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ABATON
Die Verlockung des Bösen
Staffel 2, Folge 4

Christian Jeltsch

Olaf Kraemer

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Für Josephine, Tristan und Vincent

Impressum

Staffel 2, Folge 4 von 7

Text © Christian Jeltsch und Olaf Kraemer, 2012

Deutsche Erstausgabe © mixtvision Verlag, München 2012

Überarbeitete E-Serial-Ausgabe © mixtvision Verlag, München 2015

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

www.mixtvision-verlag.de / www.abaton-trilogie.de

Coverkonzept und –gestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten / glcons.de

E-Book Herstellung: mixtvision Digital / www.mixtvision-digital.de

978-3-95854-987-6 (Epub)

978-3-95854-986-9 (mobi)

„Linus! Linus, da ist jemand“, flüsterte Edda und stupste Linus an. Edda war auf der Rückbank des Wagens aufgewacht. Sie hatte Schritte gehört, hatte einen Schatten bemerkt. Linus erwachte aus einem wunderschönen Traum. Er war geflogen. Eigentlich geschwebt. Er hatte nur die Luft anhalten müssen und schon hatte sich sein Körper vom Boden gelöst. Mit Schwimmbewegungen konnte er seinen Flug steuern. Leicht hatte er sich gefühlt. Endlich leicht und unbeschwert. Er wollte zurück in den Traum, doch Edda schüttelte ihn.

„Linus! Da ist wirklich einer!“

Linus rappelte sich auf, schaute verschlafen zur Fahrerseite hinaus und erschrak. Da war ein Gesicht. Ganz nah.

„Mach endlich auf!“

„Arsch!“, schimpfte Linus. Draußen stand Simon. Linus öffnete die Beifahrerseite und Simon schlüpfte herein. Er hielt ihm eine Parkkarte hin.

„Fahr los! Mach schon!“, sagte Simon.

„Hä?“

„Raus aus dem Parkhaus!“, drängelte Simon. Er hatte die Parkbedingungen gelesen. Eine Parkdauer von einer halben Stunde war kostenlos. Deshalb hatte er sich an der Einfahrt ein Ticket gezogen. Vor zehn Minuten.

„Bist du wahnsinnig. Da ist ’ne Kamera“, sagte Linus.

„Die ist leider ausgefallen“, erwiderte Simon und lächelte. „Und jetzt mach hinne. Ich hab eine Unterkunft für uns gefunden.“

Edda starrte Simon von der Rückbank an. Sie lächelte, als er sich zu ihr umdrehte.

„Wir dachten, du wärst abgehauen.“ Simon hörte das Bedauern, das in Eddas Stimme lag. Er lächelte zurück.

„Werd euch doch nicht im Stich lassen. Ohne mich seid ihr doch aufgeschmissen.“

Linus fummelte nach dem Schlüssel. „Wo warst du?“

„Hab eine Bleibe gefunden“, sagte Simon. „Fahr los!“

Linus startete den Wagen. Vorsichtig setzte er zurück und steuerte aus der Tiefgarage hinaus. Nicht ohne in den engen Kurven die Stoßstangen in Mitleidenschaft zu ziehen. Er stoppte an der Ausfahrt, stand so weit von dem Terminal, in den er die Karte einschieben musste, weg, dass er sich aus dem Fenster hangeln musste, um an den Schlitz zu gelangen. Linus hielt dem Automaten die Karte hin, der schluckte sie, die Schranke öffnete sich und sie fuhren davon.

Laut gab die Diesellok Signal. Die drei Freunde standen am Gleis und ließen den Güterzug passieren. Der eiskalte Fahrtwind rupfte an ihren Haaren, bis der Zug davongerattert war. Dann eilte Simon voran über die Gleise.

Wie Schatten huschten sie dahin und gelangten schließlich zu dem Signalhäuschen; mitten in dem Gewirr aus stählernen Trassen.

„Nicht auf die Stromabnehmer treten“, warnte Linus.

„Moment!“ Simon ging voran und tat so, als wolle er hinter der Tür einen Ballsaal präsentieren. Es war nur der Raum mit den Signalhebeln. Aber Simon hatte aufgeräumt. Es war gefegt, Bretter lagen auf zwei alten Ölfässern und bildeten einen Tisch, Baumstümpfe dienten als Sitze, ein zersessener Korbstuhl stand im Bereich der „Lounge“. Die Freunde staunten.

„Schön warm hier!“ Edda war überrascht, schaute sich um.

„Tata!“, tönte Simon und mit einem Klick brannte sogar eine alte Tischlampe. Simon hatte an einem nahen Sicherungskasten Strom abgezweigt und all das zusammengesammelt. In kürzester Zeit. Es war nicht schwer. Der Müll entlang der Bahnstrecken Berlins gab einiges her.

„Und oben?“, fragte Linus. Er ging voran die Stufen hinauf. Im Obergeschoss hatte Simon die kaputten Fenster mit Pappe verdeckt, eine Menge Heu und Stroh gesammelt und in eine Ecke platziert.

„Hier schlafen wir“, sagte er.

