Julie Mazzieri

Grabrede auf einen Idioten

 

Aus dem Französischen von

Christoph Roeber

 

 

 

 

diaphanes

 

 

Inhalt

 

Der Mord

Paul Barabé

Der Hirte

Die Hure

Das Fest

Der Mord

I

Am helllichten Tag. Haben sie ihn in einen Brunnen geworfen, am anderen Ende des Dorfes. Haben ihn an den Beinen gepackt und wie einen Mehlsack vornüber gekippt. Eins, zwei, und … Der Bürgermeister und sein Stellvertreter. Einige Tage zuvor waren die beiden Männer nach der Versammlung im Rathaus geblieben. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, Platz zu nehmen. Sie hatten den Knoten ihrer Krawatten gelöst und an der Tür miteinander gesprochen. Es war noch nicht wieder richtig still. Der Hals des Bürgermeisters war rot, beinah bläulich. Er hatte zuerst gesprochen.

Er kam an jenem Morgen aus der Post, da sah er ihn. Er war auf dem Dorfplatz und schien nichts und niemanden zu erwarten. Er saß auf der Bordsteinkante und die zu weite Hose hing ihm auf der Hüfte. Der Bürgermeister wollte sich hinsetzen und seine Post lesen. Die Beamtin hatte ihm gerade ein Einschreiben ausgehändigt und er sagte sich, ja das sehe ich mir draußen auf dem Platz gleich mal an, ist ja sonst keiner da um die Zeit, muss man nicht reden. Beim Anblick des anderen auf seiner Stufe zögerte er, ging dann die kleine Mauer entlang und ließ sich auf der Bank nieder. Er war der Bürgermeister und das war ja schließlich der Platz seines Dorfes. Der andere bemerkte ihn nicht; er wiegte sich geistesabwesend, starrte vor sich auf den Boden. Er tat das sehr lange, ununterbrochen. Die Bewegung ging vom Nacken aus, ein leichter Ruck, eine kurze Versteifung, die den Kopf nach vorn warf wie ein Pendel. Was für ein Anblick, wenn sein Gesicht wieder nach oben kam: diese riesige Rübe, dieser Hornochsenschädel. Der Bürgermeister legte sich seine Post auf den Schoß und schrie ihm zu abzuhauen. Der andere hob den Kopf und blickte suchend um sich, woher die Worte gekommen waren. Mit seinen Idiotenaugen sah er nichts. Er schaute ihn an, da auf seiner Bank, doch er sah ihn nicht. Sein Mund stand halb offen, gelähmt, als wäre ihm die Unterlippe zu schwer. Als hätte man ihm mit einem Strohhalm das Hirn durch die Nasenlöcher ausgesaugt. Nicht leicht, wenn Sie lesen wollen und so einen Trottel vor der Nase haben. Der Bürgermeister versuchte ihn mit einer Handbewegung zu verscheuchen. Nichts. Ein kleiner Laut der Überraschung stieg seine Kehle hoch, ein Glucksen, dann lächelte er unsicher. Widerlich, hatte der Stellvertreter gesagt. Der Bürgermeister hatte wiederholt: ein Glucksen. Ein Glucksen. Und hatte weitererzählt.

Der Idiot wippte wieder vor und zurück und ließ seinen Schatten, der ihm über den Staub des Platzes folgte, nicht noch einmal aus den Augen. Schon jetzt existierte der Bürgermeister auf seiner Bank nicht mehr. Der Idiot gluckste ein zweites Mal und bückte sich, um einen Kieselstein wegzunehmen, der oben auf seinem Schatten lag. Dann kniete er sich hin, um die anderen Kieselsteine und Halme aufzusammeln, die ihn störten. In diesem Augenblick sah der Bürgermeister zwischen der zu kurzen Weste und dem ausgebeulten Gürtel mit eigenen Augen ein Stück so unglaublich weiße Haut, dass es ihn ekelte. Dünn wie Seide und vom Fett ganz schlaff, hatte er gesagt. Da, in der prallen Sonne, ohne Haare oder Flaum, bedeckte sie den ganzen Körper dieses Mannes. Dieses Wurms.

