gehorsam mit ihrer Mutter mitgingen. Sie warfen ihm über die Schulter einen Blick, und am liebsten hätte er vor Schmerz in seinem Herzen aufgeschrien.
Die Kinder gingen daheim in ihr Zimmer. Es war ihnen anzusehen, dass sie nicht einverstanden waren damit, wie ihre Mutter sich verhalten hatte. Aber auch Thomas hatte mit seinen unbedachten Worten nicht eben für Begeisterung gesorgt.
So saßen die beiden Kinder zusammen, hatten Bücher vor sich liegen, machten aber keine Anstalten darin zu lesen, oder sich vielleicht ein wenig zu necken, wie sie es sonst häufig taten.
Anita war nicht glücklich über dieses Verhalten, doch sie ahnte, dass sie es nur schlimmer machen würde, wenn sie sich jetzt vor den beiden rechtfertigen wollte.
Wie ein rettender Engel tauchte in diesem Augenblick Edeltraud, Anitas Mutter, auf. Ohne viel Federlesens beschäftigte sie die beiden, nachdem sie von ihrer Tochter alles gehört hatte, was es über das Treffen mit Thomas zu sagen gab. Und das war ja nicht eben viel. Als kluge Frau enthielt sie sich jeden Kommentars, hatte aber Mitleid für das Paar, das im Augenblick wie in einer Zwickmühle steckte.
Es war ungewohnt für Anita wieder in ihrem Beruf zu arbeiten, doch es machte ihr Spaß. Joachim, der wissen wollte, wie sie sich bewährte, aber auch, um diese ungewöhnliche faszinierende Frau in seiner Nähe zu haben, hatte angeordnet, dass sie zunächst mit ihm zusammen einen Auftrag ausführen sollte. Konferenzräume und Großraumbüros waren einzurichten, Geld spielte für den Auftraggeber keine große Rolle, geschmackvoll und gediegen sollte es sein, und an den Arbeitsplätzen sollte eine harmonische Atmosphäre herrschen. Ein regelrechter Leckerbissen also für einen Innenarchitekten.
Anita begleitete ihren Chef zur Ortsbesichtigung. Die Räume waren jetzt noch kahl und leer in diesem Neubau, die Stimmen der Menschen hallten laut und erzeugten ein Echo, doch Anita sah vor ihrem geistigen Auge schon die Einrichtung. Mit wenigen Worten erklärte sie ihre Vorstellungen, machte Vorschläge für Farbkombinationen und Möbel. Joachim freute sich, er war sicher, er hatte eine gute Wahl getroffen in Anita, sie zögerte nicht, mit der nötigen Energie und Tatkraft an ihre neue Aufgabe heranzugehen.
Zurück im Büro wollte sie eigentlich für diesen Tag Schluss machen, es war ja nur halbtags vereinbart. Doch Joachim hielt sie noch zurück.
„Anita, sagen Sie, hätten Sie Lust mit mir essen zu gehen? Ich finde, wir müssen es feiern, dass Sie so hervorragend in Ihre neue Aufgabe eingestiegen sind.“
Sie wirkte für einen Moment verblüfft, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet, aber dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Im Prinzip würde ich das gerne tun, und ich fühle mich geehrt durch Ihre Einladung, aber es geht nicht.“
Joachim wirkte irritiert. Hatte sie eben wirklich Nein gesagt? Doch dann verstand er plötzlich und nickte lächelnd. „Ich verstehe, Sie möchten Ihre Kinder nicht allein lassen. Nun, dann bringen Sie die beiden doch einfach mit.“
Unwillkürlich musste Joachim lachen, als er jetzt das erstaunte Gesicht von Anita sah. „Oder ist da noch ein anderer Grund, dass Sie es ablehnen, mit Ihrem Chef auszugehen. Sie sagten, Sie leben getrennt von Ihrem Mann. Ich hoffe nicht, dass es in dieser Richtung Schwierigkeiten gibt. Es ist wirklich nichts dabei, nur möchte ich mit Ihnen Ihren guten Einstieg feiern.“
Jetzt lächelte Anita. „Nein, ich ließe mir auch von niemandem verbieten, eine solch nett ausgesprochene Einladung anzunehmen. Wenn Sie also nichts dagegen haben, dass Thorsten und Meike mitkommen …“
„Nein, wirklich nicht, ich freue mich sogar darauf, die beiden kennenzulernen.“
Ob er das auch noch nach dem Essen mit den Kindern sagen würde, wagte Anita heimlich zu bezweifeln. Doch es schmeichelte ihr wirklich, dass Joachim diese Einladung ausgesprochen hatte. Und warum auch nicht, er war ein attraktiver Mann, intelligent und gebildet, es würde eine Freude sein, mit ihm auch über andere Themen als die Arbeit zu diskutieren.
