ABATON
Die Verlockung des Bösen
Staffel 2, Folge 3
Christian Jeltsch
Olaf Kraemer
Für Josephine, Tristan und Vincent
Impressum
Staffel 2, Folge 3 von 7
Text © Christian Jeltsch und Olaf Kraemer, 2012
Deutsche Erstausgabe © mixtvision Verlag, München 2012
Überarbeitete E-Serial-Ausgabe © mixtvision Verlag, München 2015
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
www.mixtvision-verlag.de / www.abaton-trilogie.de
Coverkonzept und –gestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten / glcons.de
E-Book Herstellung: mixtvision Digital / www.mixtvision-digital.de
978-3-95854-989-0 (Epub)
978-3-95854-988-3 (mobi)
Edda stand an den Wagen gelehnt und schaute in den Himmel. Der morgendliche Verkehr rauschte über die Schnellstraße an ihr vorüber. Was gerade im Inneren des Wagens vor sich ging, konnte Edda nicht ertragen. Bobo hatte sich von Linus Nadel und Faden geben lassen und war dabei, sich mithilfe einer Flasche Wodka zur Desinfektion die Wunden zu nähen, die ihm durch den Sturz aus dem Fenster am Bauch entstanden waren. Mit genauen Stichen stieß er die Nadel durch seine Haut und zog die Öffnungen der Wunden zusammen. Dann setzte er den nächsten Stich.
Zu viert steuerten sie dann in Olsens Wagen in den Morgen. Mit dem Messer von Linus hatte Bobo kurzerhand ein Loch in Timbers alte Wolldecke auf dem Rücksitz geschnitten und seinen runden Kopf hindurchgesteckt. Jetzt zupfte er ab und an schamhaft wie ein kleines Mädchen am unteren Rand des Ponchos, um seine blutbefleckte Blöße zu bedecken.
Bobo merkte, wie fremd, ja bedrohlich sein riesiger Körper auf die Jugendlichen in dem kleinen Wagen wirkte, aber seiner augenblicklichen Heiterkeit tat das kaum einen Abbruch. Ebensowenig wie die Schmerzen, die aus den vielen kleinen Brand- und Stichwunden in seinen Körper strömten, den man gefoltert hatte. Bobo war verdammt froh, aus der Wohnung der Verbrecher entkommen zu sein. Doch als Simon wissen wollte, was dort oben geschehen war, schüttelte er nur den Kopf und summte vor sich hin, als sei der Fall damit für ihn erledigt. Doch Simon musste wissen, wieso die Männer von seinem Vater gesprochen hatten. Hatten sie es auf seine Tätowierung abgesehen? Und wenn, wer hatte sie beauftragt? Hatte Bobo Informationen aus dem Gefängnis? Wie ging es seinem Vater? Der Riese sah Simon aus seinen kleinen flinken Augen an. Dieses Mal sondierten sie nicht, dachte Simon. Suchten nicht nach dem nächsten Vorteil, nach einem Opfer, das er zu seinem Vorteil ausnehmen konnte. Dieses Mal blickte Bobo Simon direkt in die Augen und Simon erkannte, dass Bobo dort oben in der Wohnung an seine Grenzen gegangen war und erst langsam zu sich fand. Er würde nicht darüber reden, weil es nicht helfen würde, sondern seine Pein und seine Demütigung nur verschlimmern. Linus, dem das Schweigen auf die Nerven ging, mischte sich ein und griff Bobo an.
„Wie erklärst du dir, dass im gleichen Augenblick, in dem Simon bei dir erscheint, die Polizei auftaucht, Simon eine Schießerei beginnt und keinem von uns was passiert? Für mich klingt das ganze Ding nach einer Inszenierung von GENE-SYS. Wahrscheinlich waren nicht mal die Patronen echt und einer von denen hat die Scheiben knallen lassen.“
Bobo stöhnte wie ein Walross, als er merkte, dass er sich nicht aus der Situation befreien konnte. Zu aufgewühlt waren die drei Jugendlichen. Zu seltsam die Zufälle, deren Teil er war. Zu schwer die Schuld, die bereits auf seinem Leben lastete. Wie sollte er diesen jungen Menschen erklären, welche unseligen Verstrickungen Gewalt und Verbrechen über die Menschen zogen? Welche absurden Brutalitäten den Alltag jener bestimmten, die außerhalb des Gesetzes lebten, und wie ehrlich sie trotzdem miteinander umgehen mussten? Bobo hatte keine Worte für diese Dinge. Stattdessen streckte er seine Hand in den Fahrerraum und wandte sich an Simon. Edda, Linus und Simon blickten sich an. Simon zögerte einen Augenblick, dann reichte er Bobo die Pistole.
„Immer mit dem Griff zuerst“, sagte Bobo. „Es sei denn, du willst mich erschießen.“
Bobo zog das Magazin heraus und nahm eine der Patronen aus der Schiene und schaute sie im Licht der vorbeirasenden Straßenlaternen an.
„Scharfe 45er. Hohlmantel“, stellte er fest, schob die Patrone zurück in das Magazin und gab Simon die Pistole mit dem Griff voran wieder.