„Widerlich“, hatte der Stellvertreter wiederholt. Er hatte etwas hinzufügen wollen: ein weiteres Wort, einen Laut der Empörung vielleicht, aber sein Elan war von der Hand des Bürgermeisters abgewehrt worden. Er habe noch nicht alles gehört, es werde noch schlimmer. Er musste den Brief auf die Bank legen, um sich zu vergewissern, was er sah. Den Körper nach vorn über die Knie gebeugt, war er schließlich auf derselben Höhe wie der Bauch des Idioten. Völlig versunken in sein Spiel, bemerkte der Idiot ihn nicht. Der Bürgermeister rührte sich nicht, inständig hoffend, dass niemand ihn erwischte, und lauerte auf jedes neue Aufrichten, denn in der Mitte dieser geäderten Wampe sah er ihn nicht. Den Nabel. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er nach ihm. Doch er sah ihn nicht, denn ganz einfach, es gab ihn nicht. Der Bauch war glatt, eben. Völlig ruhig. Jemand musste ihn ausradiert oder entfernt haben. Um ein böses Schicksal abzuwenden.

Der Bürgermeister hatte nicht flüstern können. Die hingespuckten Worte waren viel lauter, als er glaubte. Mehrmals konnte der Stellvertreter seinen verwelkten Atem riechen. Gegen den Türrahmen gelehnt, hatte er ihm bis zum Schluss zugehört. Der Idiot reinigte seinen Schatten und kniete weiter davor. Ein auf den Platz gepflanzter Baum, hatte der Bürgermeister gesagt. Der Stellvertreter hatte sich einen Haselstrauch vorgestellt. In seiner Versunkenheit schaukelte der Idiot nur ganz leicht. Das war zu viel, Sie verstehen. Dieser ganze Zirkus, am frühen Morgen. Direkt nach dieser anderen Sache. Zu viel. Der Bürgermeister stand auf und ging zum Idioten hinüber, um ihn ein für alle Mal zu verjagen. Als er nun aber seinen Fuß auf den Schatten setzte, brüllte der andere aus Leibeskräften los: „naa, naa, naa, naa“, und warf den großen Kopf von links nach rechts. Der Junge auf dem Fahrrad fuhr nochmals vorbei, mit nur einer Hand am Lenker. Und noch immer „naa, naa, naa“, als werde man ihn gleich überfahren. Der Bürgermeister wich bis auf den Gehweg zurück. Dann, ohne jeden Grund, als hätte ihn das Leben von oben angegriffen, spreizte der Idiot die Arme und lachte los. Sein schlaffer Mund verzog sich, seine Finger, von den Nerven nicht mehr kontrollierbar, verwandelten sich in verknöcherte Zangen und der Bauch, mein Gott, dieser Bauch ohne Nabel begann zu knurren. Der Bürgermeister hoffte inständig, dass dieses grauenhafte Spektakel zu Ende gehe, und ging weg. Der Idiot legte sich auf seinen Schatten und umarmte ihn freudig, als hätte er soeben einen längst verlorenen Freund wiedergefunden. Der Bürgermeister hatte einen staubigen Geschmack im Mund und ihm wurde klar, dass man den Idioten loswerden musste.

Der Stellvertreter hatte nicht eigens einwilligen müssen und so waren sie am folgenden Dienstag im Garten des Bürgermeisters zusammengekommen. Schon am frühen Vormittag brannte die Sonne und die Frau des Bürgermeisters hatte beschlossen, ihr Frühlingsbeet aufzulockern. Sie wusste von nichts. Mit bloßen Händen grub sie den feuchten und zu dieser Jahreszeit noch kalten Boden um. Ein paar Triebe waren aus der Erde gesprossen. Sie war aufgestanden, um den Stellvertreter ihres Mannes zu begrüßen, und hatte ihre Hände anschließend sofort wieder in die Gartenerde gesteckt. Alles müsse perfekt sein, hatte der Bürgermeister erklärt. Er habe an alles gedacht. Am anderen Ende des Gartens hoffte die Frau des Bürgermeisters, dass kein Frost mehr käme. Der Bürgermeister hatte beim Aufstehen ein hübsches Hemd angezogen und sie hatte ihm im Vorbeigehen von hinten den Kragen gerichtet. Sie hatte ihn schön gefunden. Er habe alles geplant, er brauche ihm nur zu folgen. Die Hand ausgestreckt, hatte er seinen Stellvertreter aufgefordert, ihm die Autoschlüssel zu überlassen.