Joachim dachte ähnlich. Er hielt Anita für eine außerordentlich reizvolle Frau, die ihn faszinierte. Sie war klug, belesen und intelligent, hatte keine Mühe von einem Thema zum anderen zu springen, und vertrat ihre Ansichten sanft, aber bestimmt. Die Kinder waren dabei kein Hindernis. Und wenn sie getrennt lebte, sollte es auch keine Schwierigkeiten mit dem Ehemann geben.
Das Restaurant war sündhaft teuer, wie Anita wusste. Und sie war froh darüber, das Passende angezogen zu haben. Sie hatte schon einige Zeit ein Kostüm im Schrank hängen gehabt, jedoch noch keine Möglichkeit gefunden, es auch zu tragen. Auch daran war Thomas schuld. Er war zu selten daheim, um seine Frau auch mal auszuführen.
Jetzt kam sich Anita zwar nicht unpassend gekleidet vor, hatte jedoch ein schlechtes Gewissen. Wie kam sie eigentlich dazu, mit einem fremden Mann, auch wenn es sich dabei um ihren Chef handelte, auszugehen? Ach was, sie würde diesen Abend genießen, und die Kinder sollten das auch tun.
Thorsten trug einen Anzug und eine Krawatte und kam sich wie verkleidet vor. Meike hingegen freute sich, dass auch sie in einem hübschen Kleid steckte. Sie sah wirklich aus wie ein Mädchen, und nicht, wie sonst so oft, wie ein Junge, in Jeans und T-Shirt.
Die Augen von Joachim leuchteten auf, als er Anita erblickte. Sie war ja eine richtige Schönheit! Galant ging er ihr entgegen und bot ihr den Arm, um sie an den Tisch zu geleiten. Anita stellte ihre Kinder vor, die den Mann wohlerzogen begrüßten. Trotzdem beäugten sie ihn neugierig? Was war das für ein Typ, der ihrer Mutter nicht nur eine gute Stellung gab, sondern sie auch so kurz nach dem Kennenlernen gleich einlud?
Die Bestellung war rasch aufgegeben, weil sich alle entschlossen, den Empfehlungen des Kellners zu folgen. Anita fühlte sich ein wenig befangen, und auch Joachim war schweigsam. Irgendwie hatte er sich ein Rendezvous mit dieser reizenden Frau doch anders vorgestellt, ihm war nicht klar gewesen, dass sich die Kinder als regelrechter Hemmschuh erweisen würden.
Doch Thorsten hatte durchaus nicht vor, die ganze Zeit über stillschweigend seinen Teller anzustarren. Er wollte wissen, was das für ein Mann war, der seine Mutter zum Essen einlud, obwohl er doch wissen musste, dass sie noch verheiratet war.
„Warum haben Sie uns eigentlich mit eingeladen?“, schoss er die erste Frage ab, bevor Anita ihm ein Zeichen machen konnte zu schweigen, oder wenigstens nicht indiskret zu werden. Natürlich hatte sie ihre Kinder schon zuhause verwarnt, aber die beiden waren nicht von ihr dazu erzogen worden, ihre Meinungen zu unterdrücken. „Bestimmt wären Sie doch lieber mit Mama allein gewesen.“
Den strafenden Blick seiner Mutter ignorierte er und warf Joachim einen prüfenden Blick zu. Der hielt stand und lächelte.
„Eure Mutter hätte diese Einladung ausgeschlagen, wenn ich sie nicht auch auf euch ausgedehnt hätte“, gab er freimütig zu.
„Also sind wir ein notwendiges Übel.“ Aus dem Mund eines dreizehnjährigen klang das sehr seltsam.