„Super!“ Edda war begeistert. „Wir haben unser eigenes Haus. Beste Lage!“ Sie umarmte Simon spontan und innig. Eddas Lachen und Linus’ Respekt freuten Simon. Er war stolz, dass er nun auch etwas dazu beigetragen hatte, dass sie ihren Plan bestmöglich ausführen konnten. Sie hatten ein Hauptquartier. Sie hatten es warm. Sie hatten fließend Wasser und Strom. Edda ging ans Fenster.

„Hey, sogar mit Terrasse!“ Sie deutete auf den schmalen Sims. „Ich find’s cool. Hier bleiben wir.“ Und während sie noch aus dem Fenster schaute, krächzten hinter ihr zwei Stimmen ein „Happy Birthday!“. Edda sah sich um. Linus und Simon standen vor ihr und hatten einen Fertigkuchen mit einem Kerzenstummel geschmückt. Edda überlegte irritiert.

„13. November?“

Die Jungs nickten in ihrem schrägen Gesang. Edda seufzte gerührt. Sie hatte glatt ihren eigenen Geburtstag vergessen. Das war ihr noch nie passiert. Noch bis vor einem Jahr war sie jedes Mal vor dem 13. November nervös und gespannt gewesen, was die Geschenke sein würden. Und jetzt? War das ein Zeichen, erwachsen zu werden? Erwachsen zu sein? Immerhin war sie jetzt siebzehn.

Nachdem sie gemeinsam den Kuchen geschlachtet hatten, legten sie sich nebeneinander in das Heubett. Edda kuschelte sich zwischen die Jungs. Sie fühlte sich beschützt. Nein, dachte sie, sie würde sich niemals entscheiden wollen. Linus und Simon waren zusammen der perfekte Mann für sie. Sie dämmerte dahin. Die beiden Jungs sahen sich an. Besser als jede Familie, dachte Linus. Edda rappelte sich noch einmal auf und gab, kurz bevor sie einschlummerte, jedem von ihnen einen Kuss auf die Wange.

„Mir hätte nichts Besseres passieren können als ihr beide!“

Auf dem gläsernen Bildschirm der GENE-SYS-Zentrale blinkten die drei hellen Punkte.

„Sieht aus, als hätten sie jetzt ein Refugium“, registrierte Greta zufrieden. Sie deutete auf das Gebäude zwischen den Gleisen und wandte sich Victor zu.

„Die Kids habt ihr also im Griff. Was mich aber sehr viel mehr interessiert, ist Marie“, sagte er. „Von fast allem, was Marie erlebt hat, lassen sich in ihrem Gehirn Spuren finden. Und es gelingt mir, die Erlebnisse Maries fast linear abzurufen.“

Greta hörte gebannt zu.

„Eines jedoch ist äußerst merkwürdig“, sagte Victor. „Es scheint einen Teil in Maries Leben zu geben, der geblockt ist. So als hätte jemand ihn gelöscht. Nicht nur in ihren Erinnerungen, sondern auch in ihrem Unbewussten, also dem, was sich der bewussten Erinnerung entzieht.“

Greta nickte ungeduldig. Sie wusste, was das Unbewusste war.

Victor stimulierte einen Bereich von Maries Gehirn, das er gescannt und auf einem Bildschirm in unterschiedliche Farbsegmente aufgeteilt hatte. Interessiert verfolgten Greta und Louise, wie er mit dem Cursor über eine Region fuhr und wenige Sekunden später ein erstes, verwaschenes Bild auf dem Monitor erschien. Erinnerungen an einen Skiurlaub. Louise erinnerte sich daran. Sogar an das Jahr. 1965. Doch da war Bernikoff längst aus dem Leben Maries verschwunden. Victor stimulierte noch zwei weitere Regionen.

„Halt!“, rief Greta. „Hier.“

An der Kleidung der Menschen erkannten Greta und Louise sofort, dass es sich um die Dreißiger- oder Vierzigerjahre handeln musste. Die Menschen standen vor einem großen Schiff, das in einem Hafen angelegt hatte.

„Ja. Mit dem Schiff hätten meine Mutter und ich eigentlich nach Bremerhaven kommen sollen“, sagte Louise aufgeregt. „Aber ich bin damals krank geworden. Windpocken.“

Greta rollte mit den Augen.

Das Nebelhorn des Dampfers wurde zum leisen Fiepen eines Wasserkessels. Man hörte das Klappern von Geschirr und das leise Summen des Funkgeräts mit den grünlichen Augen, das im hinteren Teil der Wohnung stand. Dann war die junge Marie zu sehen. Sie lag auf dem Bett und griff nach einem großen dicken Buch mit Comic-Zeichnungen. „Abatonia“ stand auf dem Einband.

„Komm endlich aus den Federn!“, rief Bernikoff. „Wir haben viel vor heute!“

„Ich hab aber keine Lust, jeden Tag was zu tun!“, maulte Marie. „Wenn die Welt schon untergeht, können wir nicht wenigstens vorher ein bisschen Spaß haben?“

Sie steckte den Kopf wieder in das Buch.