Sie hatten ihn dort angetroffen, wo der Weg der Craigs von der Landstraße abzweigt. Er saß im Gras. Er war in der Nähe des ungeteerten Weges hinübergegangen. Eine Hand wühlte in der Hosentasche, die andere drückte den Stacheldraht eines Zaunes zusammen. Er hatte das Auto nicht hinter sich halten gehört. Der Stacheldraht ritzte ihm die Handfläche auf und er ließ seine Beute nicht los. Der Stellvertreter hatte die Wagentür geöffnet und der Bürgermeister hatte ihn am Arm gefasst, um ihm zu verstehen zu geben: Er habe alles geplant, er müsse ihm nur folgen. Er war allein hinuntergegangen und hatte sich dem Idioten von der Seite genähert. Er war wohl seit längerem dort, denn sein Gesicht war schon ganz gerötet. Der Bürgermeister hatte ihn gegrüßt, behutsam, so wie man eine Schlinge zuzieht. Der Idiot hatte sich umgedreht und ihn beobachtet, ohne zu antworten. Seine Hand hielt noch immer den Draht. Der Bürgermeister hatte ihn ein zweites Mal gegrüßt und der Idiot hatte zu kreischen begonnen. So irrsinnig zu kreischen wie in einem Albtraum. Der Bürgermeister hatte seine Jackentasche durchsucht und einen Käse hervorgeholt. Er hatte ihm den Käse ins Gesicht gedrückt, damit er aufhörte zu schreien. Der Idiot hatte den käsigen Geruch erkannt. Er war verstummt und hatte sich das ganze Stück auf einmal hineingesteckt. Den Mund sperrangelweit offen, kaute er mühevoll, immer lauter mit der Zunge schnalzend, um alles den Schlund hinunterzubringen. Der Bürgermeister hatte gesagt „iss, iss“. Lange Speichelfäden tropften dem Idioten auf die Weste und, das Gesicht von Esslust gerötet, hatte er den Bürgermeister angelächelt, wobei er ein kurzes Bellen ausstieß. Der Bürgermeister hatte gesagt „komm mit“ und er war mitgekommen. Der Bürgermeister hatte gesagt „steig ins Auto“ und er war eingestiegen.

Auf der Rückbank sitzend, wollte der Stellvertreter den Platz wechseln. Er hatte nicht darum gebeten, aber während der gesamten Hinfahrt gehofft, nicht neben dem Idioten sitzen zu müssen. Und jetzt war er doch da, an seiner Seite, im Mundwinkel etwas saure Milch. Der Stellvertreter hatte versucht, den Idioten nicht anzuschauen, der den Ausflug zu mögen schien. Niemandem kam es in den Sinn, das Radio anzuschalten. Der Bürgermeister schnaufte tief durch und fuhr schnell. Sie waren schon über drei Kreuzungen hinweg. Auch der Idiot schnaufte nun lautstark und der Bürgermeister drehte sich um, fragte den anderen, was das solle. Der hatte mit den Schultern gezuckt. Weiß ich doch nicht, warum der so schnauft. Dann hatte er gesagt, halt’s Maul, du verdammter Idiot, wir werfen dich eh gleich in einen Brunnen. Er hatte das gesagt, denn er wollte es nicht, nicht mehr. Denn er hatte seine Meinung geändert, wie man so sagt. Der Idiot japste. Nur er amüsierte sich. Der Bürgermeister war links in eine kleine Straße eingebogen, die gar keine richtige war: Es handelte sich eher um einen Waldweg, eine schmale, unkrautbewachsene Schneise. Unter den Autoreifen spürte man die Wagenspuren. Der Idiot hatte mit seinem Spiel aufgehört, um nun die Stirn an die Heckscheibe zu pressen und den Weg vorbeiziehen zu sehen. Der Stellvertreter wollte, dass er sitzen bleibt. Ruhig sitzen bleibt. Er hatte ihn kurz am Ärmel gezupft. Macht man nicht, so nach hinten schauen. Macht man nicht. Einen Idioten am Dienstagmorgen in einen Brunnen werfen. Man bleibt im Bett und sagt, dass man krank ist. Auch der Stellvertreter hatte durch die Heckscheibe blicken wollen, aber sie waren angekommen: Da rechts war der Brunnen.

