Georges Perec
Denken/Ordnen
Aus dem Französischen von
Eugen Helmlé
diaphanes
Inhalt
Anmerkungen über das, was ich suche
Über einige Anwendungen des Verbs wohnen
Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände,
die auf meinem Schreibtisch liegen
Drei wiedergefundene Zimmer
Kurze Anmerkungen über die Kunst und
die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen
Zwölf Seitenblicke
Orte einer List
Ich erinnere mich an Malet & Isaac
81 Kochkarten für Anfänger
Lesen: sozio-physiologischer Abriss
Die Schwierigkeit, sich eine ideale Stadt vorzustellen
Betrachtungen über die Brillen
»Denken/Ordnen«
Bibliographische Anhaltspunkte
Der vorliegende Band enthält Texte, die Georges Perec zwischen 1976 und 1982 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hat. Den Titel Penser/Classer (Denken/Ordnen), der hier am Ende des Buches steht und ihm seinen (französischen) Namen gibt, hatte Perec für einen Text gewählt, der sein letzter sein sollte und noch zu seinen Lebzeiten, wenige Wochen vor seinem Tod, erschienen ist.
Um die Welt zu verstehen, hat Georges Perec sie auf seine Weise geordnet und dabei unaufhörlich sowohl die Konventionen des Wahrnehmbaren als auch die festgefügten Hierarchien umgestoßen. Sein Blick verleiht der Banalität, den Menschen und den Alltagsdingen eine unerwartete Dichte, die uns verwirrt und zugleich verzaubert. Das Inhaltsverzeichnis dieses Buches ist mit der freundlichen Hilfe Eric Beaumatins, Marcel Benabous und Ewa Pawlikowskas* erstellt worden, denen ich an dieser Stelle danke.
Maurice Olender
* Mitglieder des Verwaltungsrats der Association Georges Perec (Bibliothèque de l’Arsenal, 1, rue de Sully, 75004, Paris).
Anmerkungen über das,
was ich suche
Wenn ich den Versuch unternehme, das zu definieren, was ich seit meinen Schreibanfängen zu tun bestrebt war, so kommt mir als erstes der Gedanke in den Sinn, dass ich nie zwei gleichartige Bücher geschrieben habe, dass ich nie das Verlangen gehabt habe, die in einem früheren Buch erarbeiteten Methoden, Systeme oder Schreibweisen zu wiederholen.
Diese systematische Unbeständigkeit hat gewisse Kritiker, die Wert darauf legen, von einem Buch zum anderen die »Schreibe« des Schriftstellers wiederzufinden, mehrmals verunsichert; und sicherlich hat sie auch einige meiner Leser verschreckt. Sie hat mir den Ruf eingebracht, eine Art Computer, eine Texthervorbringungsmaschine zu sein. Ich selbst würde mich eher mit einem Bauern vergleichen, der mehrere Felder bestellt; auf dem einen pflanzt er rote Rüben an, auf einem anderen Klee, auf einem dritten Mais. Auf die gleiche Weise gehören die Bücher, die ich geschrieben habe, zu vier verschiedenen Feldern, zu vier verschiedenen Formen der Fragestellung, wobei möglicherweise zwar immer die gleiche Frage gestellt wird, doch jeweils unter einem besonderen Gesichtspunkt, der für mich jedes Mal einer anderen Grundform der literarischen Arbeit entspricht.
Die erste Form dieser Fragestellung kann man die »soziologische« nennen: Mit welchen Augen sieht man den Alltag; sie ist der Ausgangspunkt von Texten wie Die Dinge, Träume von Räumen, Versuch der Beschreibung einiger Pariser Orte sowie der Arbeit mit dem Team der Zeitschrift Cause commune um Jean Duvignaud und Paul Virilio; die zweite ist autobiographischer Art: W oder die Kindheitserinnerung, Boutique obscure, Ich erinnere mich, Orte, an denen ich geschlafen habe usw.; die dritte, die spielerische, verweist auf meine Vorliebe für Stilzwänge, Kühnheiten, »Programme«, auf alle Arbeiten, die im Zusammenhang mit Oulipo (d. i. Werkstatt für potentielle Literatur) stehen, das mir die Ideen und die Möglichkeiten ihrer Umsetzung dazu geliefert hat: Palindrome, Lipogramme, Pangramme, Anagramme, Isogramme, Akrostichons, Kreuzworträtsel; die vierte schließlich betrifft das Romanhafte, die Vorliebe für Geschichten und Peripetien, die Lust, Bücher zu schreiben, die man, flach auf dem Bauch liegend, im Bett verschlingt; Das Leben Gebrauchsanweisung ist ein typisches Beispiel hierfür.