„Thorsten!“ Anita war schockiert. Das hätte sie von ihrem Sohn nicht vermutet, dass er so unverblümt seine Meinung äußerte. Andererseits hatte sie ihre Kinder dazu erzogen, dass sie in vernünftiger Form kein Blatt vor den Mund nahmen. Aber ging das hier nicht ein bisschen zu weit?
Joachim winkte denn auch ab. Er ahnte, dass die Kinder ein Verhör mit ihm anstellen wollten, und es interessierte ihn, wie weit die zwei gehen würden.
„In gewisser Weise, ja“, bekannte er offen. „Aber mich hat auch interessiert, wie ihr seid. Ich finde es eine gute neue Erfahrung euch kennenzulernen.“
„Sind Sie eigentlich sehr reich?“, warf jetzt Meike ein. Sie war beeindruckt von diesem Restaurant, so etwas sah sie sonst höchstens mal im Film. Und es verband sich für das Mädchen mit diesem Lokal der Eindruck von Reichtum.
Joachim stutzte, runzelte dann die Stirn und amüsierte sich ein wenig über die Verlegenheit von Anita. „Ja, doch, ich glaube, man kann mich als wohlhabend bezeichnen.“
„Wie reich?“, forschte die Kleine nach, und Anita wurde puterrot. Ihr waren die Fragen peinlich. Doch Joachim legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Lassen Sie ruhig, Anita. Es ist irgendwie herzerfrischend, dass die Kinder so offen fragen. Sie tuscheln und spekulieren nicht, und es gibt kaum Peinlichkeiten für sie. Deshalb werde ich auch gerne antworten, so gut ich kann. Weißt du, Meike, ich besitze ein großes Haus am Elbufer, habe zwei Pferde in einem Reitstall stehen und eine schöne gemütliche Jacht im Hafen. Ich fahre ein teures Auto und muss mir keine Gedanken über die Rechnung hier und heute machen. Meine Geschäfte gehen gut, und meine Angestellten, wie deine Mutter, werden gut bezahlt. Beantwortet das deine Frage ausreichend? Ich denke, das ist verständlicher, als wenn ich dir meinen Kontoauszug zeige.“
Beide Kinder hatten mit großen Augen zugehört. Zwei Pferde und eine Jacht, das erschien ihnen wie der Himmel persönlich. Meike hätte am liebsten sofort nachgefragt, ob sie auch mal reiten dürfte, doch Thorsten, der seine Schwester kannte, stieß sie unter dem Tisch mit dem Fuß an.
„Haben Sie keine Freundin?“, wollte er wissen. „Wenn Sie soviel Geld haben, gibt es doch sicher viele Frauen, die Ihnen nachlaufen.“ Eine altkluge Feststellung, aber Joachim hatte auch darauf eine Antwort.
„Um soviel Geld zu verdienen, muss ich ziemlich viel arbeiten. Und daher habe ich nur wenig Zeit eine Frau kennenzulernen, die mich interessieren könnte. Solche Frauen wie deine Mutter gibt es nicht viele. Und die wenigen, die ich bisher kennenlernen durfte, waren aus anderen Gründen nicht dazu geeignet sich länger mit ihnen zu beschäftigen.“
„Aber dann sind Sie ja auch nicht besser als unser Vater. Der ist auch immer weg, um Geld zu verdienen“, stellte Meike traurig fest. „Gibt es denn wirklich nichts anderes als Geld zu verdienen?“
Wieder hatte Anita das Gefühl, sich in einem Mauseloch verkriechen zu müssen, ob der Unverfrorenheit ihrer Kinder.
„Nun, das ist so. Wenn ich erst einmal eine Frau finden würde, für die ich starke Gefühle hätte, würde ich sehr gern weniger arbeiten, weil ich dann den Wunsch hätte, oft bei ihr sein zu können.“
Joachim hatte wirklich auf alles eine Antwort.
„Ich glaube, jetzt ist es aber wirklich genug“, mischte sich Anita energisch ein und warf den beiden drohende Blicke zu. Die aber waren noch längst nicht fertig, und Joachim, der dieses Zwischenspiel natürlich bemerkte, lachte auf.