Es war ein offener Brunnen, ausgehoben im letzten Jahrhundert von einem Bauern aus der Umgebung. Der Mörtel hatte den Jahreszeiten gut standgehalten und war nur an sehr wenigen Stellen gebröckelt. Der Idiot begann zu quengeln, als das Auto hielt. Der Bürgermeister hatte ihn am Ellbogen gefasst und ihm beim Aussteigen geholfen. Achtunddreißig Jahre, hatte er gedacht, und immer noch nicht in der Lage, aus einem Auto auszusteigen. Auf den Zehenspitzen war er geradewegs zum Brunnen gelaufen. Erst der Rand hatte ihn zum Stehen gebracht. Die beiden Männer waren verdutzt: Es war so einfach. Über den Brunnen gebeugt, lauschte der Idiot, wie sich die Tiefe mit seinem Atem vermischte. Er hatte gelächelt, als der Bürgermeister und der Stellvertreter zu ihm herübergekommen waren, und sie sahen den Spalt zwischen seinen Schneidezähnen, das rosafarbene Zahnfleisch. Er war gelockt worden, nun lud er sie ein. Mit seinen blassen Augen lud er sie ein. Sie hatten sich, einer nach dem anderen, in seinen freudetrunkenen Augen selbst gesehen. Sich selbst gesehen. So klein. So lächerlich klein. Er hatte die Augen zugemacht, losgeprustet bei ihrem bleichen Anblick, und das war unerträglich gewesen. Sie hatten ihn daraufhin an den Beinen gepackt und wie einen Mehlsack vornüber gekippt. Eins, zwei, und … Der Bürgermeister und sein Stellvertreter. Waren aufs Feld gerannt, Steine zusammenzusuchen, um das Loch zuzuschütten. Für alle Fälle.

Auf dem Rückweg hatte es der Bürgermeister mit einem Scherz, einem Wortspiel versucht, dann war nichts mehr gesagt worden. Sie hatten bereits zu vergessen begonnen. Der Bürgermeister nahm eine andere Straße zurück zum Dorf und jeder ging zu sich nach Hause, bemüht, an etwas anderes zu denken. Doch sie waren ahnungslos, man hätte es ihnen sagen müssen, sie vorwarnen. Dass sie nach drei Tagen den Himmel über ihren Köpfen nicht wiedererkennen würden: einen schwarzen Himmel, der die nächtliche Finsternis kaum abgestreift hatte, einen bedrohlichen Himmel, dabei hatten alle lautstark den Frühling angekündigt. Einen schwarzen Zorneshimmel und so starke Winde, dass man unmöglich sagen konnte, von wo der Sturm hereinbrechen würde.

Die verängstigten Tiere waren an den Zäunen entlang die Wiesen hochgewankt und warteten an der Absperrung, zusammengedrängt, regungslos, mit geschlossenen Lidern, dass man sie holte. In den Häusern fielen krachend die Fenster zu. Und nicht ein einziger Regentropfen. Durch das Pfeifen des Windes hindurch ein lang anhaltender Ton, kaum hörbar. Fast wie eine Klage, eine schwache, gequälte Stimme. Die Frauen waren herausgerannt, um auf den Hecken Kleider und Bettlaken einzusammeln, die von der Leine gerissen worden waren. Und das Geräusch war noch lauter geworden. Quer übers Land wirbelte der Wind auf den Straßen den Staub auf, bog die Bäume nach allen Seiten, knickte die größten und legte die schwächsten um, riss Äste, Dachschindeln ab, trug Bretter und Stühle in den Graben. Den Blick zum Himmel erhoben, hatten die Bauern gesagt, der wird am Ende schon platzen, der sieht so schwer aus, so niedrig, man kann ihn beinah anfassen, der muss sich bald öffnen, so schwarz wie der ist. Dabei hatten sie gerade erst die Herden auf die Felder getrieben, nur Gott wusste, wo sie sie wiederfinden würden. Und sie hatten sich ans Fenster gestellt, um den Moment abzupassen, sie zu holen.

Der Sturm hatte bis zum Abend angehalten, blies unerschöpflich und wütend, drohte, alles bei seinem Vorüberziehen fortzutragen. Dann, kurz vor neun, hatte er sich plötzlich gelegt, fast zu schnell, als hätte es ihn lediglich in den Köpfen der Bauern gegeben, die herauskamen und unsicheren Schrittes um ihre Häuser gingen, noch ganz benommen vom jähen Einhalten des Spektakels. Hoben sie den Blick, so sahen sie, dass in der Ferne, im Dorf, der Strom wieder da war.