Diese Einteilung ist ein wenig willkürlich und könnte sehr viel nuancierter sein: Fast keines meiner Bücher entgeht völlig einer autobiographischen Markierung (zum Beispiel dadurch, dass in einem bestimmten Kapitel eine Anspielung auf ein im Verlaufe des Tages eingetretenes Ereignis eingebaut ist); es gibt auch keines, in dem ich nicht auf diesen oder jenen Stilzwang oder diese oder jene oulipoistische Struktur zurückgreife, und sei es auch nur symbolisch und ohne dass mich diese Struktur, dieser Stilzwang zu irgendetwas zwingt.
In Wahrheit, so scheint mir, dürfte es wohl, einmal abgesehen von diesen vier Polen, die die vier Horizonte meiner Arbeit bestimmen – die Welt, die mich umgibt, meine eigene Geschichte, die Sprache, die Fiktion – mein Ehrgeiz als Schriftsteller sein, die gesamte Literatur meiner Zeit zu durchstreifen, ohne je das Gefühl zu haben, umzukehren oder wieder meinen eigenen Fußspuren zu folgen, und dabei alles das zu schreiben, was für einen heutigen Menschen zu schreiben möglich ist: dicke Bücher und dünne Bücher, Romane und Gedichte, Dramen, Opernlibrettos, Krimis, Abenteuerromane, Science-Fiction-Romane, Fortsetzungsromane, Kinderbücher …
Ich habe noch nie gern abstrakt, theoretisch, über meine Arbeit gesprochen; selbst wenn das, was ich hervorbringe, aus einem seit langem schon ausgearbeiteten Programm, einem schon lange bestehenden Projekt zu kommen scheint, glaube ich eher, meine Anregungen beim Gehen zu finden: Aus der Aufeinanderfolge meiner Bücher entsteht für mich das, manchmal tröstliche, manchmal unangenehme Gefühl (weil es immer im Zusammenhang mit einem »kommenden Buch«, mit etwas Unvollendetem steht, das auf das Unsagbare verweist und dem der Wunsch zu schreiben verzweifelt entgegenstrebt), dass sie einen Weg durchlaufen, einen Raum abstecken, tastend eine Strecke markieren, Punkt für Punkt die Etappen eines Suchens beschreiben, über dessen »Warum« ich nichts zu sagen wüsste, lediglich über sein »Wie«; undeutlich spüre ich, dass die Bücher, die ich geschrieben habe, ihren Sinn aus einem alles umfassenden Bild beziehen, das ich mir von der Literatur mache, doch ich habe das Gefühl, dass ich dieses Bild wohl nie genau zu greifen vermag, dass es für mich etwas ist, das jenseits des Schreibens steht, ein »Warum ich schreibe«, auf das ich nur schreibend antworten kann, wobei ich unaufhörlich den Augenblick hinausschiebe, in dem dieses Bild, weil ich aufhöre zu schreiben, sichtbar werden würde, ähnlich wie ein Puzzle, das ein für alle Mal abgeschlossen ist.
Über einige Anwendungen
des Verbs wohnen
Wenn ich an einem Haus vorbeigehe, in dem ich wohne, kann ich sagen, ich wohne da oder noch genauer, ich wohne im ersten Stock, nach hinten; und wenn ich dieser Aussage nun eine administrativere Wendung geben will, kann ich sagen ich wohne nach hinten, Treppenaufgang C, Mitteleingang.
Wenn ich in meiner Straße bin, kann ich sagen, ich wohne dort, Hausnummer 13, oder ich wohne Hausnummer 13, oder ich wohne am anderen Ende der Straße, oder ich wohne neben der Pizzeria.