„Fragt ruhig, wenn ich kann, will ich gern antworten“, bot er an und zwinkerte Anita zu. Die seufzte. „Ich glaube, es war ein Fehler …“
„Aber ganz und gar nicht, Anita. Bitte, ich glaube, noch nie hat mir jemand so offen seine Fragen gestellt, ohne Hintergedanken, ohne Bosheit. Verwehren Sie es den Kindern nicht.“
Thorsten grinste, er hatte zwar das Gefühl, dieser Mann wollte mehr von seiner Mutter als nur ein freundschaftliches Beisammensein, aber es gefiel ihm, dass er nicht auswich oder abweisend reagierte.
„Haben Sie schon öfter Frauen aus Ihrer Firma eingeladen?“
„Nein, ich habe bisher noch keine Frau in der Firma gehabt, die auf Anhieb so faszinierend war wie deine Mutter.“
„Aber sie ist verheiratet.“
„Ja, das weiß ich, und das respektiere ich.“ Joachim sprach in diesem Moment nicht darüber, dass er darauf spekulierte, dass aus der Trennung vielleicht eine Scheidung werden konnte. Das gehörte nicht hierher, und es würde die Kinder vielleicht auch nur unnötig verletzen.
Doch Thorsten verstand die unausgesprochenen Worte und schluckte. „Na ja, wenn Mama das gut findet, mit Ihnen auszugehen …“ sagte er lahm und warf Anita einen hilfesuchenden Blick zu.
Die sah jetzt eine gute Möglichkeit dieses Gesprächsthema endgültig zu beenden. „Das hier ist eine freundschaftliche Einladung meines Chefs. Und mehr ist das nicht, Thorsten, ganz gleich, was du dir in deinem kleinen Kopf sonst noch denken magst. Im Übrigen wäre ich euch dankbar, wenn wir zuhause allein noch einmal darüber reden könnten.“
Einmütig nickten die beiden Kinder. Sie hatten am Tonfall gehört, dass sie jetzt an einer Grenze angekommen waren, die sie besser nicht überschritten. Und plötzlich verflog die Ernsthaftigkeit. Meike lachte hell auf.
„Aber“, sagte sie schelmisch, „wenn Sie mal Kinder reiten sehen wollen, dann laden Sie uns ein, ja?“
„Wie wäre es mit dem nächsten Wochenende?“, schlug Joachim spontan vor.
Und noch ehe Anita abwehren konnte oder Thorsten seiner Schwester den Mund verbieten, sagte sie entzückt zu. Anita blieb jetzt keine andere Möglichkeit mehr als zu akzeptieren. Sie wollte und konnte sich ihren Chef nicht zum Feind machen, indem sie sein freundliches Angebot mit fadenscheinigen Argumenten ausschlug.
Thomas hatte darum gebeten einen Tag mit den Kindern verbringen zu dürfen, etwas, das ihm bis vor Kurzem nicht einmal in den Sinn gekommen wäre, wie Anita staunend vermerkte. Aber sie hatte nichts dagegen, immerhin war er der Vater der beiden. Doch als Anita die zwei am Abend wieder abholte, sah sie eine Zornesfalte in seinem Gesicht und ahnte, worüber er so wütend war.
„Wie kommst du dazu, mit einem fremden Mann auszugehen und dabei auch noch schamlos die Kinder mitzunehmen?“, grollte er.
„Habe ich dich je gefragt, mit wem du ausgehst, wenn du auf Geschäftsreise bist?“, konterte sie.
„Das ist doch etwas völlig anderes.“
„Nein, ganz und gar nicht. Mein Chef hat mich eingeladen, um eine Mitarbeiterin, die eng mit ihm zusammenarbeitet, besser kennenzulernen. Und die Kinder gehören nun mal zu mir, ohne sie wäre ich nicht gegangen. Was also ist daran schamlos? Ich finde, du vergreifst dich in deiner Wortwahl.“
Die beiden Kinder waren noch draußen, und so brauchte das Paar kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
„Ich verstehe nicht einmal, warum du arbeiten gehst. Glaubst du, ich könnte keinen Unterhalt zahlen, bis du wieder zurückkommst?“
„Wer sagt dir, dass ich zurückkomme? Bis jetzt ist dein Verhalten nicht so, dass ich den Wunsch dazu verspüren würde. Und im Übrigen suche ich die Unabhängigkeit. Viel zu lange war ich so auf dich fixiert, dass ich vergessen habe, dass es noch ein Leben nach Thomas Kretschmann gibt.“ Sie blieb kühl und ablehnend, aber Thomas vermisste sie so sehr, und es tat so weh, allein im Haus zu sein, kein fröhliches Kinderlachen zu hören, und auch nicht die Stimme der geliebten Frau neben sich. Er sehnte sich mit jeder Faser seines Herzens nach seiner Familie.