Die Bauern hatten ihre Ställe in völligem Durcheinander vorgefunden: die Kaninchen und das Geflügel auf den Futterkrippen und Fensterbänken zwischen umgestürzten Käfigen und den Federteppichen, die Kälber im dreckigen Stroh, mit ängstlichem Blick, jederzeit bereit, wieder hochzuschrecken. Dann war man die auf den Feldern verbliebenen Tiere zählen gegangen. Aber niemand hatte sich wirklich weit hinausgewagt. Aus dem Nichts war eine Brise aufgekommen. Einige Minuten lang zögerte der Wind noch, dann gab es eine einzige, heftige Bö und der Wind war wieder da, noch eisiger als zuvor. Die zu den Feldern aufgebrochenen Männer wussten nicht, ob sie nicht besser umkehren sollten. Sie waren noch weiter hinausgegangen, bevor sie von neuen Windstößen überrascht worden waren, die dieses jammernde Geräusch zurückbrachten, dieses unregelmäßige Wehklagen, das sie am Morgen gehört hatten. Der Sturm war erneut aufgekommen, zornig über sie hinwegfegend, ließ sie allein zurück, die inmitten der Felder einander zuschrien, dass sie zurückmüssten, nach Hause. Über diesem ganzen Tumult hatten sich mit einem Schlag unvermutete, erstickte Laute erhoben. Im Dorf hatte der Bürgermeister den Stellvertreter an seiner Tür angetroffen. Das Gesicht vom Wind gepeitscht, achtete er darauf, die Türklinke nicht loszulassen, und klopfte mit der freien Hand. Draußen, um ihn herum, ein entsetzliches Pfeifen. Das Fenster zwischen sich, blickten sich die Männer lange an. Beobachteten sich, bis sie das Gesicht des anderen nicht mehr erkannten. Dann hatten im Wohnzimmer plötzlich die Kinder geweint und der Bürgermeister war gegangen. Er hatte die Tür nicht aufgemacht. Der Stellvertreter hatte geglaubt, vielleicht habe, vom Grunde des Brunnens, der Idiot wieder angefangen zu schreien.

II

Nein, der Pfarrer hatte nicht geschlafen. Er war in jener Nacht nicht der einzige gewesen, der ruhelos durchs Haus streifte. Mehrere Dorfbewohner hatten sich, die Körper völlig steif, in ihre viel zu dünnen Bettdecken gehüllt und fürs Einschlafen den Morgen abgewartet, mit den Nerven völlig am Ende. Ihre Schlaflosigkeit konnte jedoch nichts für sie tun und auch jahrelanges Wachliegen hätte daran nichts geändert. Tief in seinen Sessel gesunken, war der Pfarrer nicht imstande gewesen, auch nur eine einzige Zeile zu lesen, und hatte sich schließlich damit abgefunden, die Lampe auszuschalten. Er hatte daraufhin in der falschen Stille seines Pfarrhauses beten wollen, aber kaum genug Kraft dazu gehabt, und es dann auch noch sehr schlecht getan, was seinem Gebet den Ton eines Gesprächs zwischen einem Spieler, der verliert, und seinem Gläubiger gab. Der Pfarrer hatte sich beherrscht, um nicht sofort zur Kirche zu rennen. Was für eine lächerliche, törichte Idee. Mitten in der Nacht die Glocken zu läuten. Doch einen Moment lang schien es ihm, die Glocken hätten den Himmel versöhnen können. Und er hatte gewartet. Gegen sechs hatte ihm das graue Licht der Morgendämmerung unter einer dünnen Schicht Raureif seine Gemeinde zurückgegeben.