Wenn mich jemand in Paris fragt, wo ich hause, habe ich die Wahl zwischen einem guten Dutzend Antworten. Ich wohne in der Rue Linné könnte ich nur zu jemandem sagen, von dem ich genau weiß, dass er die Rue Linné kennt; meistens müsste ich die genaue geographische Lage der besagten Straße angeben. Zum Beispiel: Ich wohne in der Rue Linné neben der Klinik Saint-Hilaire (bestens bekannt bei den Taxifahrern), oder ich wohne in der Rue Linné, im Viertel Jussieu, oder ich wohne in der Rue Linné, neben der naturwissenschaftlichen Fakultät oder aber ich wohne in der Rue Linné, neben dem Jardin des Plantes oder auch ich wohne in der Rue Linné, nicht weit von der Moschee entfernt. Unter außergewöhnlichen Umständen könnte es sogar sein, dass ich sagen müsste, ich wohne im 5. oder ich wohne im fünften Arrondissement oder ich wohne im Quartier Latin und sogar ich wohne am linken Seine-Ufer.
Ich glaube, ich kann einigermaßen sicher sein, dass ich überall in Frankreich (und erst recht in Paris und seiner näheren Umgebung) verstanden werde, wenn ich sage, ich wohne in Paris. Ich könnte auch sagen, ich wohne in der Hauptstadt (ich glaube nicht, dass ich das je getan habe), und es gibt keinen Grund, mir nicht vorzustellen, dass ich auch sagen könnte, ich wohne in der Lichterstadt oder ich wohne in der Stadt, die früher einmal Lutetia hieß, obgleich das eher nach einem Romananfang aussieht als nach der Angabe einer Adresse. Hingegen laufe ich große Gefahr nicht verstanden zu werden, wenn ich Dinge sage wie, ich wohne am 48°50 nördlichen Breitengrad und am 2°20 östlichen Längengrad oder ich wohne 890 Kilometer von Berlin, 2600 von Konstantinopel und 1444 von Madrid entfernt.
Wenn ich in Valbonne wohnen würde, könnte ich sagen, ich wohne an der Côte d’Azur oder ich wohne bei Antibes. Da ich aber direkt in Paris wohne, kann ich nicht sagen ich wohne in der Gegend von Paris, so wenig wie ich wohne im Pariser Becken oder gar ich wohne im Seine-Departement.
Es ist mir auch nicht so recht einsichtig, unter welchen Umständen es angebracht sein könnte zu sagen, ich wohne nördlich der Loire.
Ich wohne in Frankreich: Diese Information könnte ich an jedem Punkt außerhalb des auch »Hexagon« genannten französischen Staatsgebiets geben, selbst wenn ich offiziell in Frankreich bin (zum Beispiel in einem der überseeischen Departements); allerdings könnte ich nur im Scherz sagen ich wohne im Hexagon; wäre ich hingegen ein Korse, der in Nizza wohnt, oder ein Bewohner der Insel Ré, der in La Rochelle wohnt, könnte ich sehr gut sagen ich wohne auf dem Festland.
Ich wohne in Europa: Diese Art von Information könnte einen Amerikaner interessieren, dem ich zum Beispiel in der japanischen Botschaft in Canberra begegnen würde. Oh, you live in Europe? würde er wiederholen, und ich wäre sicherlich gezwungen, nähere Angaben zu machen wie I am here only for a few (hours, days, weeks, months).