„Du hast mir jetzt wirklich richtig eins ausgewischt, Anita. Aber bitte, lass es nun genug sein mit dem bösen Spiel. Ich denke, ich habe verstanden, was du mir sagen wolltest. Komm zurück, lass uns wieder eine Familie sein.“ Er wollte sie an sich ziehen, sie in den Armen halten, ihren vollen roten Mund küssen und wissen, dass sie ihm verziehen hatte, doch sie sträubte sich und wich einen Schritt zurück.
„Nein, Thomas, ich bin noch nicht so weit. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt zurückkommen will.“
Jetzt funkelte er sie wütend an. „Was willst du denn noch von mir? Soll ich dich auf Knien bitten?“
„Du wirst unsachlich“, warf sie ihm vor.
„Und du bist hysterisch. Habe ich denn nicht versprochen mich zu ändern? Dann kann ich doch wohl auch erwarten, dass du mir ein Stückchen entgegenkommst.“
„Das ist doch wieder mal typisch für dich, alles muss nach deinem Willen gehen. Unter Druck gibst du ein Stückchen nach, stellst aber gleich wieder Forderungen. So geht das nicht, Thomas. Ich brauche Zeit zum Überlegen. Zuerst muss ich mir selbst darüber klar werden, wie es weitergehen soll.“
„Und in der Zeit gehst du weiter mit anderen Männern aus und versuchst mir meine Kinder zu entfremden.“
„Das hast du selbst schon lange vorher getan“, gab sie kalt zurück. „Dazu brauchte es meine Hilfe nicht. Und die Kinder kannst du auch nicht mit einem Tag im Zoo, oder was immer du vorhaben magst, bestechen, sie sind nicht dumm.“
Das hatte gesessen, und Thomas war bei diesen Worten tief getroffen. Er ging einen Schritt zurück, sein Gesicht nahm einen resignierten Ausdruck an. „Du willst mir also keine neue Chance geben?“
„Das habe ich nicht gesagt. Ich bin nur der Überzeugung, dass ich noch in bisschen mehr Zeit brauche, um Klarheit über unsere Situation zu bekommen.“
„Weißt du denn nicht, dass ich dich liebe?“, fragte er verzweifelt, und der Schmerz in seinen Augen brachte Anita in ihrem Entschluss ins Wanken. Dann aber straffte sie sich.
„Auch ich empfinde noch viel für dich, aber der Alltagstrott zerstört das alles. Und wenn wir nicht beide daran arbeiten, wird irgendwann Hass zwischen uns stehen. Das will ich nicht. Aber weil ich noch nicht weiß, wie ich das verhindern kann – ob ich es überhaupt verhindern kann – will ich mit den Kindern noch fortbleiben.“
„Denkst du dabei überhaupt an die Kinder? Oder geht es nur um dich?“, fragte er bitter.
„Gerade, weil ich an die Kinder denke, kann ich nicht anders handeln. Es ist leichter für sie zu wissen, dass sie nicht jeden Tag auf ihren Vater oder vielleicht auch nur auf ein Lebenszeichen von ihm warten müssen.“
Er wandte sich ab, jedes Wort brannte in seiner Seele, und das Schlimmste war, dass er wusste, dass Anita in gewisser Weise recht hatte. Er hatte seine Familie viel zu oft allein gelassen.
„Und wie stellst du dir das jetzt vor?“, fragte er mit einer unnatürlichen Ruhe, während in seinem Innern ein Sturm der Gefühle tobte. „Du sitzt in deiner neuen Wohnung, gehst mit deinem Chef aus und entschließt dich irgendwann, nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen?“
„So solltest du das nicht sehen, Thomas. Nimm es als Möglichkeit für uns beide, uns über unsere Gefühle klar zu werden, und darüber, wie es mit uns weitergehen soll.“
„Mehr hast du nicht zu sagen?“
„Nein, Thomas, mehr habe ich im Augenblick nicht zu sagen.“
Sie ging, ohne ihm noch einen letzten Blick zu gönnen.