Von seinem Fenster aus drang sein Blick sehr weit ins Land; so weit, dass die Bauernhöfe und ihre Silos, im ansteigenden Tal, beidseits der vereinzelten Straßen, aussahen wie kleine Knoten, kleine Maschen, die jemand zum Vergnügen in die Landschaft gezogen hatte. Mit dem Ende der Nacht hatte der Pfarrer darauf gehofft, das vertraute Gesicht seines Dorfes wiederzufinden, das ruhige und tröstliche Gesicht eines Kindes, dessen Fieber gesunken ist. Er wollte sich davon überzeugen, dass er sich umsonst Sorgen gemacht hatte, und zu seiner Haushälterin hinuntergehen, die zur gewohnten Stunde aufgestanden war, noch ein wenig über das schwere Unwetter des Vortages reden, seinen Kaffee trinken. Doch nicht das Antlitz seiner Gemeinde war ihm im ersten Licht des Morgens vor Augen getreten, sondern ein gebeugter Rücken, eine lange Eissäule. Was er da durchs Fenster sah, machte dem Pfarrer Angst. Hinter den bereiften Äckern und Wäldern hatte das Dorf nicht mehr den Mut, sich zu erheben. Der Pfarrer hatte den Küster angerufen und forderte ihn auf, die Glocken läuten zu gehen. Er hatte sich keine Gedanken um die Uhrzeit gemacht und sprach ihn an, als sei er ihm böse. Der Küster begab sich mit raschem, kaum beherrschbarem Schritt zur Kirche. Er hatte das Seil sehr weit oben in die Hand genommen und sich hin und her geschwungen. In seinen Sessel eingesunken, betrachtete der Pfarrer die Schindeldächer, die Ziegelmauern. Wenn er doch wenigstens sehen könnte, was dahinter passierte. Er hatte sich durchsichtige Häuschen vorgestellt, aus so klarem Kristall, dass die Schwalben krachend dagegenfliegen würden.

*

Draußen vor der Tür waren die Stiefel langsam gefroren. Sie warteten klamm auf dem vom Matsch hart gewordenen Teppich. Jemand war mitten in der Nacht aufgestanden und das Haus hatte geknarrt. Er hatte das Toilettenlicht angeschaltet und die Tür nicht ganz zugemacht. Im Gang hörte man den Atem der Schlafenden. Er hatte eine ganze Weile lang gepisst und, bevor er wieder in sein Zimmer ging, ein paar Reisigbündel im Ofen nachgelegt. In jener Nacht war der Winter zurückgekehrt. Er hatte die langsam gefrierenden Stiefel hereingeholt und ans Feuer gestellt. Das alles war nicht seine Aufgabe gewesen. Es waren nur noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung. Unter seiner eisigen Bettdecke hatte er nicht wieder einschlafen können.

Paul Barabé war kaum mehr als einen Monat vor dem Sturm nach Chester gekommen. Er hatte die Anzeige in einem Lebensmittelladen in der Stadt gesehen. In dicker und krakeliger Schrift bat sie um einen Landarbeiter, bei Kost und Logis, mit Lohn. Er hatte sich gesagt, das sei genau das, was er brauche: Bargeld, keine Ausgaben und etwas frische Luft. „Nicht für lange“, hatte er sich gesagt, „nur bis ich wieder klarkomm“. Ein paar Tage darauf war Paul Barabé bei den Fouquets erschienen. Das war Anfang April gewesen.

Er kam mit einem Auto, gefahren von einem Mann in seinem Alter, als einziges Gepäck eine Stofftasche, die er nicht ganz zugebracht hatte. Der Fahrer war nicht erst ausgestiegen. Sie hatten ein paar Worte gewechselt – alles Gute, lass von dir hören –, dann war das Auto den Weg im Rückwärtsgang zurückgefahren, eskortiert von einem bellenden Hund auf jeder Seite. Der junge Mann hatte seine Stofftasche auf den Boden gestellt und an die Tür geklopft. Keiner wusste, wer aufmachen sollte. Schließlich war die Mutter aufgestanden. Sie hatte seine Tasche genommen und stellte sie in der Diele ab. Und dann stand Paul Barabé da. Vor ihnen. Die Hände in den Taschen seiner Lederjacke. Durch den Rauch seiner Zigarette hatte der Vater ihn gemustert, wie ein Stück Vieh auf dem Markt. Ein Kalb. Ein großes Kalb in Stadtkleidern. In einer Ecke des Esszimmers hatten die Kinder ihr Spiel unterbrochen, um den neuen Arbeiter besser betrachten zu können. Es war das erste Mal, dass einer bei ihnen wohnen sollte. Sehr groß war er nicht, eher dünn. Nicht hässlich, nein, nur … na ja … in seinem Gesicht war etwas Unangenehmes, Unverschämtes. Man musste genau hinsehen, es war direkt über dem Mund: ein längliches Stück weiße Haut, das bis ins Nasenloch hochstieg und die Oberlippe, wie einen Vorhang, leicht nach oben zog. Obwohl unauffällig korrigiert, hatte ihm die Hasenscharte ein leicht schiefes Gesicht hinterlassen – „nicht ganz geheuer“ durch dieses spöttische Lächeln immerzu, das er ungewollt zur Schau trug. Selbst die Kleinsten hatten die Gedanken des Vaters erraten. Dass das nicht ginge. Man hätte den Fahrer zurückrufen müssen, schneller rennen als die Hunde und ihn einholen, bevor er auf die geteerte Straße gekommen war. Sagen, das sei ein Irrtum. Alles wieder ins Auto verfrachten und sie langsam davonfahren sehen. Doch sowas macht man ja nie, selbst wenn man weiß, nichts zu machen, man macht gerade einen Fehler.