Ich wohne auf dem Planeten Erde. Werde ich eines Tages die Gelegenheit haben, das zu jemandem zu sagen? Wenn es jemand von der »3. Art« wäre, der auf unsere irdische Welt heruntergekommen ist, wüsste er es bereits. Befände ich mich hingegen irgendwo in der Gegend des Arcturus oder des KX1809B1, müsste ich ganz bestimmt darauf hinweisen, ich wohne auf dem dritten (übrigens dem einzigen bewohnbaren) der drei Hauptplaneten des Sonnensystems in der zunehmenden Ordnung ihrer Entfernung von der Sonne oder ich wohne auf einem der Planeten eines der jüngsten gelben Zwergsterne, die am Rande einer Galaxie mittlerer Bedeutung liegen, die völlig willkürlich mit dem Namen Milchstraße bezeichnet wird. Und die Chance stünde etwa eins zu hunderttausend Millionen Milliarden (das heißt nur 10 hoch 20), dass er mir zur Antwort gäbe: Ach ja, die Erde …
Anmerkungen
hinsichtlich der Gegenstände,
die auf meinem Schreibtisch liegen
Auf meinem Schreibtisch liegen viele Gegenstände. Der älteste ist sicherlich mein Füllhalter; der neueste ist ein kleiner Aschenbecher, den ich letzte Woche gekauft habe; er ist aus weißer Keramik, und das Schmuckbild stellt das Denkmal der Märtyrer von Beirut dar (ich nehme an, die aus dem Krieg 1914, noch nicht die aus dem Krieg, der gerade ausbricht).
Ich verbringe täglich mehrere Stunden an meinem Schreibtisch. Manchmal wünschte ich mir, er wäre so leer wie nur möglich. Meistens ist es mir jedoch lieber, dass er fast maßlos überladen ist; der Tisch selber besteht aus einer ein Meter vierzig langen und zweiundsiebzig Zentimeter breiten Glasplatte, die auf Metallböcken liegt. Seine Stabilität ist weit davon entfernt, vollkommen zu sein, und genau besehen ist es gar nicht schlecht, dass er beladen oder sogar überladen ist: Das Gewicht der Gegenstände, das er aushalten muss, trägt dazu bei, ihn im Lot zu halten.
Ich räume meinen Schreibtisch noch ziemlich oft auf. Das Aufräumen besteht darin, dass ich alle Gegenstände anderswo hinlege, um ihnen dann einem nach dem anderen wieder ihren alten Platz zu geben. Ich wische die Glasplatte mit einem (manchmal mit einem Spezialmittel getränkten) Lappen ab und mache dann dasselbe mit jedem einzelnen Gegenstand. Das Problem besteht nun darin, zu entscheiden, ob dieser oder jener Gegenstand auf den Schreibtisch gehört oder nicht (wenn nicht, muss ich einen anderen Platz für ihn finden, was aber in der Regel nicht schwierig ist).
Diese neue Raumordnung geschieht selten aufs Geratewohl. Sie entspricht in den meisten Fällen dem Anfang oder dem Ende einer bestimmten Arbeit; sie erfolgt an jenen unsicheren Tagen, an denen ich nicht genau weiß, ob ich mich in eine neue Arbeit stürze, und an denen ich mich ausschließlich an diese Abkapselungstätigkeiten klammere: aufräumen, sortieren, Ordnung schaffen. In diesen Augenblicken träume ich von einer jungfräulichen, intakten Arbeitsfläche: jedes Ding an seinem Platz, nichts Überflüssiges, nichts, das übersteht, alle Bleistifte schön gespitzt (doch warum muss ich mehrere Bleistifte haben? Auf einen einzigen Blick sehe ich sechs!), alle Papiere aufeinandergestapelt oder, noch besser, überhaupt keine Papiere, nur ein Heft, das auf einer weißen Seite aufgeschlagen ist (der Mythos der tadellos glatten Schreibtische der Generaldirektoren: Ich habe einmal einen gesehen, der eine kleine Stahlfestung war, vollgepackt mit elektronischen oder angeblich elektronischen Apparaten, die auftauchten oder verschwanden, wenn man die Tasten eines Superarmaturenbrettes bediente …).
Später, wenn es mit meiner Arbeit vorangeht oder wenn sie auf der Stelle tritt, ist mein Schreibtisch wieder mit Gegenständen überladen, die manchmal nur der Zufall zusammenbringt (Heckenschere, Zollstock) oder die von einer lediglich vorübergehenden Notwendigkeit sind (Kaffeetasse). Einige bleiben lediglich für ein paar Minuten darauf, andere für einige Tage, andere wiederum, die eher zufällig hier gelandet sind, werden sich auf Dauer einrichten. Es handelt sich nicht ausschließlich um Gegenstände, die direkt mit der Schreibarbeit zu tun haben (Papier, Schreibwarenartikel, Bücher); andere sind mit täglichen (rauchen) oder periodischen (schnupfen, zeichnen, Bonbons lutschen, Patiencen legen, Kreuzworträtsel lösen) Praktiken verbunden, mit vielleicht abergläubischen Manien (einen kleinen Taschenkalender austüfteln), oder sie lassen sich keiner besonderen Funktion zuordnen, höchstens vielleicht Erinnerungen oder taktilen oder visuellen Vergnügungen oder einfach nur dem Gefallen an Nippes (Schachteln, Steine, Kiesel, getrocknete Disteln).