Meike war schon ganz aufgeregt. Wie viele Mädchen in ihrem Alter liebte sie Pferde über alles. Und so war es ein besonderes Ereignis, auf dem Reiterhof die Tiere von Joachim kennenzulernen und vielleicht selbst darauf reiten zu dürfen.
Anita hätte ihr diesen Wunsch auch gern erfüllt, doch in der Nähe des Wohnortes gab es keinen geeigneten Stall, in dem Meike ihrer Leidenschaft hätte nachgehen können.
Das Mädchen war ein bisschen verärgert, denn ihr großer Bruder hatte ihr Vorwürfe gemacht wegen ihres Verhaltens im Restaurant. Eigentlich waren sich die beiden einig, dass sie keinen Ersatzvater brauchten. Ihr eigener sollte nur wieder häufiger daheim sein und sich um sie kümmern, dann würde schon alles wieder gut werden. Doch als Anita sich zum Auszug entschlossen hatte, waren die beiden tief getroffen gewesen. Konnte es denn sein, dass Mama und Papa sich gar nicht mehr lieb hatten? Eigentlich unmöglich! Und doch schien es so. Da passte es den beiden nicht recht, dass da plötzlich ein anderer Mann war, der sich um ihre Mutter bemühte. Deshalb hatte Thorsten auch das regelrechte Verhör geführt, er wollte Joachim auf den Zahn fühlen.
Und nun gefiel es ihm ganz und gar nicht, dass seine kleine Schwester fasziniert war von der Aussicht auf Reitpferde. Der Junge empfand das als Bestechung, ja, schon fast als Verrat, dass Meike so leicht zu ködern war. Er hatte ihr Vorhaltungen gemacht, doch es war ja ohnehin zu spät, es stand fest, dass das Wochenende bei Joachim Konrad verbracht werden würde. Aber Thorsten nahm sich vor, ganz besonders auf seine Mutter und Meike aufzupassen.
Nun saßen sie in Anitas kleinem Auto und fuhren nach Hamburg, was ja nur eine knappe halbe Stunde entfernt war.
Direkt am Elbufer stand eine ganze Reihe von vornehmen Villen mit gepflegten Gärten oder sogar parkähnlichen, großzügigen Anlagen. Hierher führte der Weg, und auch Thorsten war wider Willen beeindruckt.
Aber Anita sah fast ein wenig unglücklich aus. Konnte es denn sein, dass ein Mann, der augenscheinlich über ein größeres Vermögen verfügte und mit Sicherheit in anderen Kreisen verkehrte als sie, sich für sie, eine noch verheiratete Frau mit zwei Kindern, interessierte? Dass er mehr als höfliches Interesse zeigte? Ihr war nicht ganz wohl bei der Sache, und am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder umgekehrt. Doch das hätte sie vielleicht ihre Arbeitsstelle gekostet, die ihr schon am Herzen lag. Und es sprach sich schnell herum in der Branche, wenn irgendetwas nicht richtig gelaufen war. Vielleicht bekam sie dann nie wieder einen Job in ihrem Beruf.
Kurz bevor Anita in den weißen Kiesweg einbog, der zum Haus führte, hielt sie den Wagen noch einmal an. Zum einen vergewisserte sie sich, dass die Adresse wirklich stimmte, aber dann wandte sie sich den Kindern zu.
„Herrschaften, ich möchte nicht noch einmal ein solches Fiasko erleben wie beim letzten Mal. Solltet ihr euch nicht ordentlich benehmen, wird es sicher das letzte Mal sein, dass eine solche Einladung ausgesprochen wird, oder dass ich sie annehme. Das gilt besonders für dich, Thorsten. Keine indiskreten Fragen. Und auch keine spitzen Bemerkungen. Sind wir uns da jetzt einig?“
Der Junge zog eine Flunsch, nickte aber gehorsam. Meike hingegen strahlte. „Ich bin auch ganz lieb. Darf ich dann auch noch mal zu den Pferden?“
Thorsten tippte sich an die Stirn, was Anita zum Glück nicht bemerkte, und das Mädchen streckte ihrem Bruder die Zunge heraus.