Paul Barabé hatte das Zimmer ganz hinten bekommen: weiß, getäfelt, mit einem einfachen Bett, einem Nachtschränkchen, einer Kommode und einem Stuhl. Am Vortag hatte die Mutter die Bettwäsche gewechselt und die Schubladen leer geräumt. Der junge Mann hatte sich aufs Bett gesetzt und einmal um sich geblickt. Nach und nach hatte sich sein Magen zusammengekrampft und er musste die Augen schließen, um die Aufregung zu mildern, die ihn gepackt hatte und sich nun schleichend ausbreitete, im Rhythmus kleiner Muskelbewegungen die Speiseröhre hinunterrutschte wie ein kleines, von der Angelschnur abgerissenes Stück Blei, wie eine vergessene, gestörte Sonde, die man nicht wieder ausspucken kann. Es kam ihm lächerlich vor, dass ihm so elend war, und er hatte bei sich über seine Torheit gelacht. Der Krampf löste sich nicht. Unten erwartete man ihn. Er hatte die Schubladen der Kommode aufgemacht, aber ihm fehlte der Mut, seine Sachen einzuräumen. Er legte sich aufs Bett und wartete. Beim Ausdrücken seiner Zigarette hatte der Vater gefragt, was in der Tasche sei. Seine Kleidung, hatte er geantwortet. Der Vater hatte die Tasche nicht aus den Augen gelassen, um ihn, den Neuen, nicht anblicken zu müssen. Und hatte dann in einem Anflug von Ungeduld gefragt, wo Romain sei. Die Mutter durchquerte daraufhin die Küche, verschwand in einer Art Gang und kehrte einige Sekunden später in Begleitung eines großen, Jungen mit pausbäckigem Gesicht zurück. Auch ihn hatte der Vater nicht angeblickt, sondern nur aufgefordert, dem Arbeiter sein Zimmer zu zeigen und ihm Arbeitskleidung zu leihen.

Von seinem Bett aus hatte Paul Barabé gehört, wie sich die Schritte des Jungen der Tür näherten, und es hatte ihn überrascht, dass sie sich auf der Treppe gleich wieder entfernten, ohne dass geklopft worden wäre. Die Kleider, aufgeteilt auf zwei ordentliche Stapel – der eine mit Hemden und der andere mit Hosen –, waren an der Wand abgelegt worden. Während er sich sagte, dass der Älteste extrem zurückhaltend sein musste, war Paul Barabé in seine neuen Kleider geschlüpft, dann zum Fenster gegangen, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen. In der Ferne machte er im ansteigenden Tal die Straße aus, die zum Dorf führte. „Zu Fuß drei Stunden“, hatte er gedacht. Vielleicht auch nur zwei, das war schwer zu sagen.

*

Als sie in den Stall kamen, hatte Romain bemerkt, dass er sein Taschenmesser im Haus liegen gelassen hatte. Er musste es beim Schuhanziehen auf den Boden gelegt und dort vergessen haben. Er hätte ein anderes nehmen können, aber er wollte sein eigenes. Die Klinge war sehr scharf und das Heft genau lang genug. Der Junge hatte es sich zur üblen Gewohnheit gemacht, alles kaputtzumachen, zu ramponieren, in Stücke zu reißen. Er machte auf, was ihm in die Hände fiel, und schaute hinein. Das war kein Spiel mehr für diesen großen Jungen. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe zu verbergen, was er aufschlitzte, und überall verstreut fand man die Reste, die er hinterließ.

Der Weg zwischen dem Stall und dem Haus war nicht sehr lang und oftmals rannte man ihn hin und zurück, kaum außer Atem. Romain hatte keine Lust zu rennen. Der Kies unter seinen Füßen war gefroren und bei dem Gedanken, den Weg, den er gerade mit den anderen genommen hatte, nun noch einmal allein zu gehen, hatte er eine plötzliche Freude gespürt. Saukalt ist das, hatte er gedacht. Wenn jetzt ein Wolf auftauchte, gerade da hinterm Haus, und er ohne sein Messer auskommen müsste. Die Luft war schneidend kalt und die Sonne ließ auf sich warten. Das war schon irgendwie eigenartig.