„Wer damit auf Bullen schießt, hat nix mehr zu verlieren.“ Bobo lächelte müde. „Die Jungs sind gefährlicher als euer Verein und sie wollen Simons Skalp.“
Simon merkte, wie die Angst in seinem Inneren stärker wurde. Unwillkürlich griff er zu dem rasierten Schädel. Edda schaute hin. Simon traute sich nicht zu fragen, ob Bobo ihn verraten hatte, aber natürlich spürte Bobo sein Misstrauen. Traurig blickte er ihn an. Simon schluckte. Es war eine Situation wie damals im Zug, als er meinte Bobo zu durchschauen, und doch alles anders gewesen war, als Simon gedacht hatte.
„Was ist mit meinem Vater?“, fragte Simon noch einmal. „Hast du was von ihm gehört?“
„Er hat Dope gehabt“, erzählte Bobo. „Irgendein afrikanisches Pulver, das sie ihm abgezockt haben. Am Wochenende sind ein paar Insassen auf dem Zeug ausgetickt und in der Klapse gelandet. Schwarze Dämonen in der Denkkapsel und haarige Teufel unter der Haut, wie Visionen vom Jüngsten Tag. Nicht mal Prinz Valium hat am Ende geholfen. Einer von ihnen hat sich die Zunge abgebissen und aufgegessen.“
Simon spürte, wie die Unruhe in seinem Inneren wuchs. Dann beschlich ihn der Gedanke, dass Bobo diese Geschichten erzählte, um ruhig zu bleiben. Vielleicht erschuf er sich sogar immer wieder Situationen, die in einem Inferno endeten, weil er sich dann lebendig fühlte.
„Kein Schmerz und keine Angst, nur Grauen. Fast hätte es einen Aufstand gegeben. Man musste das Gegengift finden, doch dein Alter wusste es nicht. Niemand wusste, woher der Stoff kam. Seitdem sitzt er im Bunker. Irgendeiner hält die Hand über ihn. Und wenn du mich fragst, über dich auch. Aber ich würde den Bogen nicht überspannen, Freunde! Denn wer auch immer dieses Zeug in Umlauf gebracht hat: Er hat dafür gesorgt, dass die Jagd auf dich eröffnet wurde.“
Simon schwieg. Er wollte nicht sagen, dass der Stoff von Mumbala kam und von ihm. Dass Mumbala ihm befohlen hatte, das Zeug wegzuwerfen. Dass er sich selbst in diese Lage gebracht hatte.
„Hast du meinen Vater gesehen?“, fragte Simon stattdessen.
Bobo schüttelte den Kopf. Was er wusste, hatte er von Geister-Bob und dem anderen Häftling. Man hatte die Zelle von Simons Vater durchsucht und die Aufzeichnungen über die Freie Energie gefunden. Von da war es nicht mehr weit zu Simons frisch blutendem Tattoo und seinem Verschwinden aus dem Knast.
„Geister-Bob hatte einfach ein paar Fäden gezogen.“ Und Simon war mitten in das Netz geflogen. Gerade als sie Bobo grillten wegen Simons Aufenthaltsort.
„Das nenn ich Feuer mit Benzin löschen. Für den Augenblick hast du nichts zu befürchten. Sie sitzen. Und sie werden niemandem verraten, was sie vorhatten.“
Langsam beruhigten sich Simon, Linus und Edda. Die Geschichte ergab einen Sinn und hatte gleichzeitig zu viele Unwägbarkeiten, als dass GENE-SYS hätte dahinterstecken können.
„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Edda.
Sie beschlossen, erst einmal Klamotten für Bobo zu besorgen. Bobo wollte zum Bahnhof. Bevor er ausstieg, gab er den drei Freunden den Auftrag, neue Nummernschilder zu besorgen. Von einem Wagen gleichen Typs und Baujahrs.
„Wartet auf der Rückseite. Ich bin gleich wieder da“, sagte Bobo. In seinem Minirock aus einer Wolldecke über seinen nackten dicken Beinen, die wie bleiche Würste darunter hervorlugten, mischte er sich zwischen die Menschen und verschwand in der Menge.
„Was ist denn das für ein abartiger Typ! Lass uns bitte abhauen“, sagte Edda. „Wie der geguckt hat. Und gerochen. Er hat mich berührt!“
„Der ist einfach bloß dick“, sagte Simon.
„Aaarrghh! Abhauen!“
Linus und Simon blickten sich an. „Er weiß, was er tut“, sagte Linus anerkennend.
„Umso schlimmer! Bitte. Ich will los.“
Simon hatte zärtliche und beschützende Gefühle für den dicken Riesen, die er den anderen nicht mitteilen wollte. Er merkte, wie bescheuert das klingen musste.
„Er ist merkwürdig, aber er hat ein gutes Herz.“
„Wer weiß, ob er dich verraten hat oder ob er zu GENE-SYS gehört oder ob er selbst an die Zeichnung auf deinem Kopf will, um sie zu verkaufen. Oder er bringt dich um, zieht dir das Fell über die Ohren“, sagte Edda bitter. Sie merkte, wie sie immer trauriger wurde. Nichts bot mehr eine Sicherheit. Auf nichts war Verlass. Wie erschöpfend diese Klemme war, in der sie steckte.
Sie stiegen aus, um Luft zu schnappen, und lehnten sich an einen der anderen Wagen. Die nach und nach erlöschenden Lichter der Großstadt hatten jetzt wenig Verlockendes, und jedes Mal, wenn ein Polizeiwagen auftauchte, drehten sie sich weg. Fremde Männer taxierten sie. Edda, Linus und Simon wussten nicht, warum. Linus schloss Olsens Wagen ab. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem Wagen, der dem ähnelte, den sie fuhren.