Im Großen und Ganzen könnte ich sagen, dass die Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch liegen, nur deshalb dort liegen, weil mir daran liegt, dass sie dort liegen. Das hat nicht allein mit ihrer Funktion und nicht allein mit meiner Nachlässigkeit zu tun: So gibt es zum Beispiel keine Leimtube auf meinem Schreibtisch; sie befindet sich in einem kleinen Möbelstück mit Schubladen an den Seiten; ich habe sie vor einem Augenblick dorthin zurückgelegt, nachdem ich sie benutzt hatte; ich hätte sie auf meinem Schreibtisch liegen lassen können, aber ich habe sie fast mechanisch weggeräumt (ich sage »fast«, weil ich beim Beschreiben dessen, was auf meinem Schreibtisch liegt, stärker auf die Bewegungen achte, die ich dort mache). So gibt es Gegenstände, die für meine Arbeit zwar nützlich sind, aber nicht oder nicht immer auf meinem Schreibtisch liegen (Leim, Schere, Klebeband, Tintenflasche, Heftmaschine), andere, die nicht unmittelbar nützlich sind (Briefsiegel) oder die für andere Dinge nützlich sind (Nagelfeile) oder die überhaupt nicht nützlich sind (Ammoniten) und die dennoch da liegen.
In gewisser Weise werden diese Gegenstände ausgesucht, werden anderen vorgezogen. Es ist zum Beispiel klar, dass immer ein Aschenbecher auf meinem Schreibtisch stehen wird (es sei denn, ich hörte auf zu rauchen), aber es wird nicht immer derselbe Aschenbecher sein. In der Regel bleibt derselbe Aschenbecher ziemlich lange stehen; eines Tages stelle ich ihn dann aufgrund von Kriterien, die näher zu untersuchen vielleicht nicht uninteressant sein dürfte, anderswo hin (zum Beispiel neben den Tisch, auf dem ich Schreibmaschine schreibe, oder neben das Brett, auf dem meine Wörterbücher stehen, oder auf ein Regal oder in einen anderen Raum), und ein anderer Aschenbecher wird ihn verdrängen (eine eindeutige Entkräftung dessen, was ich gerade gesagt habe: genau in diesem Augenblick stehen drei Aschenbecher auf meinem Schreibtisch, das heißt zwei, die übrigens leer sind, zu viel; der eine ist der mit dem Denkmal der Märtyrer, eine Neuanschaffung aus allerjüngster Zeit; der andere, mit einer bezaubernden Ansicht der Dächer von Ingolstadt, ist gerade erst zusammengeleimt worden; derjenige, der zur Zeit benutzt wird, hat einen Korpus aus schwarzem Kunststoff und einen weißen, durchlöcherten Metalldeckel. Beim Anschauen und Beschreiben stelle ich übrigens fest, dass sie nicht zu meinen augenblicklichen Favoriten gehören: das Denkmal der Märtyrer ist wirklich zu klein, um etwas anderes zu sein als ein Aschenbecher beim Essen, Ingolstadt ist sehr zerbrechlich, und was den schwarzen mit dem Deckel angeht, so brennen die Zigaretten, die ich hineinwerfe, endlos weiter …).