Das Messer war weder in der Diele noch in den Taschen seines anderen Mantels. Die Mutter hatte es aufs Fensterbrett gelegt. Sie war nicht wieder hoch schlafen gegangen, nachdem der Vater und die Jungs losgegangen waren. Das bringe ja doch nichts, sie würde nicht wieder einschlafen können, hatte sie zu Romain gesagt. Ob sie krank sei, hatte der Junge gefragt. Nein, hatte sie geantwortet, woraufhin er sich zum Gehen wandte mit den Worten, sie müsse es doch zumindest probieren, wenn sie sich erst mal hingelegt habe, würde der Schlaf schon kommen, dieser Morgen sei doch geradezu zum Schlafen gemacht. Die Mutter hatte ihn mit der Frage zurückgehalten, ob er es gewesen sei, der in der Nacht aufgestanden war, um den Ofen anzuheizen. Er war es nicht. Sie hatte wohl zu tief geschlafen und nicht gehört, wie der Vater aufgestanden war. Aber nein, ihr schien, sie hatte sehr schlecht geschlafen. Jedenfalls sei das nicht weiter wichtig und er solle nur zurück in den Stall gehen, sonst würden sich die anderen noch fragen, wo er abgeblieben sei.

Es bestand keine Eile, aber Romain machte es Spaß, so zu tun, und so war er in der knackend kalten Luft zurückgerannt. Draußen angekommen, hörte er die Glocken der Kirche. Er erinnerte sich nicht, sie jemals so früh am Morgen gehört zu haben; schon seit langem läutete man nicht mehr zur vollen Stunde. Die Freude, die ihn überkommen hatte, als er noch einmal zum Haus gelaufen war, hatte sich plötzlich in panische Angst verwandelt, in einen grenzenlosen Schrecken, so als spürte er gerade hinter sich den feuchten Atem eines Ungeheuers, das ihn gleich packen würde, und er hatte sich so schnell aus dem Staub gemacht, dass ihm die Fersen gegen den Hintern schlugen. Er hatte erst angehalten, als seine Füße auf dem Zementboden der Molkerei standen, die Tür fest hinter sich verschlossen. Der Junge war unter dem Klang der Glocken in den Stall gekommen, das Gesicht ganz bleich und den Finger auf der Einkerbung seines Taschenmessers.

*

  

Die Sonne war nach zwei Tagen zurückgekehrt, mit einer fast unverschämten Kraft. Die Dorfbewohner waren sehr früh am Morgen aus ihren Häusern gekommen und hatten, die Augen zusammengekniffen, den Kopf zum Himmel erhoben: Keine Wolke, nicht eine einzige, war zu sehen, nur ein klarer Himmel, so weit das Auge reichte. In der ganzen Gegend hatte das Leben unverzüglich seinen Gang wieder aufgenommen. Die Männer und Frauen, die sich im Dorf über den Weg liefen, sprachen alle davon, wie das schlechte Wetter gewütet hatte. Sie konnten von gar nichts anderem sprechen. Hundertmal hatten sie den anderen vom Sturm erzählt, die ihn doch ebenso erlebt hatten wie sie selbst. Hundertmal hatten sie dieselbe Geschichte erzählt, ohne dass sie ihrer müde geworden wären: der Himmel schwarz, der Regen, der nicht kam, die Bäume gebogen, die Tiere verängstigt, die Dachschindeln fortgerissen. Sorgfältig wurde alles durchgegangen. Alle hatten sie ihre eigene Version. Hundertmal hin- und hergewendet, war der Sturm eine Woche später, zur großen Erleichterung der meisten unter ihnen, schließlich gebändigt worden. Es gab nichts mehr hinzuzufügen. Man sprach nun vom Dorffest, das im Spätsommer stattfand, und vom Minister, der aller Voraussicht nach kommen würde. Man suchte nach anderen Themen. Man sprach von den Kindern. Dann hatten zwei Neuigkeiten alle Gespräche eingenommen und der Sturm war nichts anderes mehr als eine ferne Erinnerung: Eine Familie aus der Stadt war zu ihnen gezogen und draußen auf den Feldern war eine Leiche gefunden worden.