„Wir werden sehen“, sagte Anita ausweichend.
Joachim begrüßte seine Gäste herzlich, und er hielt Anitas Hand ein wenig länger als üblich in der seinen. Thorsten bemerkte es, gedachte aber der eindringlichen Worte seiner Mutter und sagte nichts.
Nach einem kleinen Imbiss fuhren sie alle hinaus zum Reitstall. Er befand sich in der Nähe der Rennbahn, und Anita, die so etwas auch noch nie aus der Nähe gesehen hatte, fand es interessant.
In niedrigen, langgestreckten Gebäuden befanden sich die Boxen für die Pferde, jede von außen an der Holztür mit dem Namen des Tieres. Es gab Übungsplätze mit Hindernissen, ein Viereck für die Dressur und viele andere Möglichkeiten, die der jungen Frau nicht einmal bekannt waren.
Und dann standen sie vor zwei Boxen, in denen sich ein Schimmel und eine braune Stute befanden, außerordentlich schöne Tiere, fand Anita, auch wenn sie nicht genug Ahnung davon hatte, um den Wert und die Herkunft wirklich zu schätzen.
Meike verliebte sich auf Anhieb in die Stute, ein zierliches Tier mit schlanken Fesseln und klugen braunen Augen. Und auch Thorsten bekam ein wenig strahlende Augen. Joachim bemerkte das sehr wohl. Er rief zwei Pfleger und gab Anweisung, dass die beiden aufsitzen durften, sie sollten ruhig reiten lernen.
Er selbst nahm dann Anita beim Arm und ging mit ihr zu den Koppeln hinaus, wo sich noch eine Menge anderer Pferde befanden.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie meinen Kindern einen so schönen Tag ermöglichen“, bedankte sich Anita etwas steif bei Joachim.
Er runzelte die Stirn. „Nur den Kindern? Anita, ich möchte dass Sie es als schönen Tag empfinden. Kann ich etwas tun, um Sie glücklich zu machen? Möchten Sie auch reiten?“
„Um Himmels willen, nein“, wehrte sie lachend ab.
Er schaute sie an. „Sie sind sehr schön, wenn Sie lachen.“
Röte überzog ihr Gesicht, und sie wurde verlegen. Er lachte auf. „Kommen Sie, die Kinder sind gut aufgehoben. Lassen Sie uns eine Kutschfahrt über dieses Gelände hier machen.“
Das gefiel Anita. Wenig später saßen die beiden in einem offenen Kutschwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde. Der Kutscher hatte Joachim freundlich begrüßt und Anita darauf vorbereitet, dass es etwas holprig werden konnte. Doch das nahm sie gern in Kauf.
Eine gute Stunde lang fuhr die Kutsche durch das sehr weitläufige Gelände, eine Unzahl von Menschen schien hier zu arbeiten, und eine noch größere Menge von Pferden war hier untergebracht.
Joachim war ein besonders phantasievoller Fremdenführer, brachte die junge Frau an seiner Seite immer wieder zu Lachen, während er kreativ dies und jenes erklärte.
Schließlich aber kamen sie am Ausgangspunkt wieder an und stiegen aus. In beschützender Geste legte Joachim einen Arm um Anita, und sie ertappte sich dabei, dass sie diese Berührung genoss. Unwillkürlich drehten sich beide plötzlich das Gesicht zu, und ohne lange nachzudenken, nahm Joachim sie eng und fest in seine Arme und küsste sie, sanft und zärtlich, dann aber fordernder.
Anita hielt still und genoss dieses prickelnde, erregende Gefühl, das sie schon so lange nicht mehr verspürt hatte. Dann löste sich Joachim von ihr und schaute sie etwas verlegen an.
„Ich wollte dich jetzt eigentlich nicht überfallen. Aber du bist so schön – ich konnte einfach nicht anders. Bist du mir nun sehr böse?“
Anita schüttelte den Kopf und blickte ihn mit ihren braunen Augen offen an. „Nein, ich bin dir nicht böse, und ich fühle mich auch nicht überrumpelt. Im Grunde habe ich das ebenso gewollt wie du.“
Wieder zog er sie an sich, und dieses Mal erwiderte sie den Kuss – sehr zum Missfallen des zufälligen Beobachters.