Eine Lampe, eine Zigarettendose, eine Distel, ein Rauchverzehrer, eine Pappschachtel, die kleine, bunte Karteikarten enthält, ein großes Tintenfass aus Pappmaché mit Hornverzierungen, ein Bleistifthalter aus Glas, mehrere Steine, drei Schachteln aus gedrechseltem Holz, ein Wecker, ein Schubladenkalender, ein Bleiklumpen, eine große Zigarrenkiste (ohne Zigarren, aber voller kleiner Gegenstände), eine Stahlspirale, in die man unbeantwortete Briefe stecken kann, der Griff eines Dolches aus poliertem Stein, Register, Hefte, fliegende Blätter, mannigfaltige Instrumente oder Schreibutensilien, ein großes Löschkissen, mehrere Bücher, ein Glas voller Bleistifte, eine kleine Dose aus vergoldetem Holz (nichts scheint einfacher zu sein, als eine Liste aufzustellen, in Wirklichkeit ist es viel komplizierter, als es aussieht: man vergisst immer etwas, man ist versucht, usw. zu schreiben, aber eine Bestandsaufnahme ist es ja gerade dann, wenn man nicht usw. schreibt. Die zeitgenössische Literatur hat, bis auf ganz seltene Ausnahmen (Butor), die Kunst des Aufzählens vergessen: die Listen Rabelais’, die Linné’sche Aufzählung der Fische in Zwanzig Meilen unter den Meeren, die Aufzählung aller Geographen, die Australien erforscht haben, in Die Kinder des Kapitäns Grant …).
Bereits seit mehreren Jahren beabsichtige ich, eine Geschichte einiger der Gegenstände zu schreiben, die auf meinem Schreibtisch liegen; ich habe vor bald drei Jahren den Anfang davon geschrieben; als ich ihn jetzt wieder las, stellte ich fest, dass von
den sieben Gegenständen, über die ich schrieb, vier immer noch auf meinem Schreibtisch liegen (dabei bin ich inzwischen umgezogen); zwei sind ausgewechselt worden: ein Löschkissen, das ich durch ein anderes Löschkissen ersetzt habe (sie gleichen sich zwar sehr, doch das zweite ist größer), und ein Wecker mit Batterien (von dem ich bereits angemerkt habe, dass sein gewöhnlicher Platz auf meinem Nachttisch war, wo er heute steht), der von einem anderen, aufziehbaren Wecker ersetzt worden ist; der dritte Gegenstand ist von meinem Schreibtisch verschwunden: es ist ein Kubus aus Plexiglas, bestehend aus acht so miteinander verbundenen Kuben, dass er sich in eine sehr große Vielzahl von Formen verwandeln kann; ich habe ihn von François Le Lionnais geschenkt bekommen; er steht in einem anderen Zimmer, auf einer Heizungsablage, neben mehreren anderen Geduldspielen und Puzzles (eines dieser Geduldspiele steht auf meinem Schreibtisch; es ist ein doppeltes Tangram, das heißt zweimal sieben Teile aus weißem und schwarzem Kunststoff, die dazu dienen, eine nahezu unendliche Anzahl geometrischer Figuren zu bilden).
Vorher hatte ich keinen Schreibtisch, ich will damit sagen, es gab keinen Tisch eigens zum Schreiben. Auch heute kommt es noch ziemlich oft vor, dass ich in einem Café schreibe; doch zu Hause ist es äußerst selten, dass ich anderswo arbeite (schreibe) als an meinem Schreibtisch (zum Beispiel schreibe ich gewissermaßen nie im Bett), und mein Schreibtisch dient zu nichts anderem als zum Schreiben (und wieder einmal zeigt es sich, beim Schreiben dieser Wörter, dass auch das nicht ganz stimmt: zwei- oder dreimal im Jahr, wenn ich ein Fest gebe, wird mein Schreibtisch, völlig leergeräumt und mit Papiertischtüchern bedeckt, – genau wie das Brett, auf dem meine Wörterbücher aufeinandergestapelt sind, – zum Büfett).
So spielt eine gewisse Geschichte meiner Vorlieben (ihre Fortdauer, ihre Entwicklung, ihre Phasen) in dieses Projekt mit hinein. Genauer gesagt, es ist wieder einmal eine Art und Weise, meinen Raum abzustecken, eine etwas umständliche Annäherung an meine tägliche Erfahrung, eine Möglichkeit, über meine Arbeit zu sprechen, über meine Geschichte, über meine Sorgen, das Bestreben, etwas zu erfassen, das zu meiner Erfahrung gehört, nicht als spätere Reflexion, sondern im Augenblick ihres Zustandekommens.